Plenarprotokoll 17/136 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 136. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 I n h a l t : Wahl des Abgeordneten Michael Hartmann als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss Wahl des Abgeordneten Frank Schwabe als stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Wahl des Abgeordneten Sören Bartol als ordentliches Mitglied des Eisenbahninfrastrukturbeirates Wahl der Frau Jutta Frasch als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Wahl des Abgeordneten Florian Pronold als ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der „Stiftung Berliner Schloss – Humboldt-Forum“ Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Tagesordnungspunkt 5: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen (Drucksachen 17/5707, 17/7521) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Waltraud Wolff, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbraucherschutz in der Telekommunikation umfassend stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Netzneutralität im Internet gewährleisten – Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schnelles Internet für alle – Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Telekommunikationsmarkt verbrauchergerecht regulieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Netzneutralität sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Johanna Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Universaldienst für Breitband-Internetanschlüsse jetzt – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gegen das Zwei-Klassen-Internet – Netzneutralität in Europa dauerhaft gewährleisten (Drucksachen 17/4875, 17/5367, 17/5902, 17/5376, 17/4843, 17/6912, 17/3688, 17/7521) c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stand und Perspektiven des Breitbandausbaus in Deutschland (Drucksachen 17/3899, 17/5588) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi Martin Dörmann (SPD) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Johanna Voß (DIE LINKE) Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Claudia Bögel (FDP) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Manuel Höferlin (FDP) Manuel Höferlin (FDP) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Erik Schweickert (FDP) Lars Klingbeil (SPD) Sebastian Blumenthal (FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD) Mechthild Heil (CDU/CSU) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Lars Klingbeil (SPD) Ulrich Kelber (SPD) Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herbert Behrens (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle, Bärbel Höhn, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energie sparen, Kosten senken, Klima schützen – Für eine ambitionierte Effizienzstrategie der deutschen und europäischen Energieversorgung (Drucksache 17/7462) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 30: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Energiewende gelingt nur mit KWK (Drucksachen 17/6084, 17/7516) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Am Ausbau der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung festhalten (Drucksachen 17/3999, 17/4492) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Zweiter Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 17/6927) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Klaus Breil (FDP) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dorothée Menzner (DIE LINKE) Thomas Bareiß (CDU/CSU) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dirk Becker (SPD) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) Michael Kauch (FDP) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Alexander Ulrich (DIE LINKE) Torsten Staffeldt (FDP) Jens Koeppen (CDU/CSU) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jens Koeppen (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 35: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Überschuldung privater Personen (Überschuldungsstatistikgesetz – ÜSchuldStatG) (Drucksache 17/7418) b) Antrag der Abgeordneten Veronika Bellmann, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weißbuch Verkehr – Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität (Drucksache 17/7464) c) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu Lasten des Strahlenschutzes – Zwischenlagerung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursachergerecht neu gestalten (Drucksache 17/7465) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Masterplan Straßenverkehrssicherheit – Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011 – 2020 vorlegen (Drucksache 17/7466) Tagesordnungspunkt 36: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Austauschs von strafregisterrechtlichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Änderung registerrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 17/5224, 17/7415) b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (Drucksachen 17/7334, 17/7517) c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung über die elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union (Drucksachen 17/7144, 17/7512) d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an das Gemeinsame Wattenmeersekretariat – Common Wadden Sea Secretariat (CWSS) (CWSSRechtsG) (Drucksachen 17/6612, 17/7491) e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2012 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2012) (Drucksachen 17/7236, 17/7518) f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Erdölbevorratungsgesetzes und zur Änderung des Mineralöldatengesetzes (Drucksachen 17/7273, 17/7519) g) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vergaberechts für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (Drucksachen 17/7275, 17/7520) h) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Andorra über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksachen 17/7145, 17/7441) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksachen 17/7146, 17/7441) i) – o) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 324, 325, 326, 327, 328, 329 und 330 zu Petitionen (Drucksachen 17/7361, 17/7362, 17/7363, 17/7364, 17/7365, 17/7366, 17/7367) Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Demokratischer Sozialismus und soziale Marktwirtschaft im Grundsatzprogramm der LINKEN Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Stefan Liebich (DIE LINKE) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ulrich Lange (CDU/CSU) Heinz-Peter Haustein (FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG) (Drucksachen 17/6256, 17/7522) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7523) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren – Förderung und Frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken (Drucksachen 17/498, 17/7522) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Miriam Gruß (FDP) Diana Golze (DIE LINKE) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dorothee Bär (CDU/CSU) Caren Marks (SPD) Sibylle Laurischk (FDP) Michaela Noll (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Soziale Sicherung als Motor solidarischer und nachhaltiger Entwicklungspolitik (Drucksache 17/7358) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) Niema Movassat (DIE LINKE) Helga Daub (FDP) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jürgen Klimke (CDU/CSU) Stefan Rebmann (SPD) Joachim Günther (Plauen) (FDP) Florian Hahn (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (Drucksachen 17/5712, 17/7511) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Insolvenzrechtsreform unverzüglich vorlegen – Außergerichtliche Sanierungsverfahren stärken – Insolvenzplanverfahren attraktiver gestalten (Drucksachen 17/2008, 17/7511) Christian Ahrendt (FDP) Burkhard Lischka (SPD) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Richard Pitterle (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) Ingo Egloff (SPD) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik (Drucksache 17/6915) Diana Golze (DIE LINKE) Dorothee Bär (CDU/CSU) Diana Golze (DIE LINKE) Dorothee Bär (CDU/CSU) Christel Humme (SPD) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) Stefan Schwartze (SPD) Sibylle Laurischk (FDP) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Katharina Landgraf (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 12: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen (Drucksachen 17/7141, 17/7171, 17/7402) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit von Städten, Gemeinden und Landkreisen – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien (Drucksachen 17/1744, 17/7189, 17/7514) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Pascal Kober (FDP) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) Katja Mast (SPD) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Kirsten Lühmann (SPD) Dr. Birgit Reinemund (FDP) Frank Schwabe (SPD) Antje Tillmann (CDU/CSU) Peter Götz (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 13: – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils (C-555/07) – Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen (Drucksachen 17/775, 17/7489) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 622 Absatz 2 Satz 2 BGB) – Diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen (Drucksachen 17/657, 17/7489) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Anette Kramme (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Yvonne Ploetz (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ulrich Lange (CDU/CSU) Pascal Kober (FDP) Gitta Connemann (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 14: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes (Drucksachen 17/6925, 17/7172, 17/7513) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren (Drucksachen 17/5483, 17/3687, 17/7513) Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten (Drucksache 17/7360) Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts (Drucksachen 17/6051, 17/7453) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) Dr. Carsten Sieling (SPD) Frank Schäffler (FDP) Caren Lay (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen (Drucksache 17/7386) Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems (Drucksachen 17/6255, 17/7508) Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen (Drucksachen 17/7191, 17/7506) Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umweltauditgesetzes (Drucksachen 17/6611, 17/7490) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) Dr. Matthias Miersch (SPD) Judith Skudelny (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Thomas Silberhorn, Monika Grütters, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken (Drucksache 17/7357) Monika Grütters (CDU/CSU) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) Reiner Deutschmann (FDP) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Strategie gegen Lebensmittelverschwendung entwickeln (Drucksache 17/7458) Tagesordnungspunkt 23: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) (Drucksachen 17/6263, 17/7469, 17/7524) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7515) Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mineralölhaltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier und Lebensmittelverpackungen verbieten (Drucksache 17/7371) Carola Stauche (CDU/CSU) Kerstin Tack (SPD) Dr. Erik Schweickert (FDP) Karin Binder (DIE LINKE) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 25: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes (Drucksachen 17/6207, 17/7424) Markus Grübel (CDU/CSU) Franz Müntefering (SPD) Florian Bernschneider (FDP) Heidrun Dittrich (DIE LINKE) Till Seiler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 26: a) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz (Drucksache 17/7463) b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine neue Bleiberechtsregelung (Drucksache 17/7459) Helmut Brandt (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte (Drucksache 17/7460) Stephan Stracke (CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD) Heinz Lanfermann (FDP) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs (Drucksache 17/7196) Karin Maag (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) Frank Tempel (DIE LINKE) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen (Tagesordnungspunkt 12 a) Otto Fricke (FDP) Gisela Piltz (FDP) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze – Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren (Tagesordnungspunkt 14) Clemens Binninger (CDU/CSU) Frank Hofmann (Volkach) (SPD) Gisela Piltz (FDP) Petra Pau (DIE LINKE) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten (Tagesordnungspunkt 15) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) Dr. Rainer Stinner (FDP) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems (Tagesordnungspunkt 18) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Peter Aumer (CDU/CSU) Manfred Zöllmer (SPD) Björn Sänger (FDP) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen (Tagesordnungspunkt 19) Michael Brand (CDU/CSU) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Edelgard Bulmahn (SPD) Joachim Spatz (FDP) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Strategie gegen Lebensmittelverschwendung entwickeln (Tagesordnungspunkt 22) Josef Rief (CDU/CSU) Carola Stauche (CDU/CSU) Elvira Drobinski-Weiß (SPD) Hans-Michael Goldmann (FDP) Alexander Süßmair (DIE LINKE) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) (Tagesordnungspunkt 23) Olav Gutting (CDU/CSU) Antje Tillmann (CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) Dr. Daniel Volk (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen (Tagesordnungspunkt 32) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Frank Heinrich (CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 136. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten, stehen noch eine Reihe von Nachwahlen zu Gremien an. Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege Michael Hartmann anstelle des Kollegen Dr. Dieter Wiefelspütz neues stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege hiermit gewählt. Ebenfalls auf Vorschlag der SPD-Fraktion ist vorgesehen, den Kollegen Frank Schwabe anstelle der Kollegin Angelika Graf zum stellvertretenden Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu wählen. Können Sie sich auch damit anfreunden? – Das ist der Fall. Dann ist auch der Kollege Schwabe gewählt. Die SPD-Fraktion hat darüber hinaus mitgeteilt, dass der Kollege Uwe Beckmeyer als ordentliches Mitglied aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidet. Als sein Nachfolger wird der Kollege Sören Bartol vorgeschlagen. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu? – Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Bartol in den Eisenbahninfrastrukturbeirat gewählt. Eine weitere Wahl betrifft den Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Beauftragte für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das vom Auswärtigen Amt benannte stellvertretende Mitglied Rolf Mafael ausgeschieden ist und Frau Jutta Frasch als dessen Nachfolgerin vorgeschlagen wird. § 19 des entsprechenden Gesetzes sieht vor, dass auch die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglieder des Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestätigt werden. Deshalb frage ich Sie, ob Sie mit diesem Vorschlag einverstanden sind. – Das ist der Fall. Dann ist Frau Frasch als stellvertretendes Mitglied in dieses Gremium gewählt. Der letzte Wahlvorschlag für heute kommt wiederum von der SPD-Fraktion. Es handelt sich nicht um die Kanzlerwahl, aber immerhin um die Wahl eines ordentlichen Mitglieds im Stiftungsrat der „Stiftung Berliner Schloss – Humboldt-Forum“. Dafür wird der Kollege Florian Pronold als Nachfolger des Kollegen Uwe Beckmeyer benannt. Findet das Ihre Zustimmung? – Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Pronold gewählt. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung einer Kommission des Deutschen Bundestages zur Regulierung der Großbanken – Drucksache 17/7359 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (siehe 135. Sitzung) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Unklare Konzepte der Bundesregierung zu Steuersenkungen – Pläne zur Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen (siehe 135. Sitzung) ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland – Drucksache 17/6927 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Sportausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Masterplan Straßenverkehrssicherheit – Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011 – 2020 vorlegen – Drucksache 17/7466 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Demokratischer Sozialismus und soziale Marktwirtschaft im Grundsatzprogramm der LINKEN ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung als Risiko für die Konjunktur – Drucksache 17/7461 – ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aufbauprogramm gegen die Krise – Schutzschirm für Arbeitsplätze – Drucksache 17/7338 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 30 zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 6 aufzurufen sowie die Tagesordnungspunkte 17 und 32 zu tauschen. – Auch dazu darf ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das hiermit so beschlossen. Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen – Drucksache 17/5707 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 17/7521 – Berichterstattung: Abgeordnete Kerstin Andreae b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Waltraud Wolff, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbraucherschutz in der Telekommunikation umfassend stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Lars Klingbeil, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Netzneutralität im Internet gewährleisten – Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schnelles Internet für alle – Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Telekommunikationsmarkt verbrauchergerecht regulieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Netzneutralität sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Johanna Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Universaldienst für Breitband-Internetanschlüsse jetzt – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gegen das Zwei-Klassen-Internet – Netzneutralität in Europa dauerhaft gewährleisten – Drucksachen 17/4875, 17/5367, 17/5902, 17/5376, 17/4843, 17/6912, 17/3688, 17/7521 – Berichterstattung: Abgeordnete Kerstin Andreae c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stand und Perspektiven des Breitbandausbaus in Deutschland – Drucksachen 17/3899, 17/5588 – Zu dem Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Philipp Rösler. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich denke, wir alle wissen: Eine gut ausgebaute Infrastruktur ist die beste Grundlage für Wachstum und Beschäftigung. Das gilt für die klassische Infrastruktur – Straße, Schiene und Energienetze –, das gilt aber natürlich auch für moderne Informations- und Kommunikationsnetze, gerade im Rahmen des Internets. Sie sind so etwas wie das Nervensystem einer modernen Informationsgesellschaft. Deswegen ist es richtig, dass wir mit dieser TKG-Novelle alles dafür tun, dass diese Netze weiter ausgebaut werden können. Wir setzen dabei auf die bewährte Arbeitsteilung im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft: Der Gesetzgeber beschränkt sich auf die Vorgabe des Rahmens, während die Unternehmen gefordert sind, mit den notwendigen Ideen, Technologien, Innovationen und Geschäftsmodellen selber für neue Netze zu sorgen. Das heißt, die Unternehmen und nicht der Staat haben die Netze zu bauen. Jedwedem planwirtschaftlichen Denken erteilen wir auch mit dieser TKG-Novelle eine klare Absage. Wir wollen kein planwirtschaftliches Denken, sondern wir wollen ein Handeln im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deswegen setzen wir auf Anreize. Wir wollen eine bessere Anreizregulierung, durch die den Unternehmen langfristigere Planungen möglich sind. Dadurch ergibt sich auch mehr Investitionssicherheit. Wir wollen neue Instrumente – beispielsweise sollen sich mehrere Unternehmen die anfallenden Kosten für solche Investitionen teilen können –, und wir wollen eine Vernetzung zwischen klassischer Infrastruktur auf der einen Seite und modernen Kommunikationsstrukturen auf der anderen Seite, also die Nutzung von Straße, Schiene und Energienetzen auch beim Ausbau der Kommunikationsnetze, zum Beispiel für das Internet. Es wird sich zeigen, dass wir mit Anreizen besser vorankommen werden als mit Verordnungen oder planwirtschaftlichen Vorgaben. Es geht aber nicht nur um den Ausbau der Infrastruktur, sondern wir müssen auch sagen, was im Internet passieren soll und was nicht passieren darf. Wir haben für uns festgehalten: Das freie Internet ist die wesentliche Grundlage für einen Fortschritt bei den Kommunikationstechnologien. Deswegen spielt das Thema Netzneutralität bei dem vorliegenden Gesetzentwurf auch eine Rolle. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Künftig wird die Bundesregierung gemeinsam mit Bundestag und Bundesrat die Möglichkeit haben, über Rechtsverordnungen dafür zu sorgen, dass diese Netzneutralität gewährleistet bleiben kann; denn die neutrale Datenübermittlung ist eine wesentliche Grundlage und ein wesentlicher Bestandteil einer freien Informationsgesellschaft. Deswegen ist die TGK-Novelle gerade in Bezug auf Netzneutralität so wichtig. Warum machen wir das alles: Netzausbau, Sicherung der Netzneutralität? Wir machen das natürlich für die Menschen in unserem Lande. Damit ist klar: Der Verbraucherschutz muss auch bei dieser Novelle eine große Rolle spielen. Genau das tut er auch. Künftig wird Schluss sein mit langlaufenden Internet- oder Telefonverträgen. Wer hat sich nicht schon über lange Vertragslaufzeiten geärgert? Wir machen endlich Schluss mit kostenpflichtigen Warteschleifen, weil wir nicht wollen, dass mit der Geduld der Menschen in Deutschland Geld verdient wird, und wir wollen für eine bessere Datensicherheit sorgen. Viele von Ihnen nutzen schon Ortungsdienste, beispielsweise mit ihrem Handy. Künftig wird es die Vorgabe geben, dass Anbieter von Ortungsdiensten ihre Kunden per SMS darüber informieren müssen, wenn geortet wird. Das ist ein wesentlicher Beitrag zu dem wichtigen Thema Datenschutz im Bereich der Telekommunikation und der Information. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dadurch zeigt sich der Wert dieses Gesetzentwurfes insgesamt. Wir wollen einen besseren Ausbau der Infrastruktur und setzen dabei nicht auf Planwirtschaft, sondern auf die guten Instrumente der sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen klare inhaltliche Strukturen, Netzneutralität im Interesse der Kundinnen und Kunden und eine Absicherung des Verbraucherschutzes, wie sich das für gute Gesetze im Ergebnis auch gehört. Wir alle wissen: In den letzten 15 Jahren haben die Informations- und Kommunikationstechnologien mehr als 50 Prozent zur Produktivitätssteigerung beigetragen. Das ist der beste Beweis dafür, dass wir auch mit dieser TKG-Novelle einen Beitrag zur Verstetigung des Wachstums in Deutschland leisten. Ich bedanke mich für die bisherigen Diskussionen und bitte im Anschluss um Ihre Zustimmung zu dieser TKG-Novelle. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Martin Dörmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Martin Dörmann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, wir haben durchaus positiv vernommen, dass Sie hier das Thema Netzneutralität in den Vordergrund gestellt haben. Ich denke, wir werden Sie an Ihren Worten messen. Ich komme gerade von einer Diskussion, wo ein Unionskollege gesagt hat: (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Wer denn?) Netzneutralität ist ein staatlicher Eingriff. – Das hat er kritisch gemeint. Ich bin gespannt, wie die Koalition das zusammenbringt. (Zuruf von der FDP: Wer war es denn?) – Ich denke, der Kollege Jarzombek wird nachher selber dazu Stellung nehmen. Ich komme gerade von einer Veranstaltung der Amerikanischen Handelskammer mit dem Titel: Das TKG in der Warteschleife? Ich finde, die Fragestellung passt sehr gut zu dem gesetzgeberischen Stillstand in den mehr als fünf Monaten seit der ersten Lesung der Novelle. Immer wieder hat die Koalition die abschließenden Beratungen verschoben, weil es innerhalb der Unionsfraktionen oder zwischen FDP und Union hin- und herging. Zum zentralen Thema Breitbandausbau fand man lange keine gemeinsame Position. Inzwischen ist übrigens die Umsetzungsfrist für die einschlägigen EU-Richtlinien längst verstrichen, sodass Deutschland eine Strafzahlung droht. Am Dienstag dieser Woche jedoch hat die Koalition ihr eigenes Chaos noch einmal gesteigert. Morgens hieß es, das TKG würde beraten. Mittags wurde den Parlamentarischen Geschäftsführern dann mitgeteilt, die Beratung müsse um eine Woche verschoben werden. Als dann die Fraktionssitzungen zum Teil schon beendet waren, kam am späten Nachmittag überraschend die Nachricht: Das Thema wird doch wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Erst am Abend wurde dann der umfangreiche Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen per E-Mail zugesendet. Den meisten Abgeordneten wurde so die Möglichkeit genommen, die Unterlagen vor den Ausschusssitzungen am nächsten Tag sorgfältig zu prüfen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Unverschämtheit!) Doch damit nicht genug. Im Innenausschuss kam es am Mittwoch zum Eklat, weil die Koalitionsmehrheit eine Debatte zur Gesetzesnovelle verhinderte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, das ist kein angemessener Umgang mit einem wichtigen Gesetz. Sie sollten Ihre Streitigkeiten zukünftig nicht mehr auf dem Rücken des Parlamentes austragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Auch das inhaltliche Ergebnis lässt doch an vielen Stellen zu wünschen übrig. Immerhin wollen wir aber anerkennen, dass es in einigen Punkten durchaus Verbesserungen gab, die wir ausdrücklich begrüßen. Namentlich will ich den auch von uns geforderten besseren Zugang zu alternativen Infrastrukturen nennen, der Kostenvorteile für den Breitbandausbau ermöglicht. Wichtige unserer Forderungen wurden jedoch nicht umgesetzt. Ich will in diesem Zusammenhang auf die von der SPD-Fraktion vorgelegten umfassenden Anträge zu den Themenbereichen Breitbandausbau, Netzneutralität und Verbraucherschutz hinweisen. So springt die Regierungskoalition insbesondere beim Thema Breitbandausbau trotz einiger Einzelverbesserungen weiterhin zu kurz. Zwei Aspekte müssen wir beim Breitbandausbau unterscheiden: Zum einen geht es um eine flächendeckende Grundversorgung, damit schnelles Internet für alle endlich verwirklicht werden kann. Zum anderen brauchen wir eine dynamische Entwicklung und damit einen weiteren Ausbau der Glasfasernetze. Eine schnelle Internetverbindung – darin sollten wir uns eigentlich einig sein – wird inzwischen in vielen Lebensbereichen einfach vorausgesetzt. Damit ist ein Breitbandanschluss aber auch zu einem Teil der Daseinsvorsorge geworden. Deshalb will die SPD-Bundestagsfraktion mithilfe einer gesetzlichen Universaldienstverpflichtung die Grundversorgung sicherstellen. Noch immer sind zahlreiche Kommunen und Hunderttausende von Haushalten nur unzureichend versorgt. Universaldienst bedeutet dabei: Jeder hat einen Anspruch auf die Leistung, aber eben nicht kostenlos, sondern zu einem angemessenen Preis. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wie hoch soll der denn sein?) Nach meiner festen Überzeugung haben wir hierfür als einzige Fraktion einen wirklich europarechtskonformen Weg aufgezeigt. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!) Wir orientieren uns dabei an einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, das wir frühzeitig in Auftrag gegeben und übrigens allen Fraktionen zur Verfügung gestellt haben. Die EU-Universaldienstrichtlinie erlaubt keine beliebige Verpflichtung, sondern setzt dafür klare Grenzen und Kriterien. Der Universaldienst muss technologieneutral ausgestaltet werden und Wettbewerbsverzerrungen vermeiden. Die konkrete Bandbreite muss sich an der Bandbreite orientieren, die von der Mehrheit der Nutzer tatsächlich verwendet wird. Es geht also um die abgeschlossenen Verträge und um die Übertragungsgeschwindigkeiten, die mehrheitlich erreicht werden. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Nennen Sie doch einmal eine Zahl!) Nach Einschätzungen der Branche und der Bundesnetzagentur dürften diese Bandbreiten irgendwo in einem Bereich zwischen 2 und 6 Megabit pro Sekunde liegen. Exakte Erhebungen und Zahlen gibt es allerdings noch nicht. Gerade deshalb fordert die SPD-Fraktion in ihrem Antrag, dass zunächst die zulässige Bandbreite ermittelt und dann auch konkret in das Gesetz aufgenommen wird. (Beifall bei der SPD) Nur ein solcher Weg schafft echte Planungssicherheit und vermeidet mögliche Klagen von Unternehmen. Nun wollen auch Grüne und Linksfraktion den Universaldienst; sie legen sich aber bereits heute auf eine konkrete Bandbreite fest, die eben nicht solide ermittelt wird. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie die EU!) Die Grünen etwa zitieren aus einem eigenen Gutachten, in dem die Berechnungsmethode nicht dargelegt ist. Es gibt also zurzeit noch keine verifizierten Zahlen. Die FDP ist bekanntlich aus ideologischen Gründen ganz gegen den Universaldienst, (Claudia Bögel [FDP]: Das sind gute Gründe! – Gegenruf des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dagegen-Partei!) und in der Union gibt es ein ziemlich großes Durcheinander. Noch am Dienstagmorgen hieß es, der Universaldienst sei im Antragsentwurf enthalten. In einem Papier der Unionsfraktion war zwischenzeitlich sogar von einem Universaldienst mit 16 oder 50 Megabit die Rede, obwohl jeder Experte weiß, dass das rechtlich erst recht nicht umzusetzen wäre. Ich glaube, gerade diese unseriöse Diskussion hat am Ende berechtigte Kritik provoziert und vielleicht auch verhindert, dass heute ein vernünftiges Modell seitens der Koalition zur Abstimmung gestellt wurde. Ich hoffe, dass die Diskussion durch den Umweg über den Bundesrat – der Gesetzentwurf ist schließlich zustimmungspflichtig – vielleicht noch nicht ganz abgeschlossen ist. Ich will an dieser Stelle noch auf die Argumente eingehen, die gegen eine Universaldienstverpflichtung vorgetragen werden. So heißt es, der Wettbewerb werde schon zu den richtigen Ergebnissen führen, und es wird auf den bereits begonnenen LTE-Ausbau hingewiesen. Ich will ausdrücklich betonen: Auch wir sind für Wettbewerb und Investitionen möglichst vieler Unternehmen. Die Mobilfunkunternehmen haben aber keine vollständige, sondern nur eine weitgehende Abdeckung angekündigt. Die höchste Zahl, die genannt wird, ist 99 Prozent. Das ist bekanntlich weniger als 100 Prozent. Eine vollständige Abdeckung ist also noch nicht sicher. Sie war im Übrigen auch seinerzeit in den Versteigerungsbedingungen nicht enthalten. Darin ging es nur um 90 Prozent. Deshalb sagen wir: Verbleibende weiße Flecken dürfen wir nicht weiter hinnehmen. (Beifall bei der SPD – Claudia Bögel [FDP]: Das machen wir auch nicht!) Im Übrigen sind auch keine Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten. Denn der Universaldienst würde nur dort greifen, wo nicht investiert wird. Wo kein Wettbewerb ist, kann auch nichts verzerrt werden. Hinzu kommt: Unser Vorschlag sieht vor, dass wir die Universaldienstverpflichtung erst zum 1. Januar 2013 wirksam werden lassen. Damit erhalten die Unternehmen selbst die Möglichkeit, durch einen vollständigen Ausbau die Auferlegung von Verpflichtungen zu vermeiden. Sollte sich Ende 2012 hoffentlich herausstellen, dass es keine weißen Flecken mehr gibt, bräuchte also auch kein aufwendiges Verfahren in Gang gesetzt zu werden. Mit einer gesetzlichen Regelung hätten wir aber endlich die Gewissheit, dass alle Kommunen und Haushalte versorgt werden. Neben einer Grundversorgung im Sinne der Daseinsvorsorge brauchen wir eine dynamische Entwicklung beim weiteren Breitbandausbau. Das bedeutet in erster Linie einen schrittweisen Ausbau des Glasfasernetzes. (Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Herr Präsident, ich glaube, der Kollege Jarzombek hat eine Frage. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das klingt sehr stark nach einer seit Tagen bestehenden Absprache. Aber zu dieser frühen Morgenstunde wollen wir besonders großzügig sein. – Bitte schön, Herr Kollege Jarzombek. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Dörmann, wir führen schon fast die Diskussion von vorhin fort. Präsident Dr. Norbert Lammert: Sehen Sie? Ich fühle mich bestätigt. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Habe ich Sie richtig verstanden, dass der Universaldienst, den Sie ins Gesetz aufnehmen wollen, zum 1. Januar 2013 greift? Sie wissen, dass man dann erst einmal den jeweiligen Bedarf feststellen muss. Anschließend muss ausgeschrieben werden. Die Unternehmen müssen sich auf diese Ausschreibungen hin bewerben. Es wird Widersprüche bei den Vergabekammern geben. Dann wird die Infrastruktur ausgebaut. Dieser Prozess wird, vorsichtig geschätzt, zwei bis vier Jahre dauern. Das heißt, ausgehend vom 1. Januar 2013 streben Sie, wenn man die zwei bis vier Jahre dazurechnet, für 2016 eine Bandbreite von 2 Megabit an. Ist das heute Ihr Vorschlag? (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist die SPD!) Martin Dörmann (SPD): Nein, Herr Jarzombek. Erstens ist Ihr Zeitplan falsch. Richtig ist: Das Ganze soll ab dem 1. Januar 2013 als gesetzliche Verpflichtung greifen. Richtig ist auch, dass dann natürlich erst einmal der Bedarf festgestellt werden muss und dass es dann gegebenenfalls eine Ausschreibung geben muss. Wir haben die Hoffnung, dass Ihre Prognose, dass der LTE-Ausbau sehr weit reicht, dazu führen wird, dass es eine überschaubare Anzahl von Regionen gibt, in denen man eine Prüfung vornehmen muss. Dann wird ausgeschrieben. Dort, wo weiße Flecken bleiben, greift die Regelung. Da Sie auf 2 Megabit abzielen: Wir haben in unserem Antrag ausdrücklich das aufgenommen, was die EU vorgibt. Wir müssen erst einmal feststellen, welche Bandbreite von einer Nutzermehrheit verwendet wird. Wir haben in unserem Antrag die Bandbreite nicht konkretisiert, weil wir noch keine exakten Zahlen haben. Wenn Sie argumentieren, dass es letztendlich kein Problem gibt, weil der Ausbau so umfassend vorgenommen wird, dann wird es auch nicht zu einer solchen Zeitabfolge kommen. Eigentlich ist Ihre Argumentation die beste Begründung dafür, endlich eine gesetzliche Absicherung vorzunehmen. (Beifall bei der SPD) Ich habe gerade angedeutet: Es geht auch um eine dynamische Entwicklung des Glasfaserausbaus. Wir brauchen in Zukunft höhere Übertragungsgeschwindigkeiten. Beim Glasfaserausbau haben wir aber das Problem, dass die Tiefbaukosten sehr hoch sind, fast 80 Prozent der Gesamtkosten betragen und dass sich deshalb ein entsprechender Ausbau in ländlichen Gebieten oft nicht lohnt, zumal die Bereitschaft der Kunden, für größere Bandbreiten mehr Geld zu zahlen, nicht sehr ausgeprägt ist. Höhere Übertragungsraten lassen sich noch nicht in ausreichendem Maße vermarkten. Doch alle Erfahrung zeigt: Der Datenhunger wird dynamisch wachsen. Künftig wollen die Menschen über ihren HD-Fernseher Streaming-Angebote und Internetanwendungen abrufen, vielleicht sogar auf mehreren Geräten im Haushalt. Das bietet eine enorme wirtschaftpolitische Chance, weil diese Dynamik zu Wachstum führt. Auch an dieser Stelle sollte Deutschland Spitze sein. Vor diesem Hintergrund brauchen wir ein Maßnahmenbündel, das die Wirtschaftlichkeitslücke schrittweise schließt. Dazu gehört die konsequente Hebung von Synergieeffekten, etwa der Zugang zu vorhandenen Infrastrukturen, um Grabungskosten zu vermeiden. Gezielte Förderprogramme können ebenfalls helfen. Oft würde es bereits ausreichen, wenn das investierende Unternehmen langfristige Kredite zu günstigeren Zinsen aufnehmen könnte. Deshalb regen wir ein Sonderprogramm bei der KfW an, das zu einer Zinsverbilligung führt. Ich freue mich, dass das Wirtschaftsministerium in der gestrigen Ausschusssitzung zugesagt hat, diesen Vorschlag konstruktiv zu prüfen. Dazu gehören ebenfalls eine investitionsfreundliche Regulierung und ein Open-Access-Marktmodell. Wir brauchen eine Vielzahl an Maßnahmen, um hier weiterzukommen. Viele Baustellen bleiben auch nach Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen bestehen. Ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns heute und in Zukunft die Rahmenbedingungen schaffen, damit Warteschleifen im Netz und in der Politik der Vergangenheit angehören. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Andreas Lämmel erhält nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will erst einmal den Nebel lichten, den Sie, Herr Dörmann, versucht haben zu verbreiten. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, bitte!) Wenn Sie Ihre Redezeit genutzt hätten, etwas Substanzielles beizutragen, anstatt polemische Ausführungen zu machen, wäre der Debatte wahrscheinlich mehr gedient gewesen. Grundsätzlich muss man feststellen, dass in der Debatte über das TKG keine wirklich ideologischen Barrieren zwischen den Fraktionen bestehen. Aus meiner Sicht war der stattgefundene Dialog ziemlich sachlich. Worum geht es bei dem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen? Es geht erstens um die Umsetzung von EU-Richtlinien, zweitens um bessere Rahmenbedingungen für einen beschleunigten Breitbandausbau, drittens um die Schaffung von Rechtssicherheit für die Branche durch investitionsfreundliche Anreize und Regulierungen sowie viertens um einen besseren Schutz der Verbraucher. Das sind die vier Themen, die zu regeln waren. Die EU-Richtlinien zur besseren Regulierung und den Rechten der Bürger wurden 2009 überarbeitet und mussten jetzt in nationales Recht umgesetzt werden. Diese Vorgabe werden wir mit der heutigen Verabschiedung erfüllen. Der beschleunigte Breitbandausbau ist das Thema, das in der deutschen Öffentlichkeit eine sehr große Rolle spielt. Das ist auch das Kernthema unseres Gesetzes. Es lohnt sich, einen Blick auf die letzten zwei Jahre zurückzuwerfen, um festzustellen, was sich in Deutschland seit Februar 2009 eigentlich getan hat, als die Breitbandinitiative der Bundesregierung beschlossen wurde und damit ein großes Werk in Gang gesetzt wurde. 2009 war die Kritik groß. Deutschland verharrte am untersten Ende bei der Breitbandversorgung in Europa. Was ist bis heute geschehen? Deutschland gehört zu den führenden und dynamischsten Breitbandmärkten in Europa. Die Breitbandnutzung hat im Vergleich mit den fünf größten EU-Ländern die höchste Dichte erreicht. Wir sind also innerhalb von zwei Jahren vom unteren Ende an die Spitze gelangt. Die Quelle für diese Zahlen ist die EU-Kommission selbst. Es sind also keine Zahlen der Bundesregierung, der man unterstellen könnte, das schönzurechnen. Mitte 2011 waren 99 Prozent der deutschen Haushalte mit mindestens 1 Megabit pro Sekunde angeschlossen, wenn man alle Technologien berücksichtigt. 40 Prozent der Haushalte haben Zugang zu einem Anschluss mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde. Der Zuwachs bei den 50 Megabit pro Sekunde ist der größte Zuwachs überhaupt. 2009 waren es noch unter 10 Prozent, heute liegen wir bei 40 Prozent. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schönfärberei! Unerträglich!) Der Markt ist also sehr dynamisch. Große Zuwächse gab es auch im Bereich von 2 Megabit und 6 Megabit, vor allem im Jahr 2011. Das hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass der Ausbau des mobilen Internets, der sogenannte LTE-Ausbau, eine große Dynamik entfaltet hat. Die Bundesnetzagentur hat erst in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass in sechs Bundesländern mittlerweile die Ausbauverpflichtung für die ländlichen Räume erfüllt ist. Das heißt, 90 Prozent der von den Ländern gemeldeten weißen Flecken sind mit mobilem Internet versorgt. Damit können jetzt die Mobilfunkunternehmen den Ausbau in den Ballungszentren fortsetzen. Seit Anfang 2009 wurden über 2 Millionen Haushalte an die Grundversorgung angeschlossen. Das ist eine große Leistung. Es sind damit enorme Investitionen gestemmt worden. Ich kenne aber viele Kollegen, die das nicht interessiert, weil sie in einem Gebiet wohnen, das in Sachen Internet ein weißer Fleck ist und wo keine Grundversorgung besteht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist natürlich ein großes Problem, zum einen für die Bürger, die in diesem Gebiet leben, zum anderen auch für die Wirtschaft. Deswegen sind der beschleunigte Ausbau und die Schließung der Lücken die Hauptstoßrichtung unseres Gesetzes. Es geht also erstens um die Beschleunigung des Ausbaus und zweitens – das hat Herr Dörmann schon kurz angesprochen – um die Kostensenkung beim Ausbau. Wenn man verschiedene Berechnungen vergleicht, dann stellt man fest, dass die Zahlen differieren. Die einen sagen, es koste 40 Milliarden Euro, andere Experten sprechen von 50 oder 60 Milliarden Euro. Eines aber ist klar: Der flächendeckende Anschluss von Haushalten an das Glasfasernetz ist enorm teuer. Es geht jetzt darum, neue Instrumente zu schaffen und mit der Regulierung, die im TKG verankert ist, neue Anreize für Investitionen zu schaffen. Damit kommen wir zum Unterschied zu Ihnen, Herr Dörmann. Wir sind ganz klar der Meinung, dass dieser Ausbau im Rahmen eines Marktmodells stattfinden muss. Alle Unternehmen, die in der Branche tätig sind, haben in den letzten zwei Jahren bewiesen, dass sie in der Lage sind, mit marktwirtschaftlichen Modellen eine flächendeckende Versorgung zu erreichen. Trotzdem – jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt – wird das eine berühmte Prozent übrig bleiben. Es muss also darum gehen, dass wir Lösungen für das restliche Prozent, das noch nicht versorgt ist, finden, damit eine völlige Flächendeckung in Deutschland erreicht wird. Ich will noch ein paar Zahlen zu den Kosten für die Anschlüsse nennen – das wurde vor kurzem veröffentlicht –: Die Aufrüstung eines DSL-Anschlusses zu einem VDSL-Anschluss kostet ungefähr 700 Euro pro Anschluss. Ein FTTB, also das Verlegen von Glasfaserkabeln bis ins Gebäude, kostet ungefähr 1 400 Euro pro Anschluss, und ein Fibre to the Home, also das Verlegen von Glasfaserkabeln bis in die Wohnung, kostet ungefähr 4 000 Euro pro Anschluss. Daran kann man sehen, wie groß die Preisdifferenzen zwischen den einzelnen Anschlussarten sind. Wir haben in Deutschland zwei neue Instrumente geschaffen, die helfen, den Breitbandausbau wesentlich zu beschleunigen: Das eine ist das Breitbandbüro beim Bundeswirtschaftsministerium. Dieses Breitbandbüro hat sich mittlerweile zu einem Kompetenzzentrum des Breitbandausbaus entwickelt, ist Ansprechpartner für die Bürger, für die Wirtschaft, für die Kommunen, für die Landkreise und hilft dabei, ganz spezielle Modelle zu konstruieren, um den regionalen Ausbau in Deutschland voranzubringen. Das zweite Instrument ist der Breitbandatlas. Jeder kann ihn über das Internet einsehen. Das ist eine echte Innovation. Überlegen Sie sich einmal: Deutschland ist geteilt in 4,2 Millionen Raster. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahnsinn!) Ein Raster ist 250 Meter mal 250 Meter klein. Man kann also sehr detailliert feststellen, welche Infrastruktur und welche Anschlussmöglichkeiten in dem jeweiligen Gebiet vorhanden sind. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, mit traurigen Ergebnissen!) Die Länder selbst haben bei ihren Meldungen der Priorität1-Gebiete nicht gewusst, wo Breitbandanschlüsse vorhanden sind. Es ist also dringend notwendig, dass man sich einmal darüber klar wird, wo welche Anschlussmöglichkeiten schon heute bestehen. Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ich sagen: Die Verabschiedung des heute vorliegenden Gesetzentwurfes wird Deutschland einen großen Fortschritt bringen. Die verbesserten Möglichkeiten der Regulierung und die Investitionssicherheit für Unternehmen geben weitere Investitionsanreize. An den Bundesrat möchte ich appellieren, sich bei der Behandlung des Gesetzes auf die wirklich wichtigen Themen zu fokussieren und eine Einigkeit zu finden, statt in vielen zusätzlichen Verhandlungsrunden das Inkrafttreten dieses Gesetzes zu verzögern. (Klaus Barthel [SPD]: Weil Sie die Zeit verschlafen haben!) Ich bin überzeugt davon, dass wir am heutigen Tag einen großen Schritt nach vorne tun. Ich bedanke mich bei allen Partnern, die an diesem schwierigen Gesetz mitgewirkt haben. Jeder, der daran beteiligt war, weiß, wie kompliziert die Verhandlungen teilweise waren. Herr Dörmann, ich denke, insgeheim sind Sie eigentlich bei uns. Sie werden dem Gesetz hoffentlich zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Martin Dörmann [SPD]: Das wollen wir doch einmal abwarten!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Johanna Voß für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Johanna Voß (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während in vielen Großstädten inzwischen Internetanschlüsse mit 200 Megabit pro Stunde (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Pro Stunde! Das sind die Linken!) – pro Sekunde – existieren, müssen die Menschen auf dem Land froh sein, wenn sie per Mobilfunk ins Internet können, und damit erreichen sie nur den einstelligen Megabitbereich. Sobald mehrere Nutzer online sind, sinkt die Geschwindigkeit rasant, und das kostet dann weit mehr als ein Breitbandanschluss in der Stadt. Aber schlimmer geht immer: übers Modem ins Internet. Das betrifft immer noch über 1 Million Menschen. Ein Internetanschluss mit Modem ist so gut wie kein Internetanschluss. Das Surfen wird zur Strafe. Betriebe auf dem Land können noch nicht einmal Mails mit Anhängen öffnen. Wie soll man da arbeiten? Wie soll man da einen Betrieb leiten? Das ist kein Zustand! Der Breitbandanschluss muss daher endlich zur Norm für alle werden. (Beifall bei der LINKEN) Das geht nur mit der Aufnahme in den Universaldienstkatalog. Schon vor knapp vier Jahren hat die Linke das an genau dieser Stelle gefordert – leider ohne Erfolg. Jetzt haben sich die Grünen endlich unserer Forderung angeschlossen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl lächerlich! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einbildung ist auch eine Bildung!) Sie fordern nun wie wir eine Universaldienstverpflichtung für das Breitbandinternet von erst einmal 6 Megabit pro Sekunde. Glückwunsch dazu! Auch die SPD hat sich in letzter Minute bewegt und will ab 2013 einen Rechtsanspruch auf schnelles Internet. Auch sie hat eingesehen, dass der LTE-Mobilfunk keine lückenlose Grundversorgung leisten wird. Doch wie es aussieht, will die Union sich nicht gegen die FDP durchsetzen. Sie halten weiter den längst gescheiterten freien Wettbewerb hoch (Lachen der Abg. Claudia Bögel [FDP]) und verhindern eine Verpflichtung der Unternehmen. Sie haben zu verantworten, dass sich Deutschland beim schnellen Internet gerade einmal noch im Mittelfeld der europäischen Länder bewegt, dass ganze Landstriche in ihrer Entwicklung gebremst werden (Claudia Bögel [FDP]: Mein Gott! Das ist ja fürchterlich!) und Menschen von der virtuellen Außenwelt abgeschnitten sind. Zwischen dem Reichen und dem Armen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Recht, das befreit, heißt es im Geiste Rousseaus. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oha!) In ihrem Marktwahn bleiben Union und FDP sogar hinter den Vorgaben der EU zurück. Auf EU-Ebene steht „funktionales Internet“ im Universaldienstkatalog. Leider ist der Begriff nicht näher definiert. Die Mitgliedstaaten sollen so länderspezifische Gegebenheiten berücksichtigen können. Doch was machen Sie von Schwarz-Gelb daraus? Sie behalten den unbestimmten Begriff bei! Appelle an Unternehmen, freiwillige Verpflichtungen einzugehen, bringen hier nichts. Da braucht man nur auf den Frauenanteil in den Führungsetagen der Dax-Konzerne zu schauen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was hat das miteinander zu tun?) Unternehmen sind keine Wohltätigkeitsvereine. Sie wollen möglichst viel Gewinn machen. (Claudia Bögel [FDP]: Wovon leben wir denn alle?) Sie haben kein Interesse daran, freiwillig ihr Geld in die unrentablen ländlichen Gebiete hineinzupumpen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau so ist es!) Aber Sie als Regierung haben einen Versorgungsauftrag. Die Gewinne der Unternehmen haben Sie nicht so zu interessieren wie die Versorgung der Menschen. Das muss Ihr oberstes Interesse sein. (Beifall bei der LINKEN) Es ist auch Ihre Aufgabe, den Unternehmen die nötigen Vorgaben zu machen oder aber die Netze in die öffentliche Hand zu überführen. Sie müssen dafür sorgen, dass alle Bürgerinnen und Bürger mit schnellem Internet schleunigst grundversorgt werden. Oder hätten Sie Lust, zwei Stunden zu warten, bis Ihr Virenschutzprogramm endlich hochgeladen ist? (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ich lade es immer runter!) Glauben Sie den Unternehmen nicht alles! Wir wollen den Universaldienst mit einer Übertragungsrate von erst einmal 6 Megabit pro Sekunde für alle. Damit ist eine Grundversorgung wieder gewährleistet. Diese Vorgabe muss natürlich regelmäßig an den Stand der Technik angepasst werden. Zumindest Sie von den Grünen sollten unserem Antrag zustimmen. Unsere Kernforderungen haben Sie ja übernommen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird nicht richtiger, wenn man es immer wieder behauptet!) Am besten wäre es, auch SPD und CSU stimmten zu; dann hätten wir endlich die notwendige Mehrheit für schnelles Internet. Ansonsten heißt es, noch einmal zu warten oder auf den Bundesrat oder engere Vorgaben aus der EU zu hoffen. Aber das wäre ein Trauerspiel für ein Land, das sich für so technologiefreundlich und modern hält. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wie die Jungfrau das Kind haben wir am Dienstagabend 100 Seiten mit Änderungsanträgen zum Telekommunikationsgesetz bekommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!) Das ist nicht nur inakzeptabel, unkollegial, sondern auch völlig unnötig; denn die Frist der EU ist eh verpasst. Offensichtlich sollen Änderungen im Schweinsgalopp durchgepeitscht werden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Was aber noch schlimmer ist: Das Verfahren trägt der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und netzpolitischen Bedeutung dieses Gesetzes in keiner Weise Rechnung. Die Koalition gibt mit dieser Novelle eine Absage an das Recht auf Breitband für alle und hat dabei noch mal eben ein paar erforderliche Schutzrechte versenkt. Die FDP macht das mit, nur um einen Universaldienst zu verhindern, den die CSU eigentlich wollte. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie wollen das! – Claudia Bögel [FDP]: Sie wollen das! Zwangsversorgung!) Deshalb frage ich mich: Worauf haben Sie sich denn überhaupt geeinigt? Die Bürgerinnen und Bürger haben jedenfalls gleich zweimal verloren. Armes Deutschland! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Während die FDP immer noch glaubt, der Markt regele alles, so beweist der Stand der Breitbandversorgung genau das Gegenteil, Herr Rösler. Fast eine halbe Million Haushalte verfügt nicht einmal über einen Internetanschluss mit einer Leistung von 1 Megabit pro Sekunde. Da frage ich mich, ob es Ihr Bundestrojaner über eine solch langsame Leitung überhaupt in die Rechner schaffen würde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Lange Leitung!) Im Ernst: Ohne mindestens 1 Megabit ist Homeoffice – heute eine Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – genauso wenig möglich wie die Direktvermarktung kleiner Betriebe. Grundstücke verlieren ohne Breitbandanschluss an Wert. Aber vor allem braucht Deutschland für die Wirtschaft eine leistungsstarke und moderne Infrastruktur. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!) Statt neuer Straßen brauchen wir den Ausbau der Datenautobahnen. Das ist sinnvoll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Investitionen in Breitband ermöglichen eine klassische Win-win-Situation. Die OECD sagt, dass in den wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten die Breitbandkommunikation ein Drittel des Produktivitätszuwachses ausmacht. Hier geht es also nicht darum, irgendwelche Geschenke zu verteilen, sondern es geht darum, die Wirtschaftskraft Deutschlands zu stärken; denn Breitband ist ein Standortfaktor. In Sachen Glasfaser spielt Deutschland höchstens in der Kreisliga. Während in Schweden schon ein Viertel der Haushalte über Glasfaser verfügt, es in Südkorea fast 100 Prozent sind, sind es in Deutschland nicht einmal 2 Prozent der Haushalte, die einen Glasfaser-Hausanschluss haben. Herr Lämmel, was für ein Breitbandbüro Sie meinen, ist mir schleierhaft. Vielleicht meinen Sie Ihr Politbüro. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie sich aber wirklich in der Richtung vertan, Frau Kollegin! Die Politbüros sitzen da drüben!) Das ist kein gutes Zeichen und sagt einiges über die Rolle, die das Internet beim einstigen Exportweltmeister spielt. So wird das nichts mit der Hightech-Strategie von Frau Merkel. Das ist eine Slow-Motion-Strategie. Sie nennen immer nur Ziele, aber schweigen über den Weg dahin. Sie hatten das Ziel, 2010 alle Haushalte mit 1 Megabit pro Sekunde anzuschließen. Das Ziel wurde nicht erreicht. Jetzt haben Sie das Ziel, 2015 alle Haushalte mit einer Bandbreite von 50 Megabit pro Sekunde zu versorgen. Wie dies aber ermöglicht und vor allem wie dies finanziert werden soll, das bleibt Ihr Geheimnis. Wenn Ihre Ziele aber so schnell wechseln wie die zuständigen Minister, dann kann man leider auch nicht mehr erwarten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen den Glasfaserausbau schneller voranbringen. Daher brauchen wir neben der Verpflichtung zur Verlegung von Leerrohren gezielte finanzielle Anreize wie zum Beispiel die Förderung von Open Access. Für eine Grundversorgung fordern wir einen Universaldienst. Jeder Haushalt soll ab 2013 ein Recht auf einen Anschluss mit einer Bandbreite von 6 Megabit pro Sekunde haben. Das ist übrigens die Bandbreite, über die die Mehrheit der Bevölkerung jetzt schon verfügt. Damit ist unser Vorschlag auch EU-rechtskonform. Dass er juristisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll ist, haben wir in einem Gutachten überprüfen lassen. Damit haben wir die Hausaufgaben gemacht, deren Erledigung man eigentlich von der Koalition hätte erwarten müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit Ihrem Gesetzentwurf werden die weißen Flecken sicherlich nicht geschlossen werden. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Weil es grüne sind!) Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Verbraucherschutz sagen. Das groß angekündigte Versprechen einer kostenlosen Warteschleife wird nicht gehalten. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was? – Weiterer Zuruf von der FDP: Was?) Stattdessen gibt es ein mehrstufiges Kostenmodell. Nur die ersten zwei Minuten sollen für Anrufer kostenfrei sein. Dann werden einige Anbieter die Leute in der Schleife warten lassen. Schließlich gehört das bei einigen Anbietern zum Geschäftsmodell. Wir fordern, dass Warteschleifen ohne Wenn und Aber kostenfrei sein müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nun zu den Tarifkonditionen: Wir vermissen einen verbraucherfreundlichen Ein-Jahres-Grundtarif und ein einmonatiges Sonderkündigungsrecht. Aktuell stehen die Verbraucherinnen und Verbraucher vor einem Dschungel an Tarifen mit vielen Tücken im Kleingedruckten. Hier muss mehr Transparenz herrschen. Zusammenfassend kann ich sagen: Die Bundesregierung setzt mit dieser Vorlage die Vorgaben europäischer Richtlinien zur Telekommunikation zwar um, leider aber auch nicht mehr. Dabei hätten Sie die Chance gehabt, mit uns gemeinsam ein modernes und zukunftsgerichtetes Gesetz vorzulegen und Breitband für alle zu ermöglichen. Schade, dass Sie das nicht wollen! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Bögel für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Claudia Bögel (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, es stimmt. Wir haben es uns nicht einfach gemacht. Wir haben lange beraten. (Klaus Barthel [SPD]: Herausgekommen ist gar nichts!) Mit der heute vorliegenden Novelle liegt jedoch ein neuer Meilenstein in der Erfolgsgeschichte des TKG zur Beratung vor. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Martin Dörmann [SPD]: Das ist peinlich! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbsthypnose!) Wir haben das Gesetz an vielen Stellen zum Nutzen der Verbraucher und zum Nutzen der Wirtschaft in unserem Lande geändert und ergänzt. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur einmal die kostenlosen Warteschleifen erwähnen, die Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Telefonaten sowie die Transparenz und Kontrolle vertraglich vereinbarter Übertragungsgeschwindigkeiten. Wir haben so Planungssicherheit für investierende Unternehmen geschaffen. Wir haben das wichtige Thema Netzneutralität hervorgehoben. Wir haben das Gesetz ergänzt durch die Öffnung alternativer und Bundesinfrastrukturen. (Klaus Barthel [SPD]: Was?) Durch das sogenannte Microtrenching beschleunigen wir den Netzausbau, da die Verlegetechniken dadurch einfacher und kostengünstiger werden. Viele zweifeln in der gegenwärtigen Zeit an den positiven Effekten der marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Fraktion der Linken will sie sogar abschaffen. Dabei beweist das TKG, dass ein Monopol schrittweise in den Wettbewerb überführt werden kann – und das mit fundierten und greifbaren Vorteilen für alle. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]) Bei der Zahl der Breitbandanschlüsse liegen die Deutsche Telekom AG und die Wettbewerber fast gleichauf. Mit dem heutigen Gesetz setzen wir diesen Erfolgskurs fort. 99 Prozent der Haushalte in Deutschland können bereits das Internet mit 1 000 Kilobit pro Sekunde nutzen. Doch die Technik schreitet voran. Wer hätte vor 10 oder 15 Jahren schon geahnt, dass sich das Medium Internet so schnell fortentwickeln würde? Die Zeit wird kommen, in der wir Datenautobahnen benötigen werden, die 50- bis 100-mal soviel Daten transportieren können. Auch die Nachfrage nach der mobilen Nutzung von schnellem Internet nimmt ständig zu. Das wirtschaftliche Kernanliegen dieses Gesetzes ist es, solche neue, hochmoderne Netzinfrastruktur mit Mitteln des Marktes voranzubringen. Wir haben bei den parlamentarischen Beratungen intensiv diskutiert, wie wir Datennetze der nächsten Generation auch im ländlichen Raum durchsetzen können. Manche wollen die flächendeckende Versorgung mit Datenautobahnen zur Staatsaufgabe machen, sozusagen eine sozialistische Zwangsversorgung vollziehen. (Iris Gleicke [SPD]: Aha! – Martin Dörmann [SPD]: Meinen Sie jetzt die CSU? – Zurufe von der LINKEN) Die Ausbaukosten eines solchen Universaldienstes von bis zu 90 Milliarden Euro sollen dann auf alle Bundesbürger umgelegt werden. Dieser Weg ist ungerecht, falsch und exorbitant teuer – für jeden! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unternehmen, die sich gerade am Markt etablieren konnten, würden aufgrund dieser Maßnahmen kapitulieren müssen. Arbeitsplätze gingen verloren. Das Reden über staatlich organisierte Investitionen ist ein Investitionshemmnis ersten Ranges. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es lässt den gut entwickelten Wettbewerb sofort in eine Schockstarre verfallen. Einen Universaldienst jetzt als Instrument anzukündigen, würde die Investitionspläne aller TK-Unternehmen auf der Stelle einfrieren. Wir dürfen hier nicht die Zwangsbeglückung eines jeden mit schnellem Internet fordern. Das ist falsch. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch soziale Teilhabe! – Iris Gleicke [SPD]: Das ist ja unglaublich! – Zurufe von der LINKEN) Wenn der Staat Bandbreiten für das Internet diktiert, dann diktiert er auch die Bedürfnisse seiner Bürger. Denn Festnetze können eben nicht an wachsende Bedürfnisse dynamisch angepasst werden. Wer heute also eine Grundversorgung mit 2 000 Kilobit als Universaldienst fordert, der verhindert Investitionen in die Datenautobahnen der Zukunft. (Martin Dörmann [SPD]: Glauben Sie das eigentlich selber, was Sie da sagen? – Iris Gleicke [SPD]: Wer hat Ihnen den Müll aufgeschrieben?) Die Branche, sowohl das führende TK-Unternehmen als auch die Wettbewerber, fordert Planungssicherheit und Erleichterungen für den marktgetriebenen Ausbau. Genau das haben wir in dieser TKG-Novelle umgesetzt. Wir haben in den Grenzen des Verfassungsrechts und des europäischen Rechts alle Möglichkeiten ausgereizt, um die Ausbaukosten zu senken. Ich bin davon überzeugt, dass wir auf diesem Weg auch im ländlichen Raum einen raschen Ausbau vollziehen werden. (Beifall bei der FDP) Staatlicher Zwang darf nicht der Startpunkt einer Strategie zur Versorgung des ländlichen Raumes sein, sondern kann allenfalls ihr Schlusspunkt sein. Ich appelliere an die Bundesländer, sich ebenfalls für diese Rangfolge zu entscheiden. Nur so können wir gravierende Kostensteigerungen für alle Internetnutzer und Fehlinvestitionen in der Fläche vermeiden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon überraschend, dass das Telekommunikationsgesetz heute überhaupt auf der Tagesordnung steht. Sie bezeichnen es als Meilenstein. Über Meilensteine kann man aber ziemlich schnell stolpern. (Beifall bei der SPD) Die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes ist in den vergangenen Monaten zur unsäglichen Hängepartie geworden; das bezeichnet sinnbildlich den Zustand dieser Koalition. Angesichts des ganzen Hin und Her können die Verbraucherinnen und Verbraucher fast schon froh sein, dass das Gesetz heute im Plenum behandelt wird. Der große Wurf ist das Gesetz trotzdem nicht geworden, anders als am Anfang vollmundig versprochen. Natürlich bringt es kleine Verbesserungen für die Verbraucher; aber gemessen an den Problemen, denen die Verbraucher tagtäglich gegenüberstehen, kann man sagen: Das ist nur gehüpft und eben nicht gesprungen. (Beifall bei der SPD) Unsicherheiten, Ärgernisse und Abzocke werden nicht der Vergangenheit angehören; sie gehören weiterhin zum Alltag. Ich nenne einige Beispiele: Internetverträge: Es wird weiterhin Menschen geben, deren Verträge vom bisherigen Internetanbieter gegen ihren Willen gekündigt werden und die dann einen Vertrag bei einem anderen Internetanbieter bekommen, egal ob sie ihn wollten und ob sie ihn überhaupt abgeschlossen haben. Jedes Jahr sind viele Menschen von solchen ungewollten Anbieterwechseln betroffen. Es wäre so einfach, diese unsägliche Praxis zu unterbinden: Man müsste nur verpflichtend die Kündigung der Internetverträge in Schriftform vorschreiben, so wie wir, die SPD-Bundestagsfraktion, es in unserem Antrag gefordert haben. (Beifall bei der SPD) Sie haben in letzter Minute versucht, vieles nachzubessern; aber leider haben Sie es hier versäumt. Deswegen wird es weiterhin den Ärger bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern geben. Ein gewollter Wechsel zu einem Internetanbieter bleibt dagegen unter Umständen schwierig. Sie haben jetzt zwar auf den Weg gebracht, dass der Wechsel des Anbieters innerhalb eines Tages vollzogen werden soll, aber haben vergessen, die Nichteinhaltung zu sanktionieren. Das ist ungefähr so, als wenn man sagen würde: „Du darfst nicht über eine rote Ampel fahren, aber du kriegst keinen Punkt und keinen Strafzettel, wenn du es doch tust. Dann gucken wir einmal, wer sich daran hält.“ Sie wollten das Richtige tun und regulativ wirken, aber Sie hatten Angst vor Ihrer eigenen Courage und sind auf halbem Wege stehen geblieben. (Beifall bei der SPD) Stattdessen hoffen Sie einmal mehr, dass sich der Markt und die Unternehmen selbst regulieren und sich die Probleme von alleine in Luft auflösen. Das wird aber nicht passieren; das kann man schon heute verraten. Internetgeschwindigkeit: Auch weiterhin wird es möglich sein, dass einem Kunden bei Abschluss eines Vertrages Bandbreiten versprochen werden, die er nach Vertragsabschluss aber nie zur Verfügung haben wird. DSL-Anbieter versprechen 6 000 oder 16 000, ja sogar 50 000 Kilobit pro Sekunde – das bewerben sie –, aber nach Vertragsabschluss steht den meisten Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich nur eine geringere Internetgeschwindigkeit zur Verfügung. Jetzt steht im Gesetzentwurf nur, dass der Anbieter seine Kunden über eine mögliche Geschwindigkeitsabweichung informieren muss. Ich fand es schon überraschend, heute Morgen im Handelsblatt zu lesen, dass es ein Gericht gibt – das Landgericht Bonn –, das einem großen, etablierten Telekommunikationsanbieter seine irreführende Werbung für eine Internetflatrate untersagt: Die Information über die Drosselung der Datengeschwindigkeit ab einem bestimmten übertragenen Datenvolumen konnte der Verbraucher nämlich nur mühsam über einen umständlichen Internetpfad finden. Sie belassen es weiterhin bei dieser Situation; der Verbraucher wird weiterhin im Regen stehen gelassen. (Beifall bei der SPD – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) – Doch, das stimmt. – Den Verbrauchern muss vertraglich eine Mindestgeschwindigkeit zugesichert werden und ein Sonderkündigungsrecht für den Fall eingeräumt werden, dass diese nicht eingehalten wird. So steht es in unserem Antrag, allerdings nicht in Ihrem Gesetzentwurf. Kostenfallen im Mobilfunk: Ich habe mich gestern Morgen fast schon gefreut, als ich Ihren geänderten Gesetzentwurf gelesen habe. Man konnte denken: Was auf EU-Ebene Usus ist, nämlich ein Kostenairbag, das kommt auch unseren Verbrauchern hier zugute. Aber leider ist die entsprechende Regelung in Ihrem Gesetzentwurf nur als Kannregelung formuliert. Also gibt es keine Rechtssicherheit für den Verbraucher. Man kann sich viel über den mangelnden Datenschutz im Internet beklagen. Es reicht aber nicht aus, wenn eine Verbraucherschutzministerin einer Firma in den USA einen Besuch abstattet und sich dann ärgert, dass sie nicht darüber informiert wurde, dass dieses Unternehmen in Zukunft ein umfassendes und öffentliches Privatarchiv seiner Nutzer, vom Babyfoto bis zur Traueranzeige, aufbauen will: Es will alles einsammeln, was das Leben ausmacht. Sie müssen nicht nur ankündigen, sondern auch tatsächlich handeln. (Zurufe von der FDP) Da bleibt diese Regierung in der Warteschleife, der Verbraucher bleibt im Regen stehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile dem Kollegen Georg Nüßlein für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Erkläre mal, warum du nicht mehr für Breitband bist! Alle Zitate liegen hier vor!) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das TKG war in der Tat eine schwierige Geburt. Man könnte es sich jetzt leicht machen und sagen, dass das auch der Diskussion rund um das Thema Euro geschuldet ist, (Martin Dörmann [SPD]: Das wäre aber falsch!) das uns momentan wie kein anderes Thema bindet. Das ist aber natürlich nur die halbe Wahrheit. Fakt ist, dass ich im Rahmen der Debatte erleben musste, wie schwer sich Ministerien tun, die nicht unmittelbar mit der Thematik befasst sind, über den Tellerrand ihrer Referatszuständigkeit zu blicken. (Martin Dörmann [SPD]: Aha!) Ich musste auch feststellen, dass dieses Thema schwierig ist, weil es eigentlich um etwas Neues geht, nämlich um den Ausbau einer Infrastruktur im Wettbewerb, und zwar einer Infrastruktur, die sich dynamisch entwickelt. Das ist ein Novum. Und da finde ich es schon einigermaßen unverschämt, wenn sich die Linke hier hinstellt und versucht, uns Lehren zu erteilen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach Gott! Die Linke ist doch egal!) Ich erinnere daran, dass sich in der DDR – das ist ja das Referenzfeld, auf dem die Linken gezeigt haben, was sie können – zehn Familien einen Telefonanschluss geteilt haben, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das gab es noch kein Internet!) und zwar zu Zeiten, als es bei uns in der BRD ganz normal war, zu Hause einen Telefonanschluss zu haben. Das ist die Realität. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was hilft Ihnen das jetzt in dieser Diskussion?) Da sehen Sie, wie weit man mit Ihrer ständig vor sich hergetragenen Staatswirtschaft kommt. Ich bitte darum, auch das einmal zu berücksichtigen und hier im Plenum ein bisschen kleinlauter zu sein, wenn Sie schon Ratschläge erteilen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das hätten Sie gerne!) Aber, meine Damen und Herren, es gibt neben der Problematik, eine sich dynamisch entwickelnde Infrastruktur im Wettbewerb ausbauen zu wollen, auch die Problematik, dass man Verbraucherschutz gegenüber den Investoreninteressen abwägen muss; denn wir wollen natürlich nicht das eine zulasten des anderen ausspielen. Auch da muss man wohl abwägen. Ich meine, dass uns das in diesem Gesetz gut gelungen ist. Wenn wir diese Diskussion jetzt an der Stelle auf das Thema Universaldienst verengen, dann machen wir etwas falsch. Ich habe im Laufe der Debatte zwischen den Berichterstattern festgestellt, dass die Diskussion über den Universaldienst für viele einfach zu früh kam. (Klaus Barthel [SPD]: Seit 15 Jahren im Gesetz!) Wir haben zu früh über die Thematik diskutiert, wie man die weißen Flecken füllt – zu früh deshalb, weil der LTE-Ausbau erst die Voraussetzungen für die Diskussion liefern wird und weil wir erst nach dem Abschluss des LTE-Ausbaus sehen können, Herr Kollege Dörmann, welche Flecken weiß bleiben, und dann überlegen müssen, wie wir sie füllen. Denn eine ganz kleine Minimallösung mit 1 Megabit, so wie Sie es im Ausschuss diskutiert haben, hilft natürlich niemandem. (Martin Dörmann [SPD]: Wer hat das denn diskutiert?) Ich meine aber durchaus, dass man am Ende eine Diskussion über die Frage führen muss, wie man den ländlichen Raum versorgt. Es geht nicht an, meine Damen und Herren, dass wir sagen: „Den hinterletzten Forsthof muss man nicht versorgen“, und dass dann einfach Gemeinden mit 1 500 Einwohnern zum hinterletzten Forsthof erklärt werden. Das halte ich für nicht akzeptabel. Wir wollen eine volle Versorgung für den ländlichen Raum; denn das bietet für den ländlichen Raum eine besondere Chance. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann mal los!) Die Infrastrukturnachteile, die der ländliche Raum seit vielen Jahren hat, kann man über eine Breitbandversorgung ausgleichen. Deshalb müssen wir weiter mit Dynamik an dieser Thematik arbeiten, damit die weißen Flecken gefüllt werden. Ich halte den Vorschlag, noch einmal mit der KfW über die Frage zu reden, ob man vielleicht über Zinsverbilligungen von Investorendarlehen an der Stelle weiterkommt, für einen durchaus guten Vorschlag. Ich weiß, dass wir über das Thema Universaldienst an dieser Stelle auch in absehbarer Zeit wieder diskutieren werden. Davon bin ich überzeugt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! So, so! – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Aber bis zu diesem Zeitpunkt haben wir mit dieser Novelle hervorragende Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Ausbau kostengünstiger und damit schneller und auch flächendeckender vorangeht. Ich bitte, das auch einmal anzuerkennen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) und freue mich ausdrücklich, Herr Dörmann, dass Sie das in Teilen auch gemacht haben. (Martin Dörmann [SPD]: Wir schon! Sie nicht!) Es ist nämlich schon entscheidend, dass wir über die Verpflichtung der Hauseigentümer zur Zulassung eines Hausstichs jetzt geregelt haben, dass, wenn ein Breitbandkabel in einer Straße gelegt wird, notfalls auch gegen den Willen der Hauseigentümer jedes einzelne Haus vorsorglich angebunden und damit zusätzliche Kosten verhindert werden können. Es ist entscheidend, dass wir geregelt haben, dass bei der Inhouse-Verkabelung die Infrastruktur, die im Haus bereits vorhanden ist, auch von Dritten und anderen Wettbewerbern genutzt werden kann. Es ist entscheidend, dass wir Informationen darüber offenlegen, wo bereits Infrastruktur vorhanden ist. Dabei handelt es sich um die große Innovation „Breitbandatlas“, die der Kollege Lämmel schon angesprochen hat. Es ist aber ebenso entscheidend, dass man die erhaltenen Informationen intelligent nutzt. Insbesondere geht es um die Frage: Wie vermeiden wir den Aufbau von Parallelstrukturen? (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Genau!) Wie kann man sicherstellen, dass Infrastruktur, die bereits vorhanden ist, auch von anderen genutzt werden kann? Dazu haben wir ein intelligentes Verfahren in den parlamentarischen Prozess eingebaut, nämlich ein Schiedsgerichtsverfahren, bei dem letztendlich alle Inhaber von Infrastruktur gezwungen werden können, sich an einen Tisch zu setzen und über die Frage zu verhandeln, wie und zu welchen Konditionen sie diese Infrastruktur zur Verfügung stellen. (Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]) Dass man das nicht verpflichtend gestalten kann, ist klar. Der Schutz des Eigentums ist ein hohes Gut, nicht nur in der Verfassung, sondern gerade auch für diese Koalition. Ich glaube, dass das Verhandeln darüber Etliches bewegen wird. Ich halte es ausdrücklich für richtig, dass der Bund seine Infrastruktur offensiv zur Verfügung stellt. Das Bundesverkehrsministerium hat nach – wie ich einräumen muss – längerer Diskussion gesagt: Wir stellen die Infrastruktur des Bundes zu Lande und zu Wasser zur Verfügung, und zwar verpflichtend. Das halte ich für einen ganz wesentlichen Schritt. Zum Thema Micro- bzw. Minitrenching. Es bietet sich da die Chance einer kostengünstigen Verlegung von Glasfaserleitungen. Das haben wir ins Gesetz geschrieben und stellen damit die entsprechenden Regelungen über die sonst geltenden DIN-Normen. Das ist ebenfalls ein wichtiger Ansatz, weil ich auch in diesem Punkt der Überzeugung bin, dass das für einen kostengünstigen Ausbau der Infrastruktur genutzt wird. Ich weiß, dass es politisch viel spannender ist, über die Fragen zu diskutieren, bei denen es nicht gelungen ist, eine Antwort zu finden. Die Opposition sucht natürlich eine Angriffsfläche. Ich gebe zu, dass das Gerangel um die Universaldienstverpflichtung eine ideale Gelegenheit dazu bietet. Ich bitte aber darum, anzuerkennen, wie sehr der vorliegende Gesetzentwurf geeignet ist, den Ausbau von Breitband insgesamt, aber auch im ländlichen Raum voranzubringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Bitte glauben Sie mir, dass wir wissen, dass es am Ende – wenn man so will – ein Marktversagen geben wird. Aber vermutlich wird es gar kein Marktversagen sein, weil die Märkte in diesem Bereich durchaus funktionieren. Allerdings wird es entlegene Landstriche geben, die man über den Wettbewerb niemals versorgen kann, weil sich das nicht rentiert. (Zuruf von der LINKEN) Lassen Sie uns in den nächsten Monaten konstruktiv darüber diskutieren, was man tun kann, um diese Landstriche möglichst marktnah in die Versorgung einzubinden und um die Anzahl der sogenannten weißen Flecken auf ein Minimum zu reduzieren. Lassen Sie uns zum Schluss über die Frage diskutieren, wie wir unter Einbeziehung des Themas Universaldienst den letzten Lückenschluss hinbekommen. Das halte ich für vernünftig. Ich bin optimistisch, dass mit LTE das erreicht wird, was die Bundesregierung mit ihrer Strategie voranbringen möchte. Ich bin davon überzeugt, dass uns das schnell gelingen wird. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren über eine Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, für die am Dienstagabend 117 Seiten Synopse mit unzähligen Änderungsanträgen vorgelegt wurden, die Mittwoch früh in den Ausschüssen beraten wurden. Allein dieses Verfahren, allein diese Art des Umgangs mit dem Parlament würde es rechtfertigen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, das Gesetz abzulehnen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Eine Novelle hat eigentlich den Zweck, ein Gesetz den veränderten Erfordernissen anzupassen, (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Haben wir gemacht!) bestehende Fehler zu korrigieren oder auch ein paar Weichen neu zu stellen. Bedarf hätte es dafür beim TKG reichlich gegeben. Ich nenne nur die Stichpunkte Vorratsdatenspeicherung und Recht auf anonyme Kommunikation. Es hätte zum Beispiel nahegelegen, das TKG vorausschauend auf Höhe des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Vorratsdatenspeicherung zu bringen und alle anfallenden Daten und ihre Speicherfristen auf ein absolutes Minimum zu beschränken. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lars Klingbeil [SPD] – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Diese Chance hat die Koalition jedoch nicht genutzt. Im Gegenteil: Sie haben mit den schon erwähnten Änderungsanträgen zukünftigen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung den besten Boden bereitet. (Claudia Bögel [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Was konkret schon jetzt bedeutet, möglichst viel möglichst lange zu speichern. (Claudia Bögel [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Einig werden muss sich die Koalition nur noch in der Frage, welche der Sicherheitsbehörden auf diese Daten zugreifen dürfen. Diese Novelle hat nichts mit einer vorausschauenden Politik zu tun und erst recht nichts mit einer bürgerrechtlichen Politik. Zum Breitbanduniversaldienst wurde das Notwendige bereits gesagt. Deswegen beschränke ich mich auf eine Kernfrage des offenen und freien Internets, nämlich auf die gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität, die die Linke und die anderen Oppositionsfraktionen fordern. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung kam zunächst nicht einmal das Wort „Netzneutralität“ vor. Weil das der Koalition vielleicht zu peinlich war – dann wäre ihr wenigstens einmal etwas peinlich gewesen –, legte sie im Rahmen der 117-seitigen Synopse hastig einen Änderungsantrag vor, der den Eindruck vermitteln sollte, ihr läge etwas an einem freien Internet. Mit einer optionalen Rechtsverordnung – ich kann, ich muss aber nicht – soll eine Ungleichbehandlung der Nutzerinnen und Nutzer in Form von Verschlechterungen und Verlangsamungen des Datenverkehrs angeblich verhindert werden. Wer genau liest, stellt jedoch fest, dass nur willkürliche Verschlechterungen und ungerechtfertigte Verlangsamungen gemeint sind. Für unwillkürliche Verschlechterungen und vermeintlich gerechtfertigte Verlangsamungen bleiben Tür und Tor weiterhin geöffnet. Was unwillkürlich und gerechtfertigt ist, bleibt unklar. Deshalb ist festzustellen: Das ist eine Mogelpackung, das ist ein Placebo zur Beruhigung, und das lehnen wir ab. (Beifall bei der LINKEN) Welche Folgen hat Ihr Gesetzentwurf konkret? Wenn es nach dem Willen von Telekom und Co. geht, wird es in Zukunft verschiedene Qualitätsstufen, die mit zusätzlichen Kosten verbunden sind, für den Internetzugang der Bürgerinnen und Bürger geben. Das hätten Sie mit der TKG-Novelle verhindern können, haben es aber nicht. Kurz gesagt: Es kann passieren, dass zukünftig extra gezahlt werden muss, wenn man Online-Videodienste oder Internettelefonie in guter Qualität nutzen will. Ihre Gesetzesnovelle ist das Einfallstor für ein Zwei-Klassen-Internet. (Claudia Bögel [FDP]: Mein Gott! Das ist unglaublich!) In der ersten Klasse können Besserverdienende dann alle gewünschten Dienste nutzen. In der zweiten Klasse gibt es für Einkommensschwache und vor allem deren Kinder nur noch das, was die Telekom und andere für wenig Geld anzubieten haben. Damit machen Sie ganz nebenbei zum wiederholten Mal den Zugang zu Wissen und Teilhabe abhängig vom Geldbeutel. Das ist ungerecht, und das ist falsch. (Beifall bei der LINKEN) Sich dessen bewusst zu werden, bedeutet dann aber auch zu erkennen: Die Frage der Netzneutralität ist kein Thema allein für Nerds. Es handelt sich vielmehr um eine für die gesamte Gesellschaft zentral wichtige Frage. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Glauben Sie eigentlich selbst, was Sie erzählen?) Die Probleme hören aber nicht beim Internetzugang auf. In der Debatte um die Netzneutralität hat Telekom-Chef Obermann regelmäßig gefordert, sogenannte Qualitätsklassen einzuführen. Das heißt nichts anderes, als dass zukünftig bestimmte Dienste vor anderen bevorzugt werden. Netzbetreiber – nehmen wir beispielsweise wieder die Telekom –, die auch als Inhaltsanbieter agieren, werden ihre eigenen Inhalte schnell und in guter Qualität anbieten und fremde Inhalte ausbremsen und blockieren. Denjenigen, die unabhängig Inhalte zur Verfügung stellen möchten – Blogger, NGOs oder Internet-Start-up-Unternehmen –, bleibt nur noch, sich in die Qualitätsklassen der Netzbetreiber mit Extragebühren einzukaufen. Nur so können Sie mit deren Qualität konkurrieren. Damit beerdigen Sie nicht nur die Informationsfreiheit, sondern die Innovationsfähigkeit des Internets gleich mit. Wie die marktgläubige FDP dabei mitspielen kann, ist mir schleierhaft, aber nicht mein Problem. Wir wollen das nicht. Wir wollen nicht, dass das Internet willkürlichen Eingriffen, von wem auch immer, ausgesetzt wird. Der freie und gleichberechtigte Zugang zum Internet gehört zur Daseinsvorsorge einer demokratischen Gesellschaft. Das steht richtigerweise auch in unserem Parteiprogramm. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Da steht noch mehr!) Daher fordert die Linke eine gesetzliche Garantie für die Bürgerrechte auch im Internet. Das geht nur mit einer gesetzlich festgeschriebenen Netzneutralität. Dafür steht die Linke. Die TKG-Novelle ist ein netzpolitisches Armutszeugnis der Bundesregierung. Die Koalition hat sich offensichtlich damit abgefunden, ihre Regierungstätigkeit auch in diesem Bereich weitgehend einzustellen. Bei Geodatendiensten und beim Datenschutz in sozialen Netzwerken gibt sich die Bundesregierung mit Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zufrieden. Bei der Netzneutralität stellt sie sich einfach tot. Eine souveräne Regierungstätigkeit sieht anders aus. Eine Netzpolitik, die auf die Stärkung von Bürgerrechten, den Erhalt eines freien Internets und den Ausbau von Zugangsgerechtigkeit setzt, sieht auch anders aus. Für die Linke ist klar: An einer gesetzlich festgeschriebenen Netzneutralität führt kein Weg vorbei. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Genau das steht in unserem Antrag. Diesem können Sie ja zustimmen. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, wenn in der Agenda 2020 der EU über den Breitbandausbau steht, dass alle Haushalte in Europa über Anschlüsse mit mindestens 30 Megabit pro Sekunde und mehr als die Hälfte der Haushalte sogar über Anschlüsse mit mindestens 100 Megabit pro Sekunde verfügen sollen, dann ist das, was Sie hier heute vorlegen, eine uninspirierte dünne Suppe. Dies lässt sich auch nicht durch alle Innovationsrhetorikphrasen dieser Welt überdecken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der FDP: Oh!) Die entscheidenden Infrastrukturen der Zukunft sind nicht mehr aus Beton und Asphalt, sondern es sind die neuen Kommunikationsnetze. Sie sind essenziell für unsere moderne Wissens- und Informationsgesellschaft, und sie sind essenziell für alle Menschen in diesem Land. Erzählen Sie einmal den Millionen Abgehängten, die bis heute immer noch keinen adäquaten Zugang zum Netz haben, von den Anreizen, die Sie jetzt implementieren wollen, und von Ihrer Aussage, dass es eigentlich gar keine weißen Flecken mehr gibt. Das geht vollkommen an der Realität von ganz vielen Menschen in diesem Land vorbei. In einem Land wie der Bundesrepublik muss gelten: So selbstverständlich wie die Versorgung mit Wasser, Strom, Post und Telefon, so selbstverständlich muss der Staat den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum Internet gewährleisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das ist immanenter Bestandteil der Daseinsvorsorge im 21. Jahrhundert. Deswegen brauchen wir eine Universaldienstverpflichtung. In dieser zentralen Zukunftsfrage versagt Ihr Gesetzentwurf auf ganzer Linie. Da Kollege Altmaier anwesend ist, spreche ich Folgendes gerne an: Wir haben es offenbar einem Mikrobloggingdienst zu verdanken, dass nun auch der Parlamentarische Geschäftsführer der Union an diesen Debatten teilnimmt; das ist schön. (Sebastian Blumenthal [FDP]: Mal zum Thema!) Aber ein zwitschernder Altmaier macht noch keinen netzpolitischen Frühling bei der Union. Auch in diesem Politikbereich gilt: Was zählt, ist auf dem Platz. Was zählt, ist politische Substanz. (Sebastian Blumenthal [FDP]: Kommt noch etwas zum Thema?) Man kann die Politik der Uhls, Kauders und ähnlicher Kaliber nicht einfach wegtwittern. Entscheidend ist, wie Sie sich als Gesetzgeber verhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dieser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Kollege Altmaier, ist unter netzpolitischen Gesichtspunkten kein Ruhmesblatt, ganz im Gegenteil. Es ist eine weitere Dokumentation des Versagens der Union in dem Punkt, den Bürgerrechten in der digitalisierten Gesellschaft einen angemessenen Raum zu geben. Es ist nur mit Desinteresse und einer gewissen Antihaltung zu erklären, dass Sie bei der Neuregelung des Telekommunikationsgesetzes, also bei der mit Spannung erwarteten netzpolitischen Baustelle dieses Jahres, im Hinblick auf Daten- und Verbraucherschutz gar nichts liefern. Thema Datenschutz. Durch das bekannt gewordene Papier der Staatsanwaltschaft München wissen wir, dass sensible Kommunikationsdaten öfter länger gespeichert werden, als es für legitime Zwecke erforderlich ist. Deswegen war in einer früheren Fassung des Gesetzentwurfs eine Speicherdauer von drei Monaten festgeschrieben. Das hat die Union in letzter Sekunde rausgekegelt. Ganz ähnlich verhält es sich bei der E-Privacy-Richtlinie. Sie haben gestern im Wirtschaftsausschuss vom Bundesdatenschutzbeauftragten gehört, dass wir gesetzliche Regelungen brauchen. Aber in Ihrem Entwurf findet sich dazu rein gar nichts. – Kollege Höferlin würde gerne etwas fragen, Herr Präsident. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön, Herr Kollege Höferlin. Manuel Höferlin (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege von Notz, Sie haben gerade angesprochen, dass die Speicherbefristung aus dem Gesetzentwurf gestrichen wurde. Ich gehe davon aus, dass Sie ihn ordentlich gelesen haben. Es geht dabei um § 97 Abs. 4, also unter anderem um die Speicherung von Abrechnungsdaten zwischen Diensteanbietern. Was Sie angesprochen haben, betrifft § 97 Abs. 3. Darin geht es um das Verhältnis der Telekommunikationsanbieter zu ihren Kunden. Dort ist alles wie bisher: Die Daten sind so schnell wie möglich zu löschen. Sie beziehen sich aber anscheinend auf das Verhältnis zwischen den Diensteanbietern. Das verstehe ich nicht ganz. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will Ihnen das gerne erklären. Manuel Höferlin (FDP): Dort gibt es noch nicht einmal eine dreimonatige Speicherfrist. Vielmehr müssen die Daten nach den allgemeinen Grundsätzen der Datensparsamkeit so schnell wie möglich gelöscht werden. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich den Gesetzentwurf ordentlich gelesen habe. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Da sind Sie aber der Einzige von Rot-Grün!) Allerdings war das Verfahren, das Sie allen zugemutet haben, grottenschlecht und auch in handwerklicher Hinsicht unterirdisch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Minister, das war sicherlich auch für Sie unangenehm. Sie können uns gern einmal erzählen, wie es ist, wenn die eigenen Leute die von Ihnen in Ihrem Entwurf vorgeschlagenen Kernpunkte sozusagen in letzter Sekunde, zwölf Stunden vor den Beratungen, ablehnen. (Manuel Höferlin [FDP]: Können Sie bitte auf meine Frage antworten!) Bezüglich der Speicherfirsten, Herr Kollege Höferlin, wollten Sie eine Dreimonatsfrist implementieren. Das liegt daran, dass es in diesem Bereich ein neues Problembewusstsein gibt. Wir wissen aufgrund vieler Skandale der Vergangenheit sowie durch das interne Papier der Staatsanwaltschaft, dass die Möglichkeit der langen Speicherdauer ausgenutzt wird und es auch ein massives Interesse vonseiten der Sicherheitsbehörden gibt, darauf zuzugreifen. Deswegen war die Intention der FDP, dies zu beschränken, eigentlich sehr lobenswert. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Aber Sie haben sich in letzter Sekunden an dieser Stelle herauskegeln lassen. Das ist das Versagen Ihrer Politik im Bereich des Datenschutzes. Es tut mir herzlich leid, das sagen zu müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie immer: umgefallen! – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Frage nicht beantwortet!) Es gibt einen weiteren Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten bezüglich des Wahlrechts von Telekommunikationskunden hinsichtlich der Speicherdauer ihrer Daten. Davon ist im Gesetzentwurf nichts zu finden. Von den 50 Vorschlägen des AK Vorrat, der das gesamte Verfahren begleitet hat, haben Sie nichts übernommen – nicht eine einzige Regelung. Sie liefern nichts. Sie verhindern geradezu einen zeitgemäßen Datenschutz. (Claudia Bögel [FDP]: Das stimmt nicht!) Auch das immanent wichtige Thema der Netzneutralität wird von der Koalition links liegengelassen. Die Netzneutralität – das ist hier bereits gesagt worden – ist die zentrale Voraussetzung für ein freies, offenes und innovatives Netz. Es gibt sogar Leute unter Ihnen – zum Beispiel die CSU in Bayern –, die das ganz ähnlich sehen. Trotzdem liefern Sie hier heute gar nichts. Eine der entscheidenden Forderungen bei den Medientagen in diesem Jahr war, dass die Netzneutralität gesetzlich gesichert wird. Sie aber liefern dazu nichts. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Für den Rundfunk war diese Forderung!) Mit Ihrer These, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dass der Wettbewerb die Netzneutralität gewährleistet, liegen Sie falsch. Wie beim Breitbandausbau gibt es einfach zentrale Weichenstellungen, die der Staat ordnungspolitisch gestalten muss. Denn erst die Netzneutralität gewährleistet den freien Wettbewerb – nicht umgekehrt. Ich komme zum Schluss: (Claudia Bögel [FDP]: Gott sei Dank!) Wir haben in der Diskussion der letzten Monate und mit unseren grünen Anträgen gezeigt, wie eine netzpolitische, datenschutzrechtliche Alternative zu Ihrer Politik aussieht. Selbst nach Monaten intensiver Beratungen kommen Sie hier ein paar Stunden vor Toresschluss mit 117 Seiten an Synopsen und Änderungsanträgen, die selbst von Ihnen – das haben wir im Innenausschuss erlebt – noch nicht richtig durchgelesen und durchgearbeitet worden sind. Wie soll das auch funktionieren? Sie haben jetzt an dieser Stelle die Möglichkeit zur Neugestaltung des TKG. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich weiß. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Mal sehen, was es für Folgen hat, dass Sie das wissen. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben alle Chancen gehabt, netzpolitisch den richtigen Weg zu gehen. Sie haben es leider nicht hinbekommen. Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Manuel Höferlin. Manuel Höferlin (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege von Notz, nachdem Sie die Antwort eher dazu genutzt haben, über den Minister zu reden, als meine Frage zu beantworten, muss ich auf das Instrument der Kurzintervention zurückgreifen. Die Frage des Datenschutzes – das wissen Sie sehr wohl – ist in dem Gesetzentwurf sehr gut beantwortet worden. Wir haben den Providern nämlich gerade nicht vorgegeben, Daten für eine gewisse Zeit zu speichern. Insofern ist der Vorwurf, den Sie machen, haltlos und aus der Luft gegriffen. Die Rechtslage entspricht übrigens genau dem, was Rot-Grün in der letzten TKG-Novelle im Jahr 2004 auf die Beine gestellt hat. § 97 Abs. 4, den Sie angreifen – hier geht es um das Verhältnis von Provider zu Provider –, führt gerade nicht zu der von Ihnen kritisierten Situation, dass Daten auf Vorrat gespeichert werden. Im Gegenteil: In § 97 Abs. 3 steht explizit, wie sich die Provider im Verhältnis zu ihren Kunden zu verhalten haben und dass Kundendaten – darauf haben Sie sich in Ihrer Rede bezogen – möglichst schnell zu löschen sind und nur zu Abrechnungszwecken aufbewahrt werden dürfen. Das heißt, in diesem Fall verändert sich nichts. Es gibt explizit keine staatliche Pflicht zur Speicherung von Daten bei Telekommunikationsanbietern. (Claudia Bögel [FDP]: Sehr richtig!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie haben die Möglichkeit zur Reaktion. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Höferlin, das, was Sie gesagt haben, wird durch Wiederholung nicht richtiger. Wie ich sehe, haben Sie ein Kompensationsbedürfnis. Das liegt daran, dass dieses Thema gestern in den Ausschüssen nicht richtig beraten wurde, weil es erst kurz vor Toresschluss auf die Tagesordnung kam. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sprich doch mal zur Sache, Konstantin!) – Herr Kollege Jarzombek, Sie werden wohl das aushalten müssen, was ich auf die Kurzintervention erwidere. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ui! Ui!) – Ja. So viel Ruhe und Gelassenheit muss sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Und das mit der Hand in der Tasche! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Los! Stecken Sie doch beide Hände in die Taschen, Herr Kollege! Das ist schlechte Kultur, was Sie da machen!) Herr Kollege Jarzombek, Herr Kollege Höferlin, ich lese Ihnen etwas vor, bei dem es um genau diesen streitigen Punkt geht: Zusätzliche Nahrung erhalten die Befürchtungen dadurch, dass vor Kurzem ein sehr interessantes Dokument bei heise aufgetaucht ist … Gemeint ist das berühmte Nachforderungspapier aus den Verhandlungen zwischen Union und FDP. (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Was ist denn ein Nachforderungspapier?) – Ein Nachforderungspapier, kennen Sie das gar nicht? (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das hat nichts mit Datenschutz zu tun!) Dort heißt es: Problem: Im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung ist die Frist für die Speicherung von Verkehrsdaten in § 97 Abs. 4 TKG-E … auf drei Monate begrenzt. (Claudia Bögel [FDP]: Das hat doch mit dem Gesetz überhaupt nichts zu tun! Man sollte das benennen, was jetzt wichtig ist!) Damit hätten die Sicherheitsbehörden nur eine verkürzte Möglichkeit, die für die Rückverfolgung dynamischer IP-Adressen zu einer Rufnummer notwendigen Verkehrsdaten von den Carriern zu erhalten. (Claudia Bögel [FDP]: Das ist doch längst überholt! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) Dies widerspricht den von CDU und CSU im Rahmen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Schwerstkriminalität vorgesehenen Regelungen zur sog. „Vorratsdatenspeicherung“. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) – Hört! Hört! (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Herr Höferlin, bei solchen Nachforderungspapieren knicken Sie ein wie ein Blatt im Wind. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das steht doch gar nicht im Gesetz!) Sie haben hier überhaupt nichts zu melden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ach! Das steht doch gar nicht in dem Gesetzentwurf! Das ist echt unglaublich! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch unseriös, was Sie da machen!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Erik Schweickert (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal glaubt man nicht, was man hier erlebt; so viel zum Thema „Ruhe und Gelassenheit“. Meine Damen und Herren von den Grünen, wahrscheinlich haben wir Sie tatsächlich überfordert. Denn wie sonst lässt sich erklären, dass Sie hier Redner sprechen lassen, die den Gesetzentwurf noch nicht einmal gelesen haben? (Claudia Bögel [FDP]: Ja! Richtig!) Das ist ein Unding! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Das ist ja unglaublich!) Frau Rößner, für Sie möchte ich noch einmal betonen: Das Geschäftsmodell Warteschleife hat ein Ende. Sie können nicht im Ausschuss sagen: „Die Lösung des Problems mit den Warteschleifen ist gut“ (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich im Ausschuss nicht gesagt! Ich habe im Ausschuss nicht gesagt, dass das gut ist! Das stimmt nicht!) und sich dann hier hinstellen und sagen, nach zwei Minuten würde es immer noch eine Warteschleife geben. Lesen Sie den Gesetzentwurf; dort stehen die Übergangsfristen. Man kann sehen, dass wir hier einen Turbo eingebaut haben, (Claudia Bögel [FDP]: Ja, genau! So ist es!) auch wenn Sie das vielleicht nicht kapieren. Ihnen muss man wirklich sagen: Lesen Sie die Gesetzentwürfe vorher! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Jahre lang haben Sie gewartet!) Wir stoppen die Abzocke mit kostenpflichtigen Warteschleifen bei Servicehotlines. Wir haben auch die Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Anbietern geregelt, sodass die Verbraucher nicht mehr morgens 2 Cent und abends 1 Euro für einen Call-by-Call-Dienst zahlen, ohne es zu wissen. Hier haben wir für Markttransparenz gesorgt. Beim Anbieterwechsel waren wir diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass das bisherige Druckmittel endlich weggefallen ist. Früher standen die Kunden, ob Privatleute oder Unternehmen, oftmals im Regen, wenn sie ihren Anbieter gewechselt hatten, weil es keine Möglichkeit gab, den Anschluss schnell umzustellen. Wir haben jetzt die Regelung getroffen, dass diese Umstellung in Zukunft innerhalb eines Tages durchgeführt werden muss. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberale Koalition legen heute mit der TKG-Novelle einen Meilenstein in der Verbraucherpolitik im Bereich der Telekommunikation vor. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir machen das, was Sie nicht hinbekommen haben, und zwar im richtigen Gesetz und zum richtigen Zeitpunkt. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbsthypnose!) Herr Kollege Dörmann, ich habe genau zugehört, was Sie gesagt haben. Wenn ich Ihre Worte in die Waagschale lege, dann höre ich heraus, dass Sie auf den Bundesrat zielen. Sehr geehrte Damen und Herren von der SPD, ich fordere Sie auf, hinsichtlich der TKG-Novelle im Bundesrat keine Betonpolitik zu betreiben, sondern diesen Meilenstein zu stärken. Je schneller der Gesetzentwurf in Kraft tritt, umso besser ist es. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Wir machen Ihre Arbeit im Bundesrat! – Gegenruf des Abg. Sebastian Blumenthal [FDP]: Dann kann es nur schlecht werden!) – Herr Kelber, ich spreche Sie jetzt nicht an, sonst stellen Sie wieder eine Zwischenfrage; es ist immer das Gleiche. Lesen Sie den Gesetzentwurf und erkennen Sie, dass wir als christlich-liberale Koalition hier nach vorne gehen und die Punkte aufgreifen, an denen die Verbraucherinnen und Verbraucher abgezockt worden sind. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unambitioniert!) Wir sorgen dafür, dass es im Bereich der Telekommunikation einen Fortschritt gibt. Wir setzen den Rahmen, ohne die Lösung vorzugeben. Das ist eine Politik für die Menschen in den Städten und in den Ländern, das ist eine Politik für die Verbraucherinnen und Verbraucher. (Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Ganz genau!) Deswegen ist dieser Gesetzentwurf aus verbraucherschutzpolitischer Sicht ein Meilenstein, (Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Sehr richtig! – Ulrich Kelber [SPD]: Das sehen viele aber anders!) der uns im Bereich des Verbraucherschutzes nach vorne bringen wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lars Klingbeil (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen ein beachtliches Hin und Her zwischen CDU, CSU und FDP erlebt. Wenn wir uns heute anschauen, was dabei herausgekommen ist, dann müssen wir feststellen: Die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes ist aus netzpolitischer Sicht ein Offenbarungseid. Schwarz-Gelb fehlt der Mut, mit entschlossenen gesetzlichen Regelungen die digitale Spaltung in unserer Gesellschaft zu verhindern. Es fehlt der Mut, die Grundlage für die Innovationskraft des Internets durch die gesetzliche Absicherung der Netzneutralität zu sichern. Es fehlt Ihnen der Mut, hier ein entschlossenes Bekenntnis für ein offenes und freies Netz deutlich festzuschreiben, und zwar ein Netz für alle Menschen in dieser Gesellschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben in den letzten Wochen das Phänomen erlebt, dass die CDU gerade an den Wochenenden immer wieder sehr starke netzpolitische Signale ausgesendet hat – ob durch Peter Altmaier in der FAZ oder jüngst durch eine Videobotschaft, die auf YouTube zu finden war. Ich zitiere Angela Merkel aus dem Videopodcast von letzter Woche: Und das Stichwort Netzneutralität ist für uns sehr wichtig. Jeder Nutzer, egal was er verdient, welchen Bildungsgrad er hat, soll die Möglichkeit haben, den gleichen Zugang zum Internet zu bekommen. Es darf kein Internet erster und zweiter Klasse geben. (Beifall des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Ganz ehrlich: Ich hätte es nicht schöner sagen können. Aber was sind denn die Konsequenzen, wenn es hier im Parlament zu Entscheidungen kommt? Welche Taten folgen Ihren Worten? Wir haben hier heute einen Gesetzentwurf vorliegen, in dem keine Netzneutralität vorgesehen ist, durch den kein Universaldienst ermöglicht wird, mit dem aber dafür gesorgt wird, dass die Datensammlungen ausgeweitet werden, und der zu keinen Verbesserungen im Verbraucherschutz führt. Sie leisten hier einen Offenbarungseid. (Beifall bei der SPD – Dr. Christiane Ratjen-Damerau [FDP]: Sie haben ihn gar nicht gelesen!) Unsere Vorschläge zur Entwicklung der TKG-Novelle liegen seit Wochen auf dem Tisch. Wir fordern die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität und sprechen uns für Diskriminierungsfreiheit, Transparenz und Mindestqualitäten sowie einen Universaldienst aus, um eine flächendeckende Breitbandgrundversorgung zu erreichen und Lücken schnellstmöglich zu schließen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Blumenthal? Lars Klingbeil (SPD): Ja, sehr gerne. Sebastian Blumenthal (FDP): Vielen Dank, Herr Kollege Klingbeil, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Sie haben eben genau wie der Kollege von Notz zum zweiten Mal wiederholt, dass auch in der geänderten Fassung der TKG-Novelle keinerlei Aussagen zum Thema Netzneutralität getroffen werden. Dass Kollege von Notz hier offenkundig Leseschwächen hat, haben wir schon gemerkt. Ich bin jetzt überrascht, dass Sie die gleiche falsche Aussage wiederholen. Deswegen frage ich Sie: Ist Ihnen § 41 a der TKG-Novelle bekannt? (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nur redaktionell!) Dort wird die Netzneutralität ganz klar als Ziel definiert, und das Bekenntnis zur Regulierung im Falle von systematischer Diskriminierung wird ebenfalls ganz klar und dezidiert aufgeführt. Ist Ihnen das bekannt? Wenn die Antwort Ja lautet: Wie kommen Sie zu der Feststellung, dass dazu keine Aussage in der Novelle enthalten ist? Lars Klingbeil (SPD): Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Blumenthal. Ich wäre in zwei Sätzen genau zu dieser Stelle gekommen. Jetzt gewinne ich ein bisschen Zeit. Vielen Dank für Ihre Frage. Natürlich haben wir positiv zur Kenntnis genommen, dass die Netzneutralität im Gesetzentwurf auftaucht, aber durch eine Überschrift macht man noch keine gute Politik. (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) SPD, Grüne und Linke fordern die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Dieser Mut hat Ihnen gefehlt. Es bleibt bei einer Rechtsverordnung. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schreibschwäche!) Die technische Neutralität des Netzes ist aber auch die Grundlage für den Siegeszug des Internets; das wissen wir alle, das wissen auch Sie. Ich erinnere mich daran, dass ein Vertreter Ihrer Fraktion gefordert hat, das nächste Google müsse aus Deutschland kommen. Ich glaube, bei dieser Forderung stimmen wir alle überein. Aber wir alle wissen doch, dass datenintensive Anbieter die Chance hatten, sich zu entwickeln, dass sie entstanden sind, weil wir ein freies und offenes Netz haben. Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Netzpolitiker in der Regierungskoalition durchgesetzt hätten. Ich glaube, da sind wir gar nicht weit auseinander. Die Netzneutralität heute nicht nur zu erwähnen, sondern sie auch gesetzlich zu verankern, wäre ein wichtiger netzpolitischer Schritt gewesen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es bringt nichts, bei der Netzneutralität weiter auf den Markt zu hoffen und darauf, dass schon alles gut wird. Ich habe es gerade gesagt: Ich hätte mir gewünscht, dass wir Vorsorge treffen, dass wir dafür sorgen, dass Probleme gar nicht erst entstehen können. Ich will auch sagen, dass die Position, die heute von der Regierungskoalition eingebracht wird, selbst bei den Experten in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ keine Mehrheit gefunden hat, was ein beachtliches Zeichen ist, Sie aber auch nicht zum Nachdenken angeregt hat. Ein anderes Thema, auf das ich eingehen will, ist der Breitbandausbau. Er gehört für mich zu der Frage des offenen und freien Netzes. Ich habe meinen Wahlkreis im ländlichen Raum zwischen Hamburg und Hannover. Herr Rösler, wir sind beide Niedersachsen. Auch Sie kennen sicherlich die Probleme im ländlichen Raum, dass kleine Unternehmen damit drohen, abzuwandern, oder dass das Ingenieurbüro in die Kreisstadt zieht, weil nicht genügend Bandbreite vorhanden ist. Ich will Ihnen sagen: Ich habe keine Lust mehr, mir noch weitere Jahre anzuhören, dass der Markt das regelt. Ich habe keine Lust mehr, mir anzuhören, dass schon alles gut wird. Wenn sogar der Deutsche Bauernverband Nachbesserungen fordert, was den Universaldienst angeht, dann frage ich mich: Warum hören Sie nicht die Signale, die deutlich machen, dass wir die Universaldienstverpflichtung in Deutschland dringend brauchen? (Beifall bei der SPD) Es geht aber noch weiter. Wir alle wissen, dass der Zugang zum Internet auch darüber entscheidet, welche Chancen heute die Menschen in Deutschland haben. Da geht es um Bildungsabschlüsse und um Berufschancen. Wir alle wissen, dass der Universaldienst und der Breitbandzugang heute eine wichtige gesellschaftliche Dimension haben. Deswegen brauchen wir einen flächendeckenden Zugang. Heute gehört das Internet zur gesellschaftlichen Grundversorgung, zur Teilhabe und zur öffentlichen Daseinsvorsorge dazu. Wir hätten dafür heute ein wichtiges Zeichen setzen können. Ich bin dann doch erschrocken, wenn hier eine Vertreterin der FDP sagt, ein schnelles Internet für alle sei eine Zwangsbeglückung der Menschen. (Claudia Bögel [FDP]: Staatlich verordnete Zwangsbeglückung!) Ich sage Ihnen: In meinem Wahlkreis gibt es unwahrscheinlich viele Menschen, die gerne zwangsbeglückt werden würden. Hier offenbart sich elitäres Denken. Mit einem solchen Denken muss Schluss sein. Wir brauchen endlich das Grundrecht auf schnelles Internet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hier offenbart sich noch etwas ganz anderes – das ist die Konsequenz, die wir für die Netzpolitik ziehen müssen –: Wir sehen, dass Netzpolitik in dieser Regierung von Innenpolitikern, Wirtschaftspolitikern und Anhängern einer falschen Wirtschaftspolitik geprägt wird. Ich sage Ihnen: Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik. Wir müssen heute über viel mehr nachdenken als nur über wirtschaftliche oder innenpolitische Konsequenzen. Es geht darum, dass wir begreifen, dass Netzpolitik heute in viele Bereiche des Lebens hineinreicht, dass es um Teilhabe, um Chancen, um Perspektiven, um Innovation geht. Die TKG-Novelle hätte heute ein gutes Aufbruchssignal sein können. (Claudia Bögel [FDP]: Ist es doch! Ein Meilenstein ist es!) Schwarz-Gelb ist leider auch hier gescheitert. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Hause einig: Eine verlässliche Breitbandversorgung ist elementar wichtig für die Innovationsfähigkeit und auch für die wirtschaftliche Stärke unseres Landes. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Sie ist wichtig für gesellschaftliche Teilhabe. Sie ist wichtig, um vieles an Infrastruktur zu kompensieren, was gerade im ländlichen Raum nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wir sind zunehmend in allen Lebensbereichen auf eine gute Breitbandversorgung angewiesen. Deshalb ist es gut, dass wir uns im Rahmen der TKG-Beratung mit diesem wichtigen Thema so intensiv beschäftigt haben. (Claudia Bögel [FDP]: Ganz genau!) Mit dem vorliegenden Gesetz wollen wir die Dynamik, die beim Ausbau der Breitbandversorgung vorhanden ist, verstärken. Allen Unkenrufen zum Trotz, gerade von der linken Seite des Hauses: Die Dynamik beim Breitbandausbau ist vorhanden, und sie ist beeindruckend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit einer engagierten Breitbandinitiative ist es gelungen, Deutschland beim Breitbandausbau vom europäischen Mittelfeld auf einen Spitzenplatz zu bringen. Der Ausbau geht rasant weiter. In meinem Heimatland, dem Saarland, gibt es derzeit in den 52 Gemeinden 22 Breitbandmaßnahmen; 12 weitere sind in Planung. Viele davon liegen in der Größenordnung von 50 Megabit, mindestens aber bei einer Leistung von 16 Megabit. (Klaus Barthel [SPD]: Das zahlt der Steuerzahler!) Viele weiße Flecken werden erschlossen. Auch ich habe noch bis vor einem Jahr in Modemgeschwindigkeit gesurft und weiß, wie das ist. Aber jetzt habe ich einen schnellen DSL-Anschluss. Ich habe alle Kommunen in meinem Wahlkreis angefragt, wie es im Einzelnen aussieht, um mir einen Überblick über die tatsächliche Situation vor Ort zu verschaffen. Das Ergebnis ist: Alle Kommunen sind mit Hochdruck an diesem Thema dran. Das Interessante ist: In jeder Kommune gibt es einen Technologiemix aus Glasfaser, Kabel, Funk und teilweise auch schon LTE. Dabei wird der Glasfaserausbau keineswegs nur vom ehemaligen Monopolisten betrieben. Im Gegenteil: Gerade neue, innovative Firmen machen viel bessere und flexiblere Angebote und fördern somit die Dynamik insgesamt. Die Ausbaudynamik ist also gerade im ländlichen Raum vorhanden. Wir sind auf einem guten Weg, die ehrgeizigen Ziele der Breitbandinitiative zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb will ich an dieser Stelle allen Danke sagen, die sich auf kommunaler Ebene dafür einsetzen, dass wir beim Breitbandausbau vorankommen. Denn hinter jeder dieser kleinen Erfolgsgeschichten und hinter jeder dieser sehr differenzierten Lösungen im Rahmen des Technologiemix steckt sehr viel Arbeit der Verwaltungen, der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie der Landräte. Das verdient Anerkennung. Dafür wollen wir an dieser Stelle Danke sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Regelungen, die wir heute verabschieden, wollen wir die Kommunen und die Anbieter bei ihren Bemühungen unterstützen. Wir schaffen mit dem heutigen Gesetz mehr Transparenz, mehr Verbindlichkeit und mehr Sicherheit. Die wichtigsten Punkte haben die Kollegen bereits genannt. Ich will nur kurz auf die Änderungsanträge der Koalition eingehen. Zum einen wollen wir alternative Infrastrukturen für den Breitbandausbau öffnen. Alternative Infrastrukturen sind Wasserkanäle, Energieleitungen und Kabelkanäle. Wenn es keine Einigung mit dem Eigentümer gibt, dann findet ein Schlichtungsverfahren statt. Ich denke, das ist eine pragmatische Lösung. Einen Schritt weiter gehen wir dort, wo wir selbst Verantwortung tragen, nämlich beim Bund. Bei Bundesstraßen, Eisenbahn und Bundeswasserstraßen besteht künftig ein Anspruch auf Mitbenutzung. Ich fordere an dieser Stelle die Länder und Kommunen auf: Lassen Sie auch für Ihren Verantwortungsbereich einen solchen Anspruch auf Mitbenutzung zu. Wenn nämlich alle Straßen einem Mitbenutzungsanspruch unterliegen, dann ist ein sinnvoller und vor allem kostensparender Ausbau möglich. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Deshalb brauchen wir den Universaldienst!) Wichtige Maßnahmen sind darüber hinaus der Infrastrukturatlas, das Microtrenching und der Auskunftsanspruch für Regulierungsentscheidungen. All das fördert Transparenz, Planbarkeit und Synergien und trägt zur Dynamisierung des Breitbandausbaus bei. Herr Lämmel hat darüber hinaus auf die positiven Wirkungen des Breitbandbüros hingewiesen. Frau Rößner, dass Sie als Fachpolitikerin das Breitbandbüro nicht kennen, macht mich etwas nachdenklich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Frage ist nun: Brauchen wir darüber hinaus noch den Universaldienst? Sie wissen, wir haben sehr lange gerungen. Auch ich habe mit der Idee sympathisiert. Am Schluss hat sich die Koalition aber dagegen entschieden. Wieso? Zum einen wurde von sehr vielen Stellen die Befürchtung geäußert, dass schon allein die Ankündigung des Universaldienstes den Wettbewerb ausbremsen könnte. Das haben nicht nur die Verbände gesagt, sondern auch sehr viele Telekommunikationsexperten und interessanterweise auch die Gemeinden bei mir zu Hause im ländlichen Raum. Ich zitiere aus einer Stellungnahme: Die Einführung eines flächendeckenden Breitbandausbaus als gesetzlich abgesicherte Grundversorgung lähmt unseres Erachtens den freien Wettbewerb unter den TK-Unternehmen und damit auch die Investitionsbereitschaft der Marktanbieter. Die Folge wäre eine Verteuerung des Netzes, die letztendlich der Steuerzahler tragen müsste. Von einer staatlichen Reglementierung sollte daher Abstand genommen werden. So weit die Stellungnahme der Kommune bei mir vor Ort. (Martin Dörmann [SPD]: Sie ist aber falsch!) Abgesehen von diesen Befürchtungen ist auch die Ausgestaltung schwierig. Werfen wir einen Blick in die vorliegenden Vorschläge. Beschließen wir einen Universaldienst mit einer Leistung von 6 Megabit, wie ihn die Grünen wollen, dann wäre dies höchstwahrscheinlich europarechtswidrig, da er deutlich über dem liegt, was der Durchschnitt der Bevölkerung will. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir haben das überprüfen lassen! Die Mehrheit hat es doch!) Legen wir niedrigere Übertragungsraten zugrunde wie die Kollegen von der SPD, dann hat die Regelung keinen Effekt. Dann ist sie eigentlich nur weiße Salbe. Liebe Kollegen von der SPD, Sie haben gestern im Ausschuss gesagt, Sie wollten mit dem Universaldienst etwa 1 bis 2 Megabit erreichen, erklären aber gleichzeitig, dass LTE zu einer Abdeckung von 99 Prozent führen wird. Zusammen mit Satellit sind wir dann bei 100 Prozent. Was soll dann der Universaldienst? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit, die schon abgelaufen ist, durch eine Zwischenfrage des Kollegen Dörmann verlängern? Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Ja, gern. Martin Dörmann (SPD): Vielen Dank, Frau Kollegin Schön. – Nachdem uns als SPD hier im Hause zum zweiten Mal etwas Falsches in den Mund gelegt wurde und ich das schon über Twitter gelesen habe, frage ich Sie: Können Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir in unserem Antrag ausdrücklich die Forderung erheben, dass zuerst europarechtskonform festgestellt wird, welche Bandbreite von der Nutzermehrheit verwendet wird, und dass das dann als feste Bandbreite festgelegt wird? Dieser Weg führt im Übrigen dazu, dass wir zu einer europarechtskonformen maximalen Bandbreite kommen; denn eine Bandbreite, die über die europarechtlichen Kriterien hinausgeht, können wir nicht festlegen. Ich weise die von Ihnen angeführten Megabitzahlen zurück. Können Sie das zur Kenntnis nehmen? Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Ich nehme das sehr gerne zur Kenntnis. Ich bitte aber auch Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Realisierung eines Universaldienstes gemäß Ihrem Vorschlag – das hat der Kollege Jarzombek schon dargelegt – mindestens bis 2018 dauern würde und dass beispielsweise die Vorschläge der Grünen weiterhin auf einer höheren Bandbreite beruhen, was Sie als europarechtswidrig einstufen. Allein daran, dass sich die beiden Oppositionsfraktionen nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen können, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre ja wohl noch schöner!) weil jeder die Lösung des anderen für entweder rechtswidrig oder uneffektiv hält, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn wir die SPD nicht treiben, wer soll das dann tun?) kann man sehen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch keinen vernünftigen Vorschlag für einen Universaldienst gibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir haben im Rahmen der Breitbandstrategie ambitionierte Ziele. Bisher erreichen wir diese. Wir müssen das aber im Auge behalten. Deshalb schließe ich mich dem Vorschlag des Kollegen Nüßlein an. Wir sollten den LTE-Ausbau im Auge behalten und schauen, ob die weißen Flecken verschwinden. Zurzeit gibt es hier eine große Dynamik. Geben wir diesem Ausbau eine Chance. Wir fördern ihn mit diesem Gesetz auf die geschilderte Art und Weise. Ich bitte Sie: Unterstützen Sie uns dabei. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mechthild Heil (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Novelle zum Telekommunikationsgesetz stärkt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Mit diesem Gesetz ist uns ein großer Wurf für den Verbraucherschutz gelungen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir stärken den Wettbewerb, und wir stärken massiv die Macht des Verbrauchers. Der Opposition sind die monatelangen Beratungen wieder einmal zu kurz. Sie meckern und mäkeln herum. Ich verstehe Sie. Im Grunde ärgern Sie sich, dass Sie in Ihrer Regierungszeit nicht die Kraft für eine so weitreichende Reform gefunden haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Solange Sie in der Regierung waren, haben Sie Probleme wie Warteschleifen oder Call-by-Call nicht gelöst. (Claudia Bögel [FDP]: Genau!) Wir haben die Kraft. Wir packen die Probleme an. Wir lösen sie zum Nutzen der Kunden und für mehr Transparenz auf dem Markt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir sorgen mit dem TKG dafür, dass der Verbraucher bei der Nutzung von Mehrwertdiensten erst dann bezahlt, wenn er mit einem Mitarbeiter in Kontakt tritt, der sich seines Problems annimmt. Das heißt: Schluss mit überteuerten Warteschleifen! Wir schützen mit der Novelle zum Telekommunikationsgesetz die Verbraucher vor dem Betrug mit Internetkostenfallen über die Handyrechnung. Von nun an werden Handykunden den Festnetzkunden endlich gleichgestellt. Bisher hatten nur Festnetzkunden die Möglichkeit, einzelnen Rechnungsposten zu widersprechen, ohne dass dies zur Sperrung des Anschlusses führte. Heute darf der Anbieter erst ab einem Rückstand von 75 Euro und vorheriger Ankündigung sperren. Wir stärken die Rechte der Verbraucher beim Umzug. Wechselte bisher ein Verbraucher den Wohnort, musste er meist den alten Vertrag fortführen, auch wenn am neuen Wohnort die Leistungen nicht angeboten wurden. Damit ist jetzt Schluss. Wir verankern im Gesetz ein dreimonatiges Sonderkündigungsrecht. Wird die gleiche Leistung am neuen Wohnort angeboten, darf die vereinbarte Vertragslaufzeit jetzt nicht mehr geändert werden. Das ist ein exzellentes Beispiel für intelligenten Verbraucherschutz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Künstlich aufgerichtete Hürden, die Kunden von einem Anbieterwechsel abhalten sollten, werden abgebaut. Von nun an dürfen auch Verträge mit einer Höchstlaufzeit von zwölf Monaten am Markt angeboten werden. Auch die Möglichkeit der Rufnummerportierung bei laufendem Vertrag ist nun möglich. Ziel der CDU/CSU ist es, einen besseren Service für die Kunden zu erreichen und durch Wettbewerb langfristig die Kosten für die Bürger zu senken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bis jetzt musste jeder beim Anbieterwechsel fürchten, für einige Tage oder Wochen ohne Telefon und Internet dazustehen. Das ist für Privatkunden wie für Unternehmen inakzeptabel. Auch damit ist jetzt Schluss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Unterschreibt man bei der Konkurrenz, darf der Telefonanschluss höchstens einen Tag lahmgelegt werden. Marktwirtschaft und Verbraucherinteressen gehen hier Hand in Hand. Das Schönen der Geschwindigkeitsangaben bei DSL-Verträgen gehört endlich der Vergangenheit an. Derzeit geben Anbieter die Geschwindigkeit mit „bis zu“ an. In der Realität heißt das oft: Der versprochene Datenhighway entpuppt sich schnell als verkehrsberuhigte Zone. Deshalb verpflichten wir die DSL-Anbieter, verbindliche Mindestgeschwindigkeiten anzugeben. Ohne Wenn und Aber müssen nun die Karten auf den Tisch. Wenn ein Kunde die technischen Voraussetzungen für einen Internetzugang von nur 2 Megabit pro Sekunde hat, kann ihm zukünftig kein 16-Megabit-Vertrag aufgeschwatzt werden. Das, was versprochen und vertraglich vereinbart wird, muss dem Kunden auch geliefert werden. Im parlamentarischen Verfahren wird oft hart um die beste Lösung gerungen; das wissen wir alle. Ich möchte hier die Gelegenheit nutzen, den beteiligten Abgeordneten der Koalition zu danken. Wir haben an vielen entscheidenden Stellen deutlich mehr Verbraucherschutz im TKG verankert, über die Ressort- und Ausschussgrenzen hinweg. Verbraucherschutz, also gerechte Regeln zwischen den Kunden und den Anbietern, ist für die christlich-liberale Koalition ein zentrales Anliegen. Das haben wir einmal mehr unter Beweis gestellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vielen Dank deswegen noch einmal für die hervorragende Zusammenarbeit. Gemeinsam haben wir uns für einen Warnhinweis bei der Nutzung von Datendiensten ausgesprochen, wenn eine bestimmte Gebührengrenze überschritten wird. Im Ausland gibt es einen solchen Kostenairbag bereits. Wir setzen jetzt auch in Deutschland einen solchen um. Wir befähigen die Bundesnetzagentur, einen Kostenairbag für mobile Dienste im Inland einzuführen. Wenn also beim Datenroaming die Grenze von zum Beispiel 50 Euro überschritten wird, kann der Verbraucher durch eine SMS darüber benachrichtigt werden. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Kann! – Alles nur Kannbestimmungen!) Zum Thema Call-by-Call. Obwohl sich Telefon- und Internetflatrates weiter am Markt durchsetzen, greifen immer noch Verbraucher auf die Nutzung von Call-by-Call-Vorwahlen für den Internetzugang oder auch für Auslandsverbindungen zurück. Mit Lockangeboten wurden Kunden zuerst geworben und dann mit hohen Aufschlägen oder Tarifsprüngen zur Kasse gebeten. Eine Pflicht zur Preisansage bei Call-by-Call wird jetzt in § 66 TKG verankert. Wir schaffen hier eine klare Lösung im Sinne eines „sauberen Telefons“. Vor allem Werbeanrufe haben sich in letzter Zeit oft als großes Ärgernis für Verbraucher herausgestellt. Da einige Firmen falsche, nicht zurückverfolgbare Rufnummern aufgesetzt haben, schreiten wir auch dort ein. Mit dem Gesetz stellen wir klar, dass auch die Übermittlung falscher Rufnummern und nicht nur die Unterdrückung der Rufnummern verboten ist. Verstöße dagegen werden jetzt mit 100 000 Euro und nicht wie zuvor mit 10 000 Euro geahndet. Damit geben wir der Bundesnetzagentur ein scharfes Schwert gegen unlautere Werbeanrufer in die Hand. All dies sind wichtige und spürbare Erfolge für uns Verbraucher. Die Opposition findet aus Ärger über ihre eigene Kraftlosigkeit in ihrer eigenen Regierungszeit keinen Gefallen an unseren in jeder Hinsicht gelungenen und wegweisenden Verbraucherschutzgesetzen – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schade für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land! Eine breite Zustimmung wäre hier der richtige Weg. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Thema Universaldienst fühle ich mich heute ein bisschen wie auf dem türkischen Basar: Die Grünen fordern 6 Megabit. Dazu sagt die SPD: Das ist europarechtlich gar nicht möglich. Die SPD fordert nach jetzigem Stand offenkundig – Martin Dörmann hat es heute Morgen schon einmal gesagt – 2 Megabit. (Martin Dörmann [SPD]: Schon wieder falsch!) Dazu sagen die Grünen: Das ist zu wenig. Das Problem beim Universaldienst ist doch: In dem Moment, in dem Breitbandausbau mit Staatsknete betrieben wird, wird jeder private Investor sofort seine Mittel einfrieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damit haben wir nichts gewonnen, sondern, im Gegenteil, wir verlieren mehrere Jahre für den ländlichen Raum. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klingbeil? Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ja. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. Lars Klingbeil (SPD): Lieber Kollege Jarzombek, nehmen Sie zur Kenntnis, dass hier keine Zahl genannt wurde, sondern beschrieben wurde, welche Aussagen es gibt. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Was? 2 bis 6!) Teilen Sie meine Einschätzung, dass eine Einigung zwischen SPD und Grünen bei der Frage Universaldienst sicherlich um ein Vielfaches einfacher ist als das, was diese Regierung in den letzten Wochen geleistet hat? (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Nein. Diese Einschätzung, lieber Kollege Klingbeil, teile ich überhaupt nicht; denn in Ihrem Antrag – Martin Dörmann hat zitiert, was ich in dem Gespräch heute Morgen gesagt habe; jetzt mache ich es umgekehrt; er hat gesagt, es seien nach derzeitigem Stand wahrscheinlich 2 Megabit – ist von 2 bis 6 Megabit die Rede; lassen wir es 3 Megabit sein. Das ist momentan der Stand der Dinge. Dann schreiben Sie in Ihrem Antrag: Technologieneutral muss es sein. Sie wissen genau, dass diese Forderung mit der LTE-Technologie und den neuen Breitbandsatelliten bereits flächendeckend erfüllt ist. Deshalb ist Ihre Forderung nach einem Universaldienst reiner Bluff; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) denn das, was Sie beantragen, ist schon längst erfüllt. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: LTE kommt doch gar nicht überall hin!) Sie tun eben nur so, als wollten Sie etwas erreichen, und Sie gehen damit die Gefahr ein, dass alle, die heute in Zusammenarbeit mit kommunalen Unternehmen, mit Stadtwerken im ländlichen Raum bauen, ihre Mittel einfrieren, weil sie Angst haben, dass ihre Investitionen in Verbindung mit Staatsknete in kurzer Zeit entwertet werden. Das ist das, was Sie riskieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Der Kollege Kelber möchte noch etwas fragen. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Der will nur was erklärt haben! Der versteht es meistens nicht!) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ich finde es schön, dass meine Redezeit so verlängert wird. Bitte. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön. Ulrich Kelber (SPD): Herr Kollege, Sie haben gerade die Forderung der SPD nach einem Universaldienst kritisiert. Ich zitiere: Eine Verpflichtung der Wirtschaft, allen Haushalten einen schnellen Internetzugang zu ermöglichen, könnte … in die laufende Novellierung des Telekommunikationsgesetzes eingebaut werden. Davon geht der IT-Beauftragte der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Georg Nüßlein, aus. „SPD, Grüne und die CSU haben den Wunsch, einen Breitband-Universaldienst einzuführen“, erklärte der CSU-Politiker gegenüber heise online. Er kündigte eine entsprechende Initiative der CDU/ CSU-Wirtschaftsarbeitsgruppe an. Was sagen Sie zu diesem Zitat? Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Herr Kollege Kelber, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar; denn sie zeigt, dass wir gemeinsam in der Großen Koalition etwas sehr Gutes erreicht haben: Wir haben Rundfunkfrequenzen für die sogenannte digitale Dividende umgewidmet, um über Breitbandfunk flächendeckend im ländlichen Raum einen schnellen Internetzugang zu ermöglichen. Hier haben wir eine Selbstverpflichtung erreicht. Die Bundeskanzlerin hat im Sommer noch einmal die Vorstandsvorsitzenden der Unternehmen, die Lizenzen bekommen haben, einbestellt. René Obermann wie Friedrich Joussen haben ihr zugesagt, bis zum Ende des Jahres einen flächendeckenden Ausbau mit Hochgeschwindigkeitsbreitbandinternet zu erreichen. Ich muss der Kanzlerin ein großes Kompliment aussprechen. Das ist ein großer Erfolg für die Politik. Ich verstehe gar nicht, warum Sie selber das Thema Funkanbindungen ständig schlechtreden; schließlich haben Sie die jetzige Regelung in Ihrer Regierungszeit mit uns gemeinsam beschlossen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist doch keine Antwort auf die Frage! – Ulrich Kelber [SPD]: Das Zitat war von diesem Monat!) Sie sehen doch, dass aufgrund der Selbstverpflichtung eine weitere gesetzliche Maßnahme heute nicht mehr erforderlich ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Das war doch peinlich! Das war doch keine Antwort auf die Frage! – Ulrich Kelber [SPD]: Extrem ausweichend!) Meine Damen und Herren, wenn Sie heute einen Universaldienst einfordern, dann fordern Sie damit – dieser Aspekt ist noch gar nicht benannt worden – eine ganz andere Sache ein: Sie beide wollen es nicht mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt finanzieren, sondern mit einer Umlage. Das heißt, dass nach Ihren Vorstellungen künftig auf jeden DSL-Anschluss eine zusätzliche Steuer erhoben wird, eine „Breitband im ländlichen Raum“-Steuer. Dann sagt der Jugendschützer: Wir brauchen aber auch bessere Jugendschutzprogramme; da braucht es auch noch eine Steuer. – Dann sagt der Nächste: Wir haben Kriminalität im Internet. Das muss mit einer Sonderabgabe bekämpft werden. (Martin Dörmann [SPD]: Das ist doch Quatsch, was Sie hier erzählen! Kein Mensch will eine Steuer! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Ihre Leute?) Am Ende sind Sie da, wo man bei der Mineralölsteuer längst ist: Sie haben Abgaben ohne Ende. Deshalb sage ich: Diese Tür darf man gar nicht erst öffnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Martin Dörmann [SPD]: Das ist ja unterirdisch!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Rößner? Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ja, gern. – Ist das hier die Fragestunde? Finde ich gut! Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Kollege Jarzombek, weil Sie uns unterstellen, wir seien auf dem Basar und dies alles sei nicht EU-rechtskonform, möchte ich Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass unsere Fraktion ein externes Gutachten in Auftrag gegeben hat, das übrigens allen zur Verfügung steht und auch lesbar ist. Ich hoffe, dass Sie einmal hineinschauen, um zu sehen, dass es möglich ist, und zwar EU-rechtskonform, einen Universaldienst einzurichten. Daran möchte ich gleich noch eine Frage anschließen: Wir stellen unsere Unterlagen gern zur Verfügung, aber die Änderungsanträge zum TKG haben wir sehr kurzfristig bekommen. (Claudia Bögel [FDP]: Gar nicht gelesen!) Wann haben Sie denn die Änderungsanträge in der Fraktion bekommen? Ich habe nämlich gehört, dass Vertreter außerhalb dieses Parlaments die Änderungsanträge bereits am Freitag vorliegen hatten. (Claudia Bögel [FDP]: Was soll denn das jetzt wieder heißen? Das ist ja unglaublich!) Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich glaube, es ist besser, erst über die Sache und dann über das Verfahren zu sprechen. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage war aber zum Verfahren! Das ist ja bezeichnend! Wie gehen Sie mit dem Parlament um?) – Hören Sie doch erst einmal zu, Kollege Beck! – Ich habe mich, ehrlich gesagt, darüber geärgert, dass Sie seit gestern unablässig behaupten, Sie hätten über 100 Seiten mit Änderungen bekommen und hätten sie in zwei Tagen durcharbeiten müssen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mal! Über Nacht!) Es sind gar keine 100 Seiten mit Änderungen. Es ist eine Synopse zu einem 100-seitigen Regierungsentwurf, der Ihnen schon seit Monaten vorliegt. (Claudia Bögel [FDP]: Ganz genau! Wieder nicht gelesen!) Dazu gibt es heute noch eine Zahl von Änderungsanträgen, die aber vielleicht – ich weiß es nicht genau – zehn Seiten umfassen. Man kann es schon schaffen, das in zwei Tagen durchzulesen. Ich habe es durchgelesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ganz ehrlich: Wir diskutieren die Dinge im Grunde seit einem Jahr. So überraschend Neues steht gar nicht darin. Über Ihr Gutachten haben wir gestern Morgen im Unterausschuss Neue Medien ausführlich diskutiert. In Ihrem Gutachten geht es um Breitband insgesamt. Es ist ein interessantes Gutachten, aber gerade zu der Frage der Europarechtskonformität ist es extrem dünn. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Alle Fraktionen außer Ihrer Fraktion, Frau Kollegin, haben zugestimmt, dass die Position nicht haltbar ist, und haben sie abgelehnt. Insofern finde ich es interessant, dass Sie immer wieder behaupten, dass das europarechtlich möglich ist; (Claudia Bögel [FDP]: Die behaupten so vieles!) wahrscheinlich ist es in zehn Jahren möglich, aber eben nicht heute. Heute wäre es nicht europarechtskonform. Schauen Sie auf die Kollegen der Sozialdemokraten! Die werden es Ihnen bestätigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Behrens von der Fraktion Die Linke? Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Ich möchte jetzt gern noch andere Themen ansprechen, auch wenn ich es schön finde, dass Sie so großes Interesse an meiner Rede haben und immer wieder Fragen dazu stellen. Ich möchte noch etwas zum Thema Breitband sagen. Es ist erstaunlich, dass man bis heute gebraucht hat, um im Bereich des Tiefbaus dahin zu kommen, dass zunächst einmal bei Autobahnen und Bundesstraßen eine Pflicht besteht, Breitbandkabel mit zu verlegen. Das ist nach unserer Novelle erstmalig der Fall. Wir haben mit dem Microtrenching ein Verfahren, bei dem die Kabel in 30 Zentimetern Tiefe verlegt werden können. Das ist ganz neu. Wir sind die Ersten, die das machen. Auch dass der sogenannte Hausstich nicht mehr von Eigentümergemeinschaften verhindert werden kann – die treffen sich nur einmal im Jahr –, ist die notwendige Voraussetzung für Glasfaser. Das sind unsere Erfolge im Bereich Breitband. (Claudia Bögel [FDP]: Ganz genau!) Da kommen wir heute substanziell weiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mein zweites Thema ist die Netzneutralität. Der Kollege Dr. Tauber hat sehr lange eine Projektgruppe in der Enquete-Kommission geleitet. Ich finde, er hat das ausgezeichnet gemacht. Wir sind beim Thema „Wettbewerb im Telekommunikationsmarkt“ auf zwei Punkte gekommen, über die sich alle einig geworden sind. Ich hoffe, Wettbewerb wollen Sie auch. Bei Wettbewerb in einer sozialen Marktwirtschaft muss man immer den Ausgleich suchen zwischen einem völlig unregulierten Wettbewerb und einer extremen staatlichen Intervention. Wir suchen diesen Kompromiss auch in diesem Fall. Es geht darum, niemanden zu diskriminieren, und alles, was hier stattfindet, muss transparent sein. Letztlich hat die Enquete-Kommission sämtliche der vielen Handlungsempfehlungen abgelehnt. Das gilt für Ihre wie für unsere. Auf diese Punkte hat man sich aber verständigt. Padeluun, der das verursacht hat, hat am Ende einer langen Diskussion mit uns gesagt: Wenn das so ist, dann ist es eben so, dass wir uns nur auf diese Dinge verständigen können. Das bilden wir in dem heute zu beratenden Gesetzentwurf ab. Das ist im Übrigen das erste Gesetz zur Netzneutralität in Deutschland. Es entspricht dem breiten Konsens, den wir auch in der Enquete-Kommission haben. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass alles Weitere in einer Verordnung geregelt wird, die wir gemeinsam mit Ihren SPD-geführten Ländern, nämlich mit dem Bundesrat, gemeinschaftlich auf den Weg bringen müssen. Deshalb kann ich diese Aufregung hier nicht nachvollziehen. Sie haben die Möglichkeit, sich einzubringen. Wir werden das nur mit einem breiten Konsens machen können. Deshalb ist es meines Erachtens eine gute Regelung und kein Grund für Polemik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe mich sehr darüber geärgert – vielleicht hat mich das vorhin mehr erzürnt, als es hätte sein müssen –, dass Kollege von Notz behauptet hat, es stünden Dinge im Gesetzentwurf, die gar nicht im Gesetzentwurf stehen. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das tun sie auch! Auch Sie behaupten Sachen, die nicht stimmen!) Sie haben behauptet, wir beabsichtigten, über § 97 Abs. 4 die Anbieter zu zwingen, Daten drei Monate lang zu speichern. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie setzen darauf, dass sie es tun!) Im Regierungsentwurf hingegen steht, dass die Daten spätestens nach drei Monaten zu löschen sind. Außerdem legen wir heute einen Entwurf vor, in dem genau das gestrichen worden ist, weil das offenkundig missverständlich war. Damit fordern wir, dass die Daten schnellstmöglich gelöscht werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir beantragen heute die schnellstmögliche Löschung. Sie behaupten aber die ganze Zeit, wir würden die Speicherung von Daten beantragen. Das ist ganz bewusst gemogelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen keine ausreichende Regelung!) Sie setzen nur auf den Effekt, dass diese Halbwahrheiten, die Sie bei Twitter, Facebook und sonst wo im Netz verbreiten, am Ende auch noch von Leuten geglaubt werden. Deshalb möchte ich, dass Sie sich dafür entschuldigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Herbert Behrens. Herbert Behrens (DIE LINKE): Herr Jarzombek, Sie haben meine Frage leider nicht zugelassen. Gleichwohl haben Sie sie gerade beantwortet. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Also setzen!) Ich halte es für eine Riesenschweinerei, wenn Sie hier sagen, diese Streichung sei eine Verbesserung. In Ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf, den Sie im Mai auf den Tisch gelegt haben, hieß es: Diese Daten dürfen maximal drei Monate lang nach der Versendung der Rechnung gespeichert werden. Vor zwei Tagen, abends um 19 Uhr, haben Sie uns eine Vorlage präsentiert, die über 100 Seiten stark ist und in der steht: Dieser Absatz entfällt. – Das ist kein Fortschritt, sondern ein massiver Rückschritt. Das ist ein Einstieg in die Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Auch der Kollege von Notz möchte noch eine Kurzintervention machen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die Entschuldigung kommt!) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eigentlich hätte ich darauf verzichtet. Herr Kollege Jarzombek, wenn Sie aber hier so theatralisch werden, muss ich doch noch etwas dazu sagen. Es gibt eine intensive Diskussion darüber, ob diese Regelungen ausreichend sind, um Missbrauch zu verhindern. Dazu liefern Sie nicht genug. Sie haben es nicht hineingeschrieben. Wie man aber den Aussagen des Kollegen Nüßlein entnehmen konnte, hat genau das bei Ihren Beratungen eine entscheidende Rolle gespielt. Deshalb ist die Echauffierungsnummer, die Sie hier abziehen, gekünstelt. Getroffene Hunde bellen. Genau so ist es. Sie haben in diesem Bereich nichts geliefert. Die FDP wollte eigentlich, aber Sie haben es verhindert. Dass Sie nun hier Entschuldigungen einfordern – geschenkt. Herr Jarzombek, mich interessiert aber wirklich – dabei bitte ich Sie, diese Chance zur Aufklärung zu nutzen –, ob es stimmt, dass Leuten außerhalb des Parlaments die Synopse vorlag, sie zuvor Lobbyisten zugespielt worden ist, Sie uns die aber erst zehn Stunden vor Beginn der Beratungen haben zukommen lassen. (Zuruf von der CDU/CSU) – Sie können ja sagen, dass das nicht stimmt. Stimmt es, oder stimmt es nicht? Wenn es nicht stimmt, dann sagen Sie doch verbindlich, dass die Synopse tatsächlich erst am Mittwochabend fertig war. Das interessiert mich tatsächlich. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Jarzombek, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Das mache ich sehr gern. Ich habe diese Synopse – das kann ich auch nachweisen – am Montag, ich glaube nachmittags, bekommen. Ich kann allerdings keine Aussagen darüber treffen, wer sonst noch was bekommen hat. Ich habe sie am Montagnachmittag bekommen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben wir sie erst am Dienstag bekommen?) – Ich finde es schön, dass wir über die Verfahren re-den. – Das war eine interne Beratung bei uns, bei der noch die Meinungen eingeholt worden sind. Da war die Synopse aber noch nicht beschlossen. Ich glaube, das ist aber auch nicht der Punkt, um den es bei dieser Diskussion geht. Herr Kollege von Notz, was mich wirklich aufregt, ist, dass pausenlos Behauptungen aufgestellt werden, dass irgendjemand – auf Twitter oder irgendwo in einem Blog – irgendetwas publiziert, dass sich keiner für heute die Plenarunterlagen oder den Gesetzentwurf durchliest und jetzt versucht wird, den Eindruck zu erwecken, wir würden eine Vorratsdatenspeicherung beschließen. Gehen wir das einmal Punkt für Punkt durch: § 97 TKG Abs. 3 Satz 3 – Herr Behrens hat es gesagt – bleibt so erhalten. Dabei geht es um das Verhältnis zum Endkunden. Dann gibt es den § 97 Abs. 4. Dabei geht es um die Daten im Verhältnis zwischen den Providern, nicht zwischen Endkunde und Anbieter. Im Regierungsentwurf stand bis dato Folgendes: „Diese Daten dürfen maximal drei Monate nach Versendung der Rechnung gespeichert werden.“ Den haben Sie massiv kritisiert. Deshalb haben wir diesen Passus gestrichen. Es bleibt alles beim Alten. Es bleibt bei dem Gesetz, das 2004 von Rot-Grün beschlossen wurde. Die Formulierung von Rot-Grün aus dem Jahre 2004 bleibt weiterhin bestehen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unbestritten!) – Das ist unbestritten, sagt der Kollege von Notz. Sehr schön. Wissen Sie, was wir verändern? Wir streichen in § 97 Abs. 3 Satz 3 die Wörter „soweit sie nicht nach § 113 a zu speichern sind“. Das war der Verweis auf die Vorratsdatenspeicherung. Die wird nämlich heute gestrichen und nicht hinzugefügt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das sollten Sie einmal Ihren Leuten bei Twitter sagen, damit endlich klar wird, was hier und heute eigentlich beschlossen wird. Wir nehmen Dinge zurück, und ansonsten bleibt alles bei dem, was Sie von Rot-Grün 2004 gemacht haben. Sie können zu Ihrem eigenen Gesetz sagen, was Sie wollen. Dazu lade ich Sie gerne ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7521, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5707 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/7525? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/7526? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7527. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7528. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Tagesordnungspunkt 5 b. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/7521 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4875 mit dem Titel „Verbraucherschutz in der Telekommunikation umfassend stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen von SPD und Linken angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5367 mit dem Titel „Netzneutralität im Internet gewährleisten – Diskriminierungsfreiheit, Transparenzverpflichtungen und Sicherung von Mindestqualitäten gesetzlich regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5902 mit dem Titel „Schnelles Internet für alle – Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und Grünen angenommen. Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5376 mit dem Titel „Telekommunikationsmarkt verbrauchergerecht regulieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD angenommen. Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4843 mit dem Titel „Netzneutralität sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Unter Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6912 mit dem Titel „Universaldienst für Breitband-Internetanschlüsse jetzt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe h seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3688 mit dem Titel „Gegen das Zwei-Klassen-Internet – Netzneutralität in Europa dauerhaft gewährleisten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 und 30 sowie Zusatzpunkt 3 auf: 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Nestle, Bärbel Höhn, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Energie sparen, Kosten senken, Klima schützen – Für eine ambitionierte Effizienzstrategie der deutschen und europäischen Energieversorgung – Drucksache 17/7462 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 30 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Energiewende gelingt nur mit KWK – Drucksachen 17/6084, 17/7516 – Berichterstattung: Abgeordnete Kerstin Andreae b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Am Ausbau der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung festhalten – Drucksachen 17/3999, 17/4492 – Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Hempelmann ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland – Drucksache 17/6927 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Sportausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die an der Debatte zu diesen Tagesordnungspunkten nicht teilnehmen wollen, möglichst geräuscharm den Saal zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Ingrid Nestle für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Noch vor wenigen Monaten hat sich die Bundesregierung hier mit ihrer großen Energiewende gerühmt. Tatsache ist: Sie haben es gerade einmal geschafft, den zehn Jahre alten Atomausstieg zu übernehmen. Aber die Energiewende ist noch lange nicht geschafft; denn die Energiewende geht nicht ohne Effizienzsteigerungen. Aber die Energiekosten explodieren, und Sie legen Ihre Hände in den Schoß. Einige Beispiele: Die Umsetzung der Energiedienstleistungsrichtlinie ist nur ein Papiertiger. Sie bewirkt nicht mehr als einen Hinweis auf der Stromrechnung auf einer Liste im Internet, wo Energiedienstleistungsanbieter zu finden sind. Den Stromverbrauch wollen Sie um 10 Prozent senken. Davon sind wir meilenwert entfernt. Ich habe im Ausschuss nachgefragt, welche Maßnahmen Sie denn ergreifen wollen. Keine einzige ist Ihnen eingefallen. Nicht eine! Bei der Energieproduktivität ist es nicht besser. Im Gegenteil: In dem angeblich so revolutionären Energiekonzept steht weniger drin, als Frau Merkel selbst vor einigen Jahren noch gefordert hat. Das, meine Damen und Herren, ist keine Energiewende, das ist Rückschritt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Noch ein Beispiel: Die Bundesregierung stellt doppelt so viel Geld für die Förderung fossiler Kraftwerke wie für Energieeffizienzanwendungen zur Verfügung und sogar fünfmal so viel für die Förderung energieintensiver Industrie. Das, meine Damen und Herren, ist nicht Investitionssicherheit und nicht der Fortschritt im Bereich der Energieeffizienz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Aber jetzt haben Sie zum Glück eine neue historische Chance vor der Haustür. Und die EU hat Ihnen viel Arbeit abgenommen, indem sie einen guten Vorschlag für eine Effizienzrichtlinie vorgelegt hat. Leider hat Minister Rösler letzte Woche schon angekündigt, dass er genau den Artikel, der zwei Drittel der Wirkung der Richtlinie ausmacht, komplett ablehnt. Ja, der Minister ist so verbohrt, dass er nicht einmal die Riesenchance für die Wirtschaft erkennt, die mit diesem Artikel direkt vor seiner Nase liegt. Er hat behauptet, das sei starres Ordnungsrecht. – Das ist ein Missverständnis. In diesem Artikel geht es darum, einen Markt für Energiedienstleistungen durch Einsparprojekte in einer Höhe von 1,5 Prozent des Verbrauchs bei allen Energieversorgern zu schaffen. Das ist eine hochflexible Regel. Sie setzt lediglich das Ziel fest, das dem der Regierung vollkommen entspricht. Ob der Energieversorger bei sich selbst oder bei Kunden wie Kommunen Projekte durchführt, einen Dritten beauftragt, Projekte durchzuführen, oder einen Beitrag in einen Fonds einzahlt, aus dem Projekte finanziert werden – all das ist völlig offen. Nur das Ziel, maximale Effizienz zu erreichen, ist festgelegt. Allein diese Maßnahme entscheidet darüber, ob wir im Jahr 2020  50 Milliarden Euro zu viel für den Import von Öl und Gas ausgeben oder dieses Geld in den europäischen Energieeffizienzmarkt investieren werden. Das ist verkehrte Welt bei der FDP: Ausgerechnet unser Wirtschaftsminister stellt sich gegen die Entstehung neuer Märkte. Sie fördern lieber die Ölscheichs statt die deutsche Wirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Und was macht Frau Merkel? Nichts! Sie lässt ihre Erfolge von einst einfach so zerrinnen. Denn Minister Rösler ist gerade dabei, das 20-Prozent-Effizienzziel, das Frau Merkel selbst 2007 unter der deutschen Präsidentschaft in die EU-Papiere hineinverhandelt hat, zu verwässern. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Wo ist denn der Minister? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir können gerne einen Zitierantrag stellen! – Ulrich Kelber [SPD]: Es ist nicht mal ein Staatssekretär aus dem Ministerium da! Das Ministerium ist gar nicht vertreten!) – Der Herr Minister war gerade noch da, diesen Tagesordnungspunkt hat er leider nicht mehr abgewartet. Das finde ich auch schade. Aber er ist dabei, das Effizienzziel, das Frau Merkel selbst als ihren Erfolg gerühmt hat, bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern. Er bekennt sich zwar noch zu den 20 Prozent, nicht aber dazu, wie sie berechnet werden. Er will die Berechnungsgrundlage derart verändern, dass nichts davon übrig bleibt. Das ist nicht nur ein Rückschritt, das ist dreist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie kann es denn nun gehen? Unser Antrag beschreibt es: Wir brauchen einen Energiesparfonds mit zusätzlichen, haushaltsunabhängigen Mitteln, die durch die EU-Richtlinie generiert werden – ein Beispiel dafür ist die 1,5-Prozent-Regel zur verbindlichen Energie-einsparung –, einen neuen Markt für Energiedienstleistungen, intelligentes Ordnungsrecht, leicht zugängliche Informationen. So können Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen werden. Bisher hat diese Bundesregierung nur die von der Gesellschaft geforderte Atomwende geschafft. Darüber freuen wir uns, aber das reicht noch lange nicht. Zur Energiewende gehört auch die Verbesserung der Energieeffizienz. Hier haben Sie kläglich versagt. Ich ahne schon, was jetzt gleich kommen wird; Sie haben ja kurzfristig noch den Nationalen Energieeffizienz-Aktionsplan mit auf die Tagesordnung setzen lassen. Aber ich sage Ihnen: Mit jedem Satz zu den dort zitierten Erfolgen loben Sie Rot-Grün. Sie loben die Ökosteuer, die Energieeinsparverordnung und die KfW-Programme. Sie loben all die grünen Projekte, die bis heute positiv wirken. In dieser Regierungsperiode gibt es kein schwarz-gelbes Projekt, das relevant ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Die hat Pfeiffer alle erfolgreich verhindert!) In diesem Sinne freue ich mich gleich auf viel Lob. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Nestle, zunächst einmal möchte ich feststellen, – das gilt auch für die anderen Fraktionen im Haus –: Wir sind uns einig, dass Energieeffizienz der Königsweg der Energiepolitik ist und dass die Energie, die wir einsparen, die beste Energie ist. Deshalb werden wir den eingeschlagenen Weg weiterhin gemeinsam konsequent beschreiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Frau Nestle, man muss schon die Kirche im Dorf lassen. Von mir aus können wir etwas länger zurückblicken. Sie sagen, es sei nichts erreicht worden, und wenn was erreicht worden wäre, dann wäre das dem glorreichen Wirken der Grünen zuzuschreiben. Das stimmt so natürlich nicht. Wie ist die historische Situation? Energie hat trotz Industrialisierung über 100 Jahre hinweg nichts gekostet. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes billig und stand unbegrenzt zur Verfügung. Das war Ende der 60er-Jahre bzw. Anfang der 70er-Jahre der Fall. Mit der ersten Energiekrise, der Ölkrise, wurde das Thema Energieeffizienz auf die Tagesordnung gesetzt. Seither haben viele Regierungen Verantwortung getragen. Daher können wir uns alle auf die Schulter klopfen. Wir brauchen uns in Deutschland wahrlich nicht zu schämen. Es ist uns gelungen, die Energieproduktivität von 1970 bis 1990 zu verdoppeln, das heißt: Die gleiche Einheit Bruttosozialprodukt wurde mit der Hälfte an Energie produziert. Oder andersherum: Mit der gleichen Energiemenge wurde die doppelte Einheit Bruttosozialprodukt erzielt. Wir sind an diesem Punkt aber nicht stehen geblieben. Seit der Wiedervereinigung 1990 wurde weiterhin viel erreicht. Ich nenne ein paar Zahlen. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit 1990 um 30 Prozent gestiegen, während der Primärenergieverbrauch um 6,8 Prozent – temperaturbereinigt, also real, sogar um 10 Prozent – zurückgegangen ist. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der Energieverbrauch je Einheit. Wenn Sie das BIP betrachten, dann stellen Sie fest, dass der Primärenergieverbrauch um 29 Prozent gesunken ist. Damit gehört Deutschland nicht nur zu den produktivsten Industrieländern in der Welt, sondern auch zu den energieeffizientesten Volkswirtschaften dieser Welt. Das will ich an dieser Stelle betonen. Betrachten wir die Sektoren genauer. In der Industrie – ich nenne ein Beispiel aus der NE-Metallindustrie – ist der spezifische Energieverbrauch von 1990 bis 2008 um 26 Prozent gesunken. In den Haushalten ist der Endenergieverbrauch – wir sprechen nicht nur über Strom, sondern man muss auch über Wärme sprechen, 40 Prozent unseres Energieverbrauchs sind wärmebezogen – um 18 Prozent zurückgegangen. Auch im Bereich Verkehr wurde viel erreicht. Der Kraftstoffverbrauch pro 100 Kilometer Fahrleistung je Pkw ist um 21 Prozent gesunken. Das sind Fakten, die belegen, was wir bis jetzt gemeinsam erreicht haben. Sie haben völlig recht: Wenn wir das, was wir uns mit unserem nationalen Energiekonzept, aber auch europaweit vorgenommen haben – die höchsten Einsparziele –, umsetzen wollen, dann reicht das, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, noch nicht aus. In diesem Bereich müssen wir noch mehr machen. Wir sind gerade dabei, das zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Vielen Dank, dass Sie das goutieren. Zum Bereich Forschung. Die Erforschung neuer Energieeffizienztechnologien ist das Kernstück des kürzlich verabschiedeten Energieforschungsprogramms. Bis 2014 werden 3,5 Milliarden Euro für die Energieforschung zur Verfügung gestellt, das entspricht einer Steigerung um 75 Prozent. 80 Prozent der Mittel, die dort zur Verfügung gestellt werden, gehen in die Steigerung der Energieeffizienz und in den Ausbau moderner und intelligenter Netze und Systeme sowie in die Erforschung der Integration erneuerbarer Energien und der Speicherung, also Bereiche, die ebenfalls mit Energie-effizienz zu tun haben. Der Energieeffizienzfonds, den Sie fordern, wurde beim BMWi längst eingerichtet. Den 2. Nationalen Energieeffizienz-Aktionsplan haben wir erst kürzlich vorgelegt. Er enthält mehr als 90 Instrumente, die zielgerichtet wirken. Sie können das gerne nachlesen, falls Sie das noch nicht getan haben. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rot-grüne Instrumente!) Der Monitoringbericht bescheinigt uns, dass Deutschland als wahrscheinlich einziges Land in Europa die europäischen Energieeffizienzziele auf jeden Fall erreichen wird. Wir setzen auf marktgetriebene und kosteneffi-ziente Instrumente zur Hebung der Potenziale. Während Sie reden und Anträge schreiben, handeln wir. Wir setzen die Dinge um. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?) Was machen wir in den einzelnen Feldern konkret? Kommen wir zu den Gebäuden zurück. Ich erwähnte bereits, dass 40 Prozent unseres Energieverbrauchs wärmebezogen sind. Wir haben in der Zeit der Großen Koalition, von 2005 bis 2009, mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm, für das wir eine hohe Fördersumme zur Verfügung gestellt haben, relativ viel erreicht. 2,5 Millionen Wohnungen wurden energieeffizient saniert bzw. errichtet. Die dadurch erreichte Reduzierung des CO2Ausstoßes ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz wichtig, sondern kommt auch der Umwelt zugute. Wir werden diese Förderung verstetigen und um eine steuerliche Förderung ergänzen. Sie können daran mitwirken, indem Sie dafür sorgen, dass die SPD-geführten Länder ihre Blockadehaltung hinsichtlich der steuer-lichen Förderung im Bundesrat aufgeben. Wir müssen das, was wir geplant haben, endlich umsetzen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Sehr gut! Genau! – Zurufe von der SPD) Wir könnten eine Gesamtfördersumme von 3 Milliarden Euro erreichen: 1,5 Milliarden Euro Fördersumme und Steuervorteile in Höhe von 1,5 Milliarden Euro. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie regieren doch! Haben Sie keinen Kontakt zu Ihren Ministerpräsidenten?) Jetzt will ich einen anderen Sektor ansprechen. Wir setzen auf Fördern und Fordern. Wir setzen auf Marktanreizprogramme. Wir wollen die Leute mitnehmen. Wir wollen keinen Blockwart im Hauskeller. Wir wollen die Leute überzeugen. Wir wollen, dass sie mitmachen, weil es für sie selber etwas bringt. Diesbezüglich befinden wir uns auf einem schwierigen Weg. Schauen wir einmal nach Baden-Württemberg: Die CDU-FDP-geführte Regierung in Baden-Württemberg hat vor wenigen Jahren die Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmebereich festgelegt. Der Kollege Kelber ist noch anwesend. (Ulrich Kelber [SPD]: Sicher!) Er weiß, dass wir das damals technologieoffen festgelegt haben; darum haben wir gerungen. Unsere Hoffnung war groß, dass Investitionsmaßnahmen beschleunigt durchgeführt werden. Leider besagt der vorliegende Bericht, dass viele trotz dieser Technologieoffenheit sagen: Bevor ich mich verpflichte, in eine bestimmte Richtung zu gehen, mache ich lieber nichts. Darauf müssen wir jetzt reagieren. (Ulrich Kelber [SPD]: Das habe ich Ihnen aber vorher gesagt!) Das kann nicht unser Ziel sein. Wir dürfen keine Politik machen, die dazu führt, dass Investitionen zur Steigerung der Effizienz unterbleiben. An dieser Stelle müssen wir einen Spagat hinlegen. Frau Nestle, ich möchte ein deutliches Wort an die Adresse der Grünen richten. Das, was Sie gesagt haben, und das, was die Grünen in ihren Verlautbarungen in den letzten Monaten kundgetan haben, ist industriefeindlich. Sie sagen, Sie wollen eine andere Industrie, weil unsere Industrie überholt sei. Das ist der falsche Weg. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Geld für die Effizienzindustrie!) Sie haben vorhin das Ende der Subventionierung der energieintensiven Industrie gefordert. Das ist doch abwegig. Wir müssen versuchen, die energieintensive Industrie vor den gröbsten Belastungen, die mit Effizienzsteigerungen im Zusammenhang stehen, zu bewahren. (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Blödsinn, Herr Pfeiffer!) – Sie haben das selbst gemacht. Als Sie die Stromsteuer eingeführt haben, haben Sie die energieintensive Industrie befreit, weil Sie wussten, dass sie ansonsten abwandert. Wir wollen, dass Deutschland Industriestandort bleibt. Wir wollen eine effiziente Industrie. Es macht keinen Sinn, verbindliche Energieeinsparungen in Höhe von pauschal 1,5 Prozent zu fordern. Dadurch würde das Wirtschaftswachstum behindert werden. Auch würden dadurch Innovationen verhindert werden. Investitionen zur Verbesserung der Energieeffizienz würden unterbleiben. Für die CDU/CSU-Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit: Die Produktionsverlagerung der energieintensiven Industrie ins Ausland ist kein Beitrag zur Verbesserung der Energieeffizienz. Das versteht die christlich-liberale Regierung nicht unter Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen beides unter einen Hut bringen. Deshalb sind wir für intelligente Anreizprogramme in allen Sektoren, im Gebäudebereich, im Strombereich, im Industriebereich und im Verkehrsbereich. Wir werden auch überlegen, ob im Mobilitätsbereich Förderprogramme der KfW sinnvoll sind. Das heißt, wir wollen mit einem Strauß von Maßnahmen Anreize für Investitionen schaffen, mit denen die Effizienz verbessert werden kann. Wir wollen dort, wo es notwendig und technisch möglich ist, beispielsweise bei einem Neubau, mit ordnungspolitischen Maßnahmen – Stichwort „Energieeinsparverordnung“ – höchste Standards setzen und damit die Energieeffizienz steigern, und zwar zusammen mit der Wirtschaft unter Erhaltung des Industriestandortes und nicht durch Vertreibung der Industrie aus Deutschland, was Folge der Umsetzung Ihrer Politik wäre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist totaler Quatsch, was Sie hier erzählen!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Rolf Hempelmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Joachim Pfeiffer, Sie sind nicht zu beneiden, wenn Sie hier zu dem Thema Energieeffizienz eine Rede halten müssen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bis zum Herbst 2010 haben Sie eine Politik betrieben, die vor allen Dingen daran ausgerichtet war, die vier großen Energiekonzerne, die Atomkraftwerksbetreiber, zu unterstützen. Wir alle wissen, dass deren Ziel nicht die Unterstützung der Nachfrageseite bei der Energieeffizienz ist, sondern dass deren Ziel vor allen Dingen der Verkauf großer Strommengen ist. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sie wissen das doch besser, Herr Hempelmann!) Das beißt sich. Da Sie deren Politik gemacht haben, hat sich die Förderung der Energieeffizienz in Ihren Konzepten natürlich nicht wiedergefunden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Übrigens trifft das nicht nur auf Energieeffizienzbemühungen auf der Nachfrageseite, sondern gleichermaßen auch auf der Angebotsseite zu. Wir alle wissen, dass beispielsweise RWE beim Bundeswirtschaftsministerium Papiere eingereicht hat, die dort eins zu eins übernommen wurden, und dass dort eine ganz klare Ablehnung gegen die KWK, die effizienteste Form der Umwandlung von Primärenergieträgern in Strom und Wärme, aufgebaut wurde. Von daher haben Sie in diesem Bereich eine Hypothek mit sich herumzuschleppen. Als Sie eben die Erfolgsbilanz Deutschlands dargelegt haben, wurde deutlich, dass Sie relativ weit zurückgreifen mussten: In Zeiten einer rot-grünen Energiepolitik ist im Bereich der Energieeffizienz in der Tat einiges passiert. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist: Wir sind weit davon entfernt, uns deswegen auf die Schulter zu klopfen. Denn wir sagen: Es gibt in diesem Bereich noch enorm viel zu tun. (Beifall bei der SPD) Dies gilt sowohl auf der Angebotsseite, also auf der Seite der Strom- und Wärmeerzeugung, als auch auf der Nachfrageseite. In beiden Bereichen ist Ihre Bilanz sehr bescheiden. Die geplante Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes – ich werde dazu jetzt nicht viel sagen; das wird mein Kollege Dirk Becker gleich tun – haben Sie x-mal verschoben. Jetzt soll im Herbst 2011 eine Vorlage kommen. Die Uhr tickt. Der Herbst ist schon weit fortgeschritten. Warten wir einmal ab, was Sie liefern. Wir, Rot-Grün, haben schon früh zu Beginn unserer Regierungszeit Anstrengungen unternommen, um die Kraft-Wärme-Kopplung in unserem Land trotz der Liberalisierung, die damals zeitgleich stattfand, zumindest zu stabilisieren. Wir haben feststellen müssen, dass unsere Bemühungen bisher noch nicht dazu geführt haben, dass wir die Ziele, die wir uns bis zum Jahr 2020 in dem Bereich gesetzt haben, tatsächlich erreichen werden. Deswegen haben wir Vorschläge für eine Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes gemacht. Sie haben bisher nicht darauf reagiert. Ich hoffe dringend, dass Ihre Worte in Sachen Energieeffizienz jetzt mit Taten belegt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eben ist das Stichwort CO2-Gebäudesanierungsprogramm gefallen. Ja, in der Tat, das war ein Erfolgsprogramm. Es war ein echtes Erfolgsprogramm, solange die Mittel in dem Umfang gesteigert wurden, in dem die Wirtschaft in der Lage war, diese Mittel zu absorbieren und dafür zu sorgen, dass im Gebäudebestand in Deutschland in Energieeffizienz investiert wurde. (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist intelligente Förderpolitik!) Dann kamen Sie an die Regierung, und Sie haben die Mittel erst einmal zusammengestrichen. Welche Wirkung hatte das? Die Wirkung war, dass dieser Markt sehr viel kleiner geworden ist, dass viele Handwerker, die zuvor neues Personal eingestellt hatten, sich mittlerweile wieder von diesem Personal trennen mussten, dass auf diesem kleineren Markt sehr viel mehr Wettbewerb, zum Teil ruinöser Wettbewerb, herrschte. Erst jetzt fangen Sie an, die Mittel wieder aufzustocken. Erst jetzt erreichen wir langsam wieder die Größenordnungen, die wir aus der Vergangenheit kennen. Wenn Sie diesen erfolgreichen Weg weitergegangen wären, hätten wir schon längst sehr viel höhere Sanierungsquoten erreichen können. (Zuruf von der SPD: Genau!) Lieber Joachim Pfeiffer, Sie haben die Entscheidung im Bundesrat angesprochen. In Richtung der SPD mahnen Sie an, die steuerliche Förderung so zu unterstützen, wie Sie es vorgeschlagen haben. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass das von Ihnen vorgeschlagene Modell dazu führt, dass diejenigen, die über höhere Einkommen verfügen, stärker gefördert werden als diejenigen mit kleineren Einkommen. Wir dagegen haben Fördersysteme entwickelt, die auf Zuschüssen und Mikrokrediten beruhen. Wenn Sie diesen Weg gehen, dann bekommen Sie nicht nur die Unterstützung des Bundestags, sondern sicherlich auch die des Bundesrats. (Beifall bei der SPD) Selbst wenn wir das, was wir uns in Bezug auf die Energieeffizienz auf der Angebots- und Nachfrageseite vorgenommen haben, nämlich eine echte Energiewende, tatsächlich ernst nehmen, greift dieses Vorhaben noch immer zu kurz. Wir wissen doch, dass wir hier über ein Gesamtsystem reden. Wenn wir die von uns gesetzten Ziele wirklich ernst nehmen, müssen wir das Energieversorgungssystem, das Strom- und Wärmesystem, weiterentwickeln. Alle Fraktionen hier im Bundestag haben ambitionierte Ziele im Hinblick auf den Aufbau erneuerbarer Energien. Selbst Sie wollen bis zum Jahre 2050 einen Anteil von 80 Prozent an erneuerbaren Energien im System haben. Wir wissen alle, dass das Energiesystem für diese großen Mengen an erneuerbaren Energien aufnahmefähig gemacht werden muss. Die Volatilitäten auf der Erzeugungsseite müssen durch immer mehr Flexibilität kompensiert werden. In Bezug auf die Erzeugungsseite vermissen wir jedoch jeglichen konstruktiven Vorschlag Ihrerseits. Das gilt insbesondere für das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wir sagen: Auf der Erzeugungsseite brauchen wir ein Zusammenspiel zwischen volatil und flexibel einspeisenden Energien. Das können erneuerbare Energien, das können aber auch konventionelle Energien aus modernen Gaskraftwerken sein. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen die Flexibilität aber auch auf der Nachfrageseite. Wenn wir an dieser Stelle nicht vorwärtskommen, die Effizienz des Systems nicht im Auge behalten und die Flexibilität auf der Nachfrageseite nicht wecken, dann werden wir versagen. Dann werden wir unsere Ziele im Bereich der erneuerbaren Energien nicht erreichen. Auch dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht. Bei Ihnen scheint einiges in der Pipeline sein. Auf mehr werden wir jedoch wahrscheinlich noch länger warten müssen. Ich komme zur Flexibilität bei den Großverbrauchern. Große industrielle Verbraucher können durch Zu- oder Abschaltung entsprechend reagieren, Flexibilitäten im Netz schaffen und auch ausgleichen, wenn es auf dem Markt beispielsweise ein Unterangebot an Strom gibt. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Werden wir machen! Da werden die Grünen aber dagegen sein!) Sie haben diesbezüglich etwas angekündigt. Da soll etwas kommen. Es liegt noch nicht auf dem Tisch. Ich hoffe, dass Sie wirklich und auch zeitnah etwas liefern. Wir brauchen die Flexibilität auch in der Breite der Unternehmen im produzierenden Gewerbe, also in den kleinen und mittleren Unternehmen sowie in den privaten Haushalten. 2008 haben wir in der Großen Koalition gesagt: Wir wollen intelligente Zähler – zunächst verpflichtend im Neubau; auch in den privaten Haushalten –, schließlich eine Angebotspflicht für den Gebäudebestand, und zeitgleich wollen wir lastvariable Tarife. Das heißt: Der Kunde, der seine Verbräuche in Zeiten eines hohen Stromangebots verlagert, soll dafür auch belohnt werden, indem er weniger bezahlen muss. Was seit 2008 auf diesem Gebiet passiert ist, ist ausgesprochen bescheiden. Ihre Zusammenarbeit mit der Bundesnetzagentur hat sich darauf beschränkt, zu sagen: Macht mal! – Eine konstruktive Begleitung und auch ein Stück Antrieb haben gefehlt. Deswegen sind wir in diesem Bereich überhaupt noch nicht weitergekommen. Wenn wir dies aber nicht schaffen, dann brauchen wir über Elektromobilität – beispielsweise über batteriebetriebene Fahrzeuge – gar nicht weiter nachzudenken. Wenn wir im Bereich der Elektromobilität wirklich vorankommen wollen, dann müssen wir vorher bereits die Flexibilitäten auf der Nachfrageseite geschaffen haben. Dann müssen die Kunden bereits über die notwendigen Installationen verfügen, insbesondere über intelligente Zähler. Aber auch die anderen Marktakteure müssen die entsprechenden Schritte bereits gegangen sein. Die gesamte Schnittstelle zwischen Erzeugung, Netz und Kunden muss durch entsprechende Informationstechnologie so aufgerüstet sein, dass Elektromobilität zu einem Erfolgsmodell werden kann, nicht nur für den Mobilitätssektor, sondern auch für den Energiebereich. (Beifall bei der SPD) Hier haben Sie nicht geliefert. Wenn ich sehe, wie viel Zeit Sie verlieren und dass Sie beispielsweise darüber jammern, dass Netze nicht zeitgerecht fertig werden, dann muss ich Ihnen sagen: Der Hauptbremser, der dafür sorgt, dass der Umbau des Energiesystems nicht vorankommt, sind Sie selbst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, was ich beschrieben habe, zeigt: Wir stehen vor einer ausgesprochen komplexen Aufgabe. Man kann vor Komplexität kapitulieren; diesen Eindruck kann man gelegentlich gewinnen, wenn man in Ihre Richtung schaut. Man kann sie aber auch als Herausforderung annehmen und gemeinsam mit den Akteuren in der Energiewirtschaft und auf dem gesamten Energiesektor – dazu gehören auch die Verbraucher – in einen Dialog eintreten, der dazu beiträgt, dass die Schritte, die dort gegangen werden können, durch politische Rahmenbedingungen, die wir setzen müssen, konstruktiv begleitet werden. Das fehlt zurzeit. Das wird angemahnt, in zunehmendem Maße auch und gerade von innovativen Akteuren. Aber von Ihnen ist bisher leider nichts gekommen. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie unsere Vorschläge konstruktiv auf! Lassen Sie den Worten Taten folgen! Es reicht nicht, wenn wir alle nur sagen, Effizienz sei das Gebot der Stunde und die wichtigste Quelle für eine erfolgreiche Energiepolitik. Wir müssen auch dementsprechend handeln. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Klaus Breil (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! KWK ist eine Form der Energieerzeugung mit höchster Effizienz. Wir haben ein klares Ziel: Wir wollen den Anteil des Stroms aus KWK bis 2020 auf mindestens 25 Prozent ausbauen. Voraussichtlich noch im November dieses Jahres wird das Bundeswirtschaftsministerium einen Evaluationsbericht zur Kraft-Wärme-Koppelung vorlegen, übrigens zusammen mit den Eckpunkten der Novelle des KWK-Gesetzes; diese wird dann im nächsten Jahr folgen. In meinen Gesprächen mit dem Ministerium gab es keine Hinweise auf die in den Anträgen formulierte Behauptung, der KWK-Markt würde stagnieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Becker [SPD]: Lesen Sie sich das Gutachten doch mal durch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie dürfen auch nicht die Falschen fragen!) Im Gegenteil: Mehr als 6 000 Anträge zur KWK-Förderung wurden bis Mitte des Jahres gestellt, 600 allein zum Ausbau des Wärmenetzes. Das ist nicht trivial. Alles in allem gehen 5 200 Megawatt in der Zeit von 2010 bis 2012 ans Netz. Nach meinem Kenntnisstand planen Stadtwerke und größere Energieversorger eine starke Ausweitung des Einsatzes dezentraler Blockheizkraftwerke, lokal und bedarfsgerecht. Bis zu 3 000 Einheiten der unterschiedlichen Größenklassen können in Deutschland entstehen. Gleiches gilt für den Einsatz von Mikro-KWK-Anlagen. Diese Zuhausekraftwerke, mit Gasmotor oder auf Brennstoffzellenbasis, werden in Modellregionen in Nordrhein-Westfalen, in der Ems-Weser-Elbe-Region und im Verbund Hamburg-Berlin bereits flächendeckend erprobt. Vattenfall zum Beispiel möchte dort bis Ende des Jahres 100 000 solcher Anlagen als virtuelle Kraftwerke in Betrieb haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Inanspruchnahme von Fördermitteln für KWK wird also deutlich ansteigen. Aus meiner Sicht besteht daher für eine Umlenkung der Mittel, die in den Anträgen von SPD und Grünen gefordert wird, weder Anlass noch Verfügungsmasse. Meine Damen und Herren, wir müssen eines beachten: KWK-Anlagen sind nur dort wirtschaftlich, wo ein möglichst kontinuierlicher Wärmeabsatz gewährleistet ist. (Rolf Hempelmann [SPD]: Daran kann man arbeiten!) Das ist nun einmal nicht überall der Fall. (Beifall bei der FDP) Deswegen werden solche Anlagen auch nur dort errichtet werden können, wo der Wärmeabsatz erfolgen kann. Wir müssen also nach einer ganzheitlichen Strategie vorgehen, so wie sie im Energiekonzept der Bundesregierung angelegt ist. Es gilt daher auch, den Wärmebedarf für Gebäude im Blick zu haben. Hier liegen die größten Effizienzpotenziale überhaupt. SPD und Grüne blockieren mit ihrer Ablehnung im Bundesrat die von der Koalition auf den Weg gebrachte steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Becker [SPD]: Das ist ganz billiger Jakob, den Sie hier aufführen!) Das ist Politik gegen den Bürger und gegen die Umwelt. (Torsten Staffeldt [FDP]: Genau!) Es ist daher einäugig, den KWK-Anteil bis 2020 unter Zwang auf 30 Prozent ausbauen zu wollen. So steht es im Antrag der Grünen. Auch in einer künftigen Strategie zum Ausbau der KWK-Kraftwerke müssen Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit beachtet werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen im Kraftwerkspark zukünftig nicht nur mehr Effizienz, sondern auch mehr Flexibilität. Ein Kraftwerk, das mit fossilen Brennstoffen betrieben wird, kann entweder wärme- oder stromgeführt betrieben werden. Erreichen wir unsere Ausbauziele für die erneuerbaren Energien – 80 Prozent bis 2050 –, dann müssen wir auf die Residuallasten schnell und kostengünstig reagieren können. Ohne Wärmespeicher wie den, den Vattenfall in Dänemark betreibt, bringen wir die Kraft-Wärme-Kopplung nicht mit den Anforderungen an unseren zukünftigen Kraftwerkspark in Einklang. Wir müssen es daher den Unternehmen überlassen, ob sie in ihren Kraftwerken im Einzelfall – je nach Standort – auf KWK setzen oder nicht und welchen Energieträger sie einsetzen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]) Mit meinem letzten Punkt komme ich zur Steigerung der Energieeffizienz im produzierenden Gewerbe. Dort gibt es bei unseren hohen Energiepreisen wirklich kaum noch Potenziale zu heben. Die Politik sollte keinem Unternehmen – und erst recht keinem großen, mittelständischen oder kleinen energieintensiven Unternehmen – vorschreiben dürfen, wie viel Energie es einsparen muss; denn Energie kostet Geld, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen sollen sie doch einsparen!) Geld, das ein Unternehmer aus eigenem Antrieb zu sparen versucht. Mit der verpflichtenden Einführung von Energiemanagementsystemen in den Unternehmen verursacht man einen höheren Bedarf an personellen und finanziellen Kapazitäten und höhere Energiekosten. Bei Durchsicht der Anträge habe ich immer wieder herausgelesen, dass wir per Gesetz einen neuen Markt für Energieberatung schaffen müssen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage der Kollegin Nestle verlängern? Klaus Breil (FDP): Ja, bitte. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wenn er so fragt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer kann dazu schon Nein sagen!?) Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Breil. – Sie sprachen gerade an, dass man kein Unternehmen verpflichten dürfe, eine bestimmte Effizienzmaßnahme durchzuführen. Es steht jetzt ja die politische Entscheidung an, wie Sie sich zur EU-Effizienzrichtlinie positionieren. Ich habe Art. 6 angesprochen und wollte Sie fragen, ob Sie meiner Interpretation folgen: Durch den Artikel wird ein Unternehmen in keinster Weise verpflichtet, etwas zu sparen oder ein bestimmtes Projekt durchzuführen. Es wird stattdessen nur die Gesamtmenge an Projekten festgelegt – und zwar bei absoluter Freiheit, wo man sie durchführt –, wodurch 50 Milliarden Euro in Europa investiert werden können und nicht ins weitere Ausland abfließen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch genau das, was der Kollege Breil gesagt hat!) Klaus Breil (FDP): Frau Nestle, wir müssen diese Maßnahmen in erster Linie in die Hände der Unternehmen legen. Die Unternehmen kennen ihre Kosten selbst am besten und haben ein großes Interesse daran, Kosten zu sparen. Alles andere werden wir, wenn Vorschläge aus Brüssel kommen, natürlich erwägen, und wir werden uns unsere Meinung dazu bilden. (Beifall bei der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind also dafür!) Damit möchte ich zu meinem Schlusssatz kommen: Lassen Sie die Wirtschaft einfach mal machen! Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dorothée Menzner (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor reichlich einem Jahr haben wir hier über ein leider nutzloses Stück Papier mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen“ beraten und es beschlossen. Wieso nutzlos? Das klingt ja erst einmal ganz gut. Es ist nutzlos, weil gänzlich unambitioniert. Es entsprach gerade einmal mit Ach und Krach der Eins-zu-eins-Umsetzung dessen, was in der Richtlinie gefordert wurde. Das Ganze geschah noch mit mehrjähriger Verspätung. Die Linke hat damals schon sehr konkrete Ideen gehabt und Vorschläge vorgelegt, wie man im Bereich Effizienz mit wenig Aufwand viel erreichen könnte. Das ist von der Koalition alles abgelehnt worden. Jetzt unternimmt die Fraktion der Grünen einen neuerlichen Anlauf. Es braucht leider relativ wenig Fantasie, um zu ahnen, was geschehen wird, nämlich erneut nichts bis ganz wenig. Damals wie heute verzichtet die Bundesregierung in vollem Bewusstsein auf konkrete Zielvorgaben inklusive möglicher Restriktionen, insbesondere für Industrie und Wirtschaft. Wir haben es eben bestätigt bekommen. Während Verbraucherinnen und Verbraucher zweifelhaft gegängelt werden – ich möchte nur das Stichwort Energiesparlampe benennen –, (Torsten Staffeldt [FDP]: Die kommt doch aus Brüssel!) können Unternehmen frei entscheiden. Dort setzt man auf Eigenverantwortung und Freiwilligkeit. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Sie wollen doch alles verstaatlichen!) Da fragt man sich: Wo leben Sie eigentlich? Erklären Sie mir und der Öffentlichkeit doch bitte einmal, woher Sie die Gewissheit nehmen, dass plötzlich nicht Profitstreben, sondern soziale und ökologische Moral Triebfeder ökonomischen Handelns wird. (Beifall bei der LINKEN) Mir fehlt dieser Glaube. Ich vermute, damit bin ich nicht alleine. Gibt es irgendwelche geheimen Absprachen mit dem BDI und anderen Verbänden zum Thema Energieeinsparen und -effizienz, die wir nicht kennen? Dann würden wir sie gerne kennenlernen, damit wir wüssten, welcher Art sie sind. Woher nehmen Sie überhaupt die Gelassenheit und das Vertrauen, dass der Markt es richten wird? Sie haben eben noch einmal betont, dass Sie diesem Glauben anhängen. Tag für Tag erleben wir doch, dass dieser Markt zunehmend nicht mehr kontrollierbar ist und Politik und Steuerzahler am Nasenring durch die Manege geführt werden. Nein, mir und vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern fehlt da das Vertrauen. Es braucht für die Industrie klare Ziele und klare Vorgaben und dann auch Kontrollen hin zu mehr Energieeffizienz und -einsparung. (Beifall bei der LINKEN) Nur ein Beispiel sind verbindliche Schritte weg von der Quasifreistellung vieler Unternehmen von der EEG-Umlage, eine Freistellung, die die privaten Verbraucherinnen und Verbraucher mitbezahlen. Ich möchte Sie daran erinnern – gerade nach der Rede vom Kollegen Breil erscheint mir das dringend notwendig –: Der Bundestag hat durch das Volk nicht den Auftrag bekommen, der Industrie zu vertrauen. Wir haben den Auftrag, dem Wohle der Menschen zu dienen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das muss sich doch nicht ausschließen!) Wir dürfen der Industrie nicht einfach vertrauen und die Dinge so laufen lassen, wie Sie es tun. Unser Auftrag bedeutet, zu steuern und Grenzen da zu setzen, wo es notwendig ist. Deswegen fordere ich Sie auf: Hören Sie endlich auf, die EU-Effizienzrichtlinie zu blockieren. Lassen Sie uns verbindliche Einsparziele festlegen! Die vorgelegten Anträge bieten dazu ausreichend Gelegenheit. Arbeiten wir hier konstruktiv zusammen! Ich danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Hempelmann, erlauben Sie mir, gleich zu Ihrer Rede zu kommen. Sie haben mehrfach gesagt: Lassen Sie den Worten Taten folgen. Erlauben Sie mir, zu sagen, dass in Ihrem Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo Sie Verantwortung tragen, eine der modernsten und effizientesten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen steht und nicht ans Netz gehen kann, weil Ihre Landesregierung, die rot-grüne Landesregierung das nicht schafft. Wenn Sie hier also sagen „Lassen Sie den Worten Taten folgen“, dann kann ich Ihnen nur raten: Schaffen Sie es doch erst einmal in Ihrem eigenen Bundesland, etwas voranzubringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Ist Ihnen bekannt, dass die schwarz-gelbe Landesregierung das nicht geschafft hat?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? Thomas Bareiß (CDU/CSU): Ja, gerne. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Bareiß, da Sie das Kraftwerk Datteln ansprechen: Ist Ihnen bekannt, dass eine ehemalige schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen einen Genehmigungsbescheid erarbeitet hat, der vom Gericht mit Pauken und Trompeten kassiert wurde, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So wie Ihr Haushalt!) und dass das der Grund dafür ist, dass dieses Kraftwerk nicht in Betrieb genommen werden kann? Können Sie bestätigen, dass das eine katastrophale, eine handwerklich schlechte Politik der Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Rüttgers war? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Ich kann nur bestätigen, dass sich Eon heftig darüber beklagt, dass die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen das auf allen Ebenen verhindert. (Lachen bei der SPD) Die SPD würde es sehr gerne tun, aber sie kommt nicht voran, weil Sie von den Grünen die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen daran hindern. Das ist das Problem. (Ulrich Kelber [SPD]: Sitzt der Pressesprecher von Eon im deutschen Parlament?) Wir könnten bei dem Thema schneller vorankommen, aber das klappt nicht, weil die Grünen in Nordrhein-Westfalen auf allen Ebenen Blockadepolitik betreiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal, was Eon über Schwarz-Gelb denkt! Das ist noch viel schlimmer!) Meine Damen und Herren, zwei von drei Anträgen, die heute vorliegen, befassen sich mit der Kraft-Wärme-Kopplung. Deshalb möchte ich mich in meiner Rede in erster Linie dem Thema KWK widmen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die Kraft-Wärme-Kopplung bzw. die Energieeffizienz eine der wichtigsten Säulen unserer Energiewende. Denn wir organisieren nicht nur den Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch den Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Deshalb haben wir die großen Herausforderungen angepackt. Wir kümmern uns um den Netzausbau, den verantwortungsvollen und effizienten Ausbau der erneuerbaren Energien, um Energieeffizienz und den Zubau eines modernen, effizienten und flexiblen Kraftwerksparks und damit auch um den Zubau von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?) Schon heute beträgt der Anteil von KWK am Strommix rund 15 Prozent. Das ist nicht wenig, und wir werden den Ausbau in den nächsten Jahren Schritt für Schritt weiter vorantreiben. (Dirk Becker [SPD]: Wie denn?) Für uns ist dies ein intelligenter Weg, effizient mit Energiequellen umzugehen. Strom und Wärme aus einem Prozess: Das hat einen hohen Wirkungsgrad. Während in konventionellen Kraftwerken zwischen 45 und 70 Prozent der Energie, die für die Stromerzeugung eingesetzt wird, als Abwärme verlorengehen, schaffen moderne KWK-Technologien Nutzungsgrade von bis zu 90 Prozent. Das müssen wir in Zukunft verstärkt nutzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weil wir dieses Potenzial ausbauen wollen, haben wir schon im Juli dieses Jahres im Rahmen der EnWG-Novelle elementare Regelungen beschlossen, die dem Ziel dienen, die Förderung nach dem KWK-Gesetz noch flexibler zu gestalten und den Betreibern von KWK-Anlagen mehr Investitionssicherheit zu bieten. Zum Ersten haben wir eine Flexibilisierung der Förderung durch den Wegfall der maximal zulässigen Betriebsjahre – sechs Jahre – geschaffen. Wir haben dieses Kriterium gestrichen; zukünftig gilt nur noch die tatsächliche Betriebsdauer von maximal 30 000 Betriebsstunden. Dies war aufgrund der Marktentwicklungen notwendig, da mit dem Anstieg des Anteils der erneuerbaren Energien die Auslastung der Anlagen gesunken ist. Mit dieser Maßnahme nehmen wir den Druck von den Anlagenbetreibern und schaffen in den nächsten Jahren mehr Planungssicherheit. Zum Zweiten haben wir eine Verschiebung des Stichtags für die KWK-Förderung über 2016 hinaus bis Ende 2020 beschlossen. Auch mit dieser Regelung wird den Unternehmen Investitionssicherheit gegeben. So stellen wir sicher, dass der Ausbau von KWK nicht zum Erliegen kommt. Mit diesen zwei zentralen Punkten haben wir schon heute das politische Signal gegeben, dass wir zur KWK stehen. In der anstehenden Gesetzesnovelle werden wir noch in diesem Jahr weitere Detailregelungen schaffen. Dazu wird die Bundesregierung schon Ende November einen Zwischenbericht vorlegen. Auf dieser Basis werden wir dann noch in diesem Jahr den Gesetzentwurf einbringen. Damit schaffen wir weiter Investitionssicherheit. Wir werden in den Ausschüssen intensiv über den richtigen Weg der KWK sprechen. Ich will aber schon heute sagen: Wir müssen bei der anstehenden Novelle nicht nur über die Vergütungssätze sprechen, wie es in Ihren Anträgen der Fall ist, sondern vor allem über die Frage, welchen Beitrag die KWK zur Systemstabilität leisten kann. Das ist, glaube ich, der wichtigste Beitrag. Wir müssen auch über interessante Ansätze zur Wärmespeicherung sprechen. Diese spielen eine wichtige Rolle, da sie KWK-Anlagen eine flexiblere, stromgeführte Fahrweise ermöglichen, die wir zur besseren Integration der fluktuierenden erneuerbaren Energien brauchen. Ich bin davon überzeugt, dass wir solche Ansätze im Rahmen der Novelle besonders berücksichtigen müssen; denn Speichertechnologien gehören zu den entscheidenden Bausteinen für eine erfolgreiche Energiewende. Es gibt aber auch Konflikte zwischen der KWK und der Energieeffizienz, über die wir in den nächsten Wochen diskutieren müssen. In der Praxis sind die Hauptprobleme von KWK-Anlagen nicht die politischen Rahmensetzungen, sondern das Fehlen eines ausreichenden Wärmeverbrauchers am Standort von KWK-Anlagen. Darauf geben Sie in Ihren Anträgen keine Antwort. (Widerspruch bei der SPD) Die fehlende Möglichkeit, effizient erzeugte Wärme direkt abzunehmen, führt zu Effizienzproblemen. Sinnvoll ist die Nutzung von Kraft-Wärme-Kopplung dort, wo ein hoher Wärmebedarf über das ganze Jahr kalkulierbar ist; denn Wärme ist zwar gut speicherbar, aber nicht über weite Strecken gut transportierbar. Deshalb muss die Stromerzeugung möglichst nah an die Wärmesenke herangeführt werden. Das ist aber nicht immer möglich. Im Grunde ist dies paradox: Besonders effizient produzierter Strom und produzierte Wärme erleiden auf dem Weg zum Verbraucher oft hohe Effizienzverluste. Auch die folgende Frage wird kommen: Brauchen wir überhaupt noch so viel Wärme? Das heißt, je mehr wir in den nächsten Jahren in die Gebäudesanierung investieren, desto weniger Wärmebedarf besteht. In den kommenden Debatten über das KWKG werden wir diese Frage beantworten müssen. Je nachdem, welche Antwort wir finden, werden wir das Ausbauziel eventuell anpassen müssen. Die Grünen beklagen in ihrem Antrag – das wurde schon erwähnt –, dass die Bundesregierung zu wenig für Energieeffizienz auf nationaler und europäischer Ebene tut. Dann frage ich mich, wieso das Gesetz zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen vom Bundesrat im Juli blockiert wurde, (Rolf Hempelmann [SPD]: Das wissen wir doch!) vor allem durch die Stimmen der grün und rot geführten Landesregierungen. Aber Sie bekommen jetzt noch einmal die Chance, zu zeigen, dass Sie es ernst meinen mit Ihren Forderungen nach mehr Energieeffizienz; denn gestern hat die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss angerufen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vier Wochen zu spät!) Diese Entscheidung begrüße ich außerordentlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich hoffe, dass Sie mitmachen, die Energiewende sinnvoll zu gestalten, und dass die von Ihnen geführten Länder ihren finanziellen Beitrag leisten. Mehr Energieeffizienz kann auch weniger KWK bedeuten. Mit einem solchen Spannungsbogen werden wir in energiepolitischen Debatten oft konfrontiert. Aber eine stimmige Energiepolitik versucht, diesen Spannungsbogen zu überwinden und ein schlüssiges und sinnvolles Konzept daraus zu machen. Leider tragen Ihre Anträge nicht dazu bei, dass wir in dieser Frage einen richtigen Schritt vorankommen. Ihre Anträge sind eine Aneinanderreihung von Forderungen, aber kein in sich schlüssiges Konzept. (Rolf Hempelmann [SPD]: Das Wort „Konzept“ dürft ihr doch gar nicht mehr in den Mund nehmen!) Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen, und Ende des Jahres werden wir eine KWKG-Novelle vorlegen, die sich mit den Herausforderungen wirklich auseinandersetzt und Sinn macht. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dirk Becker für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dirk Becker (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Pfeiffer hat vorhin zu Recht gesagt: Energieeffizienz ist der Königsweg. – Wir sind es gewohnt, große Worte zu hören, wenn das Thema Effizienz auf der Tagesordnung steht. Aber es ist leider auch Gewohnheit, dass es bei Ankündigungen bleibt. Ich habe auch heute den Eindruck, dass es im Wesentlichen dabei bleibt, die Wichtigkeit der Effizienz zu beschreiben und sonst viele schöne Ausreden parat zu haben. Herr Dr. Pfeiffer, Ihre Beschreibung dessen, was Sie vorhaben, war leider wieder sehr unkonkret. Ihr Kollege Bareiß ist ein bisschen konkreter geworden; denn er hat auf eine Technologie abgehoben, mit der wir Effizienz und Klimaschutz sofort zusammenbringen und den Umbau der Energiestruktur unserer Gesellschaft – den Ausstieg aus der Kernenergie tragen wir gemeinsam – auf eine neue Grundlage stellen können. Herr Dr. Pfeiffer und Herr Nüßlein, ich spreche Sie persönlich an, weil ich Sie an das Energie- und Klimaprogramm der Großen Koalition erinnern möchte. Damals haben wir gesagt: Das Wichtigste ist, den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung voranzutreiben. – Wir haben nach langen und schwierigen Verhandlungen gemeinsam ein Gesetz erarbeitet, in dessen Fokus das Ziel steht, bis 2020 25 Prozent der Stromerzeugung mit KWK sicherzustellen. Wir haben die industrielle KWK aufgenommen, und wir haben den Neubau von KWK-Anlagen aufgenommen. Wir haben ferner gesagt – auch das war wichtig –, dass wir die Fördersumme deckeln wollen. Herr Breil hat eben eine tolle Rechnung aufgemacht. Der Erfolg wird heute nach der Anzahl der Anträge bemessen. Das widerspricht der faktischen Entwicklung der Förderung der KWK; denn die Förderung der KWK ist im Jahr 2010 auf 384 Millionen Euro zurückgegangen. Mehr Fördermittel sind gar nicht abgeflossen. Wir schöpfen also den Förderrahmen überhaupt nicht aus. Ihr eigener Gutachter, Herr Breil, der Gutachter dieser Bundesregierung, kommt in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Zubau der KWK-Anlagen – es kommt auf den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung an – zwischen maximal 17 und 20 Prozent liegen wird. Ihr eigener Gutachter attestiert, dass wir, wenn wir so weitermachen und nicht im KWKG nachsteuern, das Ziel verfehlen. Das heißt, man muss handeln und darf nicht abwarten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfeiffer? – Bitte. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Kollege Becker, wir haben bei der Novellierung des KWK-Gesetzes in der letzten Legislatur gemeinsam als Berichterstatter mitgewirkt. Ist Ihnen bekannt, dass allein der Aufwuchs bei KWK-Anlagen in den Jahren 2008 und 2009 1,4 Prozent betrug, wir im Moment bei einem Anteil von 15,4 Prozent liegen – das geht also in die richtige Richtung – und dass wir auf jeden Fall bei weit über 21 Prozent allein durch die Maßnahmen, die bisher getroffen wurden, liegen werden? Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass wir jetzt gerade erst den Förderzeitraum erheblich verlängert, den sogenannten doppelten Förderdeckel abgeschafft und andere Maßnahmen mehr ergriffen haben? Ist Ihnen schließlich bekannt, dass wir im Moment in der Tat bei KWK noch ein weiteres Problem haben? Ich habe vorhin versucht, es am Rande anzusprechen. Es unterbleiben nämlich Investitionen, weil bei Investitionen, die eine höhere Energieeffizienz zum Ziel haben, die Befreiung von der EEG-Umlage wegfällt und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Stromerzeugung aus KWK im europäischen Rahmen nicht mehr gegeben ist? Sind Sie mit mir der Meinung, dass wir dies dringend beheben müssen, um mindestens den 25-Prozent-Anteil zu erreichen? Dirk Becker (SPD): Zunächst einmal vielen Dank für die Fülle von Fragen. Das ermöglicht mir, die Redezeit deutlich auszuweiten. Ich will gerne auf einige Punkte der Frage eingehen, zu denen ich ohnehin noch gekommen wäre, und diese beantworten. Erstens. Es ist richtig, was Sie zum aktuellen Ausbaustand zitiert haben. Allerdings kommt der von mir eben erwähnte und von der Bundesregierung beauftragte Gutachter der Firma Prognos in dem Gutachten für das Wirtschaftsministerium zu anderen Ergebnissen, was das Jahr 2020 anbelangt. Der Gutachter von Prognos sagt – lesen Sie das Gutachten; es ist nicht vom Gutachter der SPD, sondern vom Gutachter dieser Bundesregierung –: Wenn Sie nichts weiter verändern, werden wir einen KWK-Anteil von maximal 17,4 Prozent haben. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: 21!) – Nein, im Best-of-Szenario spricht das Gutachten von etwa 20 Prozent, auf keinen Fall aber von 25 Prozent. Das ist die erste Feststellung. – Dann schreibt der Gutachter von Prognos der Regierung ins Stammbuch, was sie im KWKG ändern müsste, damit das Ziel erreicht wird. Komischerweise stehen viele Maßnahmen, die der Gutachter von Prognos vorschlägt, in unserem Antrag. Sie sind deckungsgleich. Wenn Sie dann sagen, es sei alles Mumpitz, was wir machen, dann stellen Sie dem eigenen Gutachter der Bundesregierung das Zeugnis aus, Mumpitz vorgelegt zu haben. Das ist der erste Widerspruch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Wieder nicht geliefert!) Der zweite Punkt ist, Herr Dr. Pfeiffer: Wir haben in der Tat eine große Investitionszurückhaltung. Die Ursache dafür – da machen Sie jetzt den billigen Jakob – führen Sie auf einen Konflikt mit der Energieeffizienz zurück. Wissen Sie, wo der erste große Pferdefuß war? Sie haben durch die Diskussion über die Laufzeitverlängerung und mit der beschlossenen Laufzeitverlängerung der Wirtschaftlichkeit des Neubaus von KWK-Anlagen den Boden entzogen. Das sagt Ihnen jedes Energieunternehmen, das KWK-Anlagen hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben durch Ihre Beschlüsse die Wirtschaftlichkeit der KWK zerstört. Das ist auch relativ logisch; denn Ihr Gutachter – das will ich auch Herrn Breil sagen, der auf Podien bisher geantwortet hat – – (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das hat doch mit dem gar nichts mehr zu tun, was ich gefragt habe! – Gegenrufe von der SPD: Doch!) – Herr Pfeiffer, Sie haben doch gesagt, das Ganze sei ein Problem der Effizienz, da gebe es einen Zielkonflikt. Deshalb gebe es Investitionszurückhaltung. Das ist Blödsinn. Diese Zurückhaltung gibt es wegen Ihrer Energiepolitik – und nur deshalb! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Unsinn! Wegen der EEG-Umlage! – Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU] nimmt Platz – Zurufe von der SPD: Stehen bleiben!) – Lassen wir ihn sich setzen. Er trägt genug an der schweren Last seiner Politik. Er soll sitzen. Ein weiterer ganz entscheidender Punkt – so lautet nämlich eine Argumentation, die Herr Breil bisher immer wieder angeführt hat –: KWK sei doch längst wirtschaftlich. Auch da kommt Ihr Gutachter – nicht unser Gutachter – zu ganz anderen Ergebnissen. Das Prognos-Gutachten besagt, dass die Wirtschaftlichkeit von großen GuD-Anlagen inklusive der bestehenden KWKG-Förderung erst ab 4 000 Volllaststunden wirtschaftlich ist. Ich glaube, wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, wie heute die tatsächliche Volllaststundenzahl gerade im Hinblick auf den Neubau der Anlagen ist. Sie können den Neubau mit dem Instrument, das wir jetzt haben, wirtschaftlich nicht darstellen. Weiterhin kommt Prognos in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass bei kleineren GuD-Anlagen sogar 5 000 Stunden notwendig sind. Ich habe mir diese Zahl nicht ausgedacht; sie steht in diesem Gutachten. Lassen Sie mich kurz auf das Energiekonzept zurückkommen; Sie haben das eben angesprochen, Herr Bareiß. Sie sprechen jetzt nur noch vom zweiten Energiekonzept. Ich will beim Thema Investitionssicherheit, Herr Dr. Pfeiffer, noch einmal deutlich machen, wie die KWK in Ihrem ersten Konzept behandelt wurde, in dem Sie sich noch für eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen haben. In dem ganzen Konzept findet KWK gar nicht statt, außer im Bereich EEG. In dem ersten Entwurf stand sogar wortwörtlich: Wir müssen nach Verlängerung der Laufzeiten erst einmal kritisch überprüfen, ob es so etwas überhaupt noch braucht. – Ich sage Ihnen: Es war Ihr klares Ziel, die Sache zu kippen. Das war Ihre Politik oder die Politik Ihres Koalitionspartners. Ich zitiere die Kanzlerin, die hier im Bundestag am 9. Juni 2011 bei der Verabschiedung des letzten Energiekonzeptes Farbe bekannt hat; ich habe das gerne gehört. Sie hat deutlich gesagt, dass sie mit dem Entwurf einer Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz einen Beitrag zur Versorgungssicherheit und Effizienz leisten wolle, und sie hat für dieses Jahr weitere Schritte angekündigt, Schritte, die über die hinausgehen, die Sie eben erwähnt haben. Nun muss ich sagen: Sie müssen sich in der Regierung aber einmal einigen, was gilt. Leider war die Regierung an der Teilnahme an der Podiumsdiskussion des Bundesverbandes Kraft-Wärme-Kopplung verhindert; beide zuständigen Minister haben sich entschuldigen lassen. Dafür hat man einen Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums geschickt. Er hat dort für eine ziemliche Verwirrung gesorgt, weil er erklärt hat – ich fand das einmalig –, man wolle zwar 25 Prozent Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung, aber die Zielerreichung bis 2020 stehe ja gar nicht im Gesetz; man müsse sie nicht an diesem Jahr festmachen. Ich möchte Sie einfach bitten: Stellen Sie das klar! Es kann nicht sein, dass Sie zwar bei der Energiewende die Kurve gekriegt haben, jetzt aber hintenherum den Markt weiter verunsichern. Herr Dr. Nüßlein, schütteln Sie jetzt nicht den Kopf. Fragen Sie die Leute, die diese Podiumsdiskussion verfolgt haben. Sie waren verunsichert und haben gefragt: Was ist denn das wieder für ein Spiel? – Wir brauchen hier das klare Bekenntnis – Herr Breil und andere haben es eben gesagt; es bleibt dabei –: Wir wollen die Maßnahmen an das ins Auge gefasste Ziel anpassen und wollen nicht das Ziel nach unten korrigieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich habe eben mehrfach die Frage gehört: Was passiert noch in diesem Jahr? Der Monitoring-Bericht soll kommen. Ich sage: Mir reicht das Prognos-Gutachten. Ich kann daraus alles ablesen, was jetzt zu tun ist. Der Bundesumweltminister und der Wirtschaftsminister tun sich anscheinend noch schwer, den gemeinsamen Erfahrungsbericht vorzulegen. Ich sehe an der Antwort auf die Frage „Welche Maßnahmen kommen in nächster Zeit?“ im Brief von Herrn Staatssekretär Burgbacher an Herrn Hinsken, den Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses, dass, obwohl zehn Punkte aufgeführt sind, keine einzige Maßnahme hinsichtlich der Kraft-Wärme-Kopplung darunter ist. Ich fordere Sie, das Ministerium, jetzt auf, konkret zu benennen, in welcher Sitzungswoche in diesem Jahr der Erfahrungsbericht vorgelegt wird und wann die Maßnahmen ergriffen werden. Die Investoren brauchen jetzt endlich eine klare Hausnummer; sie warten darauf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will – ich habe das eben schon gesagt – auf unseren Antrag nur an einigen Punkten eingehen. Mir ist klar, dass Sie einen Antrag der Opposition ablehnen; das gehört zum Spiel dazu. Aber Sie sollten sich zumindest mit den Inhalten auseinandersetzen, weil – das sage ich noch einmal – Ihr Gutachter Ihnen ähnliche, wenn nicht sogar die gleichen Vorschläge macht. Eines passt nicht zusammen. Herr Breil und Herr Bareiß haben vorhin gesagt, es gebe ein Problem mit den Wärmesenken. Sicherlich, man braucht Wärmesenken. Wir haben aber auch völlig neue Technologien. Die KWK spielt jetzt nach der Energiewende ein völlig andere Rolle. Sie selbst haben die Speicher angesprochen. Über die Integration von Speichern in die künftige Förderung könnten KWK-Anlagen auch an Standorten mit einer verminderten Wärmeabsatzmenge errichtet werden. (Torsten Staffeldt [FDP]: Das widerspricht aber der Effizienz!) Darum sagen wir, wie auch Ihr Gutachter, ganz klar: Man muss beim Thema Wärmespeicher über die künftige Fördersystematik einen Anreiz schaffen. Darüber hinaus ist von Ihnen schon einiges gemacht worden. Das geht in die richtige Richtung. Wir müssen aber auch darüber nachdenken, ob wir beim Umbau der Kraftwerkswirtschaft – das wird übrigens auch von ihr selbst gefordert – nicht nur den Neubau von KWK-Anlagen im Förderregime berücksichtigen, sondern auch den Umbau konventioneller Kraftwerke hin zu KWK-Anlagen in das Förderregime aufnehmen. Das ist nach dem bestehenden Gesetz nicht möglich. Das würde aber zusätzliche Potenziale heben. Es gibt die Nachfrage am Markt. Ganz entscheidend ist – das sage ich an die Adresse derer, die gleich wieder mit der Frage kommen: Was heißt das für den Endverbraucher? –: Es bleibt beim Deckel. Wir wollen keine Anhebung des Deckels. Wir wollen nicht über die 750 Millionen Euro hinausgehen. Es gibt bei der gesetzlichen Förderung das Potenzial, KWK für weitere Anlagen interessant zu machen, und wir müssen dieses Potenzial heben; sonst werden wir die Ziele nicht erreichen. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Mikro-KWK-Anlagen; das ist vorhin mehrfach angeklungen. Wir hatten unter Sigmar Gabriel im Umweltministerium ein sehr erfolgreiches Programm zur Förderung der Mikro-KWK. Das ist von der jetzigen Bundesregierung eingestellt worden. Wir wollen es wiederbeleben. Um dabei aus der Haushaltsabhängigkeit herauszukommen, wollen wir ein solches Instrument ins KWK-Gesetz aufnehmen, sodass es aus dem Förderregime gespeist werden kann. Letzter Punkt. Das Antragsverfahren, insbesondere bei der Förderung von Wärmenetzen, ist katastrophal. Ich glaube, da sind wir uns alle einig. Das klang eben an. Viele haben Gespräche mit Unternehmen geführt und wissen, wie das läuft. Das Verfahren ist katastrophal. Es sind Fristen einzuhalten, die es für viele unmöglich machen, sich um eine Förderung zu bemühen. Wir können hier allein durch die Beseitigung administrativer Hemmnisse einiges tun, damit die jetzt vielfach erwähnten Investoren wieder Vertrauen in die Politik bekommen und in die Lage versetzt werden, solche Mittel zu beantragen. Nach dem, was die Kollegen der Union und Herr Breil hier gesagt haben, unterstelle ich, dass Einigkeit darin besteht: Wir sollten gemeinsam das Ziel „25 Prozent Strom aus KWK“ im Auge behalten. Wir brauchen nicht zu überlegen, was zu tun ist, sondern können die Vorschläge Ihres Gutachters sofort umsetzen. Wenn Sie sie eins zu eins umsetzen, sind wir sofort dabei. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Opposition ist immer gut darin, mehr zu fordern. Auch das ist ihre Funktion. Aber man muss dann dort, wo man Verantwortung trägt, auch entsprechend handeln. An der Stelle muss ich das Thema „Kraftwerk in Datteln“ ansprechen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Eigentor!) Ihren Antrag überschreibt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit „Am Ausbau der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung festhalten“. Da soll jetzt ein hocheffizientes Kraft-Wärme-Kopplungskraftwerk gebaut werden. Es ist nicht die ehemalige schwarz-gelbe Landesregierung, die hier den Fehler gemacht hat, (Rolf Hempelmann [SPD]: Doch, die hat es verbockt!) sondern es liegt am Bebauungsplan der Stadt Datteln. Deswegen muss sich die jetzige Landesregierung fragen lassen, ob sie mit ihrer Landesplanung nicht versucht, die Behebung des Fehlers gerade zu verhindern. Ich sage eines ganz deutlich: Da sollen alte Mühlen, die als Kraftwerke gefahren werden, durch ein Kraftwerk ersetzt werden, das weniger CO2 ausstößt. Es ist ein Kraftwerk, das den Bahnstrom in Nordrhein-Westfalen sichert. (Rolf Hempelmann [SPD]: Da seht ihr mal, was ihr verbockt habt!) Wer sich auskennt, weiß, dass man ein Bahnstromkraftwerk nicht einfach durch ein anderes Kraftwerk ersetzen kann, weil es einen ganz anderen Strom erzeugt. Wer daran festhält, wie es die nordrhein-westfälische Landesregierung und insbesondere die Grünen in NRW tun, zu sagen: „Wir wollen dieses Kraftwerk nicht, und wir wollen die Stilllegungsauflagen für die alten Kraftwerke nicht wieder aufheben“, der macht Folgendes: Erstens. Er gefährdet den Bahnstrom für die Deutsche Bahn in Nordrhein-Westfalen. (Widerspruch von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Er gefährdet die Fernwärmeversorgung von Tausenden von Haushalten in der Stadt Herne. Das ist Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, in dieser Beziehung brauchen wir überhaupt keine Nachhilfe. Sie sind diejenigen, die die Kraft-Wärme-Kopplung in Nordrhein-Westfalen verhindern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Da schreit der Brandstifter nach der Feuerwehr! – Zuruf von der CDU/ CSU) – Ich amüsiere mich gerade über die Kollegin von der Union. (Rolf Hempelmann [SPD]: Es ist ja bald der 11. 11.!) – Entschuldigung. (Dirk Becker [SPD]: Frau Präsidentin, können wir mal einen Tusch haben?) – Herr Hempelmann, Scherze müssen an dieser Stelle auch einmal sein. Das war ein guter Scherz. Jetzt aber zurück zum Ernst der Lage, nämlich zu den Potenzialen, die im Gebäudesektor liegen. Hier hat die Koalition gehandelt. Wir haben das Gebäudesanierungsprogramm nicht nur verstetigt. Wir haben vor allen Dingen mit dem Energie- und Klimafonds endlich eine gesicherte Finanzierung geschaffen, nämlich eine Finanzierung aus dem Emissionshandel und keine Finanzierung über den Bundeshaushalt, der immer größere Lasten zu tragen hat. Es reicht nicht, ein Gebäudesanierungsprogramm auf den Weg zu bringen. Ein Gebäudesanierungsprogramm ist ein gutes Programm für diejenigen, die größere Wohnungseinheiten zu sanieren haben, also beispielsweise für Wohnungsbaugesellschaften. Wir müssen aber auch darauf achten, wie es beim kleinen Vermieter und bei denen aussieht, die sich nicht unentwegt um Förderprogramme kümmern können. Für diese stellt die steuerliche Förderung einen gangbareren Weg dar. Als in den 90er-Jahren die steuerliche Förderung abgeschafft worden war, halbierte sich die Sanierungsrate. Die steuerliche Förderung ist ein effizientes Instrument zur Erhöhung der Sanierungsrate. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was aber macht Rot-Grün? Rot-Grün erzählt uns immer, wir sollten mehr tun. Am Ende stimmt Rot-Grün im Bundesrat aber dagegen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Wegen der unsozialen Steuerpolitik!) Die Bundesregierung hat jetzt den Vermittlungsausschuss angerufen. Jetzt müssen die grünen und die roten Umweltminister zeigen, ob sie die Finanzminister ihrer Bundesländer im Rücken haben oder ob die Umweltminister reden und die Finanzminister alles verhindern. Das sind Ihre Minister, die roten und die grünen Minister, die das jetzt im Bundesrat zu entscheiden haben. Wir haben den Beschluss im Deutschen Bundestag bereits gefasst. Jetzt sind Sie gefordert, Ihre Blockadepolitik gegen Energieeffizienz endlich aufzugeben. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Legen Sie ein sozial ausgewogenes Konzept vor! – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts gesagt, aber auch gar nichts gesagt!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Negawatt statt Megawatt. Der preiswerteste Klimaschutz ist natürlich eingesparte Energie. Eingesparte Energie beginnt bei der eingesparten Erzeugung von Energie. Wie schaut es zurzeit aus? Momentan heizen wir mit der Abwärme der meisten Kohle- und Gaskraftwerke nicht Wohnungen und Fabrikgebäude, sondern nach wie vor Umgebungen und Flüsse. Um das zu verhindern, gibt es ein Konzept, das wirklich wirkt, und das heißt KWK. Die gekoppelte Produktion von Strom und Wärme – Kälte nicht zu vergessen; niemand hat von Kälte gesprochen – (Dirk Becker [SPD]: Steht aber drin im Antrag!) – steht mit drin – ist wegen der Abwärmenutzung hocheffizient und erzielt Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent. Das sind super Wirkungsgrade. Sie ist damit eine echte Brückentechnologie im Gegensatz zur Atomkraft oder zur Kohle – Kohle vor allen Dingen in Verbindung mit CCS –, eine Brückentechnologie auf dem Weg in das Solarzeitalter. (Beifall bei der LINKEN) Dass Sie von der Kohle nicht loskommen, hat man jetzt gehört. Das Kohlekraftwerk Datteln wird nach wie vor verteidigt. Sie sehen: Die Koalition hält an dieser alten Technologie fest. Das müssen die Wählerinnen und Wähler, die regenerative Energien wollen, wissen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Bundesregierung hat sich 2009 das Ziel gesetzt, die Strommenge aus der Kraft-Wärme-Kopplung bis 2020 zu verdoppeln, und zwar auf 25 Prozent. Das haben Sie nicht erreicht. (Torsten Staffeldt [FDP]: Wir haben noch nicht 2020!) Ob Sie es überhaupt wollen, steht in den Sternen. Wenn wir Glück haben, landen wir bei einem Wert zwischen 17 und 20 Prozent; das wurde bereits ausgeführt. Ich möchte Ihnen die entsprechenden Werte aus anderen Ländern nennen: Dänemark – 50 Prozent, Niederlande – 38 Prozent. Wir fragen uns: Wie machen die das? Dort gibt es einen Mix aus Förderinstrumenten und strikten Vorgaben, zum Beispiel die Pflicht des Anschlusses ans Wärmenetz. Ich sage Ihnen: Deutschland vergibt sich was, wenn nicht endlich gehandelt wird. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) KWK kann das schwankende Ökostromangebot ausgleichen. KWK ist flexibel. KWK ist dezentral; ich nenne nur das Stichwort „Schwarmstrom-Konzept“. Das heißt – für diejenigen, die es noch nicht gehört haben –: Viele kleine Kraftwerke werden bei Bedarf zusammengeschaltet. Das ist sinnvoll, klug und intelligent. KWK ist eine der preiswertesten Optionen, CO2 einzusparen. Solange keine überzeugenden Speichertechniken einsatzreif sind, kommt dieser Beitrag zur Netzstabilität wie gerufen. Darum muss bei der anstehenden KWKG-Novelle endlich rangeklotzt werden. Klotzen Sie doch endlich ran, meine Damen und Herren, und kleckern Sie nicht immer! (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dirk Becker [SPD]) Kommen wir jetzt zu den Hürden, über die diskutiert werden muss. Es gibt Abnehmer, die die Wärme nicht zeitgleich zum KWK-Betrieb brauchen; das wurde bereits diskutiert. Hier muss man etwas tun. Man braucht intelligente Lösungen, das gilt auch für den Bereich Kälte. Die Wärmespeicherung ist im Wettbewerb mit Heizungskesseln oft nicht wirtschaftlich, obwohl deren CO2-Gesamtbilanz besser ist. Hier gilt es, noch etwas zu tun. Auch die Bereitstellung von wertvoller Regelenergie durch KWK-Anlagen wird nicht ausreichend honoriert. Damit meine ich das Hoch- und Herunterfahren, das wir bei den regenerativen Energien brauchen. Wärmegeführte KWK-Anlagen über 20 Megawatt haben Nachteile gegenüber einfachen kleinen Heizungsanlagen, weil sie in den Emissionshandel einbezogen werden. Auch hier muss man noch einmal nachbessern. Es gibt also eine ganze Reihe von Punkten – einige wurden bereits genannt –, über die noch einmal nachgedacht werden muss. Ganz kurz: Wir unterstützen die Anträge von SPD und Grünen. Auch wir haben dazu schon Anträge gestellt. Nur zum Schluss noch: (Torsten Staffeldt [FDP]: Schluss ist gut! Bestes Wort bis jetzt!) Auf der EU-Ebene werden die Weichen für KWK gestellt. Mit der Energieeffizienzrichtlinie gibt es Vorgaben. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Bulling-Schröter, die Ankündigung des Schlusses ersetzt nicht den Schluss der Rede. (Heiterkeit bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Halten Sie Ihr Wirtschaftsministerium davon ab, gute Vorschläge aus der Energieeffizienzrichtlinie herauszunehmen. Wir brauchen gute Vorschläge, (Torsten Staffeldt [FDP]: Von Ihnen kommen die aber nicht!) und wir brauchen nicht dieses komische Wirtschaftsministerium, das wieder alles kassieren will. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Oliver Krischer das Wort. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt kommt Tarnen und Täuschen!) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war entlarvend, was wir heute zum Thema Energieeffizienz gehört haben. Die Wirtschaft solle es machen, hat Herr Breil gesagt. Ich glaube, deutlicher kann man es nicht darstellen, dass diese Bundesregierung überall – in Brüssel und in Deutschland – im Bremserhäuschen sitzt und beim Thema Energieeffizienz Blockadepolitik betreibt. Sie nutzen die positiven Signale, die aus Brüssel kommen, leider nicht. (Torsten Staffeldt [FDP]: Halten Sie doch mal Ihre Augen auf!) Sie verhindern vielmehr, und genau das ist das Problem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie kommen immer mit dem schönen Beispiel der Gebäudesanierung. Ja, auch wir sind für die steuerliche Förderung. Bei Ihrem Gesetzentwurf muss man jedoch über Details reden. (Torsten Staffeldt [FDP]: Machen Sie doch mal!) Wir haben vor vier Wochen den Antrag gestellt, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Das haben Sie mit aberwitzigen Begründungen abgelehnt. Wir haben wieder vier Wochen Zeit verloren, um mit allen Ländern – es waren nicht nur die rot-grünen, sondern auch die von Ihnen regierten Länder; der Beschluss war einstimmig – bei diesem Thema weiterzukommen. Da verstehe ich nicht, warum Sie das vier Wochen lang weiter blockieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Meine Damen und Herren, man muss sich eines vor Augen führen: Morgen vor einem Jahr, am 28. Oktober 2010, haben Sie hier in diesem Saal die Laufzeitverlängerung beschlossen, zudem ein Energiekonzept, das Sie als epochal, als leuchtenden Pfad betrachtet haben. Das, was Sie uns hier gepredigt haben, hatte fast etwas Religiöses. (Torsten Staffeldt [FDP]: Die religiösen Fanatiker sind Sie!) Da werden Sie jetzt schon kleiner. In dem Energiekonzept sagen Sie ein paar Dinge zur Energieeffizienz; es sind folgenlose Ankündigungen. Sie hatten ein Jahr Zeit, da etwas zu machen. Wo, bitte schön, sind die Ergebnisse? Wann präsentieren Sie Ergebnisse? Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung. Das letzte Vernünftige, was man von der CDU/CSU dazu gehört hat – von der FDP rede ich gar nicht; das hatte gerade schon Karnevalscharakter –, war die Verabschiedung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes in der Großen Koalition. Dieses Gesetz hatte ein gutes Ziel; eine Prognos-Studie hat jedoch gerade deutlich gemacht, dass das insgesamt nicht ausreicht. Seitdem, also seit zwei Jahren, betreiben Sie eine Verhinderungs- und Blockadepolitik. Die Kraft-Wärme-Kopplung ist völlig richtig; in dem vor einem Jahr verabschiedeten Energiekonzept taucht sie nur in einem Nebensatz auf. Sie wollten 25 Prozent der Stromerzeugung einfach einmal wegradieren und durch Strom aus Atomkraftwerken ersetzen; das war Ihr Ziel. Jetzt sind Sie langsam dabei, das wieder zu ändern. Sie haben direkt nach Regierungsantritt das Impulsprogramm für Mini-KWK-Anlagen kaputtgemacht, obwohl sich Mittelständler und kleine Unternehmen auf eine Förderung verlassen haben. Sie verunsichern die Unternehmen der Branche, die in dem Bereich investieren wollen; das ist es, was Sie in den letzten zwei Jahren in dem Bereich gemacht haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt, meine Damen und Herren, sind wir schon wieder im Spätherbst. Die Kanzlerin hatte vor den Sommerferien angekündigt, es komme eine KWKG-Novelle. Herr Breil sagte gerade, sie komme im nächsten Jahr; Herr Bareiß sagte, sie komme in diesem Jahr. Ja, was denn nun? Machen Sie doch einmal eine klare Ansage, was denn nun kommt. Sie kriegen die einfachsten Sachen nicht hin. In dem Bereich liegt alles auf dem Tisch. Wir haben im Rahmen der Energiewende einen konkreten Gesetzentwurf eingebracht. Da müssen Sie einfach nur Copy and Paste machen und ihn einbringen. (Torsten Staffeldt [FDP]: Arbeiten Sie an Ihrer Doktorarbeit, oder was?) Unser Gesetzentwurf enthält all die Maßnahmen, die auch in der Prognos-Studie empfohlen werden. Ja, dann tun Sie es doch einfach! Liefern Sie doch einmal! Sie können sich nicht einmal über die Zeitpunkte verständigen, zu denen Sie etwas vorlegen wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE]) Wenn man die Debatte in Deutschland verfolgt, dann merkt man: Alle reden davon, dass wir neue Kraftwerkskapazitäten brauchen. Das mag sein. Aber dann nutzen Sie doch das, was auf der Hand liegt: die hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplung. Hier bedarf es eines zusätzlichen Anreizes. Mit der KWK kann man eine ideale Ergänzung zu den erneuerbaren Energien schaffen. Sie könnten ein entsprechendes Kraftwerksbauförderprogramm schaffen, anstatt – das ist eine falsche Politik – irgendwelchen Kohlekraftwerksbetreibern Geld aus dem Energie- und Klimafonds hinterherzuwerfen. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns die Chancen nutzen. Es gibt in Deutschland Millionen von Heizungsanlagen, die in den nächsten Jahren ersetzt werden müssen. Anstatt da überkommene Technik wie Öl- oder Gasheizungen einzubauen, sollten wir eine dezentrale Versorgung über die Kraft-Wärme-Kopplung schaffen. Viele Unternehmen, inzwischen sogar die Energiekonzerne RWE und Eon, haben es begriffen und investieren in diese Technologie; sie warten darauf, dass es eine klare Ansage der Bundesregierung gibt, wie es in dem Bereich weitergehen soll. Aber ich höre da von Ihnen einfach nichts. Es wird verzögert und verschleppt; alles bleibt unklar. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Es bleibt einfach nur festzuhalten: Zwei Jahre Schwarz-Gelb waren zwei Jahre der Verhinderung bei der Verbesserung der Energieeffizienz und beim Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Ich hoffe, dass jetzt etwas kommt. Reißen Sie sich am Riemen. Es geht um die Wirtschaft, den Klimaschutz, die Menschen, die Ressourcenschonung. Tun Sie in dem Bereich endlich etwas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Sehr geehrter Herr Krischer, Sie werden mir glauben, dass wir mit dem Thema „Copy and Paste“ so unsere Probleme haben. (Heiterkeit – Beifall bei den Abg. Rolf Hempelmann [SPD] und Dorothée Menzner [DIE LINKE]) Das führt erfahrungsgemäß zu nichts Gutem. Im Übrigen muss ich nach Ihrer Rede zur Kenntnis nehmen, dass Sie ein Phantomschmerz plagt, weil Sie die Diskussionen vom letzten Jahr nicht mehr führen können, da sich das Thema Kernenergie erledigt hat. Deshalb macht es auch keinen Sinn, hier solche Reden zu halten, wie Sie es gerade getan haben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich will in meiner Rede zwei Punkte vor die Klammer ziehen. Zum einen möchte ich betonen, dass das Thema Energieeffizienz für uns ein wichtiges Thema ist und dass in dem Zusammenhang die Kraft-Wärme-Kopplung eine besondere Rolle spielt. Ich sage das vorab; denn wenn man nach dem Fortgang einer längeren Debatte die Haken und Ösen eines Themas betrachtet, dann läuft man Gefahr, verunglimpft zu werden, weil man sich nur auf die Schwierigkeiten bezieht. Deshalb möchte ich ausdrücklich betonen, dass das Thema Energieeffizienz für uns wichtig ist. Für uns ist es auch mehr als das, was es zum Beispiel für viele von den Grünen mehrfach war. Sie haben früher nämlich immer dann, wenn die Prognosen nicht aufgegangen sind und sie festgestellt haben, dass mit ihren Energiekonzepten der Strom nicht bereitzustellen ist, gesagt: Das, was am Schluss noch fehlt, wollen wir einsparen. – Das wollen wir an der Stelle nicht tun. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Prognosen sind übertroffen worden!) Zweitens möchte ich vor die Klammer ziehen, dass für uns der Grundsatz „Markt und Förderung vor Zwang und Ordnungspolitik“ gilt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die soziale Marktwirtschaft hat in beeindruckender Weise gezeigt, dass sie in der Lage ist, nicht immer optimale, aber jedenfalls bessere Ergebnisse zu erreichen als sie mit dem erreicht würden, was auf der linken Seite hier immer vorgestellt wird, nämlich Zwang und Verstaatlichung. Was den Strombereich angeht, so bin ich der festen Überzeugung, dass wir zu Verbrauchsreduzierungen kommen, die aber regelmäßig – jedenfalls anteilig – durch zusätzlichen Verbrauch aufgezehrt werden. Das muss man an dieser Stelle mit im Blick haben. Ich möchte auch ganz klar feststellen, dass beim Thema Markt auch die Verteuerung von Strom eine Rolle spielt. Dazu leisten wir als Staat momentan ausreichend Beiträge über das EEG. Aber auch über die Energiewende wird sich ein stärkerer Druck entwickeln, noch effizienter mit Strom umzugehen. Ich meine das an der Stelle nicht kritisierend, sondern möchte das nur festhalten. In Reaktion auf das, was die Kollegin Menzner vorhin gesagt hat, bleibt ganz klar festzuhalten, dass insbesondere bei der Industrie das Problem besteht, dass man die Effizienz bestimmter Prozesse nicht mehr steigern kann. Das war für uns Motivation, im EEG solche Industriebereiche auszunehmen. Es macht doch keinen Sinn, wenn man die aus dem Land treibt. Was soll das letztendlich bringen? Ich kann Ihrem Deindustrialisierungsansatz jedenfalls keine Vorteile abgewinnen. Spannend finde ich den sozialen Aspekt, der in diesem Zusammenhang regelmäßig bemüht wird. Das muss man sicherlich im Blick haben, auch in Bezug auf die Preise. Herr Kollege Hempelmann ist auf die Problematik bzw. die Herausforderung der Einspeiseschwankungen und der Verbrauchsanpassungen eingegangen. Das halte ich für ein wichtiges Thema, das wir miteinander diskutieren müssen, allerdings nicht in der Weise, dass man uns hier kritisiert. Ich möchte an der Stelle einmal festhalten, dass dies insbesondere von Rot-Grün bei Einführung des EEG überhaupt nicht thematisiert wurde. Das war für Sie überhaupt kein Thema. Wir taten uns in der Großen Koalition schwer, hier etwas zu entwickeln, und sind jetzt zwangsweise in der Situation, Sorge dafür zu tragen, die schwankenden Stromaufkommen an den Verbrauch anzupassen bzw. umgekehrt. Das ist eine große Herausforderung, und ich meine schon, dass man das an der Stelle einmal festhalten muss. Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der heute noch keine Rolle gespielt hat: den Verkehr. Zu diesem Thema gibt es allerhand Stilblüten. (Dorothée Menzner [DIE LINKE]: Wollen Sie noch zu dieser Sammlung beitragen?) Es gab sogar einmal die Forderung, die Tankstellen müssten Fahrkurse für ihre Kunden anbieten, um ihnen beizubringen, wie man benzinsparend fährt. Ich frage mich, warum sie daran Interesse haben sollten. Es sind ganz seltsame Dinge, die Sie vorschlagen. Es wäre viel sinnvoller, anzuerkennen, dass sich etwas tut, und zwar dank deutscher Ingenieurkunst. (Beifall des Abg. Torsten Staffeldt [FDP]) Was sich in der Automobilindustrie abspielt, ist großartig. Das sollte man an dieser Stelle würdigen. Das Thema Mobilität ist ein soziales Thema. Sie sollten mitdiskutieren, aber nicht so abwegig, wie Sie das sonst tun, sondern konzentriert auf die Frage: Wie stellen wir sicher, dass Mobilität auf dem Land und in sozial schwächeren Bevölkerungskreisen gewährleistet ist? (Ulrich Kelber [SPD]: Machen Sie den Ingenieuren nicht so lasche Zielvorgaben! Trauen Sie den Ingenieuren mehr zu! Sie sind des Ingenieurs Feind, Herr Dr. Nüßlein!) Wir haben etliches zum Thema Wärme gehört, zu dem hohen Potenzial, das in diesem Bereich schlummert, und auch zur Blockade der Bundesländer gegenüber unseren Vorschlägen zur steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung. (Rolf Hempelmann [SPD]: Steuerliches Diktat!) Dass der Kollege Hempelmann versucht, das als sozialpolitischen Akt zu tarnen, finde ich schon bemerkenswert. Da waren die Bundesländer sehr viel ehrlicher. Sie haben klar gesagt: Wir können bzw. wollen uns das nicht leisten. Wir haben für diesen Bereich keine Mittel übrig. – Sie haben nicht gesagt, dass sie unser Gesetz blockieren, weil es unsozial sei. Natürlich können Renovierungen nur bei jenen gefördert werden, die Häuser haben und Steuern zahlen; das ist klar. Insofern denke ich, dass Ihre Kritik nicht berechtigt ist. Ich weise trotzdem darauf hin, dass wir auch in diesem Bereich ständig neue Standards setzen bzw. Standards erhöhen und dadurch Investitionshemmnisse besonderer Art aufbauen. Die Bautätigkeit ist trotz guter Konjunkturlage in unserem Land nicht so, wie ich es mir vorstelle. Man sollte sich darüber Gedanken machen, ob das nicht vielleicht auch an unseren Anforderungen liegt. Zum Thema „Verpflichtung zur Wärmeauskoppelung bei fossilen Kraftwerken“, wie von den Grünen gefordert, muss man sagen: Erstens. Dafür braucht man eine Wärmesenke. Das ist schon bei den Biogasanlagen – dort haben wir die Verpflichtung bereits umgesetzt – vielfach nicht einfach. Zweitens. Wir brauchen fossile Kraftwerke für den Ausgleich der Schwankungen im Bereich der erneuerbaren Energien. In Bayern wird momentan der Versuch unternommen, Investoren für den Bau von Gaskraftwerken zu finden. Die sagen uns aber: Wenn wir nur unter der Voraussetzung einspeisen dürfen, dass die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, dann investieren wir nicht; denn es ist nicht zu erwarten, dass sich das rentiert. Das ist eine schwierige Gemengelage. Wir haben noch nicht geklärt, wie wir sie motivieren können, zu investieren. Eine generelle Wärmeauskoppelungspflicht vorzusehen, halte ich für einen komplett falschen Ansatz. Zur Europäischen Union. Eine Energieeinsparquote für Unternehmen von 1,5 Prozent jährlich halte ich für sehr bürokratisch. Aus meiner Sicht hat das sogar planwirtschaftliche Züge – das muss man auch dem Kollegen Oettinger in aller Deutlichkeit sagen –; das ist in dieser Pauschalität nicht akzeptabel. (Beifall des Abg. Torsten Staffeldt [FDP]) Wir werden erleben, dass die Grenzkosten von Periode zu Periode steigen, was das Ganze deutlich schwieriger macht. Der EU muss man ins Stammbuch schreiben, dass sie sich nicht immer gegen den Wettbewerb der Ideen wenden und alles pauschal gleichmachen sollte. Subsidiarität und Demokratie wären gerade in einer schweren europäischen Krise ein Gebot der Stunde. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern wir uns an das Jahr 2007. Die Bundeskanzlerin Merkel hat sich damals als Klimakanzlerin inszeniert. Damals wurde unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft das Ziel formuliert, 20 Prozent des Energieverbrauchs bis 2020 einzusparen. Das hörte sich sehr ambitioniert an. Wie sieht die Realität aus? Man muss sagen: niederschmetternd und frustrierend. Weder auf EU-Ebene noch auf Bundesebene wurden Instrumente gesetzlich verankert, mit denen das ehrgeizige Ziel „mehr Energieeffizienz“ erreicht werden kann. Die EU-Kommission muss nun feststellen, dass die Mitgliedstaaten ihr Ziel weit verfehlen werden. Umweltverbände, NGOs und meine Fraktion haben zahlreiche intelligente Vorschläge unterbreitet, wie mehr Energieeffizienz erreicht werden kann. Es mangelt nicht an Ideen oder Vorschlägen. Woran es der Bundesregierung mangelt, ist der Wille, die Interessen der großen Konzerne und des BDI bei der dringend notwendigen Energiewende hintanzustellen; das geht zulasten des Klimaschutzes und einer für alle Menschen bezahlbaren Energieversorgung. (Beifall bei der LINKEN – Torsten Staffeldt [FDP]: Legen Sie einmal die Scheuklappen ab!) Das erklärt die Untätigkeit der Bundesregierung in Sachen Energieeffizienz auf nationaler Ebene und ihre unsägliche Rolle auf europäischer Ebene. Ihren angeblichen Zielen zum Trotz blockiert und verwässert die Bundesregierung die aktuelle Richtlinie. Sie verhindert auf diese Weise, dass Energiesparziele rechtlich verbindlich verankert werden. Die Industrie soll nicht zu mehr Effizienz verpflichtet werden, und dies, obwohl sie sich durch die klimaschädliche und gefährliche Energienutzung in Milliardenhöhe bereichert hat. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund skandalös, dass die neue Richtlinie ursprünglich den Zweck hatte, das während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unter Kanzlerin Merkel beschlossene Einsparziel doch noch zu erreichen. Die Bundesregierung konter-kariert ihre eigenen Ziele. Bundeswirtschaftsminister Rösler verweigert sich, wenn es darum geht, ein deutliches Zeichen für Klimaschutz und bezahlbare Energieversorgung zu setzen. Während die großen Energiekonzerne verschont bleiben, sind die Verbraucherinnen und Verbraucher gezwungen, die steigenden Energiekosten, die durch mehr Effizienz eigentlich verhinderbar wären, zu tragen. Die Bundesregierung beweist damit zum wiederholten Male, dass sie beim Thema Energie zweigleisig fährt. Ihre offiziell verkündeten umweltpolitischen Ambitionen wirken unglaubwürdig; nein: Sie sind unglaubwürdig. (Beifall bei der LINKEN) Wenn es um Fragen der Energieeffizienz geht, demonstriert die Bundesregierung ihren desaströsen Hang, wirtschaftliche Interessen großer Energiekonzerne vor das Gemeinwohl zu stellen. Sie blockiert innovative Ideen und damit jegliche Chance, rechtzeitig eine Energiewende in Gang zu bringen, die die Natur schützen, Energie für die Menschen bezahlbar machen und zusätzlich zahlreiche Arbeitsplätze schaffen kann. Verpflichten Sie die Industrie zu mehr Energieeffizienz! Schützen Sie Verbraucherinnen und Verbraucher vor zu hohen Energiekosten! Setzen Sie die Energieeffizienzrichtlinie sozial gerecht um! Auch die Energiekonzerne müssen endlich zur Kasse gebeten werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Torsten Staffeldt hat für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Torsten Staffeldt (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Nestle, ich möchte Sie direkt ansprechen, da Sie die erste Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt waren. Sie erwarten viel Lob für den Antrag, den Sie heute vorgelegt haben. Es tut mir schrecklich leid, aber damit können wir nicht dienen. Verstand sieht jeden Unsinn, Vernunft rät, manches davon zu übersehen. Das kann man ganz explizit auf Ihren Antrag beziehen. Wir reden hier über Energieeffizienz, über Kraft-Wärme-Kopplung. Die grundsätzlichen Überlegungen dazu sind in der Physik festgelegt. Es gibt den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, den wahrscheinlich die wenigsten von Ihnen kennen; davon gehe ich zumindest aus. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn jetzt Ihr Problem mit dem Antrag? – Gegenruf des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Hören Sie zu!) Er besagt schlicht und einfach, dass es kein Perpetuum mobile gibt, dass man bei allen Energieumwandlungsprozessen mit Verlusten rechnen und arbeiten muss. Vor diesem Hintergrund ist es besonders interessant, welche Vorschläge hier vonseiten der Opposition vorgebracht werden, wie man die Situation verbessern könnte. Wenn Sie das Perpetuum mobile konstruieren können, dann machen Sie das; aber glauben Sie nicht, dass Sie zusammen mit der Koalition die Physik betrügen können. Das klappt nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Sie sollten uns nicht unterschätzen! – Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist Ihr Problem mit dem Antrag? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Perpetuum mobile kommen Sie nicht weiter! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal etwas Konkretes!) Bei den Zielen gibt es, denke ich, sehr große Übereinstimmungen. Wir haben alle das Ziel, die Energieeffizienz zu steigern. Kollege Nüßlein hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass in vielen Bereichen, insbesondere in der Industrie, die Energieeffizienz kaum noch zu steigern ist bzw. die Kosten für eine Steigerung der Energieeffizienz in keinem gesunden Verhältnis mehr zu dem Nutzen stehen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]) Hier beziehe ich mich ganz explizit auf meinen Kollegen Breil – er wurde heute schon mehrfach zitiert –, der ganz klar gesagt hat: Die Wirtschaft wird das schon machen. (Dirk Becker [SPD]: Ja, das ist ja das Schlimme!) Sie hat das auch schon gemacht. Ich bin seit 1997/1998 als selbstständiger Energieeffizienzberater in einem speziellen Segment der Industrieenergieversorgung tätig. Ich kann Ihnen aus meiner ganz persönlichen Erfahrung sagen: Sie selber haben Interesse daran. Kollege Pfeiffer hat heute richtigerweise darauf hingewiesen, dass nicht nur die Industrie, sondern auch die Menschen, die Immobilienbesitzer, ein großes Eigeninteresse daran haben, die Energieeffizienz zu steigern und ihre Kosten zu senken und so dafür zu sorgen, dass sie wirtschaftlicher handeln bzw. leben können. Worüber wir hier streiten, ist der Weg, wie wir diese Ziele erreichen können. Es ist aus meiner Sicht mehr als interessant, zu sehen, wie sich die Oppositionsfraktionen darstellen. In der stärksten und aus meiner Sicht ungesündesten Ausprägung ist dies bei den Linken zu sehen, die über Ziele, Verpflichtungen, Verbote und sogar Kontrollen reden. Über den Geist, der dort herrscht, kann ich nur sagen: Diesen Geist möchte ich in unserem Land nie wieder sehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Leider gilt diese Kritik auch für die SPD und für die Grünen, die ebenfalls über Verpflichtungen die Menschen zu dem zwingen wollen, was sie für richtig halten. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie vorhin nicht zugehört?) Man kann das, was hier angestrebt wird, durchaus als Ökodiktatur oder als Ökosozialismus bezeichnen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Becker [SPD]: Ihr habt ja einen Kasperle-laden!) Ich kann Ihnen nur sagen: Solange die christlich-liberale Koalition das Sagen hat – und das wird noch lange so sein –, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welcher Welt leben Sie? – Dirk Becker [SPD]: Der Quatsch Comedy Club sucht noch Schauspieler!) so lange werden wir die Ziele, die von den Kolleginnen und Kollegen vorgestellt wurden, weiter verfolgen. Wir wollen die Menschen überzeugen, wir wollen, dass sie mitmachen, wir wollen das Eigeninteresse stärken. Wir gehen fest davon aus, dass wir diese Ziele mithilfe eines Fördersystems erreichen werden. Ich komme zum Schluss. (Dorothée Menzner [DIE LINKE]: Das wurde auch Zeit!) Das theatralische Auftreten von Frau Nestle am Anfang der Debatte war bezeichnend. Dazu fällt mir nur ein Zitat ein: Auch die Bretter, die man vor dem Kopf hat, können die Welt bedeuten. Schönen Tag noch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Jetzt wissen wir ungefähr, wie Sie Effizienzberatung machen! – Dirk Becker [SPD]: Wandertheater!) Vizepräsidentin Petra Pau: Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jens Koeppen für die Unionsfraktion. Jens Koeppen (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche einmal, die lange Debatte ein bisschen zusammenzufassen. Wir haben vor einigen Monaten beschlossen, die Energieversorgung in Deutschland grundlegend neu auszurichten. Deswegen finde ich es gut, dass es immer wieder Anträge gibt, aufgrund derer wir hier im Plenum darüber reden, ob wir auf dem richtigen Weg sind und wie weit wir sind. Das war es allerdings schon an positiven Anmerkungen, vor allen Dingen zum Antrag der Grünen. Dieser ist aus meiner Sicht kontraproduktiv und dürftig; denn es geht nicht genau daraus hervor, was Sie eigentlich wollen. Herr Becker und Herr Hempelmann waren da schon wesentlich konkreter. Ich beziehe mich jetzt insbesondere auf den Antrag der Grünen. Sie nehmen vor allen Dingen Bezug auf die Energieeffizienzrichtlinie 2011 der Europäischen Kommission. Darin heißt es, dass die Maßnahmen unser Alltagsleben verändern werden. Darin heißt es auch, dass pro Jahr und pro Haushalt Energie im Wert von bis zu 1 000 Euro eingespart werden kann. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo haben Sie das gelesen?) – Im Energieeffizienzplan 2011 der Europäischen Kommission. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht in der Richtlinie!) – Aber sicherlich. – Dort steht auch, dass es bis zu 2 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen gilt und dass die Treibhausgasemissionen jährlich um bis zu 740 Millionen Tonnen gesenkt werden können. Das ist der Plan; da gehen wir d’accord. Aber wie es im Leben manchmal ist: Unser Ziel ist ähnlich, aber der Weg ist ein anderer. Was Sie machen, finde ich etwas unredlich. Sie sagen: Deutschland bremst massiv. (Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Ich darf Sie aber daran erinnern, dass es Deutschland war, das die 20-20-20-Ziele – 20 Prozent mehr Energieeffizienz, 20 Prozent mehr erneuerbare Energien und 20 Prozent weniger Treibhausgasemissionen – in Europa durchgesetzt hat. Sie wissen auch, dass es im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft von Angela Merkel sehr schwierig war, sich darauf zu verständigen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Nestle? Jens Koeppen (CDU/CSU): Nein, ich fasse jetzt zusammen, und damit ist die Debatte beendet. Das reicht dann auch. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So, so!) Wenn Sie das erreicht hätten, hätten Sie wahrscheinlich Trittin-Gedenktage abgehalten. Wir waren es aber, die das durchgesetzt haben, und wir werden diesen Weg auch weitergehen. Was wir allerdings nicht machen werden – das sagen wir ganz deutlich –, ist, jeden Vorschlag irgendeines EU-Beamten unkritisch auf nationaler oder auf EU-Ebene durchzuwinken; so verstehen wir die Europapolitik nicht; denn das bringt weder Deutschland noch Europa noch die Energie- und Klimapolitik voran. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie fassen nichts zusammen!) In Europa gibt es aus meiner Sicht ab und zu Aktionismus. Denken wir nur einmal an das Debakel mit dem Glühlampenverbot. (Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU]) Da wird ohne Sinn und Verstand etwas verboten und dann eine billige asiatische Energiesparlampe in den Markt eingeführt. Es wird nicht gefragt: Wie forschen wir an der LED weiter? Wie gehen wir damit um? Wir müssen nicht jeden Mist umsetzen. Das ist purer Aktionismus. Nicht alles, was aus Brüssel kommt, ist unstrittig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nur Mist aus Brüssel!) Warum sollen wir Dinge fordern und beschließen, die wir längst umgesetzt haben oder die längst auf dem Weg sind? Ich möchte nur an die Forderung in Ihrem Antrag in Bezug auf die Verpflichtung zur öffentlichen Beschaffung, an die Forderung zum KWK-Zuschlag oder an die Forderung der Unterstützung von Mini-KWK erinnern. Diese Maßnahmen sind längst auf dem Weg und werden bereits vorangetrieben. Sie sollten nicht ständig neue Zielmarken setzen und nur wiederholen, was bereits beschlossen ist. Sie sollten lieber vor Ort mit uns gemeinsam und in den Ländern, für die Sie Verantwortung tragen, dafür sorgen, dass der Bau neuer Anlagen im Bereich der erneuerbaren Energien, effizienter Kraftwerke – Datteln 4 wurde bereits mehrfach erwähnt –, der Aufbau neuer Netze und Demonstrationen neuer Technologien vorangetrieben werden. Es muss nicht immer CCS das Thema sein. Das ist der Weg zu CCU, also der Weg zur Nutzung von CO2. Auch das Hybridkraftwerk in der Uckermark, in meinem Heimatwahlkreis, das am Dienstag eröffnet wurde, ist ein Beitrag zur effizienten Speicherung von erneuerbaren Energien. Da können wir vor Ort gemeinsam mitwirken. Da machen Sie sich dann aber meist vom Acker. Deswegen nehmen wir Ihnen diesen Antrag auch nicht ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen mit den Menschen und mit den Unternehmen gemeinsam mehr Energieeffizienz umsetzen. Dazu brauchen wir den gesellschaftlichen Konsens. Maßnahmen und Regelungen dürfen die Menschen nicht überfordern. Wir müssen sie zum Umdenken anregen und sie ermutigen, beim Energiesparen mitzumachen. Wenn die Energie- und Klimapolitik keine Akzeptanz findet, dann werden wir unsere Ziele in dieser Zeit und in dieser Größenordnung nicht erreichen. Für uns steht an oberster Stelle, dass Energie kein Luxusgut werden darf, weder heute noch in Zukunft. Sie setzen auf Druck, damit die Menschen ihren Energieverbrauch reduzieren. Sie wollen die Energie verteuern und verknappen. Am Ende wird eine große Umverteilungsmaschine in Gang gesetzt, die wir so nicht mittragen können. Sie sprechen in Ihrem Antrag von der Ausreichung eines Klima-Wohngeldes. Wahrscheinlich gibt es irgendwann auch ein Klima-BAföG, ein Klima-Kindergeld oder ein Klima-Essensgeld, weil sich viele Menschen die Energieeffizienz à la Bündnis 90/Die Grünen nicht werden leisten können. Das ist nicht unser Weg. Ich warne davor, die Energie so zu verteuern, dass sie sich die Menschen nicht mehr leisten können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wer verteuert denn die Energie? – Gegenruf des Abg. Klaus Breil [FDP]: Sie verteuern die Energie! – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch Luftblasen!) Unser Weg ist ein anderer. Innovation ist der wichtigste Schritt zur Erreichung dieser Ziele. Wir brauchen neue Produkte und neue Dienstleistungen, weitgehende Technologieoffenheit, die Bereitschaft zu Innovationen, um positive Anreize zu setzen, und vor allen Dingen – das ist fast noch gar nicht genannt worden – mehr Geld für Energieforschung. Wir müssen in der Energieforschung Anreize schaffen, damit wir Objekte wie das Hybridkraftwerk in der Uckermark umsetzen können. Das ist aus unserer Sicht von entscheidender Bedeutung. Mit der neuen Energie- und Klimapolitik wird sich für die Menschen in der Tat viel verändern; da gebe ich der Energieeffizienzrichtlinie und dem Energieeffizienz-Aktionsplan völlig recht. Man muss den Menschen auch sagen, dass diese Ziele nicht zum Nulltarif zu haben sind. Aber es darf nicht nur zulasten der Menschen gehen, wenn auch andere Maßnahmen den gewünschten Erfolg zeigen. Wir müssen die Menschen mitnehmen. Wir müssen sie aufklären. Wir müssen Vertrauen in sie haben, auch Vertrauen in die Unternehmen. Wir müssen Anreize schaffen, statt Gängelei zu betreiben. Das ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen – – Ich korrigiere mich, Entschuldigung. Ich war vom großen Interesse der Kolleginnen und Kollegen am folgenden Tagesordnungspunkt so fasziniert, dass ich gleich dazu übergehen wollte. Ich schließe die Aussprache also noch nicht. Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Nestle das Wort. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herzlichen Dank. – Herr Koeppen, Sie haben die 20-20-20-Ziele der Bundeskanzlerin, die sie 2007 verhandelt hat, darunter auch das 20-Prozent-Energieeffizienzziel, ausdrücklich gelobt und rühmend hervorgehoben. Ich habe Herrn Rösler letzte Woche persönlich hier im Plenum gefragt, ob er sich weiterhin zu dem 20-Prozent-Ziel bekennt, wie Frau Merkel es verhandelt hat, nämlich in Bezug auf eine Baseline. Er hat mir extrem ausweichend geantwortet und gesagt: Ich finde das 1,5-Prozent-Ziel schlecht. – Er hat sich also nicht dazu bekannt. Ich habe deshalb schriftlich nachgefragt. Heute früh habe ich die Antwort bekommen. Das Wirtschaftsministerium bekennt sich nicht mehr zu dem 20-Prozent-Ziel, wie Frau Merkel es damals verhandelt hat, bezogen auf eine Baseline. Das ist besonders interessant, weil das 20-Prozent-Ziel der Bundesregierung gegenüber 2008 bis 2020 numerisch fast genau dem EU-Ziel entspricht. Sie sagen also: Wir wollen hier in Deutschland das 20-Prozent-Ziel erreichen, aber in der EU setzen wir uns dagegen ein. Wir wollen nicht, dass die anderen Länder mithelfen. In Deutschland wollen wir etwas tun. Aber die anderen Länder sollen keinen Beitrag leisten. – Ich frage Sie: Stehen Sie zu dem 20-Prozent-Energieeffizienzziel, wie Frau Merkel es 2007 verhandelt hat – eben haben Sie es sehr gelobt –, oder sehen auch Sie tatenlos dabei zu, wie Minister Rösler dieses Ziel in Brüssel gerade aufgibt? Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung. Jens Koeppen (CDU/CSU): Ganz kurz: eindeutig Ja. Wir bekennen uns dazu. Ich weiß nicht, mit wem Sie Brieffreundschaften pflegen und welche Antworten Sie bekommen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe diesen Brief nicht gelesen. Wir stehen zu den Zielen, die wir 2007 formuliert haben, und natürlich auch zu dem Klima- und Energiepaket, das wir im Sommer dieses Jahres beschlossen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann setzen Sie sich auch dafür ein!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7462 und 17/6927 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Die Energiewende gelingt nur mit KWK“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7516, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6084 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 30 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Am Ausbau der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung festhalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4492, den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3999 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 c sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 35 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Überschuldung privater Personen (Überschuldungsstatistikgesetz – ÜSchuldStatG) – Drucksache 17/7418 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Veronika Bellmann, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Weißbuch Verkehr – Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität – Drucksache 17/7464 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu Lasten des Strahlenschutzes – Zwischenlagerung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursachergerecht neu gestalten – Drucksache 17/7465 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Masterplan Straßenverkehrssicherheit – Ambitioniertes Nationales Verkehrssicherheitsprogramm 2011 – 2020 vorlegen – Drucksache 17/7466 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 o auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 36 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Austauschs von strafregisterrechtlichen Daten zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Änderung registerrechtlicher Vorschriften – Drucksache 17/5224 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/7415 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Sebastian Edathy Marco Buschmann Halina Wawzyniak Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7415, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5224 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 36 b: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes – Drucksache 17/7334 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – Drucksache 17/7517 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann Swen Schulz (Spandau) Patrick Meinhardt Agnes Alpers Kai Gehring Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7517, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7334 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 36 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung über die elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen Union – Drucksache 17/7144 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/7512 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Burkhard Lischka Manuel Höferlin Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7512, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7144 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, erhebe sich bitte. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an das Gemeinsame Wattenmeersekretariat – Common Wadden Sea Secretariat (CWSS) (CWSSRechtsG) – Drucksache 17/6612 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) – Drucksache 17/7491 – Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Frank Schwabe Angelika Brunkhorst Sabine Stüber Undine Kurth (Quedlinburg) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7491, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6612 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2012 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2012) – Drucksache 17/7236 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 17/7518 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7518, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7236 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Linke enthält sich. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 36 f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Erdölbevorratungsgesetzes und zur Änderung des Mineralöldatengesetzes – Drucksache 17/7273 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 17/7519 – Berichterstattung: Abgeordneter Thomas Bareiß Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7519, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7273 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 36 g: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vergaberechts für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit – Drucksache 17/7275 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 17/7520 – Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Barthel Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7520, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7275 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 h: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Andorra über den Informationsaustausch in Steuersachen – Drucksache 17/7145 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Oktober 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über den Informationsaustausch in Steuersachen – Drucksache 17/7146 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 17/7441 – Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting Holger Krestel Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7441, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 17/7145 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Für diejenigen, die uns das erste Mal bei diesem Prozedere zusehen, sei gesagt: Hier wird, da es um ein Vertragsgesetz geht, gleich endgültig abgestimmt. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7441, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7146 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 36 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 324 zu Petitionen – Drucksache 17/7361 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 324 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 325 zu Petitionen – Drucksache 17/7362 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 325 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 326 zu Petitionen – Drucksache 17/7363 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 326 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 327 zu Petitionen – Drucksache 17/7364 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 327 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 328 zu Petitionen – Drucksache 17/7365 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 328 ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 36 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 329 zu Petitionen – Drucksache 17/7366 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 329 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 330 zu Petitionen – Drucksache 17/7367 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 330 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Damit sind wir am Ende der Tagesordnungspunkte ohne Debatte. Ich bedanke mich recht herzlich für die gute Zusammenarbeit. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Demokratischer Sozialismus und soziale Marktwirtschaft im Grundsatzprogramm der LINKEN (Beifall bei der LINKEN) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir kommen zu einem aus meiner Sicht in der Tat unglaublichen und erschreckenden Tagesordnungspunkt. (Lachen und Beifall bei der LINKEN) Dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, 21 Jahre nach der deutschen Einheit in Ihrem Grundsatzprogramm – dazu haben Sie gerade auch noch applaudiert – einen Systemwechsel fordern, weg vom erfolgreichsten System, das es auf der Welt zur Schaffung von Wohlstand, sozialem Ausgleich und Fortschritt gibt, hin zu einem demokratischen Sozialismus (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sieht man jetzt, wie erfolgreich das ist!) – applaudieren Sie nur, damit die Menschen sehen, wofür Sie sind –, der nicht nur in der Sache bewiesen hat, dass er das schlechtere Gesellschaftsmodell ist, weil er nichts zustande gebracht hat, (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Absolut gar nicht! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sondern in dessen Namen und Abarten auch Massenvernichtung von Menschen betrieben wurde – von der DDR über die Sowjetunion bis nach China –, ist unvorstellbar. (Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das glauben Sie doch selber nicht! – Zuruf von der LINKEN: Dafür sind Sie noch zu jung!) Durch einen demokratischen Sozialismus wollen Sie das erfolgreichste System ersetzen, die soziale Marktwirtschaft, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Soziale Marktwirtschaft bei der Deutschen Bank! Ackermann!) deren Ordnungsprinzip der Wettbewerb ist und die es über den Wettbewerb auf dem Gütermarkt, dem Arbeitsmarkt und dem Finanzmarkt schafft, Effizienzpotenziale zu heben und diese dem Verbraucher und dem Bürger zugutekommen zu lassen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Bravo! – Weitere Zurufe von der LINKEN: Lieber sozial als marktradikal! – Nicht aus dem Konzept bringen lassen! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben noch immer das Wort und im Übrigen die Verstärkung des Mikrofons. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Die brauche ich nicht. Ich lasse die ausschreien. Dann versuche ich, meine Argumente weiter vorzutragen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Perpetuum mobile von vorhin!) Sie wollen die soziale Marktwirtschaft, die es über Wettbewerb schafft, einen Ausgleich herbeizuführen, und zwar besser, als es in der DDR der Fall war – dort musste man 20 Jahre auf ein Auto warten, während es bei uns verschiedene Autos gab und jeder Kühlschränke und viele andere Dinge mehr hatte –, durch einen demokratischen Sozialismus ersetzen. Das ist wirklich abenteuerlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Sie wollen einen Systemwechsel auch in Bereichen, in denen es natürliche Monopole gibt. Wir haben heute Morgen über die Telekommunikation gesprochen. Während man in der DDR in der Regel 20 Jahre auf einen Telefonanschluss warten musste und zehn Menschen ein Telefon nutzen mussten, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Deutsche Bank ist kein Monopol?) haben wir über den Wettbewerb die nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt beste Breitbandversorgung in Deutschland organisieren können. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Deutsche Bank! Die Rüstungskonzerne!) Wir haben dort, wo der Wettbewerb nicht funktionierte, entweder über die Kartellämter und das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung oder bei einem natürlichen Monopol über Regulierung dafür gesorgt, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Weltmeister der Logik!) dass der Wettbewerb wieder funktioniert. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Stromkonzerne!) Dass der Wettbewerb zum Beispiel auf dem Finanzmarkt oder im Energiebereich nicht optimal funktioniert, liegt nicht daran, dass es dort zu viel Wettbewerb gibt, sondern daran, dass es dort zu wenig Wettbewerb und zu wenig soziale Marktwirtschaft gibt. Deshalb brauchen wir mehr soziale Marktwirtschaft und nicht weniger. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Die soziale Marktwirtschaft sorgt für einen Ausgleich, indem sie durch die Hebung der Effizienzpotenziale dem Bürger Vorteile in Form von niedrigeren Preisen und Effizienzgewinnen bringt. Darin war sie in den letzten 60 Jahren sehr erfolgreich. (Beifall des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP] – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das steht alles im Programm drin!) Was stellen Sie ihr gegenüber? Planwirtschaft, Dirigismus, Enteignung und Unfreiheit. Leider kann man in fünf Minuten nicht den ganzen Scheiß, den Sie da beschlossen haben, auch nur in Ansätzen hier vortragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Rüge!) Aber Sie schreiben tatsächlich in Ihrem Programm, zu den Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands gehörten die Beseitigung der Erwerbslosigkeit, die Eigenständigkeit der Frauen und weitgehende Überwindung von Armut, (Beifall bei der LINKEN) und die Verstaatlichung der Großindustrie und der Banken hätte die wirtschaftliche Tätigkeit auf das Gemeinwohl und den Schutz der Beschäftigten vor Ausbeutung ausgerichtet. Die Einheit sehen Sie als bloßen Beitritt und einen für viele Menschen schmerzlichen sozialen Absturz. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau so ist es!) Das ist Verleumdungstaktik. Sie gießen Hohn über diejenigen, die in diesem Land fleißig arbeiten und Steuern zahlen, Hohn über alle Mauertoten und Hohn über Abertausende von Familien, die am real existierenden Sozialismus zugrunde gegangen sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Ackermann!) Zwangsadoptionen, Folter, Todesstrafe – das war Ihr System, und das wollen Sie wieder einführen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Lesen Sie mal nach!) Nicht mit uns, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich nehme erst einmal zur Kenntnis, dass die Antragsteller einer Fraktion hier im Hause offensichtlich eine große Freude gemacht haben. Trotz alledem bitte ich die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, wenn sie von ihrem Recht auf Zwischenrufe, die die Debatte beleben, Gebrauch machen, zu gewährleisten, dass wir auch den Redner verstehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie, Kollege Pfeiffer, bitte ich, Ihre Rede im Nachhinein auf einen unparlamentarischen Ausdruck zu überprüfen, den ich hiermit einfach zurückweise, ohne ihn zu wiederholen. (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wenn es doch stimmt!) Nun hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Klaus Barthel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erste Bemerkung: Die Partei Die Linke hat in den letzten Wochen und Monaten einschließlich ihrer Grundsatzprogrammdebatte massiv dazu beigetragen, den Begriff „demokratischer Sozialismus“ in Misskredit zu bringen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Klaus!) Sie erleichtert damit – das haben wir gerade gehört – all denjenigen das Geschäft, die die bestehenden Macht- und Verteilungsverhältnisse unter Hinweis auf die angebliche Alternativlosigkeit auf Ewigkeit festschreiben wollen. Zweitens. Die Sozialdemokratie wird es nicht zulassen, dass Begriff und Inhalt des demokratischen Sozialismus diskreditiert werden, (Zuruf von der LINKEN: Das hat Olaf Scholz schon gemacht!) sei es durch falsche Inanspruchnahme, sei es durch den durchschaubaren Versuch von Konservativen und Liberalen, Feindbilder aufzubauen oder wiederzubeleben. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das vorhin war die Pflicht, jetzt kommt die Kür!) Wir werden unsere Tradition, unsere Wertorientierung und unsere Ziele nicht verleugnen. Im Gegenteil: In Zeiten wie diesen sind sozialdemokratische Grundwerte, Orientierung und Handeln mehr gefragt denn je. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sehen auch wir so!) Drittens. Der Regierungskoalition und den sie tragenden Parteien fehlt jede Legitimation, die soziale Marktwirtschaft für sich zu reklamieren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das belegt nicht zuletzt ihr Umgang mit der internationalen Finanzkrise. Die Politik dieser Koalition hat weder etwas mit Markt noch mit Wirtschaft im positiven Sinn und erst recht nichts mit „sozial“ zu tun. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Viertens. Bei immer mehr Menschen wachsen die Distanz und die Kritik gegenüber dem jetzigen wirtschaftlichen und politischen System. (Zurufe von der LINKEN: Genau! Richtig!) Tiefgreifende Veränderungen sind in der Tat notwendig, um mehr Gerechtigkeit herzustellen, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) für gute Arbeit und Nachhaltigkeit zu sorgen, um Krisen wirksam zu bekämpfen und mehr Demokratie durchzusetzen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die SPD-Bundestagsfraktion ist deswegen jederzeit und gerne bereit, über die langen Linien der künftig notwendigen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu diskutieren. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch mit Steinbrück!) Aber darum geht es Union und FDP heute nicht; vielmehr haben die Koalitionsfraktionen vor, mit einem oberflächlichen Schlagabtausch à la Pfeiffer (Beifall bei der SPD und der LINKEN) vom Scheitern der eigenen Regierungspolitik und vom Scheitern der ihr zugrunde liegenden Ideologien abzulenken. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir haben keine Ideologien! Aber das ist interessant, dass die SPD auch den demokratischen Sozialismus will!) Dafür bieten Sie heute hier sage und schreibe sechs Redner auf. Wir sehen das in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für Aktuelle Stunden vorgesehene Kriterium – ich zitiere – „von allgemeinem aktuellen Interesse“ als nicht gegeben an. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch! Doch!) Deswegen verzichtet die SPD-Bundestagsfraktion auf die restliche ihr zur Verfügung stehende Redezeit im Rahmen dieser Aktuellen Stunde. (Oliver Luksic [FDP]: Da fällt Ihnen wenig ein!) Wir hoffen, dass diese Zeit später genutzt werden kann, um die Themen hier früher und ausführlicher behandeln zu können, die die Menschen wirklich bewegen und uns in der Sache vorwärtsbringen. Wenn Sie auf die Tagesordnung schauen: Davon gibt es genug. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Kurth. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt aber mit einem Wort: Stasi! „Stasi“ muss jetzt kommen! – Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Der sitzt da drüben, der Stasi! Die Hälfte wahrscheinlich!) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die mutmaßlich schwerste Krise Europas seit dem Kriegsende, dramatische Situationen, wir müssen Handlungsfähigkeit beweisen, Euro und Europakrise – da steht auch der Bundestag vor immensen Herausforderungen. Und was macht die Linke? Sie geht unverdrossen ihren sozialistischen Gang. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau! Weder Ochs noch Esel halten den Sozialismus auf in seinem Lauf!) Sie stellt ein Programm auf, völlig unabhängig von den Realitäten. Mit 97 Prozent bei einigen Enthaltungen und einigen Gegenstimmen wurde die Revolution so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich will gar nicht darauf eingehen, was für Blümchenthemen behandelt wurden. Übrigens hat es auch mich geärgert, dass nur die Drogen und solche Dinge eine Rolle spielten und nicht die Einzelheiten des Programms. Darüber müssen wir nun einmal reden. Wer sich dieses Programm durchliest, (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Wer macht denn so was?) muss sich fragen, ob Sie immer noch der leninistischen Revolutionstheorie folgen oder vielleicht doch ein Weltuntergangsverein sind. Ich finde es übrigens sehr bezeichnend, dass allein das Auffinden Ihres Programms im Internet oder sonst wo außerordentlich schwierig ist; es gab es so nicht. Ich habe versucht, es zu finden. Ich habe dann Fragmente gefunden. Ich dachte: Mensch, mit Beschluss des Parteitages tritt das Ganze „nach meiner Kenntnis … ist das sofort … unverzüglich“. (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nein, es findet sich nichts im Netz. (Abgeordnete der LINKEN halten Hefte in die Höhe) – Ich hätte schon gerne gewusst, was in dem leeren Umschlag ist, den Sie die ganze Zeit hochhalten. Es ist eine Hülle, mehr nicht. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir lassen Ihnen ein Programm zukommen!) Ich gebe Ihnen einen Tipp: Tun Sie es herunter, in die unterste Schublade. Behalten Sie es dort. Dort und nirgendwo anders gehört es hin. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Gleich in der Präambel schreiben Sie: „Wo vor allem der Profit regiert, bleibt wenig Raum für Demokratie.“ (Beifall bei der LINKEN) – Applaus. – Das heißt ja im Umkehrschluss: Wo es den wenigsten Profit gibt, gibt es den meisten Raum für Demokratie. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Haben Sie je lohnabhängig gearbeitet?) Wo gibt es denn den wenigsten Profit auf dieser Welt? Ich denke da an Nordkorea. Ich denke da an Kuba. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und mit vielen Grüßen an Fidel! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und an China!) Glauben Sie ernsthaft, da gibt es den meisten Profit, weil es da am wenigsten Demokratie gibt? Oder gibt es dort am meisten Demokratie, weil es den wenigsten Profit gibt? Unglaublich, was Sie uns hier auftischen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) An anderer Stelle schreiben Sie: Doch erst die Befreiung aus der Herrschaft des Kapitals und aus patriarchalen Verhältnissen verwirklicht die sozialistische Perspektive der Freiheit und Gleichheit für alle Menschen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: 2 Prozent!) Dies haben insbesondere Marx, Engels und Luxemburg gezeigt. (Beifall bei der LINKEN) Ich frage: Was haben Marx, Engels und Luxemburg gezeigt? (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Jedenfalls nicht die Partei für die Besserverdienenden!) In der Praxis überhaupt nichts; sie haben den Praxistest nicht bestanden. Der Kollege Marx konnte noch nicht einmal seine eigene Familie durchbringen, weil er sein ganzes Geld durchgebracht hat. (Lachen bei der LINKEN) Er hat auf Kosten von Herrn Engels gelebt, der wiederum Oligarch war, seine Leute ausgepresst hat und die Zeit dafür verwendete, Das Kapital und Ähnliches zu schreiben. (Zurufe von der LINKEN) Dieses Märchen mit Frau Luxemburg gehört sowieso aufgeräumt. Frau Luxemburg gehört zu den Ersten, die gegen die neue, junge Demokratie geputscht haben, und das muss unsere Gegenwehr finden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel für die Geschichtsverklärung, die Sie hier vornehmen. Sie schreiben in Ihrem Grundsatzprogramm doch allen Ernstes über die Bundesrepublik Deutschland, dass dort die antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer unter Repressionen wie erneuten Verhaftungen und Berufsverboten litten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sagen Sie einmal: Wo leben Sie denn? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Weiterhin sagen Sie zur Bundesrepublik: Doch gleichzeitig bestanden autoritäre und obrigkeitsstaatliche Strukturen fort. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Im Gegensatz dazu beschreiben Sie die Deutsche Demokratische Republik folgendermaßen: „Im Osten Deutschlands prägte der Sozialismusversuch die Lebensgeschichte der Menschen …“, „Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung“, „friedliebendes und antifaschistisches Deutschland“, „Beseitigung von Erwerbslosigkeit“. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das war die DDR? Das können Sie doch nicht ernsthaft behaupten! Schauen Sie in die Geschichtsbücher! Fragen Sie Ihre PDS-Genossen! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN) Ihr Programm ist reaktionär, geschichtsverklärend, revanchistisch, relativistisch (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Revanchistisch? Vollständig zitieren!) – Sie arbeiten selektiv; das ist das richtige Stichwort –, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was Sie gerade gemacht haben mit Ihren Zitaten, das war selektiv! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: 2 Prozent!) etatistisch und – das beweist uns auch heute hier diese Bundestagsfraktion – außerordentlich hysterisch. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie sind im Weiten Extremisten. Eine rechte Partei würden Sie bei spiegelverkehrter inhaltlicher Fokussierung dem Dampfhammer Ihrer gesamten Sturmtruppen aussetzen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Hass und Gewalt würden Sie ihr unterstellen. (Zurufe von der LINKEN: Pfui!) Sie werden Ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, aber auch nicht in geringster Weise. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nach dem, was ich hier aufgezählt habe und was ich lesen konnte, hat Ihr Programm in etwa den gleichen Fortschrittsgeist wie die heilige Inquisition. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Da ist sie wieder, die Inquisition!) Nicht einen Schritt nach vorn! Da ist nichts Aufklärerisches – nichts, aber auch in keiner Weise –, was auf den modernen Staat wirken würde. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Ihr Programm ist ein Konvolut aus Thesen von 1870 und 1970; mehr nicht, überhaupt nicht mehr. Sie arbeiten in Ihrem Programm ständig mit radikalem Weltuntergangsvokabular: Massenerwerbslosigkeit, Unterdrückung – das kommt 14-mal vor –, das Wirtschaftssystem führe zu Verelendung, bedrohe die Zivilisation usw. usf. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Von Armut haben Sie noch nichts gehört?) Ich kann Ihnen nur sagen: Wer diese Gesellschaftsordnung so mit Füßen tritt, der wird den parlamentarischen Widerstand der FDP (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nicht mehr lange!) als freiheitliche und liberale Bastion gegen alles engbrüstige, gegen alles reaktionäre und antiaufklärerische Denken in diesem Hause erfahren. Dafür stehen wir. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege Stefan Liebich. (Beifall bei der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke kämpft für eine andere, demokratische Wirtschaftsordnung, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Für eine andere?) die die Marktsteuerung von Produktion und Verteilung der demokratischen, sozialen und ökologischen Rahmensetzung und Kontrolle unterordnet. (Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: FDJ-Rede, oder?) So steht es in der Präambel unseres am vergangenen Wochenende in Erfurt beschlossenen Programms, und ich muss Ihnen sagen, mit Blick auf die aktuelle Begrenztheit politischen Einflusses in der Wirtschafts- und Euro-Krise: Wo Sie wie das Kaninchen auf die Schlange starren, wenn es um die Macht der Banken und Finanzmärkte geht, wünsche ich mir nichts mehr als eine genau so organisierte Wirtschaftsordnung. (Beifall bei der LINKEN) Die Tagesordnungen und Zeitpläne nicht nur unseres Parlaments, sondern vieler Parlamente und Regierungen – das durften wir gerade gestern und heute Nacht wieder erleben – werden von Öffnungszeiten und Wünschen der Börsen bestimmt. Wir streiten monatelang um lächerliche Erhöhungen des Arbeitslosengeldes, und dann werden in Windeseile Milliardensummen durch Bundesrat und Bundestag gepeitscht, um die sogenannten Märkte zu beruhigen. Das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Pfeiffer, lieber Herr Kurth, hat mit der sozialen Marktwirtschaft, vor die Sie sich hier schützend werfen wollten, nichts, aber auch gar nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN) Wenn ich mir Ihre Politik ansehe, die spätestens seit dem Schröder/Blair-Papier von 1999, als sich die SPD auf einen dritten Weg aufgemacht hat, um die neue Mitte zu suchen – da, lieber Klaus Barthel, ist der demokratische Sozialismus diskreditiert worden –, zur rot-grünen Politik der Steuersenkung für Besserverdienende, zu Deregulierung da, wo Regulierung nötig war, führte, die mit der Agenda 2010 radikale Einschnitte in die Sozialsysteme durchsetzte und die von der Großen Koalition und der sogenannten christlich-liberalen Regierung fortgesetzt wurde, weiß ich genau, warum unser Land die Linke braucht. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Um Gottes willen!) Wenn ich auf Dumpinglöhne und prekäre Beschäftigung schaue, also auf die Zunahme von Jobs, von deren Bezahlung man nicht leben kann, und andererseits auf die Verweigerung der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne bei Rot-Grün, bei Schwarz-Rot und nun bei Gelb-Schwarz, dann unterstreiche ich dreimal den Satz aus unserem Programm: Die ungebändigte Freiheit der großen Konzerne bedeutet Unfreiheit für die Mehrheit der Menschen. Dann bin ich stolz darauf, dass es eine Kraft in der Parteienlandschaft unseres Landes gibt, die einen anderen gesellschaftlichen Entwurf vorlegt und damit vielen Menschen in unserem Lande Mut macht. Es muss nicht immer so weitergehen. Es gibt Alternativen. Wir verfolgen – ich zitiere aus unserem Programm – ein konkretes Ziel: Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der kein Kind in Armut aufwachsen muss, in der alle Menschen in Frieden, Würde und sozialer Sicherheit leben (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat in der DDR hervorragend funktioniert!) und die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch gestalten können. (Beifall bei der LINKEN) Um dies zu erreichen, brauchen wir ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: den demokratischen Sozialismus. (Beifall bei der LINKEN) Ja, wir wollen den demokratischen Sozialismus, und wir stehen dazu, auch wenn schlichte Gemüter aus dem Süden unseres Landes sofort nach dem Verfassungsschutz rufen. Es gibt keinen Artikel im Grundgesetz, der den Kapitalismus für unser Land festschreibt. Hingegen ist in Art. 20 festgelegt, dass unser Land demokratisch und sozial sein soll. Dass es dabei Defizite gibt, das ist gerade in diesen Wochen zu spüren. „Occupy Wall Street“ heißt übersetzt in linke Parteisprache: Ein funktionierender Finanzsektor ist ein öffentliches Gut, seine Bereitstellung ist daher eine öffentliche Aufgabe. Das finden wir wirklich richtig. (Beifall bei der LINKEN) Nun malen Sie zu Recht die Schreckgespenster untergegangener Staaten an die Wand. Dabei würde ein flüchtiger Blick in unser Programm ausreichen, um festzustellen, dass der demokratische Sozialismus, den wir anstreben, mit den volkseigenen Betrieben der DDR nun wirklich nichts zu tun hat. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da endet ihr doch wieder!) Das haben wir in unserem Programm sogar ganz klar zum Ausdruck gebracht: Allumfassendes Staatseigentum ist aufgrund bitterer historischer Erfahrungen nicht unser Ziel. So steht es in unserem Programm. Das hätten Sie einfach nur nachlesen müssen. (Beifall bei der LINKEN) Es stimmt aber schon, dass wir die Marktmacht großer Konzerne regulieren wollen. Das wollen Sie aber nicht. Deswegen bekommen wir von den großen Konzernen auch keine Spenden. Wir sind die einzige nicht Allianz-gesponserte Partei im Bundestag. Darauf sind wir stolz. Deswegen wiederholen wir das auch so oft. (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir sind mit unserer Kritik an den bestehenden Verhältnissen an der Seite jener, über die Bertolt Brecht Folgendes formulierte – und das steht auch im Einstieg unseres Programms –: Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon, Wer baute es so viele Male auf? Wir wissen, wer es war. (Zuruf von der FDP: Lenin war es!) „Freiheit. Würde. Solidarität.“ Das ist unser Programm, und darauf sind wir stolz. Ich bedanke mich bei der CDU/CSU-Fraktion und bei der FDP-Fraktion, dass wir dies dem Parlament und der Öffentlichkeit vorstellen konnten. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Liebich, irgendwie tun Sie mir leid, dass Sie jetzt hier diesen Müll verteidigen müssen, obwohl Sie sich als einer der wenigen auf diesem Programmparteitag dagegengestellt haben. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Stimmt gar nicht! Ich habe zugestimmt!) – Das mag vielleicht Strategie sein. – Sie haben jetzt versucht, uns dieses Programm anhand einzelner Punkte nahezubringen. Dabei haben Sie natürlich immer das weggelassen, was zu großer Kritik führt. Wenn in einem Programm von Freiheit durch Gleichheit gesprochen wird, dann wird dem Begriff „Freiheit“ damit sein eigener Wert genommen. Dem werden wir uns immer entgegenstellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein! Selbst in den Freiburger Thesen der FDP war das drin! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Ehrlich gesagt, die Inszenierung, die Sie hier machen, dieser Bierzeltcharakter, den Sie zur Verteidigung Ihres Programmes hier hineinbringen, ist wirklich unmöglich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie führen allerdings eine Retrodebatte. Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen sind nicht von heute, sondern aus dem 19. Jahrhundert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir leben in einer globalisierten Welt. Wir sind keine Insel. Unsere Wirtschaft ist enorm exportabhängig. Diese Exportabhängigkeit ist ohne Zweifel ein Problem. (Zurufe von der LINKEN) Derzeit hängen aber viele Arbeitsplätze an dieser Exportwirtschaft. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Damit habt ihr die Deregulierung begründet!) Sie schlagen uns jetzt jedoch wirtschaftspolitische Konzepte vor, für die wir eine abgeschottete Box brauchen. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Eure Hedgefonds! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie sollten einmal nachlesen! – Gegenruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch einmal auf, zu brüllen! – Weitere Zurufe von der LINKEN) – Darf ich bitte reden? Das ist ja furchtbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es gibt mittlerweile einen breiten Konsens im Mitte-Links-Lager, dass wir eine Vermögensbesteuerung brauchen. Ein Vorschlag aber, der auf eine Vermögensteuer von 5 Prozent hinausläuft, die jährlich zu entrichten ist, ist weder wirtschaftspolitisch sinnvoll noch in irgendeiner Form relevant. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) – Klatschen Sie wenigstens dafür, dass er wirtschaftspolitisch nicht sinnvoll ist. – Sie melken eine Kuh auf einer Weide, die keinen Zaun hat. Das müssen Sie endlich einmal verstehen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wer ist hier die Kuh? – Weitere Zurufe von der LINKEN) Man könnte jetzt folgende Überlegung anstellen: Angesichts einer Finanzmarktkrise, einer Bankenkrise, einer Staatsschuldenkrise könnte es ja sein, dass die Menschen sagen: Ja, die Linke macht das richtige politische Angebot. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) – Das könnte sein, so ist es aber nicht; da können Sie tausendmal klatschen. Sie präsentieren ein psychologisches Programm, das nach innen gerichtet ist; es ist aber kein Programm, von dem die Menschen meinen könnten, es würde ihnen irgendwie nützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Denn die Menschen wollen ernstgenommen werden. Sie wollen Vorschläge hören, die ihnen eine echte Perspektive zu wichtigen Fragen geben. Sie wollen wissen: Wie kommen wir aus dieser Misere heraus? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Welche Angebote und Vorschläge gibt es im politischen Raum, die umgesetzt werden können? Wie müssen zielgerichtete Lösungen aussehen, die umsetzbar sind? – Solange eine Partei sagt: „Wir wollen ja gar nicht regieren“, ist sie doch gar nicht in der Pflicht, hier die Machbarkeit darzustellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sagen wir doch gar nicht! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Ihr wollt nicht! Deshalb haben wir die CDU in Berlin in der Landesregierung!) Von daher, das Ganze ist doch sowieso ein Wünsch-dir-was-Programm. (Zurufe von der LINKEN) Am besten finde ich aber noch Ihre Verstaatlichungsnummer. Sie wollen Großbetriebe und große Energieversorgungsunternehmen verstaatlichen. Liebe CDU, unsere grün-rote Regierung in Baden-Württemberg hat das Erbe angetreten, das euer Stefan Mappus – unser ehemaliger Ministerpräsident – mit der verfassungswidrigen Teilverstaatlichung des Energieversorgungsunternehmens EnBW hinterlassen hat. Was haben wir jetzt davon? 1 Milliarde Steuergelder wurde aufgrund von Kursverlusten in den Sand gesetzt. Und die Linke redet von Verstaatlichung? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Gebt es dem Ackermann!) Und die CDU hat noch nicht einmal eine vernünftige Positionierung zu dieser Politik, die Mappus dort betrieben hat. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sehen wir einmal: Die CDU ist die neue Links-partei!) Wir brauchen keine Staatsgläubigkeit in dem Sinne, wie die Linke uns das vorschlägt. Es waren die demokratisch gewählten Landesväter, die sich mit ihren Landesbanken kräftig verzockt haben. Was war denn mit der WestLB? Was ist denn mit der Sachsen LB? Was ist denn mit der Bayern LB? (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und die Sparkassen?) Staatsbanken sind doch nicht die Lösung. Was wir brauchen, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sind Sparkassen!) ist Bankenregulierung. Was wir brauchen, ist die Finanztransaktionsteuer. Was wir brauchen, ist das Trennbankensystem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sparkassen brauchen wir! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genossenschaftsbanken!) Das sind die Lösungen, die wir entwickeln müssen. Die soziale Marktwirtschaft muss nicht sozialistisch werden, aber sie muss wieder sozial werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der LINKEN) Sie muss auch grün werden, meine Damen und Herren. Die Union darf sich derzeit nicht rühmen, Vertreter der sozialen Marktwirtschaft zu sein; denn ihre Vertreter vergessen das Soziale. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wüsste ich aber!) Sie lassen mit der jüngsten Instrumentenreform Langzeitarbeitslose im Regen stehen. Sie streichen das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie haben Hartz IV eingeführt!) Sie stehen beim Mindestlohn auf der Bremse. Sie müssen in sich gehen, sich prüfen und dafür sorgen, dass die soziale Marktwirtschaft wieder sozial wird, dass entsprechende Angebote für die Menschen in diesem Land gemacht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen keinen Systemwechsel, (Zurufe von der LINKEN) aber wir brauchen einen Politikwechsel. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bis auf die letzte Passage war das ganz ordentlich!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Wo ist denn eigentlich der Steinbrück?) Ulrich Lange (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einen Satz zur SPD sagen: Herr Barthel, wenn Sie meinen, es sei besonders klug und besonders effekthascherisch, hier nur mit einem Redner aufzutreten, so zeigt dies nur eines: Sie wissen nicht, wo Sie in dieser Debatte stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben Angst, (Klaus Barthel [SPD]: Ausgerechnet vor Ihnen!) zu sagen, wohin Sie wollen. Ich sage nur: Ypsilanti, Nordrhein-Westfalen, Berlin, zumindest bis vor kurzem: Rot-Rot. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie vergessen Brandenburg, Herr Kollege!) Zeigen Sie, wo Ihr Weg ist, dann können Sie sich wirklich an dieser Debatte beteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Momentan fliehen Sie vor Angst, und nicht, weil Sie diese Debatte für überflüssig erachten. (Klaus Barthel [SPD]: Können Sie uns erklären, was das mit dem demokratischen Sozialismus zu tun hat? – Weitere Zurufe von der SPD und von der Linken) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie haben Ihr Lafontaine’sches Manifest nach dem Motto „Marx ist Muss“ – man könnte auch sagen: „Marx ist Murks“ – verabschiedet. Vorwärts in die Vergangenheit! Liebe Kollegin von den Grünen: Dem ersten Teil Ihrer Rede zolle ich durchaus Respekt. Dann haben Sie leider stark nachgelassen. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich zitiere: Die Partei richtet ihr Augenmerk besonders darauf, den demokratischen Zentralismus zu stärken, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was?) indem die zentrale staatliche Leitung und Planung mit der schöpferischen Aktivität der Werktätigen … wirkungsvoll verbunden wird. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist falsch!) Die demokratische Teilnahme der Werktätigen an der Produktion … (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Was ist das für ein Programm? – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!) – Richtig: „Aha!“. Das ist nämlich das SED-Programm von 1976. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das heißt übersetzt: Die Linke kämpft für die Veränderung der Eigentumsverhältnisse. (Karin Binder [DIE LINKE]: Ja! Dafür kämpfen wir!) Im Programm heißt es: „Wir wollen eine radikale Erneuerung der Demokratie“, „Übernahme von Betrieben durch Beschäftigte“, „realen Einfluss auf betriebliche Entscheidungen“. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Liebich, jetzt wissen Sie, warum Sie der Verfassungsschutz auch in Zukunft beobachten muss: In unserem Grundgesetz ist das Eigentum nämlich garantiert. Dazu stehen wir; das wollen wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ihr seid so tief gesunken! – Zuruf von der LINKEN: Toller Redner!) Ein paar Worte zur Parteienfinanzierung. Decken Sie endlich Ihr SED-Vermögen auf! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Das gibt es schon lange nicht mehr!) Sie schreiben nicht nur das Programm der SED ab; auch Ihr Geld kommt daher. Geben Sie es endlich den Bürgerinnen und Bürgern zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Was ist mit dem Vermögen der Bauernpartei und dem der Ost-CDU! – Weiterer Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Ihr Programm ist Jobvernichtung; (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Genau!) darüber haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales mehrfach diskutiert. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber ihr habt noch lange nicht recht damit!) Ihr Programm ist kalte Enteignung. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach!) Ihr Programm des politischen Streiks steht der Sozialpartnerschaft entgegen. Die Sozialpartnerschaft hat unser Land stark gemacht; das wollen Sie für eine Ideologie zerstören, und zwar bewusst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karin Binder [DIE LINKE]: Wo ist denn die Sozialpartnerschaft bei Minijobs, Leiharbeit und all diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen?) Rückwärtsgewandter Sozialismus, Debatte über den Fraktionsvorsitz für die Urenkelin Rosa Luxemburgs: Wissen Sie eigentlich nicht, wo Sie sind? Sie sind hier noch nicht angekommen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Lesen bildet!) – Ludwig Erhard lesen bildet: Wohlstand für Alle. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dieses Land hat wie kein anderes in Europa den Bürgerinnen und Bürgern Wohlstand gebracht, und das mit der Idee von Ludwig Erhard, mit der Idee der CDU/CSU, mit der christlichen Soziallehre, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Damit habt ihr geschafft, Armut zu schaffen! Armut für alle!) mit einer sozialen Marktwirtschaft, mit genügend Liberalität und genügend Leitplanken. Das hat uns stark gemacht. Daran wollen wir festhalten. (Karin Binder [DIE LINKE]: Daran wollen Sie festhalten!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich bin mir sicher angesichts dieser Debatte: Mit Ihrem Grundsatzprogramm werden Sie die Menschen nicht überzeugen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie wollten die Debatte! Das ist nicht unsere Debatte!) Die Menschen sind nicht so dumm. Sie haben einen Teil Deutschlands schon einmal vor die Mauer gefahren. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!) Die Menschen haben kein Interesse, diesen wirtschaftspolitischen Dilettantismus ein zweites Mal zu erleben. Deswegen setzen wir auf die soziale Marktwirtschaft und nicht, wie es die Süddeutsche umschreibt, auf „Sozialismus minus Stasi“. Mehr haben Sie leider nicht zu bieten. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Weder christlich noch sozial!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heinz-Peter Haustein (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. (Heiterkeit der Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD] und Kerstin Andreae [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber 1989 war es vorbei. Die Menschen haben mit ihren Füßen in Plauen und Olbernhau, in Dresden und Leipzig abgestimmt. Heute, 22 Jahre später, denke ich, ein Schwein pfeift: (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Die Linken kommen mit einem Programm, das praktisch diese DDR wieder hervorzaubern will. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch Unsinn! – Weitere Zurufe von der LINKEN) – Das behaupten Sie. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Lesen Sie es nach! Es steht sogar drin!) Sie sagen: Wir wollen nicht die DDR wiederhaben. Aber jeder kennt den Satz: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. Euch glauben wir nichts. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Schwer zu argumentieren, wenn Sie sagen, Sie glauben uns nicht!) Der demokratische Sozialismus ist ein Widerspruch in sich selbst. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Denn die Grundlage eures Parteiprogramms ist das Kommunistische Manifest von 1848. Darin steht als Leitsatz (Karin Binder [DIE LINKE]: Ein Gespenst geht um!) die Diktatur des Proletariats. Ich will einmal vorlesen, was das ist – ich zitiere –: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!) … die Diktatur des Proletariats beinhaltete auch reale Elemente einer Diktatur, deklariert als „notwendige Maßnahmen“ zum Schutz vor Restitutionsversuchen des Kapitalismus. (Zurufe von der LINKEN) Das ist also die Diktatur des Proletariats. Die Linken geben in Ergänzung aber auch noch etwas anderes von sich; ich wollte es euch ersparen, aber die Leute müssen ja einmal erfahren, welche Ideologie dort vorherrscht. (Zurufe von der LINKEN) Zum „Marxistischen Forum“ steht da zum Beispiel: Ziel des Marxistischen Forums ist natürlich, die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Da klatschen die auch noch! Unverschämtheit!) Sie wollen also unser System, unsere soziale Marktwirtschaft abschaffen. Unvorstellbar! Und die Linke sagt weiter: Wir wollen die Bühne des Parlamentarismus für den Kampf … nutzen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: „Nutzen“ steht nicht in unserem Programm!) aber uns nicht der Illusion hingeben, dass dort der zentrale Raum für reale Veränderungen sei … Nur die außerparlamentarische Bewegung kann reale Veränderungen herbeiführen. Das sagen die. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das steht nicht in unserem Programm!) Vielleicht noch ein paar Worte zur DDR, weil ich dort leben musste: in 108 000 km², umringt von Stacheldraht, hier in Berlin von einer Mauer. Wenn du raus wolltest, wurdest du erschossen oder nach Bautzen ins Zuchthaus gesteckt. Das ist real existierender Sozialismus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Die DDR war praktisch von vorne bis hinten eine Mangelwirtschaft. Du musstest dich für Bananen anstellen, wenn es welche gegeben hat. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Und dann hast du nur so viele bekommen, wie du Kinder hattest: Hattest du zwei Kinder, hast du zwei Bananen gekriegt. Dann bist du vom Konsum zur HO gerannt, um noch zwei Bananen zu ergattern. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist ja wirklich sozial! – Zuruf von der LINKEN: Heute muss man sich bei der Tafel anstellen!) Auf Autos – das wurde schon gesagt – musste man 12 bis 15 Jahre warten. Das muss man sich einmal vorstellen. Wie sah es denn mit dem Eigentum aus? Erst habt ihr den Bauern in den 60er-Jahren die Felder und Kühe weggenommen und dann 1972 sämtliche Betriebe verstaatlicht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unser Programm geht in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit! – Zuruf von der FDP: Ach, es war doch so schön in der DDR!) Ihr habt den Leuten einfach das Eigentum weggenommen und einen sozialistischen Betriebsleiter eingesetzt – ohne Entschädigung. Man muss sich das einmal vorstellen. So gingen die mit dem Eigentum um! Und das wollen die bei uns auch wieder so machen. Man muss den Leuten sagen, was die hier wollen! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Quatsch! Blödsinn!) Ich möchte den Leuten, Ihnen bzw. euch zusammengefasst noch einmal klarmachen: Das ist rückwärts gewandte Politik! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man heute – 2011 – so etwas noch einmal anzettelt. (Zurufe von der LINKEN) Aber dabei nutzen sie unsere Demokratie natürlich aus. Umgekehrt wäre es ja gar nicht möglich gewesen; denn in der Volkskammer der DDR hätte doch jeder Angst gehabt, einen solchen Antrag zu stellen. Dann wäre er sofort weg gewesen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Aber ihr habt eben diese parlamentarische Plattform und könnt euch hier etablieren und den Leuten Sand in die Augen streuen. (Zuruf von der CDU/CSU: Unerträglich! – Zurufe von der LINKEN) Dieses düstere Bild, das in eurem Programm gezeichnet wird, das bedrückt uns hier. Vielleicht noch einmal zum Geld. In der DDR gab es ja auch eine Währung, die Ostmark. Das war Blechgeld, nicht konvertierbar, und deshalb gab es auch noch Tausch und Handel. Man hat also Räuchermännchen und Nussknacker gegen Trabantreifen getauscht und Trabantreifen gegen grüne Gurken. Das war ein Tauschhandel. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja, so steht es in unserem Programm! Genauso steht es drin! Räuchermännchen lassen wir uns nicht nehmen! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Thema verfehlt! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Zum Schluss zur Wertigkeit des Geldes, um das düstere Bild etwas abzumildern: Ein Freund von mir war in Ungarn und hat dort mit Ostmark bezahlen wollen, weil die Forint nicht gelangt haben. Da sagte der Ungar: Du kannst legen Geld auf Fensterbrett, nimmt nicht mal der Wind! (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] beginnt, zu singen) Vizepräsidentin Petra Pau: Wenn ich mich recht entsinne, sind wir in einer Debatte. Insofern bitte ich darum, das Singen an eine andere Stelle zu verlagern. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Entschuldigung!) Kollege Dr. Georg Nüßlein hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich bin dem Kollegen Haustein ausgesprochen dankbar dafür, dass er so authentisch beschrieben hat, was Sozialismus heißt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Räuchermännchen!) Das kann natürlich jemand, der das Glück hatte, im Westen auf die Welt zu kommen, nicht so authentisch tun. Ich war immer der Meinung, dass die Entscheidung ein für alle Mal getroffen ist: Die Menschen aus Ostdeutschland haben sich gegen die Mauer, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jawohl! Genau!) gegen den Schießbefehl, gegen Stacheldraht, gegen das Sozialismusmodell, das Sie nach wie vor propagieren, und für die soziale Marktwirtschaft entschieden. (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Unsinn! – Weitere Zurufe von der LINKEN)) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie es wenigstens übers Herz bringen, sich gegenüber dem abzugrenzen, was in der DDR seinerzeit geschehen ist. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Haben Sie überhaupt zugehört?) Kollege Liebich hat sich in der Tat verbal bemüht. Sie hätten Ihren Kolleginnen und Kollegen allerdings sagen müssen, sie sollen nicht an der falschen Stelle klatschen und schreien. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist unter Ihrem Niveau!) Sie haben an der falschen Stelle geklatscht. Sie haben es nicht geschafft, sich von der DDR zu distanzieren, weder hier in irgendeiner Art und Weise noch in Ihrem unsäglichen Parteiprogramm. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Steht alles hier drin! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Lesen Sie unser Programm!) Das belastet mich aber gar nicht so sehr, weil ich von Ihnen nicht mehr erwartet habe. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber wir erwarten von Ihnen mehr!) Von der SPD hätte ich zumindest erwartet, dass sie sich von der Linken abgrenzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stattdessen reklamiert Kollege Barthel für sich und die SPD den demokratischen Sozialismus. Was für ein unsäglicher Widerspruch! (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das steht seit dem 19. Jahrhundert im Parteiprogramm der SPD!) Es ist unglaublich, was da passiert. Ich kann mir nur vorstellen, dass sich das im Rahmen des Streits um den Kanzlerkandidaten abspielt und Sie nicht wissen, wo Sie hinlaufen wollen. Ich bitte Sie inständig: Laufen Sie nicht weiter nach links. Das wäre eine Katastrophe für unser Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Beruhigen Sie sich einmal!) Ich will nicht einzelne Teile Ihres Programms aufgreifen, weil ich gesehen habe, wie schnell einem da ein unparlamentarischer Begriff herausrutscht, und ich kann für mich nicht ausschließen, dass mir das passieren würde. (Zuruf von der LINKEN: Wir auch nicht!) Die Rattenfängermanier, die Sie mit Ihren Heilsversprechen an den Tag legen, ist schon bemerkenswert. (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) Ich hoffe, dass Sie sich am Ende des Tages nicht in den Dingen, die Sie besprechen, verfangen. Lassen Sie mich etwas zu dem bereits angemerkten Widerspruch von Demokratie und Sozialismus sagen. (Karin Binder [DIE LINKE]: Wieso Widerspruch?) Demokratie heißt: Volkswirtschaft, freie Wahlen, Mehrheitsprinzip, (Beifall bei der LINKEN) Gewaltenteilung, Schutz der Grundrechte, übrigens auch des Rechts auf Eigentum. Sozialismus ist schon schwieriger zu definieren. Der Soziologe Werner Sombart hat bereits im Jahr 1920 260 Definitionen dazu gefunden. Ich nehme an, dass noch ein paar weitere dazugekommen sind. Deswegen muss ich mir jetzt erschließen, wie Sie es vermutlich definieren. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das steht alles im Programm!) Ich möchte bei dieser Gelegenheit festhalten: Sie sind ganz unstrittig die Rechtsnachfolger der SED. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP]) Das haben Sie nie infrage gestellt. Das ist ganz klar. Wenn Sie es anders hätten machen wollen, hätten Sie separat eine Partei gründen können. Stattdessen haben Sie es vorgezogen, lediglich die Namen zur Tarnung immer wieder ein bisschen anzupassen. Das hängt natürlich damit zusammen, was der Kollege Lange angesprochen hat, nämlich dass Sie nicht des Vermögens der SED verlustig gehen wollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Was ist mit der Ost-CDU?) Damit hängt es zusammen, dass Sie sich aus juristischen Gründen nicht davon distanzieren können. Vermutlich tun Sie es auch inhaltlich nicht. Die Sozialismusdefinition der SED war unstrittig eine marxistisch-leninistische, (Zuruf von der LINKEN: Genau!) und zwar in dem Sinne, dass der Sozialismus eine Entwicklungsphase im Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus ist. Kommunismus heißt – das ist heute bereits leise angeklungen –: Diktatur des Proletariats. (Zurufe von Abgeordneten der LINKEN) Erklären Sie mir einmal, wie Sie Diktatur und Demokratie zusammenbringen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich könnte noch eine Definition von Diktatur anführen: keine freien Wahlen, höchstens manipuliert, Herrschaft einer Gruppe, die unumschränkt herrscht, keine Pressefreiheit, keine Menschen- und Bürgerrechte und Unfreiheit in allen Bereichen. Vielleicht erinnert Sie das wenigstens an etwas, nämlich an die DDR. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das steht doch drin, dass wir das nicht wollen!) Deshalb bitte ich um ein bisschen mehr Kleinmut. Führen Sie sich an dieser Stelle nicht so auf! Demokratischer Sozialismus? Das sind geröstete Schneebälle! Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Politikprofessor werden Sie jedenfalls nicht!) Vizepräsident Eduard Oswald: Als Nächste spricht in unserer Aktuellen Stunde für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Nadine Schön. Bitte schön, Frau Kollegin Nadine Schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kennen Sie das Privathaus von Oskar Lafontaine? Im Saarland wird die von Mauern umgebene Villa im Volksmund „Palast der sozialen Gerechtigkeit“ genannt. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber díe mögen ihn! 20-Prozent-Partei dort!) Kennen Sie das Auto von Klaus Ernst? Es muss bei Anhängern der Linken doch Eindruck machen, wenn der Vorsitzende mit dem Porsche vorfährt. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schneller zum Kommunismus!) Kennen Sie das Lieblingsessen von Sahra Wagenknecht? Richtig, es ist Hummer. Das ist etwas ganz Edles, man muss ihn sich aber leisten können. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Und dazu Kaviar! – Zurufe von der LINKEN) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sieht so die Gleichheit aus, die Ihrer Meinung nach zu Freiheit führt? Am letzten Wochenende haben Sie mal wieder die Systemfrage gestellt. Freiheit durch Gleichheit; Sozialismus statt Kapitalismus – das sind die Kernforderungen im neuen Grundsatzprogramm. Sie unterliegen dabei aber einigen Denkfehlern: Erstens leben wir nicht im Kapitalismus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Doch!) Unsere Wirtschaftsordnung in Deutschland ist die soziale Marktwirtschaft und eben nicht der Kapitalismus. Soziale Marktwirtschaft bedeutet, dass wirtschaftliche Vernunft und sozialer Zusammenhalt der Gesellschaft zusammengehören. In der sozialen Marktwirtschaft heißt es gerade nicht: „Wenn jeder an sich selbst denkt, dann ist an alle gedacht“; im Gegenteil: Vom gemeinsamen Wohlstand sollen auch diejenigen profitieren, die schwach, krank oder bedürftig sind. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Das bedeutet „sozial“ in der sozialen Marktwirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Wohlstand, der verteilt werden soll, muss aber auch erwirtschaftet werden. Sie wollen ihn verteilen, ohne ihn zu erwirtschaften. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dass das nicht funktioniert, das muss Ihnen, liebe Kollegen, doch spätestens angesichts der zahlreichen Fälle von Staatsverschuldung in den vergangenen Monaten deutlich geworden sein. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch kein Sozialismus! Das ist Kapitalismus!) Ein fürsorgender, starker Staat, wie ihn beispielsweise Griechenland hatte, kann auf Dauer nur bestehen, wenn er von einem starken wirtschaftlichen Fundament getragen wird. 30-Stunden-Woche, Verstaatlichung der Betriebe und Rente mit 60: Das alles erinnert an Griechenland. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir haben doch keinen Sozialismus in Griechenland!) Das führt zu Staatsverschuldung und führt uns in die nächste Krise, bringt aber ganz sicher keinen Wohlstand. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN) Ihr zweiter Trugschluss: Die Probleme, die wir derzeit haben, sind nicht im System begründet. (Karin Binder [DIE LINKE]: Nein? Wo denn?) Die soziale Marktwirtschaft ist nicht das Problem. Sie ist die Lösung des Problems. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die soziale Marktwirtschaft sieht Regulierungen vor. Die soziale Marktwirtschaft verlangt einen Ordnungsrahmen, der das Gleichgewicht herstellt zwischen ökonomischer Effizienz und Wettbewerb auf der einen Seite und sozialer Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Auswüchse wie die, die wir derzeit auf den internationalen Kapitalmärkten beobachten, widersprechen diesem System. Das ist Turbokapitalismus ohne Ordnungsrahmen. Das widerspricht der sozialen Marktwirtschaft. Es pervertiert sie sogar. (Zurufe von der LINKEN) – Ich würde Ihnen empfehlen, einmal zuzuhören und sich mit der sozialen Marktwirtschaft zu beschäftigen, statt ständig dazwischenzuschreien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sahra Wagenknecht hat ein ganzes Buch darüber geschrieben! – Gegenruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber ein falsches Buch! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Deshalb ist es richtig, dass wir auf europäischer Ebene und weltweit unsere Vorstellung von einer sozialen Marktwirtschaft wieder stärker durchsetzen. Es ist richtig, dass wir wieder stärker regulieren und diese Auswüchse eindämmen. Was wir brauchen, ist ein Ordnungssystem, das sicherstellt, dass am Ende nicht Reichtum für wenige, sondern Wohlstand für alle steht. (Zuruf von der LINKEN: Was? Für alle?) – Herr Präsident, es fällt mir unheimlich schwer, hier zu reden, wenn ständig dazwischengeschrien wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich habe dem Redner der Linken eben zugehört. Es ist ein Gebot der Höflichkeit, dass man anderen zuhört. Dieses Gebot existiert in der Ideologie der Linken wahrscheinlich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die hätten in der Volkskammer schreien können!) In Ihrer Ideologie existieren auch Toleranz und Respekt nicht. Man hört anderen auch einmal zu und respektiert andere Meinungen. (Karin Binder [DIE LINKE]: Tun Sie das etwa?) Dass Sie das nicht tun, konnte man daran feststellen, wie nach Ihrem Parteitag mit den Kollegen umgegangen wurde, die gegen das Programm gestimmt oder sich enthalten haben. Ich empfehle einen Blick in den Blog unserer Kollegin Halina Wawzyniak. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: So viel zum Thema Demokratie! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da habe ich auch hineingeschaut!) Die Kollegin hatte am Wochenende die Traute, sich bei der Abstimmung über das Programm zu enthalten, weil sie der Meinung ist, dass es „Freiheit durch Gleichheit“ nicht gibt, dass es „Freiheit und Gleichheit“ heißen müsste. Schauen Sie sich einmal an, welche Kommentare in diesem Blog geschrieben werden, wie im Internet über diese Kollegin hergezogen wird. Es fallen Worte wie „Rücktritt“. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann können Sie ja gleich das Internet verbieten! Das muss verboten werden!) – Was muss verboten werden? Das Internet? (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Junge Frau, das Internet müssen Sie verbieten!) – Das ist einmal eine gute Idee. – In diesem Blog wird von denunziatorischem Verhalten gesprochen, dort wird mit einer Abstrafung beim nächsten Parteitag gedroht. Vizepräsident Eduard Oswald: Kommen Sie bitte zum Schluss. Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Dort werden Rücktrittsforderungen nur wegen einer Enthaltung laut. Die einzige Antwort, die Sie haben, ist, dass das Internet verboten werden sollte. Herzlichen Glückwunsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Sie müssen zum Schluss kommen, Frau Kollegin. Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Entlarvend ist auch, wie man in der Partei mit Mitgliedern umgeht, die eine andere Meinung haben. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bloß keine Meinungsfreiheit! – Zurufe von der LINKEN) Im vergangenen Jahr hat beispielsweise die saarländische Linke einen Maulkorbparagrafen verabschiedet. Es wird verboten, sich in der Öffentlichkeit negativ über die Partei zu äußern. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ronald Pofalla!) Hier sieht man im Kleinen, zu was es führt, wenn alle die gleiche Meinung haben müssen. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie haben mir eben etwas versprochen. Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Ich weiß nicht, wie sich diejenigen fühlen, die in Ihrer Partei nicht ihre eigene Meinung äußern dürfen. Meine Conclusio ist: Freiheit durch Gleichheit, das ist nicht möglich. Der beste Beweis dafür sind Sie selbst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin Nadine Schön war die letzte Rednerin in unserer Aktuellen Stunde, die hiermit beendet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a und b auf: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG) – Drucksache 17/6256 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) – Drucksache 17/7522 – Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Miriam Gruß Diana Golze Ekin Deligöz – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 17/7523 – Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Mattfeldt Rolf Schwanitz Florian Toncar Steffen Bockhahn Sven-Christian Kindler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren – Förderung und Frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken – Drucksachen 17/498, 17/7522 – Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Miriam Gruß Diana Golze Ekin Deligöz Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer Debatte ist für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. Bitte schön, Frau Bundesministerin, Sie haben das Wort. Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten Kinder in Deutschland wachsen in Liebe und Geborgenheit auf. Ihre Eltern würden für sie ihr letztes Hemd geben. Es gibt aber auch Kinder, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, Kinder, die seelisch oder körperlich verwahrlosen, Kinder, die gequält oder misshandelt werden. Lea-Sophie ist unter den Augen ihrer Familie verhungert. Kevin, gerade einmal zwei Jahre alt, wurde von seinem drogensüchtigen Stiefvater zu Tode geprügelt. Das sind Fälle, die uns fassungslos machen. Wir alle waren uns einig, dass wir alles dafür tun müssen, dass es künftig gar nicht erst so weit kommt. Das Bundeskinderschutzgesetz, das wir heute verabschieden werden, hätte Lea-Sophie und Kevin vielleicht helfen können. Wir stehen gemeinsam in der Verantwortung, dass es anderen Kindern hilft, und zwar schnellstmöglich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb hoffe ich heute auf eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag für diesen Gesetzentwurf. Die Fälle von Vernachlässigungen und Misshandlungen haben uns Lücken und Schwachstellen gezeigt, an denen wir ansetzen müssen, um unsere Kinder besser zu schützen. Da ist vieles in Bewegung gekommen. Eines aber fehlte lange Zeit: die Bereitschaft zur Kooperation. Auch daran ist das Bundeskinderschutzgesetz in der letzten Legislaturperiode gescheitert. Ich habe daraus meine Lehren gezogen. Mir war es wichtig, Bund, Länder, Kommunen, die Fachwelt, Vertreter aus der Praxis und die Wissenschaft frühzeitig einzubinden. Die runden Tische „Heimkinder“ und „Sexueller Missbrauch“ haben einen wichtigen Beitrag zu diesem Gesetz geleistet. Die gemeinsame Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Kinderschutzgesetzes war getragen vom Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung und vom Willen zum gemeinsamen Erfolg. Dafür danke ich allen Beteiligten ganz herzlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Qualitätssiegel hat das Bundeskinderschutzgesetz in der Sachverständigenanhörung hier im Bundestag, an der ich als Zuhörerin teilgenommen habe, bekommen. Ich habe selten eine Anhörung erlebt, in der ein Gesetz von sämtlichen Sachverständigen so viel Zustimmung bekommen hat. Alle waren sich einig, dass dieses Kinderschutzgesetz ein Meilenstein für einen besseren Kinderschutz in Deutschland ist: durch bessere Netzwerke und bessere Rechtsinstrumente für unsere Kinder, durch frühere Hilfen für die Familien, durch größere Rechtssicherheit für ihre Helfer, durch bessere Unterstützung für ihre Beschützer und durch konstruktive Kooperation aller Akteure. Auch der Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme weitgehend positiv zum Regierungsentwurf geäußert. Hier ist eine parteiübergreifende Koalition für den Kinderschutz entstanden. Dafür danke ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie die langwierige Arbeit am Bundeskinderschutzgesetz vom Anfang bis zum Schluss konstruktiv begleitet haben. Ich habe die positiven Wortmeldungen gestern im Ausschuss als Angebot für eine weitere Zusammenarbeit beim Kinderschutz verstanden. Schließlich werden wir die Evaluation bald auf der Tagesordnung haben. Umso beschämender finde ich aber, dass es auf Länderebene Versuche gibt, sich auf Kosten des Kinderschutzes in den Medien zu profilieren. Wir haben uns anderthalb Jahre Zeit genommen, um das Bestmögliche für den Kinderschutz herauszuholen. Das ist uns gelungen. Wer das Gesetz jetzt, nachdem wir anderthalb Jahre daran gearbeitet und breite Zustimmung aus der Fachwelt bekommen haben, blockiert, der macht sich mitschuldig. Er macht sich mitschuldig daran, dass längst bekannte Fehler bei der Früherkennung von Vernachlässigungen von Kindern nicht behoben werden. Er macht sich mitschuldig daran, dass neue Maßnahmen zur Vermeidung von Leid unnötig aufgeschoben werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb hätte ich auch keinerlei Verständnis dafür, dass sich das Inkrafttreten dieses Gesetzes auch nur einen Tag verzögert, nur weil einige Leute da draußen unbedingt eine mediale Bühne brauchen. Wir sind den Ländern in den Verhandlungen weit entgegengekommen. Bei strittigen Punkten haben wir Kompromissvorschläge gemacht. Das gilt vor allen Dingen auch für die Bundesinitiative Familienhebammen. Wir sind uns alle einig, dass der Kinderschutz in den Familien beginnt. Die in unserem Gesetz geregelten frühen Hilfen und verlässlichen Netzwerke beugen schon in der Familie vor und sorgen dafür, dass Kinder gar nicht erst in Notlagen und Gefahrensituation geraten. Dabei spielen Familienhebammen mit ihrer sozialpsychologischen Zusatzqualifikation eine besonders wichtige Rolle. Sie kennen die Familien. Sie haben das Vertrauen der Eltern. Sie stoßen auf eine riesige Akzeptanz in den Familien. Mit ihrer spezifischen Zusatzqualifikation können sie dieses Vertrauensverhältnis auch für die Beratung von Familien in schwierigen Situationen nutzen. Wir wollen deshalb, dass sie Familien mit einem besonderen Bedarf bis zu einem Jahr nach der Geburt eines Kindes begleiten. In einigen Ländern, etwa in Niedersachsen, gibt es dazu schon vorbildliche Initiativen. Niedersachsen hat in über 30 Städten ein eigenes Programm für Familienhebammen aufgelegt. Dieses Beispiel zeigt also: Es geht. Deshalb stellen wir im Rahmen unserer Bundesinitiative Familienhebammen auch insgesamt 120 Millionen Euro für einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung. Wir sagen, dass wir auch über die Verstetigung der Unterstützung durch den Bund sprechen. Alle in diesem Raum wissen, dass die Bundesregierung mit dieser Formulierung an die Grenze der Möglichkeiten gegangen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb ist das wirklich ein fairer Kompromissvorschlag, der hier auf dem Tisch liegt. Glauben Sie mir: Es war für uns angesichts der angespannten Haushaltslage nicht einfach, diese 120 Millionen Euro aufzutreiben. Aber wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Beitrag des Bundes zu leisten. Das erwarte ich auch von den Ländern. Wer Kinderschutz zum Nulltarif fordert, der stiehlt sich aus der Verantwortung, auf Kosten von Kindern und von Jugendlichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die meisten Länder sind sich ihrer Verantwortung glücklicherweise bewusst und unterstützen daher unseren Kompromiss. Das gilt auch für den zweiten Punkt, über den wir bis zum Schluss verhandelt haben, nämlich für die Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe. Das Gesetz trägt dazu bei, dass die bestehende, sehr unterschiedliche Praxis in den einzelnen Jugendämtern besser zusammenwachsen kann. Es darf für den Kinderschutz keinen Unterschied machen, ob ein Kind im Allgäu oder an der Nordsee aufwächst. Deshalb führt an gemeinsamen fachlichen Standards kein Weg vorbei. Das hat auch Christine Bergmann, der ich an dieser Stelle für ihre großartige Arbeit als unabhängige Beauftragte der Bundesregierung danken möchte, immer wieder angemahnt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirksamer Kinderschutz erfordert die Zusammenarbeit vieler Menschen und Institutionen in unserer Gesellschaft. Wir brauchen die Eltern. Wir brauchen die Lehrer und Fachkräfte. Wir brauchen die Kinderärzte. Wir brauchen die Mitarbeiter in den Behörden, in den Jugendämtern, im Gesundheitswesen, bei der Polizei und bei der Justiz. Das Bundeskinderschutzgesetz gleicht insofern einem schützenden Gewölbe, bei dem ein Stein den anderen stützt. Dass uns dies gemeinsam gelungen ist, ist eine Leistung, auf die wir stolz sein können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klar ist aber auch: Wenn dieses Gewölbe Kindern in Notsituationen zuverlässig Schutz bieten soll, dann brauchen wir jeden einzelnen Stein. Es kann daher nur schaden, wenn dieses Gesetz im Vermittlungsausschuss zerpflückt wird. Deshalb bitte ich Sie hier und heute noch einmal um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Als Nächste spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin Rupprecht. (Beifall bei der SPD) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die UN-Kinderrechtskonvention (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das war klar! Ohne die geht es bei Ihnen ja nicht!) – wer mich kennt, weiß, dass ich sie immer bei mir habe; es ist nämlich gut, alles, was man nicht im Kopf hat, wenigstens schwarz auf weiß bei sich zu haben – schreibt vor, dass Kinder das Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung haben und dass wir kindgerechte Lebensverhältnisse schaffen müssen. In Art. 6 des Grundgesetzes steht, dass der Staat das Wächteramt über das, was mit den Kindern geschieht, hat. Dieses Wächteramt nehmen wir wahr, nicht erst seit heute oder gestern, sondern schon sehr lange. Der Staat hat die Verpflichtung, Schutz zu gewähren – heute geht es um Schutz –, und er muss hierfür alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Das hat er auch in der Geschichte der Bundesrepublik in all den Jahren zuvor getan. Er hat immer wieder klare Regelungen getroffen, wenn er glaubte, nachbessern zu müssen. Im Herbst 2006 gab es den tragischen Fall Kevin. Die Situation war emotional sehr angeheizt. Man fragte sich: Was können wir tun? Für die Fachleute gab es bereits eine Antwort auf diese Frage, für alle anderen nicht. Sie lautete: Wir müssen Gesetze machen und die Gesetzeslage verändern. Im Jahr 2007 hat die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten einen Kinderschutzgipfel veranstaltet. Das Gedächtnis ist leider bei allen immer sehr kurz; hier nehme ich keinen aus. Sie haben sich fest darauf eingeschworen, dass sie alles tun werden, damit die Kinder in Deutschland beschützt aufwachsen. 2006 kam es, wie gesagt, zu dieser Zäsur, und 2007 haben die gesetzgeberischen Initiativen begonnen. Auf Länderebene ist sehr viel passiert. Es wurden sehr viele Programme aufgelegt, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz und Bayern das Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“. Alle haben sich bemüht, etwas auf den Weg zu bringen, damit Kinder nicht mehr gefährdet sind. Auf Bundesebene haben wir den Versuch gemacht, einen ersten Entwurf eines Kinderschutzgesetzes vorzulegen. Aber nicht nur das. Wir haben in diesem Rahmen auch frühe Hilfen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gestellt und gesagt: Wir müssen ganz früh anfangen, möglichst schon vor der Geburt. Deshalb haben wir das Nationale Zentrum Frühe Hilfen eingerichtet. Das vergisst man immer. Dort wird recherchiert, evaluiert und vernetzt. Der erste Entwurf ist gescheitert. Das lag aber nicht an den Berichterstatterinnen. Ich danke Michaela Noll hier noch einmal ganz herzlich. Wir haben alles versucht. Es ging schief, weil der erste Entwurf sehr stark von Intervention und Repression geprägt war. Für keine Familie, die in Not ist, sind Repressionen hilfreich. Diese Familien brauchen Unterstützung und Hilfe. Deshalb musste der präventive Gedanke viel mehr in den Vordergrund gestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Es war dann auch gut, dass der erste Entwurf gescheitert ist, auch wenn wir viel Kraft dafür aufgewendet haben. Zum Schluss haben wir noch versucht, etliche Punkte – ich konnte auch viele Vorschläge dazu einbringen – zu ändern. Diese wurden in den neuen Entwurf eingearbeitet. Wesentlich ist die Vernetzung, die schon seit 21 Jahren im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht. Es stellt sich immer wieder die gleiche Frage: Wer kann lesen und wer nicht? Dort steht nämlich, dass all diejenigen sich vernetzen sollen, die mit Kindern arbeiten. Im vorliegenden Gesetzentwurf ist dieser Punkt ebenfalls enthalten. Ich hoffe, es kommt jetzt bei jedem an. Es steht noch etwas drin – darauf habe ich Wert ge-legt –, nämlich die Weiterentwicklung der Qualität. Frau Ministerin, Sie haben das vorhin schon einmal gesagt: In den Jugendämtern und in den Maßnahmen der Jugendämter findet sich eine breit gestreute Qualität. Ich glaube, hier müssen wir fachlich hinschauen. Der Entwurf enthält eine Befugnisnorm für Ärzte und einen Anspruch der Kinder auf Beratung. Im Änderungsantrag ist nun auch die Evaluation enthalten. Das finde ich wichtig; denn eigentlich muss jedes Gesetz ausgewertet werden, um zu sehen, ob das, was man erreichen will, auch erreicht wird. Jetzt kommt mein Aber. Die Familienhebammen sind das Herzstück in dem Entwurf. Ich hätte mir daher sehr gewünscht, dass wir wenigstens den Sprung schaffen, dass die Hebammen ihre 26 Besuche nicht in nur acht Wochen nach der Geburt, wie es jetzt im Gesetz steht, sondern innerhalb eines halben Jahres absolvieren können. (Beifall bei der SPD) Dadurch wären keine Mehrkosten verursacht worden, sondern es hätten sich in den schwierigen Phasen nach der Geburt einfach nur weitere Möglichkeiten eröffnet. Wenn Ernährungsstörungen auftreten oder die Eltern bei Schreibabys manchmal verzweifeln, weil sie nicht mehr weiterwissen: Dann brauchen sie fachliche und medizinische Unterstützung durch die Hebammen. Daher hätte ich es sehr begrüßt, wenn das Gesundheitsressort diesen Gedanken aufgenommen und gesagt hätte: 26 Besuche verteilt auf 26 Wochen, also in einem halben Jahr. – Damit wären wir schon einen Riesenschritt weiter gewesen, und die Frage, wer zahlt und wer nicht, wäre eindeutig beantwortet worden. Das ist nun leider nicht der Fall. Die Kommunen sagen nämlich: Das können wir nicht wuppen. – Da gebe ich ihnen recht. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir uns heute enthalten, was mir sicher nicht sehr leicht fällt. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das finde ich auch schade!) Ich sage aber: Schauen wir, dass wir das im nächsten Jahr auf die Beine stellen können. Ich bitte das Gesundheitsressort, sich ganz aktiv zu beteiligen und nicht in eine Trotzhaltung nach dem Motto „Ich verweigere die Atmung“ zu verfallen, sondern zu überlegen, wie wir dieses Problem lösen können. Das halte ich für dringend notwendig. Wir wollen wirklich, dass das nicht nur ein Modellprojekt bleibt. Wir können das aber nicht anders finanzieren. Wir alle wissen, welche Schwierigkeiten wir mit Modellen haben. Etwas läuft gut an, Kompetenzen werden angesammelt, und plötzlich bricht das alles weg, weil wir kein Geld mehr haben. Das muss hier verhindert werden. Meiner Ansicht nach haben sich alle in diesem Haus um gute Regelungen bemüht. Dafür danke ich allen. Es war ein konstruktiver Dialog aller, die hieran mitgearbeitet haben. Viele Regelungen betreffen nicht nur die Finanzierung all der Leistungen in der Jugendhilfe. Sie wissen, dass es im Moment ein Rumoren gibt – es gab schon mehrmals Anträge dazu –, die Mittel für die Maßnahmen zur Jugendhilfe zu streichen und einzudampfen. Das können wir uns nicht leisten. Aus diesem Grund muss die Finanzierung geklärt werden. Es liegen drei Entschließungsanträge und ein Antrag der SPD-Fraktion sowie ein Gesetzentwurf der Koalition vor. Wir werden uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten. Auch bei den Abstimmungen über die Entschließungsanträge der anderen Fraktionen werden wir uns enthalten und unseren Anträgen zustimmen. Das macht man üblicherweise so, wenn man einen eigenen Antrag eingebracht hat. Ich hoffe trotzdem, dass das, was wir heute beschließen, nicht in den Schubladen der Ämter endet, sondern dass alle, die daran beteiligt sind, sagen: Ja, wir haben etwas erreicht, auch ohne viel Geschrei und Aufmerksamkeit der Medien, so wie das zum Beispiel heute anlässlich des gestrigen EU-Gipfels der Fall ist. Natürlich ist der Euro wichtig. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Aber die Kinder auch!) Aber da gehen andere Themen unter. Wir müssen kontinuierlich dabeibleiben und sagen: Wir wollen in Deutschland dafür sorgen, dass es Kindern gut geht und Eltern die Möglichkeit haben, ihre Kinder gut aufzuziehen, sodass alle richtig stolz und froh sind. Danke schön. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Rupprecht. – Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Miriam Gruß. Bitte schön, Frau Kollegin Gruß. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Miriam Gruß (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann mich noch gut an den Frühsommer 2009 erinnern, als die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen gesagt hat: Wir brauchen ein neues Gesetz in Deutschland, und zwar ein Bundeskinderschutzgesetz. Wir waren damals in der Opposition. Als Oppositionspolitikerin sucht man immer Punkte, die man kritisieren kann. Aber einen Punkt konnte ich wirklich nicht kritisieren, nämlich den Namen des Gesetzes. Ich finde es richtig und gut und wichtig, dass wir ein deutsches Bundeskinderschutzgesetz haben. Wenn ein Gesetz einen richtig guten Namen trägt, dann ist es dieses Gesetz. Auch das, was wir hier hinbekommen haben, ist allen Lobes wert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich habe damals als Oppositionspolitikerin kritisiert, dass die Regelungen zur Intervention – Marlene Rupprecht hat es schon angesprochen – einen zu großen Raum eingenommen haben. Intervention ist zwar wichtig, aber man muss doch dafür Sorge tragen, dass es gar nicht erst so weit kommt, dass wir einschreiten müssen. Deswegen war mir damals ganz wichtig – wir hatten eine Anhörung dazu beantragt –, dass die Prävention einen breiten Raum einnimmt. Auch das hat jetzt Eingang in dieses Gesetz gefunden. Ich begrüße ganz besonders, dass Prävention und Intervention als wichtige Meilensteine in diesem Bundeskinderschutzgesetz verankert worden sind. Zur Prävention gehören Familienhebammen. Ich gebe dir recht, Marlene: Man hätte sich alles Mögliche überlegen können. Aber bei den Familienhebammen spielt die besondere Ausbildung, die Zusatzqualifikation und die Pädagogik, eine große Rolle. Deswegen begrüße ich es, dass wir die Regelungen zu den Familienhebammen ins Bundeskinderschutzgesetz aufgenommen haben und dieses Projekt für vier Jahre fördern. Ja, wir können nicht mehr als ein Modellprojekt machen. Die Ministerin hat es schon erwähnt – wir schreiben es in dieses Gesetz sogar hinein –, dass wir uns in vier Jahren explizit anschauen, inwieweit wir von Bundesseite das Modellprojekt weiter fördern können. Wir haben auch bei dem Programm der Mehrgenerationenhäuser erlebt, dass es dafür jetzt ein Folgeprogramm gibt. Ich wünsche mir sehr, dass eine Verstetigung im Zusammenhang mit dem Projekt der Familienhebammen möglich wird. Ich bin da sehr zuversichtlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Außerdem wurden – auch das ist schon angesprochen worden – Qualitätsstandards im Gesetz festgelegt. Auch das halte ich für wichtig. Kinder- und Jugendhilfe ist zwar eine kommunale Aufgabe, aber es darf keinen Unterschied machen, wo ein Kind in Deutschland lebt, ob in Flensburg oder in Garmisch-Partenkirchen; überall müssen die gleichen Standards gelten. Wir haben sie im Gesetz verankert. Auch das ist wichtig und richtig und gut so. Allerdings gibt es noch eine Sache, die ich zwar nicht kritisiert, aber doch hinterfragt habe. Wir müssen schon sehen, inwieweit dieses Gesetz angewandt wird und angewandt werden kann; denn wir kennen die Situation der Jugendämter. Sie sind personell und finanziell oftmals am Limit und oftmals auch überfordert. (Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir dürfen kein Gesetz schaffen – Marlene Rupprecht hat es angesprochen –, das in der Schublade landet, sondern unser Kinderschutzgesetz soll angewandt werden. Deswegen ist auch die Evaluation wichtig. Deswegen haben wir in den Änderungsantrag aufgenommen, dass wir evaluieren und uns anschauen, inwiefern das Gesetz vor Ort angewandt wird. Das finde ich wichtig und richtig. Bei einem solchen Gesetz – es ist das erste Gesetz dieser Art – müssen wir natürlich fragen, was funktioniert, was verbessert werden muss und wo wir Änderungen vornehmen müssen. Insgesamt ist mein Fazit: Ein Kinderschutzgesetz mit Regelungen zur Prävention, Intervention, Evaluation, zu Qualitätsstandards und zum Netzwerk Frühe Hilfen verdient allerhöchstes Lob. Es ist lange daran gearbeitet worden. Alle Verbände und Beteiligten im Kinderschutz haben ihre Zustimmung signalisiert. Deswegen ist es ein Meilenstein für einen besseren Kinderschutz in Deutschland. Ich hoffe, dass dieses Gesetz nicht im Bundesrat scheitert. Ich appelliere an die Opposition, das Bundeskinderschutzgesetz nicht an einer einzigen Stellschraube scheitern zu lassen, die wir im Grundsatz alle begrüßen, nämlich die Ausweitung der Hebammenleistungen auf den Einsatz von Familienhebammen. Lassen Sie diesen Gesetzentwurf, an dem wir so lange gearbeitet haben und zu dem es so viele Treffen gegeben hat, nicht scheitern. Es wäre schade für die Kinder und Familien in Deutschland. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Gruß. – Jetzt für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke unterstützt den Gesetzentwurf im Grundsatz. Wir begrüßen es, dass es ein Bundeskinderschutzgesetz geben wird, und freuen uns über die Beschlussfassung heute, weil wir finden, dass dies eine gute Grundlage ist, um auf dieser Basis den Kinderschutz in Deutschland weiterzuentwickeln. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Im Gegensatz zum ersten Entwurf – das ist schon gesagt worden – hat bei diesem Entwurf des Gesetzes die Fachwelt stärker Einfluss nehmen können. Die Vereine und Verbände sind viel früher mit einbezogen worden. Auch die Träger der Jugendhilfe vor Ort haben ihre Möglichkeiten genutzt, um sich in diesen Prozess einzubringen. Das zeigt auch die Anhörung zu diesem Thema, die von einer großen Sachlichkeit, einem guten Austausch der Argumente und – das muss ich an dieser Stelle sagen – von kritischen Fragen auch seitens der Regierungsfraktionen geprägt war. Einem Gesetzentwurf kann es nur guttun, wenn man den Experten auch richtig zuhört. In der Anhörung wurden aber auch Lücken und Schwachpunkte im Gesetzentwurf deutlich, bei denen man später ansetzen muss. Sie hätten vielleicht auch schon im Vorfeld geklärt werden können. Es ist bereits angesprochen worden: Der gesamte Bereich des SGB V ist komplett außen vor geblieben. Wir alle hätten uns gewünscht, dass es für die Familienhebammen eine Lösung im Bereich des SGB V gibt, sodass diese Leistung nicht auch noch aus dem Etat des Familienministeriums bestritten werden muss. (Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD]) In dieser Frage gab es anscheinend kein Miteinander der Ministerien. Das finde ich sehr schade. Meine Fraktion und ich finden, hier wäre eine Regelfinanzierung notwendig. Ich habe schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs gesagt: Wir wissen schon heute, dass der Bedarf auch in drei Jahren noch bestehen wird. Warum finden wir nicht schon heute eine Lösung, statt die Länder und Kommunen nach drei Jahren damit im Regen stehen zu lassen? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es haben auch schon genügend Modellprojekte in diesem Bereich stattgefunden. Diese kann man jetzt nutzen, um daraus erstens ein Berufsbild und zweitens Qualifikationsmöglichkeiten zu entwickeln, um auch Quereinsteigern den Einstieg in diesen Beruf zu ermöglichen. Das ist aber, wie gesagt, besser umzusetzen, wenn man eine Regelfinanzierung vorsieht, statt nur ein weiteres Modellprojekt anzuschieben. Ein weiterer Punkt betreffend den Gesundheitsbereich, der in dem Gesetzentwurf fehlt, ist der Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Kindern und ihrer sozialen Lage. In vielen Berichten, die wir im Bundestag schon behandelt haben, ist immer wieder festgestellt worden, dass arme Kinder ein höheres Gesundheitsrisiko tragen. Deshalb finde ich, dass der Gesetzentwurf zu kurz greift. Kinderschutz muss alle Lebenslagen der Kinder in den Blick nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Eine weitere Lücke im Gesetzentwurf neben dem Gesundheitsbereich betrifft die Frage, auf Kinder welchen Alters der Gesetzentwurf abzielt. Kinderschutz muss mehr umfassen als frühe Hilfen. Ältere Kinder und Jugendliche stehen aber leider nicht im Fokus des Gesetzentwurfs. Das kann damit zu tun haben, dass Jugendpolitik im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend seit Jahren nur eine Nebenrolle spielt. Wir brauchen aber auch für spätere Lebensphasen einen bestmöglichen Schutz für ältere Kinder und Jugendliche. Wir brauchen sichere und flächendeckende Angebote im Anschluss an frühe Hilfen. Dieser Bereich wird aber seit Jahren nur lückenhaft berücksichtigt und ist chronisch unterfinanziert. Hier brauchen wir Investitionen in Prävention. Das fehlt leider im Gesetzentwurf. (Beifall bei der LINKEN) Dritte Lücke. Der Gesetzentwurf koppelt den Anspruch auf Beratung für Kinder und Jugendliche an hohe – wie ich finde, zu hohe – Hürden. Es wird ein Rechtsanspruch in Not- und Konfliktsituationen unabhängig von den Eltern formuliert. Die Vertreterin der Jugendämter erklärte in der Anhörung – darauf habe ich bereits in der ersten Lesung hingewiesen –, der Begriff „Not- und Konfliktsituation“ werde in der Praxis weit ausgelegt. Das bedeutet, dass es im Ermessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter liegt, wie sie den Begriff auslegen und ob sie die Situation des Kindes als Not- und Krisensituation ansehen. Das ist aber kein wirklicher Rechtsanspruch. Er muss ohne Bedingungen formuliert sein und gehört auch ohne Bedingungen in ein Kinderschutzgesetz. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Da wir gerade bei Rechtsansprüchen sind, habe ich aus aktuellem Anlass eine große Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Ich möchte Sie bitten, sich nicht nur hier im Bundestag, sondern auch in den Bundesländern für eine Stärkung der Rechtsansprüche einzusetzen. Ich habe alarmierende Signale aus Bremen und Hamburg bekommen – mich haben Kolleginnen und Kollegen aus der Jugendhilfelandschaft, die mich schon lange kennen, angesprochen –, wonach es eine Initiative gibt, die Mittel zur Erfüllung des Anspruchs auf Hilfen zur Erziehung zulasten der Betroffenen zu kürzen bzw. regelrecht einzudampfen. Das darf nicht passieren. Hilfen zur Erziehung – genau um die geht es bei diesem Kürzungsanliegen – sind ein wichtiger Bestandteil des Kinderschutzes. Daher werden die Bestrebungen, die Mittel zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Hilfen zur Erziehung zu kürzen, von der Fachwelt mit Bestürzung und Besorgnis aufgenommen. Wer den Rechtsanspruch von Familien und Kindern infrage stellt, gefährdet den Kinderschutz. Es darf keinen Kinderschutz nach Kassenlage geben. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb bitte ich Sie, Ihren Einfluss zu nutzen und diese Initiative aufzuhalten. Vierte Lücke. Der Kinderschutz steht und fällt mit der personellen und strukturellen Lage aller Beteiligten vor Ort. Dazu macht dieses Gesetz aber keine Aussage. In der Anhörung gab es die Anregung, zu prüfen, ob eine Fallzahlbegrenzung in der Jugendhilfe – ähnlich wie im Vormundschaftsrecht – sinnvoll ist. Das heißt, dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Jugendamtes nur für eine bestimmte Anzahl von Fällen zuständig ist. Wenn nun – so sieht es das Gesetz vor; das finde ich richtig – Qualitätssicherung, Netzwerkarbeit und die Beratung von Einrichtungen als zusätzliche Aufgaben an die Jugendämter übertragen werden, dann brauchen sie mehr und gut geschultes Personal, um diese Aufgaben übernehmen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Das können die Kommunen nicht alleine stemmen. Bund, Länder und Kommunen müssen hier – das wird unsere Aufgabe sein – zu einer neuen Vereinbarung ihrer Finanzbeziehungen kommen. Ich komme zum Schluss. Trotz all dieser Mängel und Lücken sagen wir: Dieses Kinderschutzgesetz ist wichtig. Wir werden uns nicht dagegenstellen. Wir können dem Gesetzentwurf aber auch nicht zustimmen und werden uns daher enthalten. Es müssen weitere Schritte gegangen werden. Ich nenne als Stichworte ein Kinderförderungsgesetz und ein Kinderbeteiligungsgesetz. Vielleicht ist das ein Weg, um endlich die Rechte von Kindern auf Schutz, Förderung und Beteiligung im Grundgesetz zu verankern. Dann haben wir wirklich einen Meilenstein geschafft. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Ekin Deligöz. Bitte schön, Frau Kollegin Deligöz. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Ministerin, es ist richtig: Wir verabschieden heute einen Gesetzentwurf mit Licht und Schatten. Sie selbst waren bei der Anhörung dabei und haben hier betont, dass der Gesetzentwurf in der Fachwelt Anklang gefunden hat. Dass Sie nach den Erfahrungen von 2009 die Fachwelt in diesem Verfahren gleich von Anfang an einbezogen haben, war richtig. Aber die Fachwelt hat in der Anhörung auch Kritik geäußert. Da Sie zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr anwesend waren, haben Sie das nicht wahrgenommen. Deshalb möchte ich die Kritikpunkte hier noch einmal ansprechen. Sie können nicht so tun, als ob alle den Gesetzentwurf bedingungslos begrüßen würden. Selbst im Grunde positive Punkte haben leider Schattenseiten. Ich nenne Ihnen als Beispiel die Beratungsleistungen. Es ist gut, dass die Beratungsleistungen geändert werden, aber gleichzeitig haben die Betroffenen keinen Rechtsanspruch. Dies ist ein Kritikpunkt. Seien Sie doch in diesem Punkt mutig. Entweder wir finden die Beratungsleistungen richtig und wichtig – dann müssen wir den Rechtsanspruch gewährleisten –, oder wir finden sie vernachlässigenswert – dann sollten wir im Gesetz nicht die Möglichkeit einräumen. „Möglich“ allein reicht nicht; wenn sie notwendig sind, müssen sie auch in Anspruch genommen werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zum Qualitätsniveau der Kinderschutzarbeit. Das wird jetzt möglicherweise gesteigert. Dies ist ein sehr positiver Punkt, den auch ich unterstütze. Es muss zu einer Verpflichtung zum Qualitätsmanagement kommen. Aber wie wird das Ganze umgesetzt? Die Fachleute haben mehrfach betont, dass sie dafür Handreichungen brauchen und dass sich eine Begrenzung auf Kernbereiche der Jugendhilferabeit empfiehlt. Ich finde die Partizipations- und Beschwerdemöglichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Eltern gut. Aber wenn wir es ernst meinen, müssen wir auch in diesem Punkt einen Schritt weiter denken und über Ombudschaften diskutieren. Dann hätten wir tatsächlich eine Einrichtung, an die sich Kinder und Jugendliche auf ihrem Niveau vertrauensvoll wenden können. Das wäre ein Schritt, der tatsächlich ein Meilenstein wäre. Bis dahin reden wir über Schritte hin zu einem Meilenstein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Lösungen, die wir bei den Führungszeugnissen und der Befugnisnorm haben, sind gut. Es gab sehr emotionale Debatten, bei denen man lange Zeit nicht wusste, in welche Richtung es bei all dem Gerangel geht und was am Ende herauskommt. Wir haben das Ganze durch Verfahren gelöst, die in sich schlüssig sind. Letztendlich werden sich diese Verfahren in der Realität behaupten müssen. An sich ist aber ein ganz guter Kompromiss gefunden worden. Die größten Versäumnisse in dem Gesetz haben wir an zwei Punkten. Erstens: die Einbindung des Gesundheitswesens. Wir senden mit diesem Gesetz ein Signal nach außen, dass sich der Gesundheitsbereich unter anderem mit der Jugendhilfe vernetzt, diese zusammenarbeiten und sich untereinander austauschen. Gleichzeitig macht die Politik genau das Gegenteil. Ich vermisse leider immer noch Ihren Einsatz, in der Öffentlichkeit dem Gesundheitsminister zu sagen: Lieber Gesundheitsminister, Sie müssen sich mit mir an einen Tisch setzen. Kinderschutz gelingt nur, wenn wir gemeinsam agieren. – (Caren Marks [SPD]: Wohl wahr!) Stattdessen blieb es bei einer Streiterei. Sie machen nichts und sind ein bisschen beleidigt. Sie sind die Ministerin. Es ist Ihr Job, auch dann zu handeln, wenn es schwierig ist. Es ist Ihr Job, dann zu handeln, wenn sich einer Ihrer Kollegen weigert. Genau das ist der Auftrag einer Familienministerin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Zweitens: die Kostenschätzung. Es ist schwierig, abzuschätzen, wie viel es am Ende kostet. Es ist auch nicht einfach, herauszufinden, wie viel Personal man benötigt. Hier sind die Aussagen manchmal sehr unterschiedlich. Aber Sie hätten zumindest einmal versuchen müssen, ein transparentes Verfahren zu einer reellen Kostenschätzung vorzulegen. Ich denke, das hätte Ihnen den Schritt im Bundesrat um einiges erleichtert. Genau das haben wir alle in den vergangenen Reden angemahnt. Aber Sie haben davon Abstand genommen. Das ist die Schwäche. Sie sollten nicht so tun, als sei das alles zum Nulltarif zu bekommen. Wir wollen, dass sich etwas ändert. Wir wollen, dass sich mehr Menschen engagieren und sich die Kultur des Hinsehens ausbreitet. Dann müssen wir auch offen darüber reden, was wir dafür zu tun bereit sind und welche Strukturen wir dafür ändern müssen. Ein Gesetz allein wird nicht reichen. Das setzt sich bei dem Programm der Familienhebammen ein Stück weit fort. Es ist in der Sache richtig und wichtig, dass wir Familien in besonderen Lebenslagen ganz gezielt Hilfestellung geben. Dies ist übrigens etwas anderes, als eine bestehende Leistung für alle auszuweiten, wie Sie, Frau Rupprecht, es hier gefordert haben. Bei den Familienhebammen ist das Gießkannenprinzip fehl am Platz. Vielmehr geht es um Kinderschutz für Familien in besonderen Lagen. Hier geht es um ein Projekt, um Erkenntnisse zu gewinnen. So definieren sich nun einmal Bundesprojekte. Diese Erkenntnisgewinne haben wir bereits. Wir haben auch schon längst Projekte in den Bundesländern. Was wir brauchen, ist Nachhaltigkeit, Stetigkeit und Zuverlässigkeit. Genau das gewährleisten wir auch durch ein nochmaliges Projekt nicht. Ganz im Gegenteil: All die Leute, die sich engagieren, lassen wir im Regen stehen. Der Gesetzentwurf, den Sie hier einbringen, verschlimmbessert das Ganze; denn es ändert sich nichts an der Tatsache, dass hier alles außer einer konsequenten Kinderschutzpolitik, die den Hebammen den Rücken stärkt, gemacht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Bedauerlich ist, dass all die Dinge, die in der letzten Debatte und in der Anhörung angesprochen worden sind und die von der Fachwelt geäußert worden sind, relativ wenig berücksichtigt wurden. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Es hat sich doch vieles verändert und verbessert! Das ist doch gar nicht wahr, Frau Kollegin!) Das wird Ihre Verhandlungsposition im Bundesrat nicht verbessern. Ehrlich gesagt, finde ich es auch nicht hilfreich, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, dass jeder, der irgendeine Kritik am Gesetzentwurf übt, kein Interesse an Kinderschutz habe. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Hat sie so doch gar nicht gesagt! Sie haben nicht zugehört, Frau Kollegin! Wenn Sie sich jetzt verweigern, sorgen Sie dafür, dass sich das Ganze nach hinten entwickelt!) Die Ministerinnen, die sich jetzt dazu äußern – dazu zählt die SPD-Kollegin genauso wie die Kollegin aus Rheinland-Pfalz –, müssen am Ende geradestehen, damit das alles auch funktioniert. Sie müssen das umsetzen. Sie müssen es in ihren Ländern und bei ihren Kommunen durchsetzen, und sie müssen dafür sorgen, dass die im Gesetz verankerten Hilfeschutzleistungen bei den Kindern und Jugendlichen ankommen. Wenn Länder und Kommunen ein Interesse daran haben, dass dieses Vorhaben nicht nur Schall und Rauch ist, sondern auch tatsächlich machbar ist, dann ist das eine Unterstützung für diese Ministerinnen. Daher ist es ein Unrecht, wenn sich die Bundesministerin hier hinstellt und diese Ministerinnen einfach nur beschimpft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Das hat sie doch gar nicht getan!) – Aber natürlich. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Wer sich jetzt verweigert, der schiebt es raus!) Was an dieser Stelle wichtig wäre, ist, dass es uns tatsächlich gelingt, Frau Fischbach, vor Ende des Jahres zu einer Einigung zu kommen und dieses Gesetz zu verabschieden. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dann darf man es nicht verschieben! Das hat sie gesagt!) – Ja, das ist wichtig. Aber nicht in diesem Tonfall, sondern auf Augenhöhe! (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Gisela Piltz [FDP]: Ehrlich gesagt, dann ist Ihr Tonfall auch nicht besser!) Es hilft nicht, sich gegenseitig zu beschimpfen, Frau Fischbach. So kommen Sie nicht weiter. Aber jetzt hören Sie sich doch einmal den konstruktiven Vorschlag an; vielleicht gelingt es Ihnen ja noch, zuzuhören. Das eine ist, tatsächlich Angebote zu machen. Das andere ist: Das größte Defizit besteht immer noch bei der Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitsbereich und den für den Kinderschutz Verantwortlichen. Dort brauchen wir einen Runden Tisch der Ministerinnen und Minister auf Landes- und auf Bundesebene. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ein Runder Tisch nach dem anderen! So viele Runde Tische, wie wir schon hatten! Jetzt muss man handeln!) Das ist mein Vorschlag an Sie. Lassen Sie uns darangehen und gemeinsam dafür kämpfen, dass er umgesetzt wird. Das funktioniert aber nur, wenn Sie sich auch mit den Schwächen des Gesetzes auseinandersetzen und nicht so tun, als sei das alles schon gebongt und als sei jeder, der an der Umsetzbarkeit geringe Kritik übt, gegen Kinderschutz. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist so gar nicht gesagt worden!) Für Kinderschutz sind wir alle, und dafür stehen wir alle. Die einen wollen aber etwas machen. Sie wollen hier anscheinend nur Papier produzieren, und das wäre zu wenig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Da brauchte ich aber nicht zuzuhören! Da war nichts Neues!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Deligöz. – Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Dorothee Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Bär. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Deligöz, gestern im Ausschuss hat sich das Ganze von Ihnen wesentlich positiver angehört. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie haben nur nicht richtig hingehört!) Deswegen bin ich mir sicher, dass Sie im Grunde Ihres Herzens eigentlich dafür sind, dass wir dieses Bundeskinderschutzgesetz heute nach zweiter und dritter Lesung verabschieden. Was mir besonders gut gefällt: Wir haben heute den ganzen Tag ein sehr schönes Wort gehört – das haben wir gestern im Ausschuss schon gehört; heute in unterschiedlicher Tonlage eigentlich von allen Rednerinnen hier –: Meilenstein. (Michaela Noll [CDU/CSU]: „Meilenstein“, genau!) Ich bin mir ganz sicher, dass dies nicht jedes Mal der Fall ist – selbst bei uns nicht –, dass nicht jedes einzelne Gesetz ein absoluter Meilenstein ist; aber in diesem Fall ist es das wirklich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin sehr froh darüber, dass es uns nach so vielen Jahren – heute ist ein paarmal von eineinhalb Jahren gesprochen worden; die Kolleginnen und Kollegen wie die Kollegin Rupprecht, die schon länger in diesem Ausschuss tätig sind, wissen, dass dieses Vorhaben eigentlich einen Vorlauf von sechs Jahren hatte – möglich ist, diesen Gesetzentwurf heute zu verabschieden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was mich auch freut, ist, dass es gestern im Ausschuss keine einzige Gegenstimme gab. So wie ich es bis jetzt verstanden habe, wird es auch hier im Plenum keine einzige Gegenstimme geben. Natürlich wäre es mir lieber, wenn sich die drei Oppositionsfraktionen nicht nur enthalten, sondern auch zustimmen würden; das wäre wesentlich schöner. Aber es ist auf jeden Fall so, dass entweder unsere Kolleginnen und Kollegen heute zustimmen oder sich enthalten, weil sie denken, das sei für die Opposition wichtig. Ich möchte heute ganz besonders drei Punkte hervorheben, die für mich die Qualität dieses Gesetzes ausmachen. Das sind die vielzitierten Familienhebammen, die Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger und die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses für Tätigkeiten, die in einem engen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen stehen. Beginnen möchte ich mit den Familienhebammen, weil sie mir wirklich eine absolute Herzensangelegenheit sind. Wir stellen für diesen Bereich 120 Millionen Euro zur Verfügung. Man kann sich immer darüber streiten – das ist völlig richtig –, ob es nicht besser wäre, etwas fest im Haushalt zu haben. Natürlich wäre uns das lieber als so viel Projektförderung in diesem Land; ich denke, darüber sind wir uns einig. Ich bin trotzdem sehr dankbar für diese 120 Millionen Euro. Es ist wichtig, dass wir eines noch einmal klarmachen – ich habe manchmal das Gefühl, dass es von einigen in den Ländern nicht richtig verstanden wird –: Es gibt einen sehr großen Unterschied zu normalen Hebammen. Die Familienhebammen haben eine ganz besondere Ausbildung. Sie sollen in die sogenannten Risikofamilien hineingehen und frühzeitig dabei sein. Im Idealfall begleiten sie schon vor der Geburt, während der Geburt und sofort im Anschluss daran; denn dann wissen sie, was die Besonderheiten in der Familie sind. Von daher muss die Frequenz eine andere sein. Der Auftrag ist ein anderer. Natürlich sind auch Art und Inhalte der Tätigkeiten verschieden. Dabei geht es um das Hinhören – das haben wir hier im Plenum schon oft besprochen –, aber auch darum, wirklich Hilfestellung zu leisten, wenn eine Überforderung da ist. Jeder, der mit kleinen Kindern zu tun hat, weiß, dass die ersten Monate meist noch relativ unkritisch sind; denn wenn ein Kind von 24 Stunden 22 Stunden schläft, dann ist eine Überforderung nicht in dem Maße gegeben wie dann, wenn sich diese Schlafphase reduziert und mehr Bewegung da ist. Auch dann müssen Familienhebammen noch zur Verfügung stehen und Hilfestellung leisten können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Familienhebammen müssen proaktiv arbeiten können, weil sie auch Türöffner zum Hilfesystem sind; sie haben eine Brückenfunktion inne. Hebammen und besonders Familienhebammen haben etwas, was viele andere nicht haben, nämlich das Vertrauen der Familien. Die Familien wissen, dass diese Hebammen fast ein Teil der Familie und ein guter Ansprechpartner sind. Nichts anderes hat die Ministerin gesagt, auch nicht in einem falschen Tonfall, Frau Deligöz. Das ärgert mich jetzt schon ein bisschen. Zu den Einwänden der Länder, beispielsweise den Kosteneinwänden, die darauf zielen, dass länger durch normale Hebammen betreut werden soll, sagen wir: Das ist für uns keine Alternative, weil die Familienhebammen eine ganz besondere Schulung haben, weil sie anders mit den Dingen umgehen und weil sie anders auf Problemstellungen reagieren können als normale Hebammen. Das wurde auch in unserer Anhörung zum Bundeskinderschutzgesetz deutlich. Die Familienhebammen sind eine wirkliche Hilfe. Deswegen ist eine ganz besondere Qualifikation nötig. Darüber dass der Kinderschutz Geld kostet und nicht zum Nulltarif zu haben ist, sind wir uns alle einig. Deswegen appelliere ich hier noch einmal an die Länder, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir erlauben im Kinderschutzgesetz Ärztinnen und Ärzten, die Schweigepflicht zu durchbrechen, wenn es Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung gibt, sodass es in Zukunft leichter möglich sein wird, die Jugendämter zu informieren. Das ist in den einzelnen Bundesländern bislang sehr unterschiedlich geregelt, und zwar so unterschiedlich, dass viele Kinderärztinnen und Kinderärzte sehr unsicher sind in der Frage, was sie weitergeben dürfen. Insofern wollen wir Sicherheit schaffen und erreichen, dass sie Konsequenzen im Sinne beruflicher Nachteile nicht fürchten müssen. Deswegen war es uns sehr wichtig, eine solche Grundlage zu schaffen. Es ist wichtig, dass gerade Kinderärzte, Psychologen und Sozialarbeiter, die die Anzeichen von Misshandlung und Verwahrlosung als Erste zu sehen bekommen, eine – ich nenne es jetzt einmal so – schnelle Eingreiftruppe sein können und wirklich sofort, unmittelbar handeln können. Zum erweiterten Führungszeugnis wird meine Kollegin Michaela Noll sicherlich noch etwas sagen. Wir haben lange darüber diskutiert, wie das bei ehrenamtlich und hauptamtlich Tätigen zu sehen ist. Da gibt es natürlich Für und Wider. Trotzdem ist es so, wie wir es jetzt regeln wollen, sehr gut. Ich möchte abschließend noch etwas sagen, weil ich keine falschen Erwartungen wecken will; am Anfang wurde ja auf die Schicksale von Jessica, Kevin und Lea-Sophie hingewiesen. Einen absoluten Schutz wird es natürlich nicht geben. Mit keinem Gesetz der Welt werden wir gewährleisten können, dass nie mehr ein Kind in unserem Land eine Misshandlung erfährt. Aber es wird vieles vermieden werden können. Wenn alle, die mit unseren Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wachsam sind, wenn sie hinschauen und nicht wegschauen, wird sich auf jeden Fall sehr viel ändern. Deswegen bin ich froh darüber, dass es nach dieser langen Odyssee heute zu einem guten Ende kommt. Ich würde mich außerordentlich freuen, wenn diejenigen, die jetzt sagen: „Ich bin zwar nicht dagegen, aber ich werde mich enthalten“, sich noch einen Ruck geben könnten, sodass wir heute mit einer sehr breiten Mehrheit des Hauses Ja zu Kindern und Ja zum Kinderschutz sagen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Bär. – Als nächste Rednerin spricht nun für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Caren Marks. – Bitte schön, Frau Kollegin Marks. Caren Marks (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bär, dieser Ruck wird für die Zustimmung nicht ausreichen; dafür – das werde ich gleich noch im Detail ausführen – hätte der Gesetzentwurf an einigen Punkten noch ein wenig besser sein müssen. In den Reden zuvor wurde bereits mehrfach betont, dass der vorliegende Gesetzentwurf zum Kinderschutz gute Ansätze enthält. Dies ist auch der engagierten Arbeit der Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion, Marlene Rupprecht, zu verdanken. Vielen Dank! (Beifall bei der SPD) Ein gelingender Schutz von Kindern und Jugendlichen muss möglichst früh ansetzen, am besten schon vor der Geburt. Auch das wurde hier heute schon mehrfach betont. Es geht darum, das Vertrauen der Familien zu gewinnen, ihnen Hilfen anzubieten und sie bei Bedarf zu unterstützen. Das Schlüsselwort bei alldem ist: Vernetzung. So müssen verschiedene Fachkräfte – beispielsweise Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendhilfe, Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Familienrichter – zum Schutz des Kindeswohls zusammenarbeiten. Dadurch wird es besser gelingen, Eltern stark zu machen, ihre Kinder gut zu erziehen, sie zu fördern und sie durchs Leben zu begleiten. Ich denke, das wollen wir alle gemeinsam. Die meisten Eltern wollen, dass ihre Kinder gut und gesund aufwachsen. Jede Mutter und jeder Vater kann aber irgendwann einmal in Situationen geraten, in denen sie bzw. er Rat und Unterstützung braucht, wenn es um die Erziehung und die Begleitung des Kindes geht. Dazu braucht es Angebote mit qualifizierten Ansprechpartnern. Die Arbeit der Stadtteilmütter ist ein gutes Beispiel, das man auch einmal erwähnen sollte. Der Entwurf des Kinderschutzgesetzes enthält Ansätze zur Stärkung von Anlaufstellen und von Hilfenetzwerken. Ich sage aber auch ganz deutlich: Kinderschutz ist nicht nur eine Frage von Gesetzen. Einen guten Kinderschutz gibt es nicht zum Nulltarif. (Beifall bei der SPD) Meine Kolleginnen und Kollegen, die neuen Regelungen müssen vor allem in den Kommunen und dort von den Jugendämtern und den freien Trägern umgesetzt werden. Diese müssen finanziell dazu in der Lage sein, genügend Personal vorzuhalten und die Fachkräfte entsprechend aus- und weiterzubilden. Wir haben schon oft im Ausschuss darüber diskutiert, dass die Realität in den Kommunen häufig ganz anders aussieht. Die Fachkräfte in der Jugendhilfe, die eine engagierte Arbeit leisten, stehen häufig unter Zeit- und gleichermaßen unter Kostendruck. Deswegen ist die Frage der Finanzierung so wichtig. Es gibt eine öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen unserer Kinder. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert von der Bundesregierung verlässliche Lösungen ein. Was tut diese Bundesregierung aber stattdessen? Sie verkündet erneut Steuersenkungen zum Jahresanfang 2013. Diese unsägliche Aktion wird die Länder und Kommunen weiter finanziell in die Enge treiben. Noch schlimmer: Steuersenkungen konterkarieren auch das Bemühen um einen guten Kinderschutz vor Ort. Darum muss dieses Thema unweigerlich im Zusammenhang mit der Frage diskutiert werden, wie es gelingen kann, ein Gesetz, das gute Ansätze enthält, vor Ort umzusetzen und mit Leben zu erfüllen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich frage Sie, Frau Ministerin Schröder: Warum haben wir von Ihnen nicht einen Satz gehört, in dem Sie sich deutlich gegen diesen Unsinn aussprechen? Bis zum 6. November – dann will die Bundesregierung gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Union eine Entscheidung fällen – haben Sie Zeit, Ihr Veto gegen Steuersenkungen einzulegen. Frau Ministerin, Sie müssten doch ein Interesse daran haben, dass das Kinderschutzgesetz vor Ort gut umgesetzt werden kann. Nehmen Sie endlich Ihre Rolle als Familienministerin ernst, und kämpfen Sie für den Kinderschutz und für eine Stärkung der Kommunen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Finanzierung krankt dieser Gesetzentwurf daran, dass Sie den Gesundheitsbereich nicht einbezogen haben. Dies lag auch daran, dass sich der Bundesgesundheitsminister während der gesamten Verhandlungen weggeduckt hat. Er hat sich verweigert und keinerlei Vorschläge gemacht, wie die Kooperation des Gesundheitswesens mit der Jugendhilfe verbessert werden kann. In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass beispielsweise Ärztinnen und Ärzte wenig über die Jugendhilfe wissen und selten die Anlaufstellen für Familien vor Ort benennen können. Oft sind sie nicht ausreichend geschult, um eine Kindesvernachlässigung oder einen Kindesmissbrauch zu erkennen. Der gute Wille ist natürlich vorhanden; das alleine reicht aber nicht aus. Von der Wissenschaft, aber auch von den Fachverbänden wird zu Recht angemahnt, die Gesundheitsförderung und die Prävention zu stärken. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben hierzu ein konkretes Konzept vorgelegt. Wir fordern ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz, das im direkten Lebensumfeld von Familien ansetzt und alle Akteure an einen Tisch holt. Gesundheitsförderung und Prävention müssen in der Familie, in den Kitas und in den Schulen ansetzen. Nur so kann das Vorhaben wirklich gelingen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Frage ist: Warum verweigern sich Union und FDP hartnäckig einem solchen Gesetz, das den Kinderschutz unterstützen würde? (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die weigern sich bei allen Gesetzen!) Noch einmal zurück zum Entwurf des Kinderschutzgesetzes: Es ist notwendig, die Rolle der Hebammen zu stärken. Sie begleiten die Mütter von Anfang an. Ihre Unterstützung wirkt präventiv und gesundheitsfördernd, sowohl für das Neugeborene als auch für die Eltern. Es gibt ein gutes Modellprojekt in Bayern und Rheinland-Pfalz. In diesem Modellprojekt wird zurzeit die Ausweitung der Hebammenleistungen auf den Zeitraum von sechs Monaten erfolgreich erprobt. Junge Familien können so besser unterstützt werden. Aber es ist eben nur ein Modellprojekt. Warum hat Bundesminister Bahr auch hier eine vernünftige Regelung blockiert? Eine solche Regelung würde die Familien stärken und so die Kinder besser schützen. Ich finde, diese Blockade ist mehr als bedauerlich. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Was ist das für ein Signal, wenn ein Kinderschutzgesetz verabschiedet und gleichzeitig der Mittelansatz im Haushalt für die Förderung der Kindergesundheit halbiert und die Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung drastisch gekürzt werden? (Dagmar Ziegler [SPD]: Skandalös! – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ein Skandal!) – Das ist in der Tat ein Skandal. Die SPD-Bundestagsfraktion erkennt Ihr Bemühen um einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen an. Der Gesetzentwurf geht zweifellos in die richtige Richtung. Aber bleiben Sie beim Kinderschutz nicht auf halber Strecke stehen. Deswegen appelliere ich an die Bundesregierung: Fallen Sie den Ländern und Kommunen nicht mit weiteren Steuersenkungsplänen in den Rücken! Auch das würde die Kinder in unserem Land stärken. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Marks. – Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Sibylle Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sibylle Laurischk (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Schröder! Mit dem Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes realisieren wir heute ein wichtiges Anliegen der Koalition: die umfassende Verbesserung des Kinderschutzes in Deutschland. Damit der Kinderschutz nicht dem Zufall überlassen bleibt, ist es wichtig, dass die Verantwortlichen miteinander kooperieren. Hier knüpft der Gesetzentwurf an. Das Kinderschutzgesetz wird dafür sorgen, dass eine ungute Praxis, die bisher üblich war, endlich beendet wird: das sogenannte Jugendamt-Hopping. Familien, die bei einem Jugendamt in irgendeiner Form auffällig wurden, weil sich die Kinder in einer unguten Lebenssituation befanden, haben sich bislang häufig entzogen, indem sie ihren Wohnsitz gewechselt haben. Ein anderes Jugendamt weiß dann zunächst nicht Bescheid. Das war in der Vergangenheit sehr misslich und für die betroffenen Kinder zusätzlich schwierig. Jetzt wandern die Akten mit. Die Jugendämter informieren sich untereinander. Ein Ausweichen der Familien ist also nicht mehr möglich; bestehende Hilfsangebote und andere vernetzte Maßnahmen können die Familien aber weiterhin erreichen, und den Kindern kann geholfen werden. Dieses Netzwerk zwischen Leistungsträgern und Institutionen muss weiter ausgebaut werden. Hier ist uns auch ein anderer Gesichtspunkt wichtig: Wenn Ärzte, Psychologen, Hebammen, Sozialarbeiter, Lehrer und Jugendämter kooperieren wollen und können, ist es wichtig, dass die Berufsgeheimnisträger, nämlich die Kinderärzte, einen sicheren Maßstab erhalten, inwieweit sie Informationen zu erkannten Problemlagen weitergeben können. Bislang waren die Ärzte in einzelnen Ländern schon berechtigt, Informationen weiterzugeben. Es ist aber nach unserem Dafürhalten dringend notwendig, dass hier eine bundesgesetzliche Regelung Handlungssicherheit für die Ärzte schafft. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz ist nun klar, dass die Ärzte in besonders schwierigen Situationen, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten ist, handeln dürfen. Nach unserem Dafürhalten ist die Situation bei den Suchtberatungsstellen ein weiterer Gesichtspunkt, der zeigt, dass bisher die Vernetzung im Rahmen eines Bundeskinderschutzgesetzes fehlte. Auch die Suchtberatungsstellen sind jetzt Anlaufstellen in dem Netzwerk, das wir uns wünschen, um die Prävention zu stärken. Gerade in Familien, in denen eine Suchtproblematik besteht, sind die Kinder besonders gefährdet; Frau Ministerin hat vorhin ein schlimmes Beispiel angeführt. Hier setzen wir klare Zeichen, damit die Vernetzung eine gute Entwicklung bringt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gleiches gilt für die Hilfestellung sowie die Ausweitung und Stärkung des Beratungssystems für Kinder, die von sexuellem Missbrauch und Misshandlung betroffen sind. Hier brauchen wir einen Anspruch auf Beratung für Kinder in Not- und Konfliktlagen; er wird in § 8 Abs. 3 des Achten Buches Sozialgesetzbuch aufgenommen. Ich denke, dass Kinder, die in einer solchen Situation irgendeine Form von Beratung brauchen, in einer Not- und Konfliktlage sind. Insofern haben sie nach meinem Dafürhalten ganz eindeutig einen Rechtsanspruch auf Beratung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir Liberale haben in diesem Zusammenhang dafür gesorgt, dass das erweiterte Führungszeugnis – ein wichtiges Thema – nicht zu einer bürokratischen Belastung für Vereine wird. Insofern erkennt man hier unsere Handschrift: Wir nehmen das Thema ernst, wollen aber das Handeln der Vereine in Zukunft nicht durch eine Überbürokratisierung belasten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein weiterer Stichpunkt sind die Pflegefamilien. Da haben wir beim Vorschlag des Ministeriums gegengesteuert. Das Ministerium wollte hinsichtlich der Jugendämter eine Sonderzuständigkeit für Dauerpflegeverhältnisse schaffen. Da das nicht unserem kindzentrierten Ansatz entspricht, haben wir es bei der bisherigen Regelung belassen. Mit all diesen Regelungen schaffen wir die Möglichkeit einer neuen, vernetzten Vorgehensweise in der Jugendhilfe, wie wir sie uns zum Schutz der Kinder wünschen. Wir werden im Rahmen der Evaluation, die gesetzlich vorgesehen ist, prüfen, wie sich dieses Gesetz in der Anwendung bewährt. Ich denke, wir sind im Interesse unserer Kinder beim Schutz unserer Kinder auf einem guten Weg. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Laurischk. – Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Michaela Noll. Bitte schön, Frau Kollegin Michaela Noll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Michaela Noll (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, an dieser Stelle einfach einmal Danke zu sagen, auch in Richtung der Ministerin. Sie waren diejenige, die das Vorhaben anderthalb Jahre lang vorangetrieben hat. Sie waren auch diejenige, die einen wesentlichen Teil dazu beigetragen hat, dass in diesem Gesetz nicht nur der Interventionsgedanke verfolgt wird, sondern Prävention einen wirklich großen Stellenwert hat. Ich möchte auch meinen Kolleginnen danken, unter anderem Marlene Rupprecht. Marlene, wir haben das Gesetz nach sechs Jahren mehr oder weniger auf den Weg gebracht. Ich kann wirklich sagen, was schon von vielen gesagt worden ist: Das Gesetz ist ein Meilenstein für mehr Kinderschutz in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Die Tage und Nächte, in denen wir uns mit dem Thema beschäftigt haben, und die Anhörungen haben sich gelohnt. Es wurde von allen Experten begrüßt, dass es uns gelungen ist, in der Sache zu diskutieren und alle Akteure rechtzeitig, von Anfang an, mit einzubeziehen; alle saßen mit am Tisch. Auch das war beim letzten Mal so nicht der Fall. Deswegen haben sich die Experten in der Anhörung einheitlich dafür bedankt, dass sie eingebunden wurden. Das hat auch zu einer deutlichen Verbesserung des Entwurfs beigetragen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, was die Ministerin eben schon festgestellt hat: 96 Prozent der Kinder in Deutschland werden in einem liebevollen Elternhaus groß. Unsere Aufgabe ist es, uns um die Kinder, die diese Chance nicht haben, die auf der Schattenseite stehen – Marlene Rupprecht hat es gesagt; das ist unser Wächteramt –, zu kümmern. Aber das ist nicht nur die Pflicht der Politiker, sondern das ist meiner Meinung nach die Pflicht der ganzen Gesellschaft. Egal, wer es ist: Wer Kindeswohlgefährdung wahrnimmt, der muss handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Manchmal wird kritisch angemerkt, dass Menschen in finanziellen Nöten – so sage ich es einmal – eher dazu neigen, zu Risikofamilien zu werden. Das ist meiner Meinung nach völlig falsch. Es gibt sehr viele Eltern mit einem sehr begrenzten Budget, die ihren Kindern all ihre Liebe geben und sie entsprechend großziehen. Das Problem ist nicht der finanzielle Hintergrund, sondern eher eine emotionale Armut. Denn diese Eltern haben oftmals selbst nie soziale oder emotionale Bindungen in ihren Elternhäusern kennengelernt. Deswegen sollten wir dort rechtzeitig einschreiten. Ich möchte Ihnen nicht noch einmal das Ausmaß der Qualen schildern. Viele von Ihnen konnten die entsprechende Presse über Jahre verfolgen; die Namen der Kinder und ihre traurigen Schicksale wurden bereits genannt. Ich empfehle nur den Artikel „Die feindlichen Eltern“ aus Zeit online, in dem Hintergrundinformationen über die kleine Karolina gegeben wurden. Jeder, der solche Berichte gelesen hat, kann die Namen und Schicksale dieser Kinder nicht vergessen. Deswegen ist es richtig, dass wir dieses Gesetz jetzt auf den Weg bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für diejenigen, die heute vielleicht das erste Mal die Gelegenheit haben, es zu hören: Wir haben in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Das ist von vielen Kollegen angesprochen worden. Ich glaube, Familienhebammen sind die richtige Basis, um Vertrauen zu schaffen, auch für Familien, die am Anfang vielleicht verunsichert sind, weil sie eben nicht wissen, wie sie mit einem kleinen Säugling umgehen sollen. Wir haben davon gesprochen: Unsere Gesellschaft ist eine kinderentwöhnte Gesellschaft. Viele haben keine kurzen Wege zu den Eltern, um sie um Hilfe zu bitten; auch in der Nachbarschaft ist nicht unbedingt immer Hilfe vorhanden. Wenn also die Familienhebammen den Familien als tatkräftige Lotsen helfen, den Alltag zu bewerkstelligen, dann haben diese Kinder größere Chancen. Wir haben uns auch beim Thema der Hausbesuche bewegt. Ich bin sehr dankbar, dass wir jetzt einen anderen Weg gehen als 2009, dass die Jugendämter entscheiden, ob es sinnvoll ist, in die Familie zu gehen. Wir haben über die Schweigepflicht gesprochen. Kollegin Deligöz hatte damals angeregt, eine einheitliche Befugnisnorm vorzusehen. Dabei ist es geblieben. Das gibt auch den Ärzten die notwendige Sicherheit. Kollegin Laurischk hat vom Jugendamt-Hopping gesprochen. Auch dieses Thema ist wichtig; denn wir wissen aus den Erfahrungen, dass Risikofamilien dazu neigen, öfter umzuziehen. Sehr gut finde ich auch, dass für werdende Eltern bereits während der Schwangerschaft die Möglichkeit zur Beratung vorgesehen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben noch etwas Neues auf den Weg gebracht – eben wurde zwar etwas kritisch angemerkt, dass das kein Rechtsanspruch ist; aber ich halte es trotzdem für wesentlich –, und zwar haben die Kinder selber jetzt einen Anspruch auf Beratung. Das heißt, nicht mehr Dritte reden über die Kinder, sondern die Kinder können sich selbst einbringen. Es gibt in diesem Bereich also eine ganz andere Wahrnehmung. Kollegin Laurischk hat eben auch die Pflegekinder angesprochen; um sie geht es in § 86 Abs. 6 SGB VIII. Das sind ja gerade die Kinder, die schon auf der Schattenseite stehen; denn sonst wären sie nicht aus ihrer Familie herausgenommen worden. Wir haben bedauerlicherweise auch in diesem Bereich einen Anstieg der Zahlen der Kinder, die aus ihren Familien herausgenommen wurden. Wir müssen besonders darauf achten, dass diese Kinder nicht erneut in eine schwierige Situation kommen. Deswegen halte ich den Weg, auf den wir uns jetzt geeinigt haben – die Sonderzuständigkeit wird nicht gestrichen –, für richtig. Wir werden eine Evaluation durchführen und prüfen, was sich in der Praxis wirklich bewährt. Dann entscheiden wir kurzfristig, wo Änderungen notwendig sind. Ich halte das in diesem Fall für den besseren Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dann hatten wir über das erweiterte Führungszeugnis gesprochen. Das war oft in der Diskussion, Stichwort „Sportvereine“. Ich habe mich einfach einmal auf den Weg gemacht und mit den Praktikern vor Ort bei mir im Wahlkreis gesprochen. Ich nenne nur einmal die Stadt Hilden, wo Sportvereine eine freiwillige Kinderschutzvereinbarung unterzeichnet haben. Der Landessportbund NRW war an diesem Tag vor Ort. Ich habe die Schirmherrschaft übernommen und einfach nur darum gebeten, diese Vereinbarung als Muster für andere Kommunen zu nehmen. Es gibt doch nichts Einfacheres, als etwas Gutes, das bereits auf den Weg gebracht wurde, zu kopieren und weiterzugeben. Ich hoffe also, dass auch andere Vereine diesen Weg einschlagen werden. Heute ist wirklich ein guter Tag; sechs Jahre Arbeit haben sich gelohnt. Ich bereue nicht eines davon. Wenn wir die Kultur des Miteinanders, des Dialoges, so wie wir ihn geführt haben, zielorientiert weiterführen, dann haben wir, glaube ich, eine gute Legislaturperiode. Eines möchte ich noch bemerken: Nicht nur Politiker haben die Pflicht, mutig zu sein und einzuschreiten, wenn sie Kindeswohlgefährdung feststellen. Diese Pflicht gilt für jeden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Noll. Auf meiner Rednerliste findet sich nun niemand mehr, sodass ich die Aussprache schließe. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6256 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Das sind die Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Das sind die Oppositionsfraktionen. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Ebenfalls unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/7529. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten, Bünd-nis 90/Die Grünen und Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7530. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7531. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/7522 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7522 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/498 mit dem Titel „Kinderschutz wirksam verbessern: Prävention im Kinderschutz optimieren – Förderung und Frühe Hilfen für Eltern und Kinder stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten sowie die Linksfraktion. Enthaltung? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe Tageordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Soziale Sicherung als Motor solidarischer und nachhaltiger Entwicklungspolitik – Drucksache 17/7358 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie alle damit einverstanden? – Dann ist das auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin rufe ich für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Karin Roth auf. Bitte schön, Frau Kollegin Roth, Sie haben das Wort. (Beifall bei der SPD) Karin Roth (Esslingen) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit … So steht es in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948. Heute, 63 Jahre später, leben trotz dieser wichtigen internationalen Vereinbarung immer noch rund 80 Prozent der Weltbevölkerung ohne jeglichen Schutz vor elementaren Lebensrisiken. Ohne einen sozialen Schutz können Familien durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter oder Tod eines Ernährers oder einer Ernährerin in kürzester Zeit in unvorstellbare Armut gestürzt werden. Frauen in Entwicklungsländern, aber auch Kinder trifft das besonders hart. Weltweit verarmen jedes Jahr rund 100 Millionen Menschen, weil sie die Kosten für Medikamente oder eine andere Gesundheitsbehandlung aus eigener Tasche direkt bezahlen müssen. Das ist nicht nur in Entwicklungsländern der Fall, sondern leider auch – immer noch – in den USA. Das ist ein Teufelskreis. Diesen zu durchbrechen, ist Aufgabe der Politik in den Ländern selbst – mit Unterstützung internationaler Geber und der internationalen Institutionen. Politik, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft und Wirtschaft sind sich, von wenigen neoliberalen Vertretern abgesehen, einig: Der Aufbau von sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern ist ein zentraler Schlüssel zur effektiven Bekämpfung der Armut. Auf dem Millenniumsgipfel vor gut einem Jahr in New York haben die Staats- und Regierungschefs deshalb beschlossen, den Zugang zu sozialen Diensten für alle zu fördern. Wenn man bedenkt, dass dieses Ziel schrittweise umgesetzt werden muss, wird klar, dass dies eine Herkulesaufgabe ist. Ich erinnere an die Finanzmittel und die Strukturen, die notwendig sind, aber auch an die Qualifizierung der Menschen, die in diesen Systemen arbeiten sollen. 90 Prozent der Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern arbeiten im informellen Sektor. Das heißt, sie haben ungeregelte Arbeitsverhältnisse. Viele von ihnen sind auf sich selbst gestellt. Genau das ist das Problem. Um diese Menschen aus der Armut herausholen zu können, müssen ein soziales Sicherungssystem aufgebaut und ein diskriminierungsfreier Zugang zu einem sozialen Basisschutz gewährleistet werden. Das ist unbedingt notwendig. Soziale Sicherung in Entwicklungsländern sollte daher integraler Bestandteil unserer Entwicklungspolitik sein. (Beifall der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) Warum ist soziale Sicherung für die Entwicklung substanziell? Wer alles verliert, was er oder sie aufgebaut hat, weil ein Kind oder er oder sie krank ist, ist nicht in der Lage, zu investieren, um die Existenzgrundlage für sich und die Familie zu verbessern. Nur wer eine Mindestabsicherung hat, kann Lebensrisiken vermeiden, Neues wagen, investieren und produktiv sein. Soziale Sicherung ist also eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität. Soziale Sicherung ist also notwendig. Dabei geht es uns nicht um Wachstum um jeden Preis. Es geht um ein nachhaltiges und qualitatives Wachstum. Vor allen Dingen geht es um die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards. Entscheidend ist, dass die jeweiligen Sicherungssysteme einen universellen Basisschutz vorsehen – das ist die Grundlage –, dass dieser für alle Bevölkerungsgruppen, aber vor allen Dingen für die Ärmsten zugänglich wird. Im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelten deshalb die Internationale Arbeitsorganisation und die Weltgesundheitsorganisation das Konzept des sogenannten Social Protection Floors. Dessen sozialer Basisschutz erreicht alle Bevölkerungsgruppen und deckt vier wesentliche Bereiche sozialer Sicherung ab. Erstens. Garantierte Mindestgesundheitsversorgung für alle, um die ruinösen Direktzahlungen zu verhindern. Zweitens. Mindesteinkommensgarantien für Kinder, um die millionenfache Kinderarbeit zu reduzieren und letztlich zu beseitigen. Drittens. Unterstützung für Arme und Arbeitslose. Viertens. Mindesteinkommensgarantien für alte Menschen und für Menschen mit Behinderungen. Auch das muss mehr in den Fokus unserer Betrachtung rücken. Im Juni dieses Jahres anlässlich der 100. Sitzung der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf wurde diese Strategie ausdrücklich von allen Staaten, von Arbeitgebern und von Gewerkschaften akzeptiert; das heißt, sie hat ein gutes und breites Fundament. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es ist keine Blaupause für alle, sondern ermöglicht es den einzelnen Ländern, nach ihren Interessen Systeme und Projekte zu entwickeln, die jeweils ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext angepasst sind. Genau das wollen wir: Partnerschaft auf Augenhöhe. Auch die Frage der Konditionierung von Leistungen bleibt diesen Ländern überlassen. Es bleibt die Frage: Wie wird dieses gute Vorhaben finanziert? Die SPD-Bundestagsfraktion setzt hier auf das Grundprinzip von Solidarität. Zur nachhaltigen Finanzierung der Leistungen im Rahmen des Social Protection Floors bedarf es aus unserer Sicht kurz- und mittelfristig einer Mischung aus nationalem Steueraufkommen, Beitragsaufkommen und der finanziellen Unterstützung internationaler Geber wie zum Beispiel der Weltbank, des IWF oder auch der ILO. Dabei kann seitens der Geber nicht nur allgemeine, sondern aus meiner Sicht auch sektorale Budgethilfe zum Aufbau effizienter und transparenter Strukturen gewährt werden, um eine wertvolle Unterstützung zu leisten. Ziel muss es sein, neue zusätzliche nationale Steuereinnahmen zu erschließen und gemäß dem Solidarprinzip, nach dem Besserverdienende einen höheren Beitrag zahlen müssen als diejenigen, die gar nichts haben, Verteilungsgerechtigkeit zu organisieren. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insofern wird über den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen nicht nur dem Einzelnen geholfen, was ja wichtig ist, sondern gleichzeitig auch die Verantwortung der Staaten und ihrer Regierungen für die Bevölkerung gefördert. Die Akzeptanz eines solchen Systems setzt Transparenz und Rechenschaftspflicht über die Verwendung von Mitteln voraus. Letztendlich sollen dadurch auch gute Regierungsführung unterstützt und Korruption bekämpft werden. Das alles sind Dinge, die wir gemeinsam wollen. Dem Aufbau eines sozialen Basisschutzes im Gesundheitsbereich kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Er muss aus meiner Sicht gut organisiert werden; denn das Menschenrecht auf Gesundheit ist ein öffentliches Gut. Nur so kommen wir in diesem Bereich weiter. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jeder Staat hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem Einkommen auf eine gute medizinische Versorgung verlassen können. Das heißt eben auch, dass die Finanzierung der Gesundheitsstrukturen Teil der staatlichen Daseinsvorsorge ist und nicht an Stiftungen und andere delegiert werden kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Zusammenhang mit dem Social Protection Floor bietet sich jetzt die Gelegenheit, gemeinsam voranzukommen. Die Weltbank arbeitet gerade an einer Strategie. Auch die Europäische Union ist zurzeit dabei, genau dieses Projekt zu unterstützen. Leider hat unser Bundesminister Niebel noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt; vielleicht passiert dies noch. (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das glaube ich nicht!) Wir wollen, dass er sich zumindest für die Umsetzung dieser internationalen Strategien einsetzt. Wie anders ist es zu erklären, dass der Minister auch in diesem Jahr verweigert, die soziale Sicherung als thematische Zielgröße im Haushalt wieder einzuführen, so wie es zum Beispiel 2009 war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Eine Unterstützung für den Aufbau notwendiger Strukturen ist hier leider nicht zu sehen. In der nächsten Woche findet in Cannes der G-20-Gipfel statt. Auch hier soll das Thema Soziale Sicherung ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Man höre und staune, auch der französische Staatspräsident unterstützt den Social Protection Floor, und zwar mit dem Hinweis, dass dies jetzt dringend erforderlich ist. Wenn sich alle – die Arbeitsminister, die Sozialminister und die Entwicklungsminister – im Rahmen der G 20 so einig sind, dann können wir ja alle beim Wort nehmen. Ich fordere unsere Bundeskanzlerin daher auf, dieses Projekt beim G-20-Gipfel zu unterstützen und gleichzeitig 100 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, damit die Umsetzung dieses Programms auch von uns unterstützt werden kann. Sie sollen nicht nur reden, sondern auch zu Taten schreiten. Das wäre mein Wunsch für dieses Projekt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jenseits unserer Parteigrenzen ist jetzt die Stunde gekommen, um mit den sozialen Sicherungssystemen ernst zu machen. Wenn der G-20-Gipfel erfolgreich wird, dann können wir uns alle freuen. Das wäre ein gutes Zeichen. Dann sollten wir in der Bundesrepublik dies entsprechend mit Geld, Kompetenz und internationaler Zusammenarbeit unterstützen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Roth. – Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Sabine Weiss. Bitte schön, Frau Kollegin Sabine Weiss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Stellen wir uns einmal kurz folgendes Szenario vor: Ein Familienvater wird krank. Es muss gar nichts Ernstes sein, aber etwas, das den Bewegungsapparat so einschränkt, dass an körperliche Arbeit nicht mehr zu denken ist. Unter Umständen sind einige medizinische Behandlungen nötig. Er kann für ein paar Wochen nicht arbeiten. Damit ist der Job futsch. Die Familie muss für die Behandlungskosten aufkommen und hat kein Einkommen mehr. Da die Familie keinerlei Ersparnisse hat, muss sie sich das Geld für die Behandlung leihen. Ohne Einkommen ist nicht genügend Geld für Nahrung da. Die Familie hungert und verliert ihr Heim. Sie rutscht damit immer tiefer in die bittere Armutsspirale ab. Der ein oder andere, den man fragen würde, würde ein solches Szenario wahrscheinlich eher mit einem düsteren Schinken über den Beginn der Industrialisierung oder das Mittelalter in Verbindung bringen als mit einer aktuell dringlichen Problemlage. Solche Horrorszenarien gehören hier bei uns in Deutschland Gott sei Dank der Vergangenheit an. Denn wir haben funktionierende soziale Sicherungssysteme. In vielen Teilen dieser Welt ist ein solch düsteres Lebensszenario bittere Realität. Wir haben es gerade schon gehört, aber man kann es nicht häufig genug wiederholen, Frau Kollegin Roth: 80 Prozent der Weltbevölkerung verfügen über keinerlei Absicherung gegen die vielfältigen Lebenskrisen wie Krankheit, Alter oder Erwerbslosigkeit. Jedes Jahr stürzen 100 Millionen Menschen aufgrund von Kosten, die sie für Gesundheitsdienste aus der eigenen Tasche bezahlen müssen, ins Elend von Armut und Hunger. Da wird für ganze Familien der Erhalt der Arbeitsfähigkeit des Ernährers oder der Ernährerin überlebenswichtig. Schon ein kurzfristiger Ausfall kann Hunger, Armut und Chancenlosigkeit bedeuten. Eine weitere Hürde ist das Alter ohne jegliche Alterssicherung. Wir können uns sicherlich alle vorstellen: Ohne jegliche Alterssicherung ist der Lebensabend wahrlich kein Ruhestand, sondern schlichtweg die Hölle. Auch in den Entwicklungsländern lösen sich die traditionell familiären Systeme auf, sodass die alten Menschen immer häufiger nicht mehr von der Familie versorgt werden können. Zudem wird der demografische Wandel in vielen Entwicklungsländern bald signifikant zu spüren sein. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die Zahl der über 60-Jährigen in den Entwicklungsländern voraussichtlich vervierfachen. Die Herausforderungen sind also immens, und die Zeit drängt. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Genau!) In den Ländern, in denen eine bescheidene soziale Sicherung in der einen oder anderen Form bereits gewährt wird, profitieren häufig nur die Beschäftigten des formellen Sektors davon. Da rund 90 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten, bleiben sie schlichtweg außen vor. Insbesondere die Frauen und Kinder sind mal wieder die Leidtragenden. Ich bin der Meinung und der festen Überzeugung, dass der Aufbau von tragfähigen sozialen Sicherungssystemen ein zentraler Punkt bei der strukturellen Armutsbekämpfung und der nachhaltigen Entwicklung sein muss. Erfolgreich wird er dann sein, wenn es gelingt, auch die armen und armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Menschen mit Behinderung, Alte oder Minderheiten sowie den informellen Sektor einzubeziehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dabei geht es nicht darum, unser deutsches System anderen Länder einfach überzustülpen; das haben auch Sie gerade erwähnt, Frau Roth. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Genau!) Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit kann die Partnerländer mit ihrem Know-how und ihren Ressourcen bei der Ausgestaltung von Sicherungssystemen unterstützen. Diese Sicherungssysteme müssen dann auf das jeweilige Land, seine Bedürfnisse und den Entwicklungsstand zugeschnitten sein; eine Blaupausenlösung, Frau Kollegin, gibt es nicht. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Genau!) Zudem muss das jeweilige Land den unbedingten, aber auch unauslöschlichen Willen haben, an der Implementierung von sozialer Absicherung auch gegen Widerstände dauerhaft festzuhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP]) Nur so – nur dann, wenn die Länder und Regierungen mitmachen – kann ein solch langwieriger Reformprozess zum Erfolg werden. Dabei ist nicht in erster Linie – hier muss ich Ihnen widersprechen – das Geld aus unserem Lande wichtig. Die wenigsten Herausforderungen in der Entwicklungszusammenarbeit sind einfach, quasi mit einem Handstreich, zu bewältigen; das wissen wir alle. Sich den schwierigen Herausforderungen stellen und nach Lösungen suchen, das machen alle Entwicklungspolitiker mit viel Herzblut und sehr viel Engagement. Der Aufbau von nachhaltigen sozialen Sicherungssystemen, die alle Bevölkerungsgruppen einschließen, ist ein ganz schön großer Brocken, bei dem es die Partnerländer zu unterstützen gilt. Sozialtransferprogramme in bestimmten Regionen für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Gutscheine für medizinisch begleitete Geburten oder andere medizinische Behandlungen – wir alle kennen solch gute Projekte – sind erfolgreiche Programme. Die Herausforderungen bei der Umsetzung sind zwar insgesamt groß, aber, wie ich denke, noch schulterbar. Der Auf- und Ausbau diskriminierungsfreier, effizienter und aus Steuern und Beiträgen finanzierter Gesundheitssysteme mit Sozialausgleich in Entwicklungsländern, wie es in Ihrem Antrag steht, ist jedoch eine neue Dimension der Herausforderung, ein gigantischer Auftrag, den man nicht erst locker-flockig fordert und dann in der Tagesordnung weitermacht. Frau Kollegin, ich denke, das haben Sie auch nicht beabsichtigt. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Genau! Deshalb kommt ja auch die G 20!) Machen wir uns nichts vor – das muss man immer wieder betonten –: Der Aufbau dauerhaft funktionierender sozialer Sicherungssysteme für alle Bevölkerungsgruppen ist eine Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte. 80 Prozent der Menschheit haben bis jetzt keine soziale Absicherung. Viele Entwicklungsländer verfügen zudem noch nicht einmal im Ansatz über die Strukturen zur Implementierung und Durchsetzung von sozialen Sicherungssystemen, die gegen die dringendsten Lebensrisiken schützen. Da kann es nicht einfach nur einen Paukenschlag geben und alles ist gut. Der Aufbau von sozialer Sicherung in Entwicklungs- und Schwellenländern ist und bleibt ein Mammutprojekt, für das wir alle einen langen Atem brauchen. Dennoch – oder gerade deshalb – müssen wir diese Herausforderung dringend und konsequent angehen. Der Aufbau von transparenten und nachhaltigen Steuer- und Verwaltungssystemen sowie die Einführung überprüfbarer Geburtenregister in den Schwellen- und Entwicklungsländern sind ebenfalls gewaltige, sicherlich aber auch unabdingbare Aufgaben, bei denen wir die betroffenen Länder unterstützen müssen. Erlauben Sie mir, ganz kurz von meinen persönlichen Erfahrungen zu berichten. Seit etwa 19 Jahren verbringe ich meinen Jahresurlaub in einem philippinischen Dorf. Auch wenn die Philippinen in vielen Verwaltungsbereichen schon relativ weit sind, genießt die korrekte und zeitnahe Eintragung ins Geburtsregister keinen allzu großen Stellenwert, und das ist schon recht vorsichtig umschrieben. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Deshalb fordern wir es ja auch!) Vom Thema Steuereintreibung oder vom Steuernzahlen fange ich lieber gar nicht erst an, nur so viel: Falls doch einmal irgendein Finanzangestellter in unsere Gegend aufs Dorf kommt und den wirklich reichen Großgrundbesitzern einen Besuch abstattet, so endet dieser Besuch selten damit, dass der Großgrundbesitzer Steuern zu zahlen hat – zumindest nicht an eine staatliche Stelle. Das ist in vielen Ländern nicht anders. Daran zeigt sich allerdings, wie groß die Herausforderung ist (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Genau!) und welche Strukturen in langwierigen Prozessen verändert werden müssen. Die Partnerländer brauchen unsere Unterstützung beim Aufbau von tragfähigen Steuer- und Verwaltungssystemen. Die soziale Grundsicherung ist ein zentraler Punkt bei der nachhaltigen Bekämpfung von Armut. Von schnellen und einfachen Lösungen sollte man bei diesen Themen aber nicht ausgehen. Hier ist ein sehr langer Atem gefragt. Dass es sich lohnt, ihn zu haben, steht für mich allerdings außer Frage. Es gibt einige Punkte in Ihrem Antrag, denen wir sicherlich zustimmen können – auch weil sie bereits Regierungshandeln sind. Anderen Punkten, wie zum Beispiel der Budgethilfe, werden wir, denke ich, nicht zustimmen. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Aha!) Bei der zweiten und dritten Lesung können wir uns dann ja auf diese Fragen konzentrieren und uns mit der gewohnten Hartnäckigkeit über den richtigen Weg streiten. Ich freue mich darauf. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Weiss. – Der nächste Redner ist unser Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Herr Kollege Movassat. (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hälfte der Menschen auf der Welt hat keinen Zugang zu sozialer Sicherung. Die Hälfte der Menschen auf der Welt ist daher Krankheiten, Arbeitslosigkeit und Armut schutzlos ausgeliefert. Durch soziale Sicherungssysteme werden die Risiken, die Armut und die Not, Kinder zur Arbeit statt zur Schule schicken zu müssen, damit Geld ins Haus kommt, verringert. Deshalb ist die soziale Sicherheit für alle Menschen, ob in Deutschland oder in den Entwicklungsländern, ein zentrales Anliegen für die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt drei Wege für Entwicklungsländer, soziale Sicherungssysteme aufzubauen: Erstens durch nationale Strategien mit Unterstützung von außen. Ein Beispiel dafür ist der Gesundheitsbereich in Ruanda. Ruanda hat in Zusammenarbeit mit dem Globalen Fonds ein Krankenversicherungssystem eingeführt. Für 1,50 Euro pro Jahr bietet es eine medizinische Grundversorgung. Über 90 Prozent der Bevölkerung werden heute davon erfasst. Allein die Kindersterblichkeit konnte dadurch um zwei Drittel gesenkt werden. Finanziert wird diese Krankenversicherung unter anderem – Frau Weiss, hören Sie zu – über Budgethilfeprogramme. Das zeigt, wie wirksam diese sind. Wer von Partnerschaft auf Augenhöhe redet, der muss den Partnerländern vertrauen. Deshalb bedarf es statt weniger Budgethilfe viel mehr davon. (Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein, ganz bestimmt nicht!) Zweitens kann man Sozialsysteme durch eigenes Wirtschaftswachstum und die dadurch erzielten Steuereinnahmen finanzieren. So wird die breite Bevölkerung am wachsenden Wohlstand beteiligt. Hier ist Brasilien zu nennen, wo ich mich im August vor Ort selbst von den Erfolgen überzeugen konnte. Dort gibt es das Programm Bolsa Familia. Das ist faktisch eine Sozialversicherung. Dadurch werden derzeit an 36 Millionen Brasilianer bis zu 78 Euro im Monat ausgezahlt. Zusammen mit anderen Maßnahmen wurden dadurch 25 Millionen Menschen aus der Armut befreit. Drittens kann man Sozialsysteme durch Umverteilung aufbauen. Hier ist Bolivien zu nennen. Früher wurden die Gas- und Rohstoffvorräte zu Schleuderpreisen an internationale Konzerne verscherbelt. Die Bevölkerung hatte bis auf eine reiche Oberschicht nichts davon. Dann hat Bolivien seine Gas- und Rohstoffvorräte verstaatlicht. Die Regierung hat mit dem Geld Sozialsysteme aufgebaut. Sie zahlt Schulgeld für Kinder, es gibt eine Altersversorgung und eine soziale Absicherung für Mütter. Über ein Viertel der Bolivianer hat dank dieser Programme mittlerweile die Chance, der Armut zu entkommen. (Beifall bei der LINKEN) Außerdem wurde die Binnennachfrage angekurbelt. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt stieg in nur drei Jahren um über 60 Prozent. Das ist wirklich eine hervorragende Leistung. Die Umverteilung von oben nach unten ist letztlich der zentrale Punkt. Durch die sozialen Sicherungssysteme wird vieles abgefedert. Für stabile Sicherungssysteme und eine grundlegende Armutsbekämpfung ist aber eine gerechte Verteilung des Reichtums notwendig; denn 1 Milliarde Menschen auf der Welt muss mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag ihre Existenz fristen. Sie führen einen täglichen Kampf ums Überleben. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Superreichen auch während der aktuellen Krise zu. Heute besitzen die reichsten 10 Prozent 85 Prozent des Weltvermögens. Im Klartext heißt das: Die einen trinken Champagner, und die anderen müssen im Müll wühlen, um sich und ihre Kinder über den Tag zu bringen. Das ist der Skandal des 21. Jahrhunderts. (Beifall bei der LINKEN) Statt Verteilungsgerechtigkeit zu fördern, statt so soziale Absicherung voranzubringen, wurde durch den Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten das Gegenteil verursacht. Die Idee dahinter: Der Markt richtet das schon. Auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds propagieren dies. Seit dem Washington Consensus im Jahr 1990 haben diese Institutionen soziale Sicherungssysteme verhindert oder gar zerstört; denn die Entwicklungsländer wurden gezwungen, ihre Märkte zu öffnen und öffentliche Unternehmen zu privatisieren. Sie mussten Subventionen für Grundbedarfsartikel wie Strom, Wasser und Nahrungsmittel streichen. Schauen Sie nach Kenia. Das Land wurde durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds gezwungen, Getreidesubventionen zu kürzen. Die aktuelle Hungerkatastrophe in Ostafrika, von der über 14 Millionen Menschen betroffen sind, auch in Kenia, hat viel mit steigenden Nahrungsmittelpreisen zu tun. Getreidesubventionen hätten die Bevölkerung davor geschützt und somit vor Hunger und Tod bewahrt. Das neoliberale Modell tötet Menschen und gehört endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte. (Beifall bei der LINKEN) Der Internationale Währungsfonds hat aus seinen Fehlern nichts gelernt. Seine Fachexpertise in der Zerstörung von sozialen Sicherungssystemen ist gerade auch in Griechenland und Portugal gefragt. In dem SPD-Antrag wird gefordert, ausgerechnet mit diesen Organisationen in ihrer heutigen Form beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme eng zusammenzuarbeiten. Damit machen Sie den Bock zum Gärtner. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Nein!) Auch die Weltbank lernt nichts dazu. Aktuell plant sie die Einführung eines neuen Finanzierungskonzepts, das sogenannte Program for Results, für einen Teil ihrer Projekte. Sozial- und Umweltstandards und Transparenzrichtlinien werden bei diesen Projekten nicht gelten. So baut die Weltbank soziale Sicherheit eher ab. Deshalb muss Deutschland dazu Nein sagen. Laut SPD sollen die Entwicklungsländer vor allem eigene finanzielle Mittel für soziale Sicherungssysteme aufbringen. Da können wir mitgehen, aber unter einer Bedingung: Wir müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändern, und zwar dahin gehend, dass die Entwicklungsländer Staatsaufgaben wie die soziale Absicherung der Bevölkerung eigenständig finanzieren können. Das heißt, Schluss mit den EU-Freihandelsabkommen, die diese Länder zur Marktöffnung zwingen. Stattdessen Anerkennung des Rechts, Schutzzölle zu erheben. (Beifall bei der LINKEN) Dies ist die einzige Chance, den eigenen Markt vor der Überflutung durch subventionierte Billigprodukte wie Milch oder Hähnchenschenkel aus Europa zu schützen. Nur durch Zölle können außerdem Arbeitsplätze vor Ort geschützt werden. Nur durch Zölle können Einnahmen geschaffen werden, um soziale Sicherungssysteme aufbauen zu können. Außerdem müssen wir europäische Unternehmen, die Menschen in Entwicklungsländern brutal ausbeuten, hier zur Rechenschaft ziehen. Nur damit wir hier billige Klamotten tragen können, darf es doch nicht sein, dass auch deutsche Konzerne die bangladeschische Näherin für 14 Cent die Stunde 15 Stunden am Tag unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten lassen. Unternehmen, die das machen, verletzen Menschenrechte, torpedieren soziale Sicherheit und gehören vor Gericht! Zum Schluss möchte ich sagen: Private Unternehmen haben beim Aufbau von Sozialsystemen nichts zu suchen. Dann gibt es kein Solidarprinzip. Dann werden nicht alle Menschen erreicht. Geschäfte machen kann man woanders. Soziale Sicherung ist Staatsaufgabe. Ich teile es sehr, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass es in Ihrem Antrag heißt: Starke Schultern sollen mehr als schwache tragen. Aber ich finde es paradox, dass Sie sich jetzt als Vorreiter globaler sozialer Sicherungssysteme inszenieren. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Warum?) Ich darf Sie erinnern: Sie haben Hartz IV eingeführt. Sie haben den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt. Sie haben dafür gesorgt, dass hierzulande die starken Schultern entlastet und die schwachen belastet werden. Aber es ist gut, wenn Sie gelernt haben, dass die Schere zwischen Arm und Reich weltweit geschlossen werden muss, sonst wird es keine soziale Sicherheit geben. Nirgendwo! Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Movassat. Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Helga Daub. Bitte schön, Frau Kollegin Daub. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Helga Daub (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! „Soziale Sicherung als Motor solidarischer und nachhaltiger Entwicklungspolitik“ – das ist eine Aussage, die wir durchaus unterstützen. Vielen Ansätzen des Antrages stimmen wir zu. Es ist auch gut, dass die Gesundheitspolitik viel Raum einnimmt. Gerade durch mangelnde Gesundheit kommt es eben zu dem Teufelskreis Krankheit – Erwerbslosigkeit – Armut. Diesen wollen wir durchbrechen. Aber auf dem Weg dorthin haben wir andere Instrumente. Frau Roth, Sie haben gesagt, diese Regierung habe die thematische Zielgröße Soziale Sicherung abgeschafft. Das stimmt aber nicht. Im Jahr 2009 hat die Bundesregierung ein verbindliches Sektorkonzept eingeführt – Herr Kekeritz ist Zeuge; er hat im Gegensatz zu Ihnen an der Veranstaltung teilgenommen –, das die Mittel in andere Programme integriert und ein wichtiges Element einer Gesamtstrategie ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht auch nicht immer nur um Geld, sondern auch um Wirksamkeit und Nachhaltigkeit. Übrigens kommen wir gerade bei der sozialen Sicherung ohne wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht aus. Partnerschaftliche wirtschaftliche Zusammenarbeit schafft Arbeitsplätze. Arbeitsplätze wiederum bringen Menschen in Lohn. Lohn bringt Steuern, und mit Steuern lassen sich Sozialsysteme aufbauen. Die Voraussetzung ist natürlich, dass wir eine gute Regierungsführung haben. In diesem Punkt müssen wir investieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das steht im Antrag!) Die Budgethilfe ist dabei nicht unbedingt unser Ansatz. Das wiederum steht nicht im Antrag. Sogar bei der EU, die bislang quasi einen Schutzwall – ich verwende das deutsche Wort – um die Budgethilfe errichtet hatte, ist inzwischen ein Umdenken festzustellen. Die Positionen der EU und des BMZ haben sich inzwischen angenähert. Sicherlich bedarf es zu Beginn einer Basisfinanzierung für die soziale Sicherung und speziell das Gesundheitssystem. Das findet, wie gesagt, zum Teil in andere Programme integriert mit der finanziellen Zusammenarbeit statt. Das haben wir Dienstagmorgen gehört. Es sind verschiedene Modelle, zum Beispiel mit Gutscheinen, denkbar. Dazu kommen externe Geber wie Unicef, Global Fund und GAVI. Diese erhalten ihrerseits aus vielen Ländern und nicht zuletzt in erheblichem Maße auch von der Bundesregierung Mittel. Im Übrigen bin ich sehr froh, dass den behinderten Menschen im Ministerium nun mehr Beachtung geschenkt wird. Weltweit sind mehr als 15 Prozent der Menschen behindert, davon 80 Prozent allein in Entwicklungsländern. Hier zu helfen ist eine große Herausforderung, der sich diese Regierung stellt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die WHO hat auch eine wichtige Rolle im Aufbau von Gesundheitssystemen – das ist klar –, aber zunächst einmal ist die WHO ihrerseits selber in einem umfassenden Reformprozess, weil ihr, wie es oft bei großen Organisationen der Fall ist, im Laufe der Zeit viel zu viele Aufgaben zugewachsen sind. Wir wollen ihren Reformprozess abwarten, bevor wir unsererseits weitere Forderungen stellen. Die Regierung begleitet diesen Prozess finanziell und auch ideell. Ich sage an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich: Die Zielgröße Soziale Sicherheit ist von dieser Bundesregierung keineswegs abgeschafft, sondern in andere Programme integriert worden. Leider haben Sie wieder einmal ein berechtigtes Anliegen genutzt, um gegen die Regierung zu wettern. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist der Job der Opposition!) – Ja, natürlich. Das muss so sein. Sie werden verstehen, dass wir deshalb dem Antrag so noch nicht zustimmen können. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: G-20-Gipfel!) Sie haben im Vorfeld gesagt, Sie könnten sich durchaus eine sektorale Budgethilfe vorstellen und damit einverstanden erklären. Sie haben meine Ausführungen zum Integrieren in andere Programme und zur Gesamtstrategie gehört: An dieser Stelle ist auch die sektorale Budgethilfe nicht unbedingt zielführend. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Genau so habe ich es mir vorgestellt: Die SPD und die Grünen werden sich mokieren, dass die unabhängige und selbstständige Zielgröße „Aufbau von sozialen Sicherungssystemen“, die im Haushalt auch klar definiert werden müsste, verschwunden ist. Ich habe auch erwartet, werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, dass Sie in Ihren Beiträgen sehr stark die Notwendigkeit des Aufbaus sozialer Sicherungssysteme betonen werden. Das haben Sie gemacht, und zwar sehr gut. Wir können Ihren Argumenten zu 95 Prozent folgen. Ich finde, das ist eine gute Sache. Die große Gap, die große Leere besteht allerdings zwischen Ihren Ausführungen und der Position des Ministers. Der Minister versucht oft, sich gegen vernünftige Entwicklungen und Tendenzen durchzusetzen. Aber ich möchte an dieser Stelle die Position des Ministers nicht überhöhen; denn international ist längst klar, in welche Richtung es gehen muss. Wir brauchen einen eigenständigen, klar definierten Rahmen für den Aufbau sozialer Sicherungssysteme. WHO, ILO, UNFPA, G 20, Weltbank sowie afrikanische und asiatische Entwicklungsbanken lassen überhaupt keinen Zweifel mehr daran, dass der Aufbau von Sozialsystemen eine fundamentale Voraussetzung für Entwicklung ist. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass die deutsche Entwicklungspolitik den Aufbau sozialer Sicherungssysteme als eigenständige Zielgröße im Haushalt klar definiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir finden seit Jahren folgende groteske Situation vor: Die Wirtschaft wächst gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern rasant. Mindestens 16 afrikanische Länder erreichen seit Mitte der 90er-Jahre ein jährliches Wachstum von durchschnittlich 4,5 Prozent. Einige Länder erreichen zurzeit sogar 10 Prozent und mehr. Wir können definitiv sagen: Afrika boomt. Allerdings bedeutet Wirtschaftswachstum nicht Armutsminderung. Im Gegenteil: Die Zahl der Armen hat sich im gleichen Zeitraum in vielen Ländern Afrikas deutlich erhöht. Was wir über Jahre beobachten mussten und zu einem nicht unwesentlichen Teil mit befördert haben, ist eine dramatische Spaltung der Gesellschaften überall auf der Welt. Schauen wir einmal nach China. Trotz eines langanhaltenden starken Wachstums hat sich der Gini-Koeffizient in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt. Das besagt nichts anderes, als dass die Verteilung immer ungerechter wird. Auch die Tatsache, dass sich inzwischen ein Mittelstand in China herausbildet, ändert daran nichts. Die gleichen Entwicklungen haben wir in Afrika und in den Industrienationen zu verzeichnen. In den USA ist es am schlimmsten. Die Verteilungsverhältnisse der USA sind heute auf dem Stand von 1920. Auch in der Bundesrepublik gibt es Verteilungsungerechtigkeit. Die untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher haben in den letzten zehn Jahren 22 Prozent ihres Einkommens verloren. Der Reichtum nimmt zu, während die Menschen ärmer werden. Ein solidarisches Miteinander und eine gerechte Verteilung sind nötiger denn je. Menschen brauchen sozialen Schutz, und dafür brauchen wir staatlich verantwortete Systeme sozialer Sicherung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wer heute noch immer glaubt, dass der Markt irgendetwas reguliert, hat die Marktprinzipien nicht kapiert. Ein freier, unkontrollierter Markt kennt nur eine einzige Regel, und das ist das Recht des Stärkeren. „The winner takes it all“ – die Ideologie von Margaret Thatcher – ist das neoliberale Credo einer unkritischen Marktorientierung. Unsere Empfehlung an den Minister lautet: Versuchen Sie, aus den letzten 30 Jahren der Wirtschafts- und Sozialgeschichte endlich vernünftige Schlüsse für die deutsche entwicklungspolitische Agenda zu ziehen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen uns von der Annahme verabschieden, dass soziale Sicherung in erster Linie ein Kostenfaktor ist. In Deutschland wird zwar immer über Kosten geklagt. Krankenversicherung und Rentenversicherung sind sicherlich kostspielig. Mit Geld muss vernünftig und gerecht umgegangen werden; daran besteht kein Zweifel. Aber stellen wir uns einmal vor, wie es in diesem Land aussähe, wenn es keine funktionierende Krankenversicherung und kein funktionierendes Rentensystem gäbe! Wie sähe Deutschland dann aus? Deshalb ist es richtig, das seit 1948 bestehende Menschenrecht auf soziale Sicherung als gesellschaftlichen Produktivfaktor anzusehen. Die volkswirtschaftlichen Vorteile sind wohl jedem bekannt. Grundeinkommensmodelle haben sich – Frau Weiss hat das bereits angesprochen – als unkomplizierte Instrumente mit geringem Aufwand und besten Ergebnissen in vielen Ländern erwiesen. Bereits 1997 gab es in Mexiko das Programm Progresa, das 2002 den Namen Oportunidades erhielt. Die Zusammenfassung der Evaluierungen, die stattgefunden haben, sind ganz einfach als extrem positiv zu bezeichnen. Nach drei Jahren wurden deutliche Verbesserungen festgestellt: bei der Ernährungssituation der Kinder, im schulischen Bereich, im gesundheitlichen Bereich. Die Kleinkriminalität ist zurückgegangen. Die Sicherheit, die durch geringe Zahlungen an die Menschen erzielt worden ist, hat ökonomisch positive Auswirkungen: Handwerk, Handel und andere Dienstleistungen haben zugenommen. Der Bürgermeister von New York, Bloomberg, hat dieses Programm für New York adaptiert. In Brasilien und in vielen anderen Ländern wird das System mit großem Erfolg übernommen. Ich finde, der Antrag der SPD-Fraktion kommt zur richtigen Zeit. Wir dürfen nicht aus wirtschaftszentrierten Grundeinstellungen sinnvolle Entwicklungen boykottieren. Wir müssen den Aufbau sozialer Sicherungssysteme unterstützen. Länder mit funktionierenden sozialen Systemen sind politisch stabile Länder. Ohne soziale Sicherheit gibt es in keinem Land dieser Erde Stabilität und auch keine positive Entwicklung. Deshalb muss die eigenständige Zielgröße „soziale Sicherung“ wieder auf die Prioritätenliste unserer entwicklungspolitischen Agenda gesetzt werden. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Klimke (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte betonen: Armutsbekämpfung war und ist eines der wichtigsten Ziele deutscher und internationaler Entwicklungszusammenarbeit und wird dementsprechend in den Millenniumsentwicklungszielen gewürdigt. Dass wir beim Erreichen dieser Ziele nicht genügend vorankommen, ist eine Tatsache. Es ist aber für uns Entwicklungspolitiker eine Herausforderung, bis zum Jahre 2015 noch deutliche Verbesserungen zu erreichen. Das haben wir uns vorgenommen, und das versprechen wir auch. Es ist auch unbestritten, dass gerade in den am wenigsten entwickelten Ländern nur geringe Fortschritte oder gar Rückschritte zu verzeichnen sind. Deswegen halte ich es für einen überlegenswerten Ansatz, die entwicklungspolitische Unterstützung des Aufbaus von sozialen Sicherungssystemen zu überprüfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie merken, dass ich mich etwas vorsichtig ausdrücke. Das liegt nicht etwa daran, dass ich den Zusammenhang zwischen dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme und der Armutsbekämpfung nicht einsehe. Im Gegenteil: Ich glaube schon, dass hier eine direkte Wechselwirkung besteht. Aber ich möchte doch einige Bedenken äußern, die sich vor allem auf Maßnahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit beziehen. Vier Punkte möchte ich ansprechen. Erstens. Soziale Sicherungssysteme benötigen eine Infrastruktur, die also vorhanden sein muss, und eine leistungsfähige Bürokratie. Wenn es nicht einmal eine wirksame Geburtenregistrierung, ein wirksames Ausweissystem oder eine Steuerverwaltung gibt, dann sind dem Missbrauch von Sozialleistungen und der Korruption Tür und Tor geöffnet. Gerade die am wenigsten entwickelten Länder haben in diesem Bereich die größten Probleme. Somit ist das Instrument gerade da nicht anwendbar, wo es am dringendsten benötigt wird. Zweitens. Soziale Sicherungssysteme – das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen – kosten viel Geld. Ich will nicht auf die Größe unseres Sozialetats hinweisen. Selbst bei Basisleistungen muss viel mehr Geld eingesetzt werden, als uns heute zur Verfügung steht. Das scheint auch der SPD bewusst zu sein; denn sie fordert in ihrem Antrag die Nutzung von Budgethilfe. Dieses sehen wir als problematisch an. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Warten Sie mal ab, was die EU macht!) Das gilt vor allem dort, wo wir es mit schlechter Regierungsführung zu tun haben. Das ist leider in dem einen oder anderen Entwicklungsland der Fall. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Die EU wird es machen!) Drittens. Soziale Sicherungssysteme schaffen nur in begrenztem Maße einen selbsttragenden Aufschwung. Einer möglicherweise besseren Motivation der Arbeitnehmer und einer Stärkung der Binnennachfrage stehen höhere Arbeits- und Lohnkosten gegenüber, die erst durch Effizienzgewinne erarbeitet werden müssen. Wenn eine rückständige Wirtschaft soziale Sicherungssysteme finanzieren muss, wird das kaum aus eigenen Kräften möglich sein. Wenn die soziale Sicherung fremdfinanziert wird, klaffen Wirtschaftsleistung und Lebensstandard irgendwann auseinander. Am Beispiel Griechenland können wir uns vergegenwärtigen, wohin das führt. Viertens. Aus meiner Sicht muss man schrittweise vorangehen. Es geht zunächst darum, die Grundlagen herzustellen, also gute Regierungsführung und funktionierende staatliche Strukturen. Dann geht es um die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung verlässlicher Steuereinnahmen. Erst dann ist die Implementierung sozialer Sicherungssysteme in einem größeren Umfang möglich. Die Kosten dafür müssen zum überwiegenden Teil durch den jeweiligen Staat selbst getragen werden, da dauerhafte Transferleistungen Abhängigkeiten erzeugen. Insofern halte ich den Aufbau sozialer Sicherungssysteme vor allem für weiterentwickelte Schwellenländer für ein sehr geeignetes Instrument der Armutsreduzierung. Trotz dieser Zweifel sollte immer der Einzelfall geprüft werden. Es gibt sicherlich Fälle, in denen soziale Basisleistungen erheblich zur Armutsreduzierung beitragen können und in denen Voraussetzungen zur Umsetzung gegeben sind. Grundsätzlich sehe ich auch in diesen Fällen die größten Chancen im Know-how-Transfer. Vorteilhaft sind aus meiner Sicht vor allem internationale Ansätze, wie das Konzept des Social Protection Floor. Ich sehe gerade hier den Ansatz, Menschen im informellen Sektor zu helfen, als wegweisend an. Ich erhoffe mir in dieser Frage vor allen Dingen von den Ausschussberatungen konstruktive Diskussionen. Ich möchte noch auf einen anderen Bereich eingehen: auf den Einfluss auf die soziale Situation vieler Menschen in den Entwicklungsländern. Es geht mir um das Thema „menschenrechtliche Unternehmensverantwortung“; das ist hier vorhin kurz angesprochen worden. Hier haben wir mit den Leitlinien der UNO bzw. der OECD in diesem Jahr auf internationaler Ebene deutlich klarere Rahmenbedingungen erreicht. Es geht darum, die deutschen Unternehmen noch stärker zu sensibilisieren und zur Einhaltung der aufgestellten Prinzipien anzuregen. Auch hier gibt es Bewegung. Immer mehr Unternehmen verpflichten sich zur Einhaltung der Leitlinien im Rahmen der Corporate Social Responsibility, also zu sozialer Verantwortung. Ich vertrat schon immer die Auffassung, dass diese Einsicht allein nicht ausreicht. Bei manchen Unternehmen kann man auf Einsicht lange warten. Hier sind zum Beispiel die Medien gefordert, die Verbraucher zu informieren. Ich plädiere außerdem für ein europaweites Textilsiegel „social made“, an dem jeder erkennen kann, ob bei Herstellung eines Textilproduktes bestimmte soziale Mindeststandards eingehalten worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, derzeit erarbeitet die Bundesregierung unter Federführung des Bundesarbeitsministeriums eine entsprechende Strategie. Diesen Prozess begleiten wir als Entwicklungspolitiker, als Menschenrechtspolitiker sehr intensiv. Ich vertrete die Meinung, dass wir den Druck auch auf diejenigen Unternehmen erhöhen müssen, die nicht einmal die internationalen Übereinkommen zur Unternehmensverantwortung mittragen. Wenn ein großes Unternehmen in einer der letzten Ausgaben von Test sagt, es sage nichts über die Stätten der Produktion seiner Jeans – sie sind im Übrigen nicht schlecht; dieses Unternehmen heißt mit Vornamen „Hugo“ und mit Nachnamen „Chef“ oder so ähnlich –, dann ist das aus meiner Sicht einfach nicht zu akzeptieren und muss verurteilt werden. Ich erwarte von international tätigen Unternehmen, dass sie sich ihrer sozialen Verantwortung verstärkt bewusst werden und flächendeckend ernsthaft überprüfbare Schritte im Sozialbereich einleiten. Diesen Prozess werden wir – Sie merken es – kritisch-konstruktiv begleiten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD spricht jetzt der Kollege Stefan Rebmann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stefan Rebmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der heutigen Debatte liegt mir nicht nur als Sozialdemokrat, sondern auch als Gewerkschafter sehr am Herzen. 2,8 Milliarden Menschen müssen am Tag von bis zu 1,50 Euro leben. 1,2 Milliarden Menschen haben noch nicht einmal 75 Cent am Tag zum Überleben zur Verfügung. Etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung lebt heute ohne Absicherung von Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, Scheidung oder Tod eines Ernährers oder einer Ernährerin. Die Weltgesundheitsorganisation sagt, dass Jahr für Jahr etwa 150 Millionen Menschen Gesundheitskosten tragen müssen, die sie in den Ruin treiben. Sie müssen die Medikamente, sämtliche Gesundheitsleistungen bis hin zum einfachen Gips für einen gebrochenen Arm aus der eigenen Tasche finanzieren. Ich denke, wir sind uns hier im Bundestag einig: Wer nur 75 Cent oder auch weniger als 2 Euro am Tag zum Überleben zur Verfügung hat, der kann sich eine private Krankenversicherung nicht leisten. Wenn er sich die nicht leisten kann, hat er keine Wahl: Er muss sich den Gips für den gebrochenen Arm vom Mund absparen und dafür hungern. Der Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme ist deshalb aus unserer Sicht für die Armutsbekämpfung von zentraler Bedeutung. Das fordern im Übrigen auch zahlreiche internationale Vereinbarungen, die ILO und die UN-Initiative für eine umfassende soziale Grundsicherung. 2008 wurde in diesem Hause ein von der SPD-Fraktion erarbeiteter Antrag verabschiedet, der zum Ziel hatte, Entwicklungs- und Schwellenländer beim Aufbau und bei der Reform von sozialen Sicherungssystemen zu unterstützen. Unter einer sozialdemokratischen Entwicklungsministerin wurde die Bedeutung der sozialen Sicherung auch dadurch dokumentiert, dass sie als thematische Zielgröße im Haushalt des BMZ verankert war. (Beifall bei der SPD) Während die Weltbank und andere Institutionen sich diesem Ziel angeschlossen haben, hat Schwarz-Gelb die soziale Sicherung als eigenständige Zielgröße wieder aus dem Haushalt gestrichen. So ist es, meine Damen und Herren! Das haben Sie getan, obwohl Sie wissen, dass in den UN, der ILO und der WHO ein Konzept für den universellen sozialen Basisschutz erarbeitet wurde. 2012 – die Kollegin Roth hat es schon erwähnt – soll die Strategie zur Umsetzung dieser Ziele folgen. Ich wiederhole gern noch einmal die vier Bereiche: erstens eine garantierte Mindestgesundheitsversorgung für alle, zweitens Mindesteinkommensgarantien für Kinder, um Kinderarbeit zu verhindern, drittens Unterstützung für Arme und Arbeitslose und viertens Mindesteinkommensgarantien im Alter und für Menschen mit Behinderungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen endlich begreifen, dass die Bereitstellung von sozialer Sicherheit nichts mit Almosen zu tun hat und auch überhaupt nichts mit Sozialduselei irgendwelcher Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter oder Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Soziale Sicherung ist kein Kostenfaktor, sondern sie ermöglicht erst eine nachhaltige Entwicklungspolitik. Nur wer Gewissheit hat, dass ihn eine für uns eigentlich harmlose Erkrankung nicht in den Ruin treibt, wer Gewissheit hat, dass ihm geholfen wird, ohne dass er dafür hungern muss, kann auf Dauer produktiv sein und zum Wirtschaftswachstum beitragen. Dazu gehören auch Arbeitsplätze, die menschenwürdig sind, damit echte Entwicklungschancen eröffnet werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Soziale Sicherungssysteme und gute Arbeit sind nicht nur Ausgangsbedingungen für ein breitenwirksames Wirtschaftswachstum, sondern auch ein Instrument zur strukturellen Armutsbekämpfung. Dieser Ansatz wurde auch auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm und danach immer wieder bestätigt. Das Recht auf soziale Sicherheit ist ein verbindlich verankertes Menschenrecht. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten meinen: Es ist höchste Zeit, dass wir uns aufmachen, den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. (Beifall bei der SPD) Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. – In Deutschland ist es uns gelungen, die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise durch unser Sozialversicherungssystem weitgehend aufzufangen, (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) auch wenn es im Gebälk gehörig geknirscht hat. In den Entwicklungsländern ohne oder mit kaum entwickelten sozialen Sicherungssystemen gelingt dies aber nicht. Dort sind die Menschen bei herbeispekulierten Krisen, wie wir es im Moment wieder erleben, von Armut und schlimmstenfalls sogar von Hunger bedroht. Wir gehören nach wie vor zu den reichsten Ländern der Welt. Deshalb ist es nicht nur unmoralisch, nicht zu helfen, sondern es ist auch in unserem ureigensten Interesse, beim Aufbau zuverlässiger sozialer Sicherungssysteme zu helfen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie zum Schluss, bitte. Stefan Rebmann (SPD): Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, endlich in diesem Sinne aktiver zu werden. Noch ein Hinweis an die Linken. Es wäre nett, wenn Sie auch einen eigenständigen Antrag dazu vorlegen würden. An alle sage ich: Lassen wir es nicht bei dem guten Vorsatz. Der gute Vorsatz ist ein Pferd, das oft gesattelt wurde, aber nur ganz selten geritten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP hat jetzt das Wort der Kollege Joachim Günther. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Joachim Günther (Plauen) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Roth, der Antrag von Ihnen und Ihrer Fraktion trägt die Überschrift: Soziale Sicherung als Motor solidarischer und nachhaltiger Entwicklungspolitik Ich habe in der ersten Runde niemanden reden gehört, der diesem Grundanliegen widersprochen hätte. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, also! – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Richtig!) In dieser Situation geht es darum, welchen Weg wir gehen, wie wir den Weg gehen und wie es weitergeht. Um es gleich vorweg zu sagen: In vielen Punkten der Analyse liegen wir nicht weit auseinander. Weil das so ist, möchte ich die Punkte ansprechen, die wir meiner Meinung nach noch einmal diskutieren sollten, um gemeinsam vielleicht an der einen oder anderen Stelle doch noch zu einer Lösung zu kommen. In Ihrem Antrag heißt es unter anderem, dass ein Mensch, der den Schutz sozialer Absicherung vor Krankheit und Arbeitslosigkeit genießt, produktiver ist. Dem kann man nicht widersprechen. Die Ausgangslagen in den Ländern, um die es geht, sind aber ganz unterschiedlich. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das wird nicht bestritten!) Wir dürfen die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass gerade jene Staaten, in denen die ärmsten Menschen der Welt leben, meist am Rande der totalen Funktionslosigkeit stehen. Ihr Antrag kommt deshalb zu der Schlussfolgerung, dass die soziale Absicherung der Menschen in diesen Ländern vor allem mit Geld der Geberländer finanziert werden könnte. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Stimmt nicht! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das hat Frau Roth gar nicht gesagt!) Wie soll das aber – wenn auch nur zum Teil – praktisch umgesetzt werden, wenn kaum funktionierende Systeme in diesen Ländern vorhanden sind? (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Aufgebaut werden müssen!) Deshalb ist die in Ihrem Antrag enthaltene Forderung, die Unterstützung sozialer Sicherungssysteme sei auch durch Budgethilfe zu gewährleisten, unserer Ansicht nach ein einseitiger Ansatz. Meiner Meinung nach versickert viel zu oft das Geld in undurchsichtigen Kanälen, weil ein kaum funktionierendes Staatswesen auch keine Kontrolle zulässt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Korruption sind dort Tür und Tor geöffnet. Das kennen wir alle; darüber müssen wir uns nicht gegenseitig aufklären. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Aber die Projekte sind doch da!) Um diese Korruption nicht weiter zu fördern, haben CDU, CSU und FDP schon im Koalitionsvertrag die Vergabe der Budgethilfe nur nach strengen transparenten Kriterien festgeschrieben. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das ist kein Problem für mich!) Das hat sich bewährt, und das wird fortlaufend überprüft. Wir sind sicher, dass wir damit zu einer Steigerung der Wirksamkeit der Entwicklungspolitik und somit auch der Sozialleistungen beitragen können. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das ist kein Problem für uns!) Ich finde es richtig, dass die Anwendung oder – sagen wir besser – die Einstiegskriterien für die allgemeine Budgethilfe konkrete Punkte berücksichtigen müssen: In dem Empfängerland müssen ein positiver Entwicklungstrend, eine glaubwürdige Armutsbekämpfungsstrategie, ausreichende treuhänderische Rahmenbedingungen, also effektives öffentliches Finanzmanagement – das hilft gegen Korruption –, sowie stabile makroökonomische Rahmenbedingungen gegeben sein. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das hat Frau Roth doch schon vorgetragen!) Budgethilfen stehen damit unter der Beobachtung durch den Bundestag. Zudem berichtet uns das BMZ jährlich darüber. Das finde ich gut. Die Konsequenz ist aber, dass wir gegenwärtig nur noch in zehn Ländern Budgethilfe leisten. Das ist ein Rückgang gegenüber früher. Das ist richtig. Dass das BMZ aber die Gewährung von Budgethilfen nicht an alle Länder eingestellt hat, hat einen guten Grund. In einigen Ländern gibt es einen wichtigen Hebel, den es allein über Projektfinanzierung nicht geben würde. Dabei geht es zum Beispiel um mehr Haushaltstransparenz, vermehrte Anstrengungen für erhöhte Eigeneinnahmen in den Ländern selbst und eine stärkere Rechenschaftspflicht in den Ländern gegenüber dem Parlament und der Zivilgesellschaft. Unsere Ansichten gehen also in vielen Bereichen in die gleiche Richtung. In kluger Kombination mit anderen Formen der Zusammenarbeit, zum Beispiel durch die Beratung des Rechnungshofes, durch Nutzung von Budgethilfe für bilaterale Sektorenprogramme – das haben Sie angesprochen – und ergebnisabhängige Auszahlung kann die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Einzelfall einen sichtbaren und wirksamen Beitrag zu diesem übergreifenden Reformprozess leisten. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass sich das BMZ aktiv an einem gemeinschaftlichen Evaluierungs- und Budgethilfeprogramm der OECD in drei weiteren Ländern beteiligt. Darüber ist auch nicht gesprochen worden. Die Ergebnisse aus diesem Programm werden Ende dieses Jahres erwartet. Wir werden sie sicherlich im Ausschuss gemeinsam auswerten. Handlungsbedarf besteht aus meiner Sicht weiterhin im europäischen Kontext. Denn die EU-Kommission vergibt die Budgethilfen noch immer zu sehr weichen Konditionen. Deutschland ist gut beraten, unsere Vorschläge weiter voranzutreiben. Ich finde es gut, dass Bundesminister Niebel darüber mit seinen Amtskollegen in Verhandlungen eingetreten ist. Denn nur wenn im Bereich der Budgethilfe ein größerer Schwerpunkt auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor Ort gelegt wird, haben wir die Chance, einer größeren Anzahl von Menschen zu helfen. Insofern bin ich optimistisch, dass wir uns im Ausschuss über die Sachpolitik weiter annähern und vielleicht gemeinsam etwas auf den Weg bringen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht jetzt der Kollege Florian Hahn von der CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme stehen die Schwellen- und Entwicklungsländer ganz ohne Zweifel vor großen Herausforderungen. Hier hat Deutschland in der International Labour Organization mit dem 2006 verabschiedeten Social Protection Floor internationale vertragliche Grundlagen für soziale und gesundheitliche Standards geschaffen, die sich sehen lassen können und die als vorbildhaft gelten. Während bei uns die Bevölkerungszahl stagniert oder sogar schrumpft, wächst die Bevölkerung in den Schwellen- und Entwicklungsländern unaufhaltsam an. Damit nehmen auch die Probleme im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Absicherung zu. Die Globalisierung und der demografische Wandel haben für diese Gesellschaften unübersehbare Folgen: So funktionieren beispielsweise jahrhundertealte Stammes- und Dorfgemeinschaften und Familiensysteme durch den weltweiten Wandel heute oftmals nicht mehr so, wie das einmal war. In Schwellen- und Entwicklungsländern mit annähernd demokratischen Gesellschaften mag der Wunsch nach sozialer Sicherung noch breitere Unterstützung auch vonseiten der Regierung finden. In undemokratisch organisierten Ländern ist das Interesse meist deutlich geringer ausgeprägt. Gleichzeitig weisen viele Schwellenländer enorme wirtschaftliche Zuwachsraten auf. Einerseits bringt das die Länder in ihrer Entwicklung voran, andererseits wachsen soziale Sicherungsmechanismen nicht in ausreichendem Tempo mit. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie knüpfen in Ihrem vorliegenden Antrag an den in der letzten Legislaturperiode mit breiter Mehrheit beschlossenen gemeinsamen Antrag aus dem Jahre 2008 an, in dem wir begrüßen, dass dieses Thema in die Entwicklungsarbeit des BMZ implementiert wird. Wir haben damals gemeinsam eine Strategie für diesen Bereich entwickelt. Wir wollten eine nachhaltige, breitenwirksame Armutsbekämpfung, vor allem in den Bereichen der Grundsicherung und der sozialen Sicherung. Das unterstützen wir auch heute noch, ebenso wie diese Regierung. Dabei muss sich unser Augenmerk auf die konkret betroffenen Menschen richten. Es reicht nicht, nur in irgendwelchen Fünfjahresplänen zu denken und zu handeln, sondern wir müssen uns konkret auf die Hilfe hier und jetzt und auf den Einzelfall konzentrieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ein Mangel an Finanzmitteln ist nicht die einzige Ursache für die Schwächen sozialer Sicherungssysteme. Viele Schwellen- und Entwicklungsländer wenden nicht unbeträchtliche Mittel für soziale Sicherung auf, setzen diese aber nicht effizient und nicht sozial gerecht ein. Daher muss jeder Ausbau, Aufbau oder Umbau sozialer Sicherungssysteme auf das jeweilige Land zugeschnitten sein. Wir können das deutsche Modell der sozialen Sicherung nicht beliebig eins zu eins exportieren. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das will der Antrag auch nicht!) Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist unter anderem deshalb so erfolgreich, weil die schwarz-gelbe Koalition die finanziellen und personellen Mittel dank der Bündelung der Aktivitäten in der neuen GIZ sinnvoller und effektiver einsetzt. Wir führen einen Dialog mit den Regierungen und können dank der Konzentration der Kompetenzen bei der GIZ den Schwerpunkt unserer Hilfe auf Projektförderungen setzen. So wollen wir uns unseren Zielen besser koordiniert nähern. Die GIZ berät und schult dabei die Fachkräfte und stellt finanzielle Beiträge für die nötige Unterstützung bereit. Das BMZ prüft darüber hinaus regelmäßig, ob die Verwendung der eingesetzten Haushaltsmittel tatsächlich zielorientiert und effizient erfolgt. Zudem wird die entwicklungspolitische Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen in externen Gutachten evaluiert und überprüft. So können wir aus Rückschlägen lernen und Erfolge auf andere Vorhaben und Projekte übertragen. Über die beschriebene bilaterale Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern hinaus setzt sich Deutschland in den internationalen Gremien wie der EU, der WHO, der ILO, der OECD oder der Weltbank weiterhin für den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme ein. Dabei gilt, dass jedes Land eigenverantwortlich die Rahmenbedingungen für die Gewährleistung eines ausreichenden sozialen Schutzes seiner Bevölkerung schaffen muss. Die ausführliche Beschreibung der Situation in vielen Teilen unserer Welt im vorliegenden Antrag der SPD ist sicher in großen Teilen zutreffend und leider schon lange allgemein bekannt. Es ist wichtig, immer wieder auf die Lage hinzuweisen; insofern ist dieser Teil des Antrags sehr nützlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Allerdings ist die Umsetzung vieler Forderungen bereits auf dem Weg oder sogar schon vollzogen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Aber dann können Sie ja zustimmen!) Andere Forderungen sind aus unserer Sicht weniger sinnvoll; wir haben sie in der Diskussion schon genannt. Wir streben immer nach Erfolg, gerade auch in der Entwicklungszusammenarbeit. Die deutsche Entwicklungsarbeit ist sehr erfolgreich. Wir wollen das fortsetzen. Es gehört aber zur Realität, dass der Erfolg gerade auch von den Partnern abhängt, mit denen wir zusammenarbeiten. Ich darf die Diskussion heute nutzen, um mich hier bei allen Akteuren der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu bedanken und ihnen weiterhin Gottes Segen zu wünschen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7358 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – Drucksache 17/5712 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) – Drucksache 17/7511 – Berichterstattung: Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Burkhard Lischka Christian Ahrendt Richard Pitterle Ingrid Hönlinger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Insolvenzrechtsreform unverzüglich vorlegen – Außergerichtliche Sanierungsverfahren stärken – Insolvenzplanverfahren attraktiver gestalten – Drucksachen 17/2008, 17/7511 – Berichterstattung: Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Burkhard Lischka Christian Ahrendt Richard Pitterle Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Ahrendt (FDP): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Jahr 2009 gesehen, wie schnell eine Krise eine eigentlich gut laufende Wirtschaft aus dem Tritt bringen kann. Wir haben erlebt, dass es 2009 zu einem negativen wirtschaftlichen Wachstum von etwa 5 Prozent kam, und wir haben erkannt, dass es wichtig ist, für den Fall einer solchen plötzlich auftretenden Krise eine gewisse Wetterfestigkeit herzustellen. 2010 hat Ihnen die schwarz-gelbe Koalition das Gesetz zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditinstituten vorgelegt, mit dem das Kreditwesengesetz im Hinblick auf die Strukturierung und Restrukturierung von Banken verbessert wurde. Heute legen wir Ihnen mit dem Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen den zweiten großen Gesetzeskomplex vor, um zu erreichen, dass Unternehmen in der Krise besser saniert werden können. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle zunächst eine kleine Änderung in Art. 10 Satz 1 des Gesetzentwurfes vorschlagen. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Wir haben gestern im Rechtsausschuss beraten und die vorgesehene Konzentration der Gerichte aufgegeben. Dabei ist eine Vorschrift geändert worden mit der Folge, dass die Vorschrift zum Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr sinnvoll ist. Deswegen ist es erforderlich, die ersten vier Worte in Art. 10 zu streichen. Ich bitte Sie, darüber gleich mit zu entscheiden und dafür den erforderlichen Fristverzicht zu erklären. Ich darf das zugleich zum Anlass nehmen, mich beim Bundesjustizministerium und bei der Bundesjustizministerin für diesen sehr komplexen Gesetzentwurf zu bedanken, den wir ein Jahr lang sehr intensiv mit Verbänden, Rechtsanwälten, Richtern und allen, die sich für das Insolvenzrecht interessieren, beraten haben. Meine Kollegin Frau Winkelmeier-Becker und ich haben frühzeitig angefangen, den Gesetzgebungsprozess zu begleiten. Das, was uns mit diesem Gesetz gelingt, ist ein Paradigmenwechsel, der nicht zu unterschätzen und aus zwei Gründen wichtig ist. Im Jahr 2009 sind in Deutschland 24 000 Insolvenzverfahren eröffnet worden; aber es hat nur 360 Planverfahren gegeben, also Verfahren, in denen es zu einer Sanierung des Unternehmens gekommen ist. Nur in 150 Fällen gab es eine Eigenverwaltung. Noch dramatischer ist: Im Jahr 2009 haben Gläubiger in diesen Verfahren 85 Milliarden Euro an Forderungen angemeldet. Das ist fast die Hälfte des Betrages, den wir jetzt für den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus bereitstellen. Das sind 85 Milliarden Euro, die durch Insolvenzen faktisch vernichtet wurden, wenn man bedenkt, dass die Insolvenzquoten zwischen 5 und 10 Prozent liegen. Das Zweite, was wichtig ist: Im Jahr 2009 sind über 250 000 Arbeitsplätze aufgrund von Insolvenzverfahren vernichtet worden. Was an diesen Zahlen niemand sieht, ist: Wenn ein Unternehmen schließt, gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren, werden nicht nur Forderungen von Gläubigern entwertet, sondern es wird auch all das entwertet, was sich um das Unternehmen herum aufgebaut hat. Dazu gehören die Infrastruktur eines Unternehmens, die Geschäftsbeziehungen, das Wissen der Geschäftsleitung und auch das Wissen der Arbeitnehmer. Dazu gehört all das, was man sich über Jahre in einem Unternehmen aufgebaut hat. Das ist es, was, wenn ein solcher Betrieb geschlossen wird, sofort vollständig vernichtet wird. Deswegen wollen wir einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Sanierungen, was im Rahmen der Insolvenzordnung in ihrer gut zehnjährigen Gültigkeit seit 1999 nicht erreicht wurde. Das ist das Ziel dieses Gesetzes, und dieses Ziel erreichen wir, indem wir die bereits im Gesetz angelegten Instrumente, die in den letzten zehn Jahren nicht so zur Geltung gekommen sind, wie sich der Gesetzgeber das bei Inkrafttreten der Insolvenzordnung gewünscht hat, schärfen und verbessern. Lassen Sie mich die Instrumente kurz vorstellen und sagen, weswegen wir uns für diesen Weg entschieden haben. Wir schaffen als Erstes ein Schutzschirmverfahren. Dass wir ständig über Schutzschirme reden, weiß die Öffentlichkeit; aber hier schaffen wir einen Schutzschirm für kleine und mittelständische Unternehmen. Wir wollen, dass ein Unternehmer, der frühzeitig erkennt, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten auf ihn zukommen, der sagt: „Ich muss etwas tun, so kann es nicht weitergehen; ich muss etwas ändern, ich will aus der Krise heraus“, auch eine reelle Chance hat. Wenn er sich hinstellt und sagt: „Ich habe diese Schwierigkeiten“, dann soll er nicht bestraft werden, indem er die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Unternehmen verliert, indem ihm jemand beiseitegestellt wird, der sagt, wie die Richtung des Unternehmens künftig sein soll. Vielmehr soll ein Unternehmer, wenn er einen Insolvenzantrag stellt, die Chance haben, in einer solchen Krise sein Unternehmen weiter selber zu verwalten. Das ist der Kern dieses Schutzschirmverfahrens. Das, was 1999 noch unter dem Gesichtspunkt „Man kann den Bock nicht zum Gärtner machen“ abgelehnt worden ist, führen wir jetzt konsequent ein. Das ist Teil des Paradigmenwechsels. Das gibt es aber nicht umsonst, und es soll auch nicht so sein, dass der Schuldner noch schnell Vermögensgegenstände beiseiteschaffen kann, um die Gläubiger zu benachteiligen. Er muss bestimmte Dinge beachten. Er muss darauf achten, dass er nicht zahlungsunfähig ist. Wer zahlungsunfähig ist, der sollte an diesem Verfahren nicht teilnehmen können. Er muss sich eine Bescheinigung besorgen, die belegt, dass sein Unternehmen wirklich sanierungsfähig ist. Das ist deswegen wichtig, weil das Gericht, das später die Anträge prüft, abschätzen können muss, ob geschummelt wird oder ob das, was ihm vorgetragen wird, reell ist. Außerdem muss er – das ist das Entscheidende – binnen drei Monaten einen Insolvenzplan vorlegen, der aufzeigt, wie er zusammen mit den Gläubigern, den Arbeitnehmern, den Kunden und all jenen, die um den Betrieb herum aufgestellt sind, das Unternehmen sanieren will. Das ist das Schutzschirmverfahren. Es macht planbar, was man in der Krise tun kann, um sich sozusagen wie Münchhausen selbst an den Haaren herauszuziehen. Aber das ist nur ein Teil. Ein anderer Teil ist das Insolvenzplanverfahren, das auch seit 1999 in unserem Insolvenzrecht vorgesehen und leider nicht so zur Geltung gekommen ist. Auch hier schärfen wir die Instrumente, und zwar grundlegend und ebenfalls mit einem Paradigmenwechsel. Wir sagen: Verbindlichkeiten können in Gesellschaftskapital umgewandelt werden. Neudeutsch würde man sagen: Das ist ein Debt-Equity-Swap. Wir wollen also die Möglichkeit schaffen, dass sich Gläubiger über die Umwandlung ihrer Forderung am Unternehmen beteiligen und, wenn das Unternehmen saniert ist, an den künftigen Erfolgen partizipieren können. Wir wollen, dass in die Gesellschafterrechte eingegriffen wird. Dafür schaffen wir die Rechtsgrundlagen. Denn in einer Krise ist es wichtig, dass neue Investoren an Bord kommen und Mitspracherecht im Unternehmen erhalten. Das geht nur, wenn man in die Gesellschafterrechte eingreift. Außerdem schränken wir die Rechtsmittel ein, weil es nicht sein kann, dass ein Planverfahren, das sehr komplex abläuft, am Ende durch Gläubiger behindert oder in die Länge gezogen wird, weil diese mit Rechtsmitteln obstruieren, obwohl sie durch den Plan im Grunde genommen bessergestellt werden, als wenn das Unternehmen geschlossen und zerschlagen würde. – Das sind die Verschärfungen im Insolvenzplanverfahren. Der letzte wichtige Punkt, der im Gesetzgebungsverfahren besondere Aufmerksamkeit genossen hat, ist die Frage: Wie werden die Gläubiger beteiligt? Wie ist es um die Unabhängigkeit des Verwalters bestellt? Das sind sehr spezielle Themen; aber auch sie gehören angesprochen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens. Wir wollen, dass die Gläubiger früh am Verfahren teilnehmen; denn nur, wenn die Gläubiger früh in das Verfahren einbezogen werden, kann die Sanierung des Unternehmens erfolgreich sein. Zweitens. Wir wollen sicherstellen – das habe ich gestern im Rechtsausschuss ausdrücklich betont –, dass der Verwalter eine unabhängige Person ist. Die Unabhängigkeit des Verwalters ist die Garantie dafür, dass ein Insolvenzverfahren für alle Beteiligten fair abläuft und alle Beteiligten optimal befriedigt werden. Deswegen haben wir ausdrücklich in die Begründung des Gesetzentwurfes geschrieben, dass es nicht richtig ist, wenn beispielsweise ein Anwalt einer großen Anwaltskanzlei Mandanten vertritt, die gleichzeitig Gläubiger des Unternehmens sind, für das er das Insolvenzverfahren abwickelt. Dann besteht ein Interessenkonflikt, der nicht zum Nachteil des Unternehmens, anderer Gläubigergruppen und der Arbeitnehmer gelöst werden darf. Wir haben den Richtern damit ein geeignetes Instrument an die Hand gegeben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich habe Ihnen die wesentlichen Punkte des ESUG vorgestellt. Am Beispiel der Insolvenzordnung haben wir gesehen, dass immer beobachtet werden muss, ob der Gesetzgeber die Instrumente eines Gesetzes so geschärft hat, dass sie wirklich funktionieren. Deswegen schlagen wir Ihnen im Rahmen eines Entschließungsantrages vor, eine Evaluierung dieses Gesetzes vorzusehen, um zu prüfen, ob das, was wir jetzt machen, den Erfolg hat, den wir uns wünschen: mehr Sanierungen, weniger Zerschlagung, weniger Verluste für Gläubiger und mehr Sicherheit für Arbeitsplätze. Das ist das Ziel des Gesetzes. Ich danke meiner Kollegin und Ministerin für diesen Gesetzentwurf. Ich freue mich auf die weitere Debatte. Ich hoffe, dass Sie alle nachher zustimmen werden; denn das, was die Koalition Ihnen hiermit vorgelegt hat, ist ein sehr erfolgreiches Projekt. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Lischka von der SPD. (Beifall bei der SPD) Burkhard Lischka (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Gesetzentwurf verlässt das Parlament so, wie er eingebracht wurde. Das ist eine alte Binsenweisheit, die sich auch dieses Mal bewahrheitet hat – zum Glück, muss man sagen; denn der ursprüngliche Gesetzentwurf, der von Ihnen, Frau Ministerin, eingebracht wurde, enthielt einige eklatante Mängel, auf die wir Sozialdemokraten bereits bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag hingewiesen haben. So hatten Sie ursprünglich vor, fast die Hälfte aller Insolvenzgerichte in unserem Land zu schließen, und zwar gegen den erklärten Willen aller Bundesländer. Das hätte bedeutet, dass die betroffenen Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmer und die Rechtsanwälte teilweise 150 Kilometer oder mehr bis zum nächsten Insolvenzgericht hätten fahren müssen. Wir Sozialdemokraten haben Ihnen bereits Ende Juni gesagt, dass das mit einer Modernisierung unseres Insolvenzrechts nichts zu tun hat. Das wäre schlicht und einfach ein Abbruch der Justiz in der Fläche und ein Akt der Bürgerunfreundlichkeit gewesen. Es ist gut, dass der Gesetzentwurf an dieser Stelle verändert wurde und sich der Deutsche Bundestag gegen Ihre ursprünglichen Vorstellungen durchsetzen wird, Frau Ministerin. (Beifall bei der SPD) Ein zweiter Kritikpunkt betraf das sogenannte Schutzschirmverfahren, das der Kollege Ahrendt eben angesprochen hat. Ihr Ansatz war durchaus richtig. Häufig stellen Unternehmer viel zu spät einen Insolvenzantrag, nämlich dann, wenn in dem Unternehmen gar nichts mehr geht und das Kind quasi schon in den Brunnen gefallen ist. Das hat in der Vergangenheit in einer Vielzahl von Fällen dazu geführt – das wissen wir alle –, dass eine erfolgreiche Sanierung der Unternehmen behindert, wenn nicht sogar unmöglich wurde. Ihre Grundidee, dass über ein strauchelndes Unternehmen vor der eigentlichen Insolvenz eine Art Schutzschirm gespannt wird, unter dem der Unternehmer an der Rettung seines Unternehmens arbeiten kann, war und ist gut. In dem ursprünglichen Gesetzentwurf war sie nur mangelhaft umgesetzt. Was wäre in der Praxis passiert? Die Banken des Unternehmens hätten davon Wind bekommen. Sie hätten alle Kredite gekündigt bzw. fällig gestellt, und dann wäre der Unternehmer tatsächlich pleite gewesen. Frau Ministerin, in Ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf war vorgesehen, dass das Schutzschirmverfahren in einem solchen Fall automatisch beendet ist. Sie hätten den Schutzschirm also weggezogen, und der Unternehmer wäre dann in die ganz normale Insolvenz gegangen. Das wäre kein Anreiz gewesen, frühzeitig einen Insolvenzantrag zu stellen und Sanierungsmaßnahmen zu erarbeiten. Das wäre vielmehr im Grunde die Aufforderung gewesen, direkt in den Abgrund zu springen. Es ist gut, dass dieser Unsinn aus dem Gesetzentwurf herausgenommen wurde und sich der Deutsche Bundestag auch an dieser Stelle gegen Ihre ursprünglichen Vorstellungen durchsetzen wird, Frau Ministerin. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer jetzt als Unternehmer einen Antrag stellt, der weiß, dass er, ohne dass Vollstreckungsmaßnahmen drohen, an der Rettung seines Betriebes arbeiten kann. Dadurch werden Firmenpleiten verhindert und Arbeitsplätze erhalten. Es ist gut, dass wir diesbezüglich zu einer vernünftigen Regelung gekommen sind. (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie doch zu!) Bezüglich unseres dritten Kritikpunktes hat die schwarz-gelbe Koalition aber allenfalls kosmetische Änderungen vorgenommen. Unsere Kritik betrifft die von Herrn Kollegen Ahrendt angesprochene Unabhängigkeit der Insolvenzverwalter. Die Unabhängigkeit der Insolvenzverwalter ist in unserer Insolvenzordnung bisher ein hohes Gut gewesen. Der Insolvenzverwalter muss, wenn er in ein strauchelndes Unternehmen kommt, im Einzelfall wirtschaftliche Missstände aufdecken und beseitigen. Er muss gegenüber Gläubigern, Geschäftspartnern und, wenn die bisherige Unternehmensleitung Unsinn gemacht hat, auch gegenüber dieser Ansprüche durchsetzen. Das ist die zentrale Aufgabe des Insolvenzverwalters. Diese Aufgabe kann er natürlich nur dann erfüllen, wenn er gegenüber all diesen Gruppen vollkommen unabhängig ist. Wir sind der Meinung, dass Schwarz-Gelb an dieser Stelle einen Tabubruch begeht. Künftig kann jemand zum Insolvenzverwalter bestellt werden, der das Unternehmen vor der eigentlichen Insolvenz beispielsweise im Hinblick auf ein künftiges Insolvenzverfahren beraten hat. Wie soll der Insolvenzverwalter wirtschaftliche Missstände aufdecken, wenn er zuvor möglicherweise an der Entstehung dieser Missstände mitgewirkt hat? Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Insolvenzverwalter kraftvoll Ansprüche gegen die bisherige Unternehmensleitung durchsetzen wird, wenn er zuvor von genau derselben Unternehmensleitung bezahlt worden ist. Nein, meine Damen und Herren, wenn der Bock zum Gärtner gemacht wird, dann ist der Erfolg fraglich. Deshalb fordern wir: Unterbinden Sie jegliche Form von Interessengegensätzen in der Person des Insolvenzverwalters. Nur dann können Unternehmenssanierungen erfolgreich durchgeführt werden. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE]) Sie treiben es aber noch doller. In Ihrem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass künftig Großgläubiger, zum Beispiel Banken, die Möglichkeit haben, einen ihnen genehmen Insolvenzverwalter zu bestimmen. Die Banken können künftig – jedenfalls, wenn sich alle einig sind – im Regelfall einen ihnen wohlgesonnenen Insolvenzverwalter auch gegenüber dem Insolvenzrichter durchsetzen. Vor lauter Dankbarkeit gegenüber diesen Großgläubigern kann dieser Insolvenzverwalter doch nicht ganz unabhängig agieren; denn die Übernahme eines solchen Amtes ist im Regelfall finanziell durchaus attraktiv, und der Insolvenzverwalter weiß, wem er das zu verdanken hat. Das ist eine ganz neue Art von Kungelei in unserer Insolvenzordnung. Sie machen den Insolvenzverwalter und damit auch das Insolvenzverfahren zumindest in Einzelfällen zum Spielball von Einzelinteressen. Das ist eine ganz neue Facette Ihrer Klientelpolitik. Das ist nicht gut. Deshalb werden wir Sozialdemokraten diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist also endlich so weit: Die erste Tranche der Insolvenzrechtsreform in dieser Legislaturperiode steht heute in zweiter und dritter Lesung an. Ich denke, wir haben damit ein Versprechen aus der ersten Lesung eingelöst. Wir haben damals versprochen, uns sehr genau die Anregungen und Argumente aus der Praxis anzuhören. Wir haben uns in der Tat in einen gründlichen Austausch mit Wissenschaft und Praxis begeben und noch etliche Änderungen aufgenommen, die zur Qualitätsver-besserung beigetragen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unter anderem haben wir eine praktikable Lösung zur Fehlerbeseitigung eingefügt. Wie schnell man so etwas brauchen kann, zeigt sich schon heute; denn wir wollen noch eine Kleinigkeit in der Beschlussempfehlung des Ausschusses korrigieren. Wir setzen, wie schon der Titel des Gesetzentwurfs zeigt, einen starken Akzent auf die Sanierung. Neben dem primären Ziel, der Gläubigerbefriedigung, senden wir damit ein deutliches Signal für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für den wirtschaftlichen Wert und aus meiner Sicht auch für die Qualifikation des Unternehmers, der in die Insolvenz geraten ist. Durch dieses Gesetz soll erreicht werden, dass der Unternehmer weiter wirtschaftlich erfolgreich tätig sein kann. Wir brauchen eine neue Insolvenzkultur, die auf Sanierung ausgerichtet ist. Eine ganz klare Botschaft dieses Gesetzes ist auch, dass demjenigen, der mit seinem Unternehmen oder privat insolvent wird, nicht automatisch das Vertrauen entzogen werden soll. Er darf nicht abgestempelt werden, sondern verdient eine neue Chance. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dass wir neben den Gedanken der Gläubigerbefriedigung den Sanierungsgedanken stellen, ist der vorläufige Höhepunkt einer langen Modernisierung des Insolvenzrechts. Ganz interessant ist ein aktueller Aufsatz von Professor Thole von der Universität Tübingen in der JZ. Darin wird ein Überblick über die Entwicklung des Insolvenzrechts gegeben, begonnen bei verschiedenen Methoden der Personalexekution in der Antike – Schuldturm, Ohrabschneiden – bis hin zu so beschämenden Strafen, dass jemand, der in der Insolvenz war, bei Hochzeiten oder Begräbnissen hinten bei den Frauen sein musste. Es war ein weiter Weg, bis man zwischen betrügerischen und glücklos handelnden Unternehmern unterschieden hat und es erste Ansätze der Schuldenbereinigung und Sanierung gab. Dies alles ist heute natürlich überwunden und weit weg, aber trotzdem schwingt dieses Stigma immer noch mit, wenn wir heute über Insolvenz sprechen. Dies wollen wir mit diesem Gesetz überwinden. Die Fortentwicklung des Insolvenzrechts mit dem Sanierungsansatz war im europäischen Vergleich längst überfällig. Wir stärken damit den Insolvenzstandort Deutschland. Dabei haben wir einen etwas anderen Ansatz als die anderen europäischen Länder. Wir setzen in der vorhandenen Insolvenzordnung, also im vorhandenen Rechtsrahmen, neue wirksame Anreize für die Beteiligten, für die Gläubiger wie auch für den Schuldner, sich frühzeitig um eine Sanierung zu kümmern. Die dazugehörigen Verfahren hat Kollege Ahrendt bereits genannt. Zum einen wird durch den vorläufigen Gläubigerausschuss dafür gesorgt, dass die Gläubiger mit ihrer Branchen- und Fachkenntnis zu einem deutlich früheren Zeitpunkt in das Verfahren einbezogen werden. Auf der anderen Seite gibt es das Schutzschirmverfahren. Die Rolle der Gläubiger zu stärken, ist einer der Kernpunkte. Diese Stärkung muss sich bereits in einer sehr frühen Phase, schon bei der Auswahl des Insolvenzverwalters und bei den ersten grundlegenden Entscheidungen, auswirken. Denn die Gläubiger entscheiden darüber, ob es zu einer Sanierung kommt oder ob das Unternehmen liquidiert wird. In Bezug auf den Gläubigerausschuss gibt es den Zielkonflikt, einerseits ein repräsentatives Gremium zusammenzustellen – das dauert seine Zeit – und andererseits schnell handlungsfähig zu sein. Deshalb haben wir für eine flexible Regelung gesorgt: Ab einer bestimmten Unternehmensgröße kann das Gericht einen vorläufigen Gläubigerausschuss vorgeben. Sollte schneller gehandelt werden müssen, gewährleistet die Regelung, dass zunächst ein Verwalter bestellt werden und die Anhörung des Gläubigerausschusses nachgeholt werden kann. Weil es um Geld und um die Unabhängigkeit des Verwalters geht, war die Regelung, dass die Gläubiger bei einstimmigem Votum dem Gericht vorgeben können, welcher Verwalter bestellt wird, von besonderem Interesse. Herr Lischka, Sie haben hier zu bedenken gegeben, dass die Dominanz der Bankenvertreter dazu führen könnte, dass ein nicht objektiver, ein befangener Verwalter eingesetzt wird. Ich sehe diese Gefahr nicht. Wir haben ein repräsentativ zusammengesetztes Gremium mit dem Erfordernis der Einstimmigkeit. Das heißt, jeder Einzelne hat ein Vetorecht. Außerdem geht der Einfluss der Bankenvertreter in diesen Zeiten eher gegen null. Zudem professionalisieren sich die Gläubiger. Insbesondere die, die nicht gesichert sind, bilden Gläubigerschutzvereinigungen. Sie werden den Bankenvertretern daher auf Augenhöhe gegenüberstehen. Ich sehe hier nur eine geringe Gefahr. Vielmehr sehe ich die Chance, mit den Gläubigern zu einer treffsicheren Auswahl des Verwalters zu kommen. Außerdem könnte sich unter den Verwaltern ein heilsamer Wettbewerb ergeben, indem sie sich daran messen: Wer schafft die beste Quote? Wer agiert am besten? Wer hat das fairste Verfahren? Genau das wollen wir erreichen. Wir haben im Hinblick auf die Verwalterauswahl einige Tabuthemen angepackt. Es soll nicht so sein, dass jemand als Verwalter ausscheidet, nur weil er vom Schuldner oder Gläubiger lediglich genannt worden ist. Auch die bloße allgemeine Beratung soll nicht automatisch zur Annahme der Befangenheit führen. Ganz klar ist auch, dass sich das Gericht ohne Weiteres für einen anderen Verwalter entscheiden kann. Es braucht diese Entscheidung in der Regel noch nicht einmal zu begründen, es sei denn, der Gläubigerausschuss hat ihm das mit einstimmigem Votum vorgegeben. Ich habe diesbezüglich wirklich keine Bedenken. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich glaube, Sie heben das an dieser Stelle hervor, um überhaupt einen Grund zu haben, unserem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen. Das ist Ihr einziger Kritikpunkt; alles andere haben Sie gelobt. (Burkhard Lischka [SPD]: Nein! Es gibt noch mehr!) Sie brauchen anscheinend das Haar in der Suppe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für den Schuldner – das wurde gerade ausgeführt – bieten wir mehr Berechenbarkeit und mehr Klarheit, auch nach außen hin. Er hat die Möglichkeit, weiterhin in Eigenverwaltung tätig zu sein, wenn sein Unternehmen saniert werden muss. Das gilt für den Zeitpunkt, wenn er in die Insolvenz geht und noch nicht zahlungsunfähig ist. In materieller Hinsicht wird dies durch den Debt-Equity-Swap ergänzt. Dieser erweitert die Möglichkeiten, einen Plan zu erstellen, deutlich. Er ist auch im internationalen Vergleich längst überfällig; er gehört längst in unsere Insolvenzordnung. Insgesamt handelt es sich hier um einen Ansatz, der die Sanierung in das vorhandene Insolvenzrecht integriert. Das hat den Vorteil, dass man die Möglichkeiten des Insolvenzrechts für eine Sanierung nutzen kann, sei es die Nutzung des Insolvenzgeldes für die Arbeitnehmer oder die Anfechtung von zu teuren Liefer- oder Mietverträgen. Das sind die Dinge, die man braucht, um eine Sanierung überhaupt durchführen zu können, und das war aus meiner Sicht längst überfällig. Ich weiß, dass auf internationalen Fachtagungen mit großem Interesse beobachtet wird, wie Deutschland dieses Verfahren implementiert. Ich bin überzeugt, dass wir damit den Unternehmen in Deutschland ein effizientes und sanierungsorientiertes Insolvenzrecht bieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein bisschen schade ist aus meiner Sicht, dass wir die Konzentration der Gerichte nicht durchgesetzt haben. (Burkhard Lischka [SPD]: Nein! Das ist sehr gut!) Mich hat die Begründung des Bundesjustizministeriums an dieser Stelle überzeugt. Ich finde es schade, dass wir diese Regelung herausgenommen haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Aber der Appell an die Länder bleibt. Sie können das trotzdem in eigener Verantwortung tun. Schließen möchte ich mit dem Dank an das Justizministerium, den Berichterstatter der FDP, Herrn Ahrendt, und die anderen Kolleginnen und Kollegen. Ich denke, wir sollten uns motiviert an die nächste Stufe der Insolvenzrechtsreform begeben. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Linke hat jetzt der Kollege Richard Pitterle das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Allein im Jahr 2010 wurden 32 000 Unternehmensinsolvenzen registriert. Es haben mehr als 240 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeit verloren. Deshalb ist es umso dringlicher, dass insolvente Unternehmen saniert werden können. Das Insolvenzrecht, das wir haben, ist zäh. Gerade in Krisen-zeiten brauchen wir ein Insolvenzrecht, das auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützt. Spätestens wenn der Betrieb pleite ist, werden diese mit dem Insolvenzrecht konfrontiert. Das Ziel des Gesetzentwurfs ist, dafür zu sorgen, dass Unternehmen, die finanziell straucheln, frühzeitig wieder auf den richtigen Weg kommen. Das ist auch uns Linken ein ganz wichtiges Anliegen. Denn nur die Unternehmen, die nicht abgewickelt werden, können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen und Arbeitsplätze sichern. (Beifall bei der LINKEN) Bei den vorgeschlagenen Änderungen des Insolvenzplanverfahrens und bei der Eigenverwaltung gibt es gute Ansätze. Aber in der Praxis ist beides bisher unbedeutend. Die Gründe dafür sind vielfältig; auch die Psychologie spielt eine wichtige Rolle. Vielfach steht die Insolvenz als Schreckgespenst über dem Betrieb. Sie wird überhaupt nicht als Chance begriffen. Schön wäre es, wenn hier ein Umdenken stattfände. Ich möchte auf zwei Punkte, die auch in diesem Gesetzentwurf leider keine Beachtung gefunden haben, näher eingehen. Die Instrumente zur Sanierung können helfen, Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten zu retten. Aber die Abwicklung wird der Regelfall bleiben. Hat man nur das Überleben eines Unternehmens im Auge, vergisst man leicht die Probleme, denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgesetzt sind, vor allem dann, wenn es um die aussichtslose Sanierung von Unternehmen geht. 1999 wurde die Konkursordnung durch die Insolvenzordnung abgelöst. Das hat zwei gravierende Verschlechterungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gebracht. Erstens. Noch nicht ausgezahlte Löhne und Gehälter werden nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohne Ausnahme zu Insolvenzforderungen, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden zu Insolvenzgläubigern. Was heißt das konkret? Die Pleite eines Unternehmens zeichnet sich für die Belegschaft oft schon frühzeitig ab. Es gibt unregelmäßige Lohnzahlungen oder gar Lohnausfall, eine zunehmende Zahl von Überstunden, den Verzicht auf Urlaub und andere Vergünstigungen. Die Liste der Zumutungen ist lang, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben keine Chance, sich diesen zu entziehen. Ein ehrlicher und verantwortungsbewusster Arbeitgeber wird die Belegschaft auf die schwierigen Zeiten vorbereiten und sie zu gemeinsamen Anstrengungen motivieren, um den Betrieb und den Arbeitsplatz zu erhalten. Muss dann trotzdem das Insolvenzverfahren eröffnet werden, passiert Erstaunliches: Der ausstehende Lohn verwandelt sich in eine Insolvenzforderung, die beim Insolvenzverwalter anzumelden ist. Die Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden ganz am Ende einer langen Liste, auf der eine Vielzahl anderer Gläubiger steht, eingereiht. Was bleibt von ihrem Engagement beim Scheitern der Sanierung übrig? Im Durchschnitt sind es 5 Prozent ihrer Forderungen; so hoch ist in Deutschland die Insolvenzquote. Das heißt, wenn bei jemandem 1 000 Euro Lohn ausstehen, bekommt er davon mit viel Glück 50 Euro. Aber institutionelle Großgläubiger, zum Beispiel Banken, befriedigen bereits vorher einen Großteil ihrer Forderungen. Sie bekommen die Vermögenswerte des Unternehmens, weil sie sich diese als Kreditsicherung vorher haben garantieren lassen. Die zweite gravierende Verschlechterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die Insolvenzanfechtung. Selbst diejenigen, die vor der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ihren Arbeitslohn verzögert erhalten haben, können nicht sicher sein, dass sie das Geld behalten dürfen. Die Insolvenzverwalter können nach diesem Recht Teile davon zurückfordern. Das Bundesarbeitsgericht und der Bundesgerichtshof haben diese Möglichkeit zwar eingeschränkt, aber ausgeschlossen ist sie nicht. Zwar wollte das Bundesjustizministerium 2009 wenigstens die Insolvenzanfechtung gesetzlich einschränken, aber dazu kam es nicht. Jede Änderung zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würde gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Gläubigern, zu denen auch Banken zählen, verstoßen, hieß es als Begründung aus Fachkreisen. Andere würden sonst ebenfalls Sonderforderungen stellen, hieß es. Bei dieser Einschätzung wird vernachlässigt, dass eine Gleichbehandlung im Falle der Insolvenz ohnehin nur eine Illusion ist. Banken haben bei der Kreditgewährung an eine GmbH sowieso oft einen zusätzlichen Zugriff auf das Privatvermögen des Geschäftsführers oder des Inhabers des Unternehmens. In dieser komfortablen Situation ist die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer nicht. Darüber hinaus gebietet es das Grundgesetz sogar, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesondert zu behandeln. Es ist schon aufgrund der besonderen Stellung dieser Gruppe zum pleitegegangenen Unternehmen sachlich nicht gerechtfertigt, sie mit sonstigen Gläubigern wie den Banken zu vergleichen. (Beifall bei der LINKEN) Dies gilt erst recht, wenn auch das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes als verfassungsrechtliches Leitbild beachtet würde. Nicht zuletzt gibt es das 173. Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, das 1995 in Kraft getreten ist. In Art. 5 wird eine bevorrechtigte Behandlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers verlangt. (Beifall bei der LINKEN) Das Übereinkommen wurde von Österreich, der Schweiz, Finnland und Spanien ratifiziert – von Deutschland bis heute nicht. Ich frage mich: Warum nicht? (Zuruf von der LINKEN: Traurig!) Das beste Insolvenzrecht taugt nichts, wenn der Insolvenzverwalter sein Handwerk nicht versteht. In dem Entwurf wird zwar teilweise angesprochen, welche Mindestqualifikationen Richter und Rechtspfleger haben sollen, aber es gab keine wirklichen Auseinandersetzungen über die Berufszulassungs- und Berufsausübungsregeln für Insolvenzverwalter. Es ist schon paradox, dass eine Friseurin oder ein Friseur ohne einen Meisterbrief nicht selbstständig tätig sein darf, während sich jeder Mensch ohne irgendeine nachgewiesene Qualifikation als Sanierer eines Unternehmens mit Hunderten oder Tausenden Arbeitsplätzen versuchen und mit Forderungen in Millionenhöhe jonglieren darf. Das sollten wir ändern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2010 gab es 32 000 Unternehmensinsolvenzen. Hinter dieser nackten Zahl verbergen sich viele Arbeitsplätze, geplatzte Träume von Selbstständigkeit und natürlich Existenzen, auch Familienexistenzen. Deshalb war für uns Grüne eine Reform des Insolvenzrechts schon immer ein großes Anliegen. Bereits mit unserem Antrag vom Juni 2010 haben wir Vorschläge für die Verbesserung der Sanierung von Unternehmen unterbreitet. Ein Jahr später hat die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf vorgelegt. Viele Komponenten des Gesetzentwurfs sind berechtigt. Zu nennen sind insbesondere der Ausbau des Insolvenzplanverfahrens und die Intention, Eigenverwaltung und Gläubigerinteressen zu stärken. Umso bedauerlicher ist es, dass Sie in einigen Punkten die Chance für eine umfassende und ausgewogene Reform nicht genutzt haben. Diese Defizite Ihrer Reform werde ich Ihnen in drei Punkten aufzeigen. Sie betreffen erstens die Zuständigkeitsregelungen für Insolvenzgerichte, zweitens den vorläufigen Gläubigerausschuss und drittens die Stellung des Insolvenzverwalters. Die Zuständigkeiten für Unternehmensinsolvenzen an den Gerichten stärker zu konzentrieren, halten wir für eine richtige Maßnahme. Richter, die im Bereich Insolvenzrecht tätig sind, treffen Entscheidungen, die für die Sanierungschancen von Unternehmen von großer Bedeutung sind. Genau deswegen brauchen die Richter nicht nur juristisches, sondern auch betriebswirtschaftliches Fachwissen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht mit der vorgesehenen stärkeren Konzentration der Insolvenzgerichte in die richtige Richtung. Bedauerlicherweise sieht nun der Änderungsantrag der Koalition eine Streichung dieser wichtigen Passage vor, obwohl wir zum Beispiel 116 Landgerichtsbezirke in Deutschland haben, dafür aber viel mehr Insolvenzgerichte, nämlich 191. (Burkhard Lischka [SPD]: Das ist auch gut so!) Die Rücknahme Ihrer eigenen Planung können wir nicht verstehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch bei der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss waren sich die Experten einig, dass Expertise an den Gerichten gebündelt werden muss. (Burkhard Lischka [SPD]: Ganz so war es nicht!) Oft wurde in diesem Zusammenhang vorgebracht, dass zumindest größere Verfahren an den Landgerichten in den Kammern für Handelssachen angesiedelt werden könnten; denn hier ist das notwendige wirtschaftliche Fachwissen bereits vorhanden. Die Qualitätssicherung der Arbeit von Richtern und Rechtspflegern durch gezielten Aufbau von wirtschaftlichem Fachwissen lassen Sie damit außer Acht. Mit dieser Entscheidung haben Sie einer nachdrücklichen Forderung aus der Fachwelt viel zu wenig Bedeutung beigemessen. Sie haben hier eine Chance verpasst und sind zurückgewichen, meine Damen und Herren von der Koalition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun komme ich zu meinem nächsten Punkt, der Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses. Gläubigerinteressen sollen gestärkt werden. Das wollen natürlich auch wir. Sie scheinen aber zu übersehen, dass die Gruppe der Gläubiger nicht homogen ist. Auch die Interessen „kleinerer“, zum Beispiel nicht institutioneller Gläubiger müssen beachtet werden. Diesen Anspruch erfüllt die jetzt vorgesehene Regelung nicht. Nach bisheriger Rechtslage liegt es im Ermessen des Insolvenzrichters, ob er einen vorläufigen Gläubigerausschuss einsetzt oder nicht. Der Regierungsentwurf hat Regelungen für die Einsetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses aufgestellt. Diese orientieren sich an der Größe der Unternehmen. Schon mit diesen Regelungen wäre der vorläufige Gläubigerausschuss nur in sehr wenigen Fällen eingesetzt worden. Das ergibt sich plastisch aus der Gesetzesbegründung. Die Verschärfung, die jetzt im Änderungsantrag der Koalition enthalten ist, wird diese Zahl noch weiter reduzieren. Wenigstens mildern Sie diese Wirkung dadurch ab, dass einzelne Gläubiger einen vorläufigen Gläubigerausschuss beantragen können, wenn sie dafür Mitglieder benennen. Dadurch erhalten zumindest die Gläubiger von kleineren und mittleren Unternehmen die Möglichkeit, sich im Rahmen eines vorläufigen Gläubigerausschusses am Verfahren zu beteiligen. Insgesamt sind wir allerdings skeptisch, dass die Neuregelung zu einer häufigeren Einsetzung von vorläufigen Gläubigerausschüssen führen wird. Es wäre besser gewesen, hier keine Regelung zu treffen, sondern es bei der bisherigen Rechtslage zu belassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zu meinem dritten zentralen Punkt. Dieser hat uns im Ausschuss und bei der Anhörung intensiv beschäftigt. Es geht um die geplanten Regelungen zur Auswahl des Insolvenzverwalters. Ich sage Ihnen mit Nachdruck: Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters muss umfassend gewährleistet werden. Eine Person, die ein Unternehmen schon vor der Stellung des Eröffnungsantrags beraten hat, sei es auch nur in allgemeiner Form über das Insolvenzverfahren oder über dessen Folgen, ist nicht mehr unvoreingenommen. Deshalb sollte ein solcher Berater nicht mehr zum Insolvenzverwalter bestellt werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt wird die Rede gut!) Auch sollte der Insolvenzrichter bei der Auswahl des Verwalters durch ein einstimmiges Votum des Gläubigerausschusses nicht strikt verpflichtet sein. Hier besteht die Gefahr, dass die institutionellen Gläubiger den Ausschuss und damit auch die Wahl des Verwalters dominieren. Bei den Insolvenzverwaltern wiederum kann das dazu führen, dass einzelne Verwalter, die häufig in Verfahren mit institutionellen Gläubigern arbeiten, viele Aufträge erhalten. Andere Verwalter, die in Verfahren mit „kleineren“ Gläubigern ihr Geschäftsfeld haben, könnten wenig Aufträge erhalten. Es entsteht ein sogenannter Closed Shop, der den Wettbewerb unter den Insolvenzverwaltern einschränkt. Deswegen sehen wir unsere hohen Anforderungen an die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters mit diesem Gesetzentwurf nicht gewahrt. Als Rechtspolitikerin muss ich abschließend feststellen: Zentrale Ansätze in der Vorlage der Regierungs-koalition sind entweder nicht zu Ende gedacht oder einseitig auslegbar. Trotz vieler richtiger Ansätze, die die Sanierungschancen von Unternehmen verbessern werden, können wir diesem Gesetzentwurf deshalb nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Heider von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Man ist in diesen Tagen, wenn man sich mit der Materie des Insolvenzrechts befasst, versucht, eine Brücke zu den großen Ereignissen in Europa zu schlagen. Die Begriffe, mit denen wir uns schon beschäftigt haben, wie dem vorläufigen Gläubigerausschuss, dem Schutzschirmverfahren und der Benennung eines Sachwalters legen gewisse Parallelen nahe. Ich will aber nicht der Versuchung erliegen, mich damit zu beschäftigen und vielleicht darauf zu schließen, was in Europa sinnvoll wäre. Das Insolvenzrecht zeigt, dass wir viele Instrumente ins Werk setzen, die durchaus der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen gerecht werden. Ich glaube auch, dass ein Paradigmenwechsel, wenigstens aber ein großer Wurf mit diesem Gesetz gelingt. Dafür ist der Initiative und dem Impuls der Bundesregierung und der Frau Justizministerin zu danken, aber auch den Koalitionsfraktionen, die in intensiver Beratung dieses Gesetzgebungsverfahren begleitet und viele wichtige Punkte in ihm hervorgehoben haben. Ich will mich nicht so sehr mit den technischen Einzelheiten befassen; ich will etwas näher auf die wirtschaftlichen Herausforderungen eingehen. Wir machen mit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen durchaus einen wichtigen Schritt zu einer nachhaltigeren Wirtschaftspolitik. In der Wirtschaftspolitik geht es ohne Zweifel darum, die Voraussetzungen für den Wohlstand in einer Gesellschaft und in einer Volkswirtschaft zu verbessern, das heißt Grundlagen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu legen, effizientes und kostengünstiges Wirtschaften zu ermöglichen sowie den Wettbewerb und den Zugang zu den Märkten zu sichern. Nachhaltige Wirtschaftspolitik betrifft weit mehr als die Schonung von Ressourcen und den effektiven Kapitaleinsatz. Nachhaltig bedeutet auch, Werte zu schaffen, langfristig Innovationen und Investitionen zu sichern, Arbeitsplätze zu erhalten und das unternehmerische Risiko nach Möglichkeit kalkulierbar zu halten. Das bedeutet, eine dauerhafte und starke Position im Wettbewerb zu haben. Das braucht unsere Volkswirtschaft, und das brauchen unsere Unternehmen. Zum unternehmerischen Risiko gehört sicherlich die Gefahr, insolvent zu werden. Unternehmenskrisen und leider auch – im Volksjargon – Firmenpleiten gehören zum Wirtschaftsleben dazu. Trotzdem wollen wir an dieser Stelle auch junge Unternehmerinnen und Unternehmer dazu ermutigen, etwas zu wagen und das Risiko der Unternehmensneugründung einzugehen. Junge und innovative Unternehmen können sich häufig nur dann erfolgreich am Markt etablieren, wenn sich in der Gründungs- und Anlaufphase Investoren mit Kapital beteiligen. Hierfür dienen unter anderem – das nur nebenbei gesagt – auch das KfW-Startgeld oder der High-Tech-Gründerfonds, an dem sowohl das BMWi als auch die KfW beteiligt sind. Dennoch: Unternehmen sind während ihrer Aufbauphase besonders anfällig. Im Jahr 2010 war die Ausfallquote bei Unternehmen mit einem Betriebsalter von bis zu sechs Jahren mit durchschnittlich 162 Insolvenzen auf jeweils 10 000 Unternehmen fast dreimal höher als bei etablierten Unternehmen. Knapp die Hälfte der insolventen Unternehmen, nämlich über 45 Prozent, wiesen im Jahr 2010 ein Betriebsalter von bis zu sechs Jahren auf. Ein Drittel der Fälle betraf Unternehmen, die älter waren als zehn Jahre. Hier setzt das neue Insolvenzrecht entscheidende Akzente. Wenn neu gegründete Unternehmen nach einigen Jahren während der Wachstumsphase in Schieflage geraten, stehen mit dem ESUG jetzt Instrumente bereit, die dem unternehmerischen Ausfall entgegenwirken. Viele Unternehmer verstehen unter Insolvenz noch immer ausschließlich die Liquidation des Unternehmens. Sie verkennen dabei, dass das betroffene Unternehmen zum Beispiel mithilfe des Insolvenzplans saniert werden kann. Dass die bestehenden Möglichkeiten zur Sanierung eines Unternehmens oft nur unzureichend genutzt werden, liegt daran, dass sich die meisten Unternehmen scheuen, einen Insolvenzantrag zu stellen, und zuerst versuchen, die Unternehmenskrise ausschließlich aus eigener Kraft zu lösen. Das kostet Liquidität und das verbliebene Vertrauen von Kunden und Lieferanten, aber auch von Mitarbeitern und vor allen Dingen von Kreditgebern. Für das Gelingen einer Sanierung ist es wichtig, ob am Ende eines Insolvenzverfahrens das Unternehmen liquidiert wird, ob die Unternehmerin oder der Unternehmer die selbstständige Tätigkeit beenden muss oder wieder aufnimmt oder ob es Möglichkeiten gibt, das Unternehmen durch eine übertragende Sanierung oder mithilfe eines Insolvenzplans zu retten. Doch das muss entschieden werden, bevor die Kassen leer sind. Die Rettungsmöglichkeiten verbessert das geänderte Gesetz. Ich bin mir sicher, dass sich mit dem ESUG auch die Chance für eine neue Insolvenzkultur bieten wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das Gesetz gibt den Anreiz zu einer frühzeitigen Insolvenzantragstellung. Wie wichtig es ist, rechtzeitig den Insolvenzantrag zu stellen, zeigt, dass alleine 2010 rund 13 000 Fälle, also nahezu 10 Prozent aller Insolvenzverfahren, mangels Masse abgewiesen werden mussten. Der bei einem Eigenantrag vorgesehene Schutzschirm macht zwar den Eröffnungsantrag nicht entbehrlich. Gleichwohl verstärkt er das Sanierungspotenzial. Alle Instrumente – diese hat die Kollegin WinkelmeierBecker gerade vorgestellt – wie die Vereinfachung des Zugangs zur Eigenverwaltung, der Ausbau und die Straffung des Planverfahrens, die Mitbestimmungsrechte der Gläubiger im vorläufigen Gläubigerausschuss und die Einführung des Schutzschirmverfahrens sind wichtig für eine nachhaltige Verfahrensgestaltung, die letztendlich auch dem Schutz von Arbeitsplätzen dient. Deshalb kann ich gar nicht verstehen, warum Sie auf der linken Seite des Hauses so pessimistisch sind. Wenn alle Forderungen von Arbeitnehmern zu Masseforderungen würden, dann würde es kein sanierungsfähiges Unternehmen mehr geben. Dann müssten wir uns damit gar nicht mehr befassen. Schließlich gibt es die Möglichkeit des Konkursausfallgeldes. In der Tat haben die Gläubiger eine starke Stellung bei der Auswahl des Insolvenzverwalters. Herr Kollege Lischka, ich glaube nicht, dass das eine Laterna magica wird, in die man sich hineinbegibt. (Burkhard Lischka [SPD]: Warten wir es ab!) Man muss in der Tat beobachten, wie sich das Verfahren in der Praxis entwickelt und wie die Gläubiger davon Gebrauch machen. Ich glaube nicht, dass es dazu verführt, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. Die Gläubiger haben ein großes Interesse daran, das Verfahren zu gestalten, gerade weil es um sehr spezifische Branchen wie die Gesundheitswirtschaft oder die Automobilindustrie geht. Hier ist Know-how gefragt. Ich komme zum Schluss. Weitere Reformen des Insolvenzrechts werden notwendig sein. Wir werden bereits im nächsten Jahr über Regelungen zur Verbraucherinsolvenz sprechen. Ich bin der Auffassung: Wir schaffen mit den im Gesetz verankerten Instrumenten ein gutes Verfahren und werden dem Insolvenzverfahren damit einige Impulse geben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Ingo Egloff. (Beifall bei der SPD) Ingo Egloff (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst anmerken, dass sich dieses Gesetzgebungsverfahren positiv von anderen abgehoben hat; denn hier ist auf allen Seiten des Hauses mit dem gebotenen Sachverstand verhandelt worden. Die Sachverständigenanhörung hat gezeigt, dass wir in der Praxis viele Probleme gemeinsam zu lösen haben. Wir alle haben uns darum bemüht, eine sachgerechte Lösung im Gesetzgebungsverfahren zu finden, wenngleich wir uns nicht in allen Punkten einig sind; das sei zugestanden. Darauf werde ich gleich noch eingehen. Trotzdem ist das ein positives Beispiel. Daran könnte man auch in zukünftigen Fällen anknüpfen. Das Ziel des Gesetzgebungsverfahrens – das ist hier schon mehrfach gesagt worden –, das uns geleitet hat, war und ist, die Fortführung von insolvenzbedrohten Unternehmen zu ermöglichen, die Sanierung in den Vordergrund zu stellen und vor allen Dingen dem Insolvenzverfahren den Makel des unternehmerischen Versagens zu nehmen. Deshalb haben wir uns ausführlich mit dem Schutzschirmverfahren und der Praktikabilität desselben beschäftigt. Der Kollege Lischka hat darauf hingewiesen, dass es positiv zu werten ist, dass wir im laufenden Gesetzgebungsverfahren an dieser Stelle Änderungen vorgenommen haben. Das begrüßen wir ausdrücklich. Neuland betreten wir bei § 225 a der Insolvenzordnung, der die Umwandlung von Forderungen in Unternehmensanteile vorsieht. Dies ist eine Möglichkeit, den Unternehmen neue Chancen zu eröffnen. Aber gleichzeitig besteht auch die Gefahr – der müssen wir uns bewusst sein –, dass Unternehmen Forderungen von anderen Unternehmen aufkaufen, wenn klar ist, dass diese Unternehmen notleidend sind, aber nicht mit dem Ziel, das Unternehmen zu sanieren, sondern die attraktiven Teile des Unternehmens zu nutzen, gegebenenfalls weiterzuverkaufen, also das Unternehmen auszuschlachten und den Rest in die Insolvenz gehen zu lassen. Das heißt, die Unternehmen würden dann filetiert werden. Es gibt Beispiele – in Großbritannien gibt es diese Art des Verfahrens schon länger –, dass das auch deutschen Unternehmen passiert ist. Ich habe schon in der letzten Debatte darauf hingewiesen, dass die Deutsche Nickel – das ist das Unternehmen, das die 1-Euro-Münzen hergestellt hat – dieser Gefahr erlegen und anschließend in die Insolvenz gegangen ist, nachdem man versucht hat, durch das Ausweichen in das englische Recht ein entsprechendes Insolvenzverfahren einzuleiten. Wir wissen auch, dass es in anderen Bereichen – auch in Deutschland wurden Mittelständler von Hedgefonds aufgekauft – gängige Praxis ist, so zu verfahren, nämlich attraktive Unternehmensteile zu verkaufen und den Rest in die Insolvenz gehen zu lassen, und eigentlich gesunde Unternehmen kaputtzumachen. Deswegen ist es gut, dass wir im Berichterstattergespräch über diese Gefahren noch einmal gesprochen haben und sich alle Beteiligten einig waren, dass wir darauf achten müssen, wie sich dieser Punkt in Zukunft entwickelt. Deswegen muss das evaluiert werden. Das hatten wir Sozialdemokraten ausdrücklich vorgeschlagen. Ich finde es richtig, dass wir uns nach fünf Jahren ansehen, wie sich das Gesetz an dieser Stelle ausgewirkt hat. Dann erweist sich, ob die Befürchtung, die wir geäußert haben, richtig gewesen ist oder ob wir feststellen müssen, dass wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens alles richtig gemacht haben, was am Ende dazu geführt hat, dass Unternehmen von dieser Möglichkeit profitiert haben und dann saniert und fortgeführt werden konnten. Das wird die Zukunft zeigen. Für uns ist § 56 der Insolvenzordnung der Knackpunkt. Herr Lischka hat darauf hingewiesen. Auch die Kollegin von den Grünen hat darauf hingewiesen. Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters ist ein hohes Gut. Ich finde die Regelung richtig, die wir bisher in der Insolvenzordnung hatten, nämlich dass der Insolvenzrichter den Insolvenzverwalter bestellt, und zwar in großer Unabhängigkeit. (Beifall bei der SPD) Deswegen sind wir sehr skeptisch, was die Regelung des § 56 angeht. Wir nehmen das nicht als Vorwand, um dem Gesetz nicht zuzustimmen. Hätten Sie sich an dieser Stelle bewegt, wie wir es vorgeschlagen haben, hätten wir diesem Gesetzentwurf in seiner Gänze auch zugestimmt. So werden wir uns enthalten, weil die Frage für uns so wichtig ist. Auf die Gefahren, die damit verbunden sind, möchten wir noch einmal hinweisen. Dass jemand, der vorher schon ein Unternehmen in irgendeiner Art und Weise beraten hat, später Insolvenzverwalter werden kann und dann nicht die Unabhängigkeit hat, die ein Insolvenzverwalter braucht, darauf hat der Kollege Lischka schon hingewiesen. Auch die Regelung des § 56 Abs. 3, die den Richter in einer Art und Weise bindet, dass er so gut wie keine Möglichkeit mehr hat, anders zu entscheiden, wenn es einen einstimmigen Beschluss der Gläubigerversammlung gibt, lehnen wir ab. (Beifall bei der SPD) Wir bauen hier keinen Popanz auf. Wer sich auf Veranstaltungen bewegt hat, die zur Insolvenzrechtsreform stattgefunden haben, und dort mit Vertretern von Banken und Versicherungen gesprochen hat, weiß, dass die Großgläubiger in der Regel die Chance sehen, ihre Insolvenzverwalter immer durchzusetzen. Es ist die Frage, ob das gut ist. Wir beantworten diese Frage eindeutig mit Nein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir sind der Auffassung, dass die Änderung von § 56 so nicht beschlossen werden sollte. Wir haben das im Rechtausschuss beantragt. Sie sind dem nicht gefolgt. Das ist für uns der Grund, warum wir uns hier heute im Gesetzgebungsverfahren enthalten und Ihrem Gesetz nicht zustimmen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich nun dem Kollegen Stephan Mayer das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Mit dem heute zu fassenden Beschluss über die Novellierung der Insolvenzordnung wird das ohnehin schon gute deutsche Insolvenzrecht noch besser. Aber auch wenn es bisher schon gut war: Gerade die schwerwiegendste Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik hat gezeigt, dass unser Insolvenzrecht Defizite aufweist. Ich empfinde es als den größten Charme und auch den größten Mehrwert der jetzt vorgenommenen Novellierung, dass der Zeitpunkt des Beginns der Sanierung und der Umstrukturierung deutlich nach vorn geschoben wird. Die Vergangenheit hat bewiesen, dass das bisherige Insolvenzrecht leider nicht die erforderlichen Instrumentarien beinhaltet hat, um möglichst frühzeitig mit der Sanierung und mit der Umgestaltung eines Unternehmens beginnen zu können. Ich kann mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie im Großen und Ganzen – das war auch Ihren Reden zu entnehmen – mit den Zielen der Novellierung des Insolvenzrechts durchaus konform gehen, dass Sie sich auch mit den einzelnen Bestandteilen durchaus einverstanden erklären, dass Sie aber wirklich das Haar in der Suppe suchen, (Burkhard Lischka [SPD]: Eher ein Haarbüschel! Das ist schon ein wesentlicher Knackpunkt! Da müssen Sie schon zuhören! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein ganzer Haarschopf!) um diesem Gesetzentwurf ja nicht zustimmen zu müssen. Das finde ich persönlich durchaus bedauerlich, weil meines Erachtens das Ziel hier in diesem Hause auf allen Fraktionsbänken gleich sein sollte, nämlich alles dafür zu tun, dass die Anzahl der Insolvenzen in Deutschland zurückgeht und damit natürlich auch wertvolle und wichtige Arbeitsplätze gesichert werden. Ich bin auch sehr froh, dass der Entwurf einer novellierten Insolvenzordnung im parlamentarischen Verfahren eine deutliche Veränderung erfahren hat – meines Erachtens eine Veränderung zum Besseren. Es ist erfreulich, dass die Eigenverwaltung, die bisher eher ein stiefmütterliches Dasein gefristet hat, aufgewertet wird, reformiert wird, gestärkt wird, dass ein Schutzschirm für Schuldner geschaffen wird. Es ist aber bei diesem Schutzschirm genauso wie bei anderen Schutzschirmen, dass er nicht bedingungslos aufgespannt wird, sondern nur unter ganz bestimmten Konditionen geöffnet wird: Hierzu ist es erforderlich, dass der Unternehmer als Schuldner rechtzeitig den Antrag stellt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem er noch nicht überschuldet ist, zu dem noch nicht die Zahlungsunfähigkeit gegeben ist. Er hat dann drei Monate Zeit, einen Insolvenzplan auszuarbeiten, und es besteht die Möglichkeit, einen vorläufigen Gläubigerausschuss einzurichten. Gerade das Instrument, einen vorläufigen Gläubigerausschuss einrichten zu können, ist aus meiner Sicht einer der großen Mehrwerte der Novellierung der Insolvenzordnung. Ein weiterer positiver Bestandteil ist das schon erwähnte Insolvenzplanverfahren, weil damit die Möglichkeit gegeben wird, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Es wird die Möglichkeit gegeben, Fremdkapital zu Eigenkapital umzuwandeln und damit die Gläubiger zu Mitwirkenden zu machen, natürlich durchaus mit dem Anreiz, sich aktiv daran zu beteiligen, das Unternehmen wieder in sichereres und besseres Fahrwasser zu führen. Richtigerweise wird die Möglichkeit zu Blockaden zurückgefahren; diese wurden bisher teilweise von einzelnen Gläubigern, die Partikularinteressen verfolgt haben, genutzt. Auch dies ist ein erheblicher Mehrwert, der in der Novellierung der Insolvenzordnung steckt. Ich bin auch froh, meine werten Kolleginnen und Kollegen, dass es uns gelungen ist, durchaus auf berechtigte Wünsche und Forderungen des Bundesrates Rücksicht zu nehmen. Zum einen wurden die Schwellenwerte, ab denen die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses verpflichtend ist, deutlich angehoben. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass für kleinere und mittlere Unternehmen kein vorläufiger Gläubigerausschuss eingerichtet werden kann. Es liegt eben im Ermessen des Richters. Ich glaube, es ist ein erheblicher Vorteil, dass die Schwellenwerte hier deutlich erhöht wurden. Ein weiteres Ergebnis infolge einer Forderung, die vom Bundesrat meines Erachtens sehr berechtigt an uns herangetragen wurde, ist, dass wir formal an den Zuständigkeiten der Insolvenzgerichte nichts ändern. Ich habe dies schon in meiner Rede in der ersten Lesung am 30. Juni sehr deutlich formuliert: Ich bin der Meinung, es ist richtig – gerade auch bei Verbraucherinsolvenzen –, dass der Schuldner einen kurzen Weg zum Insolvenzgericht hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]) Gerade in den Flächenländern ist es wichtig, dass die Wege nicht zu lang sind. Es geht häufig um Personen, etwa Hartz-IV-Empfänger, die selbst nicht mobil sind. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Insolvenzgerichte als Dienstleister empfunden werden und dass der Weg möglichst kurz ist. Natürlich besteht für die Länder auch weiterhin, wie bisher, die Möglichkeit, von der Öffnungsklausel Gebrauch zu machen; sprich: Sie können, wie bisher auch, in jedem Landgerichtsbezirk ein Amtsgericht zum Insolvenzgericht bestimmen, aber sie müssen es nicht. Dass den Bundesländern diese Freiheit belassen wird, ist richtig. Ich habe persönlich in vielen Fällen, auch im Wahlkreis, die Erfahrung gemacht, dass es durchaus einen Mehrwert bietet, wenn der Insolvenzrichter das Unternehmen und vielleicht auch die Unternehmer oder Geschäftsführer schon aus einer Zeit kennt, zu der es dem Unternehmen noch besser ging. Auch bei Unternehmensinsolvenzen ist es gut, dass der Weg möglichst kurz ist, dass also die Distanz zum Insolvenzgericht nicht so groß ist. (Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]) Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass es uns gelungen ist, die bisherige Regelung, die sich meines Erachtens bewährt hat, beizubehalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich bin auch froh, dass es gelungen ist, in die von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Entschließung eine Evaluierungsklausel aufzunehmen. Es sollte heutzutage gang und gäbe sein, dass jedes Gesetz nach einer bestimmten Zeit auf seine Sinnhaftigkeit und auf seine Wirksamkeit hin überprüft wird. Insofern ist es richtig, dass wir uns hier verpflichten, nach fünf Jahren das neue Recht auf seine Sinnhaftigkeit und auf seine Wirkung hin zu überprüfen. Insgesamt kann man wirklich sagen, dass mit dieser Verbesserung des deutschen Insolvenzrechts dem berechtigten Ziel Rechnung getragen wird, dass Unternehmen möglichst frühzeitig saniert und umstrukturiert werden können. Vor diesem Hintergrund wäre es aus meiner Sicht wirklich wünschenswert, wenn dieser sehr gelungene Gesetzentwurf eine möglichst große Zustimmung in diesem Haus erfahren würde. Deshalb noch einmal der dringende, aber auch sehr herzliche Appell an die Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, dem Gesetzentwurf zuzustimmen! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kommt zu spät! Diese Schalmeien kommen zu spät!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7511, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5712 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der Maßgabe der vom Berichterstatter Ahrendt mündlich vorgetragenen Änderung des Art. 10 zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich gehe davon aus, dass wir sofort in die dritte Beratung eintreten können. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Ebenfalls unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7511 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Entschließung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/7511 fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2008 mit dem Titel „Insolvenzrechtsreform unverzüglich vorlegen – Außergerichtliche Sanierungsverfahren stärken – Insolvenzplanverfahren attraktiver gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik – Drucksache 17/6915 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor mit dem Titel „Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik“. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Allein der Titel ist eine Unverschämtheit!) Zunächst einmal ist natürlich zu fragen, was eine moderne Familienpolitik ausmacht. Daran muss man die Frage anschließen, was eigentlich Familie ist. Ich glaube, von der Beantwortung dieser Fragen hängt ab, welche Konzepte man schreibt, wie man politische Schwerpunkte setzt und wie man sich in dieser Frage positioniert. Unsere Bundesfamilienministerin sagt: Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger … stellt sich unter einer Familie nach wie vor verheiratete Eltern mit Kindern vor. Das habe ich einem Interview im Onlinemagazin The European im Oktober 2010 entnommen. Wir müssen aber auch die Realität wahrnehmen. Danach wachsen immer mehr Kinder im Haushalt von Alleinerziehenden auf. Allein im Jahr 2010 gab es rund 82 000 Scheidungen. Etwa 170 000 Kinder waren davon allein in diesem Jahr betroffen. Für die Kinder von Alleinerziehenden sind nicht nur die Mutter, der Vater oder die Geschwister, sondern auch Oma und Opa, selbst Tante und Onkel ihre Familie. Das halte ich für einen sehr umfassenden und sehr modernen Familienbegriff, dem Politik Rechnung tragen muss. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) So aber nicht die Bundesregierung. Was macht sie auf dem Feld der Familienpolitik? Es gibt immer noch das Relikt des Ehegattensplittings. Das heißt nicht, dass man sich den Ehegatten teilt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Vielmehr handelt es sich um eine finanzielle Förderung einer ganz speziellen Familienform, die von einem Alleinernährer, der das Geld nach Hause bringt, und einer Frau, die vielleicht noch etwas nebenher verdient, ausgeht. Damit wird noch nicht einmal allgemein das Modell der Ehe gefördert, wie es der Name vielleicht suggerieren könnte, sondern es wird nur ein ganz bestimmtes Ehemodell gefördert. Dann gibt es das Elterngeld. Elterngeld wird aber nicht allen Eltern gewährt. Für die Eltern, die Hartz IV beziehen, ist das Elterngeld gestrichen worden, (Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Skandal!) obwohl 600 000 alleinerziehende Mütter auf Hartz IV angewiesen sind, über die Hälfte davon schon seit 2005. Diese leben also schon seit Jahren auf Armutsniveau und kommen aus dieser Situation nicht heraus. Dann wurde ihnen auch noch das Elterngeld gestrichen. Das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung weigert sich zudem tapfer, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der zumindest das Existenzminimum sichern und das Armutsrisiko verringern könnte. Die Bundesregierung schaut tatenlos zu, dass wir nach wie vor unsichere Beschäftigungsverhältnisse haben, dass Frauen schlechter bezahlt werden und dass vor allem sie Minijobs ausüben; denn zwei Drittel dieser Jobs entfallen auf Frauen. Die Kindererziehung und die Pflege von Familienmitgliedern wird hauptsächlich von Frauen geleistet. Gute Arbeit sieht in unseren Augen anders aus. Ein weiterer Punkt ist der Ausbau der Kindertagesstätten. Die Bundesregierung will aber nur Plätze für 38 Prozent der Kinder schaffen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Dass Sie sich nicht schämen, solch einen Quatsch zu erzählen!) Ich frage Sie, Frau Bär: Welche Kinder werden auch 2013 noch zu Hause sitzen, wenn die Plätze nicht für alle reichen, obwohl der Rechtsanspruch für alle Kinder gelten soll? (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das wird reichen! – Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Bildungsklau!) Ich bin jetzt schon gespannt auf Ihre Einschränkung des Rechtsanspruchs, die definitiv kommen wird. Meine Damen und Herren, was versteht nun die Linke unter Familie, und was leiten wir daraus ab? Ich zitiere aus unserem Antrag: Familie ist dort, wo Menschen füreinander soziale Verantwortung übernehmen, unabhängig von Trauschein oder sexueller Orientierung. Wir finden, das ist ein modernes Familienbild, das traditionelle Rollenbilder überwinden will und das auch einen besseren Blick auf die Realität der Familien in Deutschland darstellt. (Beifall bei der LINKEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sie wollen nicht für alle Familien in diesem Land sprechen! Das ist das Problem!) Unser Antrag beschreibt deshalb Rahmenbedingungen und die Stellschrauben, die wir als Politik nutzen können, um allen Familien eine wirkliche Wahlfreiheit und ein gutes Leben zu ermöglichen. – Was heißt das für die Praxis? Erstens. Wir brauchen zunächst einmal bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel durch ein individuelles Recht auf Teilzeitarbeit. Individuell heißt, dass man selbst wählen kann und einem nichts aufgezwungen wird. Wir brauchen zugleich einen Mindestlohn, um Armut durch Arbeit oder Armut sogar trotz Arbeit zu verhindern. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen auch die Abschaffung des Ehegattensplittings, wir müssen zur Individualbesteuerung kommen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens. Wir müssen Ausbildung familienfreundlicher gestalten; denn eine gute Ausbildung ist die Grundlage für gute Arbeit und damit für ein Einkommen, das die Familie sichern kann. Drittens. Wir brauchen eine Infrastruktur für Familien, Kinder und Jugendliche, zum Beispiel eine gebührenfreie, bedarfsdeckende Kinderbetreuung. Wir brauchen mehr Investitionen in Kinder- und Jugendhilfe. (Beifall bei der LINKEN) Viertens. Wir brauchen die finanzielle Absicherung von Familien mit geringem Erwerbseinkommen oder gar keinem Einkommen. Die Kürzungen beim Elterngeld müssen daher zurückgenommen werden. Wir müssen verfassungsfeste Hartz-IV-Regelsätze schaffen. Und wir wollen Kinder durch eine Kindermindestsicherung vor Armut schützen. (Beifall bei der LINKEN) Fünftens. Wir müssen Alleinerziehende unterstützen. Vorhin habe ich schon angesprochen, wie viele Menschen in unserem Lande von den daraus resultierenden Problemen betroffen sind, zum Beispiel bei der Rückkehr ins Berufsleben. Sechstens. Wir müssen ein partnerschaftliches Leitbild in der Familienpolitik entwickeln. Das heißt, wir müssen Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts abbauen. Wir brauchen die gleichen Teilhabechancen für Frauen. Wir müssen die Grundlagen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung, also eine echte Wahlfreiheit, frei von Rollenmustern, schaffen. (Beifall bei der LINKEN) All dies umfasst nach unserer Auffassung eine moderne Familienpolitik. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Familienministerium hat in diesen Tagen eine Broschüre mit einer Halbzeitbilanz der 17. Legislaturperiode vorgelegt. Diese Broschüre trägt den Titel „Familie zuerst!“. Ich finde, das sollte das Motto der Familienministerin bei den derzeitigen Haushaltsdebatten sein. Dabei darf es nicht darum gehen, bei den Familien zuerst den Rotstift anzusetzen, (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Falsche Dinge werden auch durch Wiederholung nicht richtig! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) vielmehr muss es darum gehen, eine sozial gerechte Verteilung der Mittel vorzunehmen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beispiele dafür habe ich eben genannt. Ich sehe schon am Unmut der Regierungsfraktionen, dass wir des Pudels Kern getroffen haben, (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Wenn man schon Goethe zitiert, dann nicht sinnentfremdet!) und freue mich auf eine interessante und spannende Debatte. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag, den die Linke heute vorlegt, steht unter dem Motto: ein lustiges Potpourri, ein Feuerwerk der guten Laune – einfach alles, was nicht finanzierbar ist und was Familien in diesem Lande angeblich wollen. Ich glaube, manchmal hilft es – es würde gerade auch der Linken nicht schaden –, wenn man einfach einmal das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in die Hand nimmt. Ich kann Ihnen empfehlen, einmal einen Blick hineinzuwerfen. In Art. 6 Abs. 1 steht: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (Christel Humme [SPD]: Art. 3 wäre auch nicht schlecht!) Genau dieser Familienpolitik fühlen wir uns verpflichtet – und zwar für alle Familien in diesem Lande, egal welches Modell sie leben –, und genau hierfür macht die christlich-liberale Koalition Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie eben nicht! – Christel Humme [SPD]: Was ist mit Art. 3, Frau Bär? – Zuruf von der LINKEN: Eben nicht!) Wir machen Politik für diejenigen, bei denen beide Eltern arbeiten gehen; wir machen Politik für die Eltern, die sich entschließen, dass ein Ehepartner zu Hause bleibt. (Christel Humme [SPD]: Das ist nichts Neues! Das machen wir seit 60 Jahren!) Wir machen selbstverständlich auch Familienpolitik für diejenigen Frauen – Sie sagen, dass es sich dabei um ein Modell von vorgestern handelt –, die sich entscheiden, für einige Zeit zu Hause zu bleiben. Sich dann aber hier hinzustellen, Frau Golze, und zu sagen: „Für diese Gruppen darf man keine Politik machen, denn wir, die Linke, legen fest, was moderne Familienpolitik ist“, (Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich an keiner Stelle gesagt!) das ist ein Skandal! Das ist ja Ihr Lieblingswort hier am Pult. (Christel Humme [SPD]: Sie sind ein Skandal!) Ich halte es für einen Skandal, wenn Sie hier festlegen wollen, was das richtige Modell ist, und Sie alle anderen Modelle für falsch halten. Das akzeptiere ich an dieser Stelle nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich an keiner Stelle gesagt! Lesen Sie den Antrag! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN) Das ist die Hauptursache dafür, warum es so wenige Kinder in diesem Land gibt: Weil jedes Modell, das die Nachbarfamilie lebt, immer als Kritik am eigenen Modell verstanden wird, weil Sie nicht nach dem Leitsatz „Leben und leben lassen“ handeln, (Diana Golze [DIE LINKE]: Ich habe von Wahlfreiheit gesprochen!) sondern weil Sie sagen: So wie ich das mache – und ich gehe in Vollzeit arbeiten –, so muss es jede Frau in diesem Land machen, (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie müssen zuhören!) nur so ist es richtig. Das finde ich unsäglich, und das wird von uns nicht mitgetragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich an keiner Stelle getan! Das ist Schattenfechterei!) Wir haben das Elterngeld eingeführt, (Zuruf von der SPD: Sie haben es nicht verhindert!) und das war eine völlig richtige Entscheidung. Wir sind aber generell für Wahlfreiheit. Wir sind dafür, dass jede Familie nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden soll. Wir sind diejenigen, die nichts vorschreiben. Denn es gibt nicht nur die zwei berühmten Modelle, von denen Sie reden: auf der einen Seite das Modell, dass beide Elternteile Vollzeit arbeiten und das Kind täglich zwölf Stunden in der Kita ist, (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Zwölf Stunden?) auf der anderen Seite das Modell, dass ein Elternteil komplett zu Hause bleibt. (Christel Humme [SPD]: Was machen denn Ihre Kinder jetzt?) Fragen Sie doch einmal die Familien in Deutschland: Es gibt dort absolut unterschiedliche Modelle; und diese ändern sich auch noch im Laufe der Zeit. Da gibt es nicht nur Schema A und Schema B; das ist vielfältiger. Unsere Familienpolitik hat den Anspruch, jedem einzelnen dieser Modelle gerecht zu werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen selbstverständlich nicht nur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr tun, die in vielen Bereichen schon wunderbar funktioniert. Wir müssen auch mehr für die Vereinbarkeit von Familie und Karriere tun. Es muss selbstverständlich möglich sein, Familie und Karriere miteinander zu vereinbaren. Wenn ich mit Arbeitgebern rede, akzeptiere ich nicht, wenn es beispielsweise heißt, eine Führungsposition könne nicht von einer Frau ausgefüllt werden, die in Teilzeit arbeitet. Allerdings muss das im gemeinsamen Gespräch und im Einvernehmen geschehen. Ich finde es darüber hinaus nicht in Ordnung, hier einen Antrag vorzulegen, den Sie nicht einmal durchgerechnet haben. Jetzt können Sie natürlich sagen: „Das müssen wir nicht durchrechnen; wir können einfach auf Kosten der nachfolgenden Generationen ohne Ende Schulden machen.“ (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Das belastet den Haushalt nicht! Im Gegenteil!) Eine solche Einstellung ist, um das Lieblingswort von Frau Golze zu zitieren, „skandalös“. – Frau Golze, ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie hier lustig durch die Reihen wandern. Ich habe Ihnen bei Ihrer Rede doch auch zugehört. (Diana Golze [DIE LINKE]: Ich kann sehr gut zuhören!) Da sieht man halt, welche Kinderstube Sie haben, Frau Golze. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN) Wir betreiben eine nachhaltige Familienpolitik. Wir haben nämlich eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen und sagen: „Wir verschulden uns nicht neu.“ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen, dass unsere Kinder und Kindeskinder nicht auf Schuldenbergen spielen, sondern später die Freiheit haben, gestalten zu können. Sie wollen ohne Ende Schulden anhäufen und den nachfolgenden Generationen jegliche Luft zum Atmen nehmen. Auch das ist verantwortungslos. (Diana Golze [DIE LINKE]: Habe ich nicht gesagt! Ich habe gesagt: Man muss Prioritäten setzen!) Sie hatten heute schon hier Ihre große Showveranstaltung, bei der Sie versucht haben, Ihr unsägliches Programm zu präsentieren. (Diana Golze [DIE LINKE]: Auf Ihren Antrag hin!) – Es war eine Aktuelle Stunde. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben Sie beantragt!) – Ja, um einfach einmal die Maske herunterzureißen, damit man sieht, was das für eine Partei ist, deren Vertreter auf der linken Seite des Hauses sitzen, die unverantwortlich handelt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war ja wohl ein Schuss in den Ofen! Man bemerkt die Orientierungslosigkeit von CDU/CSU! – Weitere Zurufe von der LINKEN und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die den Menschen die Luft zum Atmen abschneidet und die den Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Frau Golze sagt ja: „So wie ich lebe, muss jede einzelne Familie in Deutschland leben.“ (Diana Golze [DIE LINKE]: Habe ich an keiner Stelle gemacht!) Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hoffe, dass uns möglichst viele Menschen draußen zuschauen, (Diana Golze [DIE LINKE]: Das hoffe ich auch! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das wäre schlecht für Sie!) damit sie sehen, welch verantwortungslose Politik auf der linken Seite des Hauses gemacht wird. Wir sagen: Wir schreiben niemandem vor, wie er zu leben hat. Wir haben den Ausbau der Kinderbetreuung vorangetrieben; wir machen das nach Bedarf, denn wir wollen niemanden zwangsbeglücken. Wir wollen Familien nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Wir arbeiten auch an einer positiven Stimmung; das ist nämlich ganz entscheidend. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Positive Stimmung“? Wo ist denn die?) Man kann sehr viel in die Betreuung investieren, man kann sehr viel Geld in die Hand nehmen. Für mich ist es aber auch entscheidend, in diesem Land ein Klima zu schaffen, in dem es leichter fällt, Ja zu Kindern zu sagen. Daran arbeiten wir. Sie sollten sich für Ihren Antrag wirklich schämen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Diana Golze das Wort. Diana Golze (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Kollegin Bär, ich kann ja verstehen, dass Sie nach der misslungenen Aktuellen Stunde heute mehr als aufgebracht sind. Es ist Ihnen eben nicht gelungen, uns hier als etwas darzustellen, was wir nicht sind. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Wieso? Ist es noch schlimmer?) Da Sie mir schon nicht zugehört haben, würde ich Sie bitten, sich meine Rede im Nachhinein noch einmal anzuhören. Dann merken Sie, dass ich all das, was Sie mir unterstellt haben, überhaupt nicht geäußert habe. Ich habe überhaupt niemandem ein Familienbild vorgeschrieben. Ganz im Gegenteil: Ich habe von „Wahlfreiheit“ gesprochen. Ich habe überhaupt niemandem vorgeschrieben, dass er seine Kinder betreuen lassen soll oder auch nicht. Ich habe sogar ausnahmsweise nicht vom Betreuungsgeld gesprochen; aber Sie spielen, weil Sie Ihre Rede vorher geschrieben und bei meiner Rede nicht zugehört haben, darauf an. (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Sie hat frei gesprochen!) Es ist einfach erstaunlich, auf welche Art und Weise Sie sich hier echauffieren. Ich habe eigentlich das Gefühl, eine sachliche Rede gehalten zu haben. (Zurufe von der SPD: Ja!) Man hätte sachlich darauf eingehen können. Dazu sind Sie nicht in der Lage. Das allein sagt alles. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch ich wünsche mir übrigens, dass das viele gesehen haben. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwiderung. Bitte schön. Dorothee Bär (CDU/CSU): Aufgrund der großen Selbstüberschätzung der Kollegin erübrigt sich jegliche Antwort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mein Gott, sind wir hier auf einem niedrigen Niveau angelangt! Und das schon den ganzen Nachmittag! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Da fällt mir nichts mehr ein!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von der SPD-Fraktion. Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Frau Golze, keine Angst, ich möchte Ihnen nicht die Maske vom Gesicht reißen wie Frau Bär. Im Gegenteil: Ich danke Ihnen für diesen Antrag; denn er gibt Gelegenheit, sich nach zwei Jahren Regierungskoalition einmal in einer Bilanz damit auseinanderzusetzen, was die Regierung bisher an Familienpolitik geleistet hat. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich sage Ihnen ganz eindeutig: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind klar positioniert. Wir wissen ganz genau: Ohne eine moderne Gleichstellungspolitik gibt es keine moderne Familienpolitik, und ohne eine moderne Familienpolitik gibt es keine moderne Gleichstellungspolitik. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Das ist eine eindeutige Position, die wir bei Ihnen – Frau Bär, es tut mir sehr leid – vergeblich suchen. Das ist ganz klar; das zeigte Ihre aufgeheizte Rede vorhin ganz deutlich. Die Ministerin – Herr Kues ist da, die Ministerin nicht – (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was soll sie bei so einem Antrag auch da sein! Braucht sie doch nicht! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die ist jetzt bei ihrem Kind!) sagt, sie möchte Wahlfreiheit. Das ist ein schöner Satz. Aber gleichzeitig signalisiert die Bundesregierung mit dem Betreuungsgeld: Mütter, bleibt doch zu Hause! Andererseits streitet sich die Bundesregierung – ich weiß nicht, was dabei herauskommt – um das Elterngeld. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer streitet sich denn ums Elterngeld? So ein Schwachsinn!) Sie möchte es eigentlich streichen. Welch fatales Signal ist das für die Mütter, vor allem für die berufstätigen Mütter! Das ist keine Wahlfreiheit, das sage ich Ihnen an dieser Stelle; und zukunftsweisend ist das schon gar nicht. (Beifall bei der SPD) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, was junge Männer und junge Frauen wirklich wollen, ist, nicht länger auf eine Rolle festgelegt zu werden. Frau Bär, an dieser einzigen Stelle würde ich Ihnen recht geben. Denn weder wollen die Männer Haupternährer sein, noch wollen die Frauen maximal Zuverdienerinnen sein. Ich glaube, hier hat sich vieles verändert. Es gibt kein entweder Familie oder Beruf, sondern es gibt nur Familie und Beruf. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Diese veränderten Lebensentwürfe nimmt die jetzige Regierung nicht wirklich zur Kenntnis. Die veränderten Lebensbedürfnisse verlangen eine völlig andere Politik; der mutlose Zickzackkurs, den die Bundesregierung derzeit fährt, ist da völlig fehl am Platz. Das bestätigt auch der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Gleichstellungsbericht. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht lernen sie ja daraus!) Dieser Bericht, so scheint mir, liegt bis jetzt leider in der untersten Schublade, Herr Kues. Ich weiß nicht, was Sie damit machen. Ich kann nur hoffen, dass Sie sich den Bericht so schnell wie möglich vornehmen und abarbeiten. Denn dann kommen Sie am Schluss zu einer modernen Familien- und Gleichstellungspolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich sage Ihnen, was dazugehört – Frau Golze hat ja schon vieles genannt –: Erstens gehört natürlich Zeit für die Familie dazu, das heißt Zeit für Männer und Frauen, um für ihre Familie sorgen zu können. Zweitens gehört natürlich auch dazu, dass der Lebensunterhalt bestritten werden kann, und zwar durch Frauen und Männer gleichermaßen. Drittens gehört eine gute Ganztagsbetreuung dazu. Aber wie sieht es konkret aus? Was macht die Bundesregierung an dieser Stelle? Nehmen wir uns den Punkt eins, die Zeit, vor. Wir wissen, das sozialdemokratische Modell der Elternzeit ist ein Erfolgsmodell. 25 Prozent der Väter nehmen die Elternzeit in Anspruch. Man kann sagen, da hat sich wirklich etwas bewegt. Aber man muss ein ehrliches Bild zeichnen: 75 Prozent der Väter nehmen diese Zeit leider nicht in Anspruch. Darum haben wir uns vorgenommen, das Konzept der Elternzeit zu verbessern und es in einem ersten Schritt zu ermöglichen, dass Väter und Mütter in Teilzeit arbeiten und gleichzeitig Elterngeld in Anspruch nehmen können. Das geht jetzt nur für sieben Monate; wir wollen das für 14 Monate ermöglichen. In Ihrem Koalitionsvertrag steht das zwar auch, aber die Familienministerin ist vor dem Finanzminister eingeknickt – schade! (Zuruf von der SPD: Vorauseilender Gehorsam!) Damit ist dieses wichtige Projekt auf Eis gelegt. Verlorene Zeit für die jungen Frauen und die jungen Männer, denke ich. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, was Familien, was Männer und Frauen wirklich brauchen, ist eine andere Arbeitswelt, andere Arbeitszeitstrukturen; das ist sehr wichtig. Die Ministerin hat eine Initiative gestartet, die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“. Aber diese Initiative beruht auf Freiwilligkeit. Das heißt, sie hat sich Unterschriften geben lassen ohne irgendeine Kontrolle. Wie soll das gehen? So etwas hatten wir doch schon einmal. Vor 10 Jahren, also 2001, gab es eine solche Vereinbarung über familienfreundliche Betriebe. Welches Ergebnis das zeigte, wissen Sie besser als wir, nämlich gar keines. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das war die damalige Familienpolitik! Das unterscheidet uns von heute!) – Sie haben offensichtlich nichts dazugelernt. Wir haben eine freiwillige Vereinbarung getroffen in der Hoffnung, dass sich etwas bewegt. Sie machen jetzt den gleichen Fehler noch einmal. (Zuruf der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]) – Frau Fischbach, Sie können mich so viel anschreien, wie Sie wollen. – Wir brauchen gesetzliche Regelungen, und zwar dafür, dass Frauen und Männer befristet Teilzeitarbeit annehmen können. Sie brauchen aber einen Rechtsanspruch, wieder Vollzeit arbeiten zu können; denn das hilft bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. In diesem Punkt sind wir einen wichtigen Schritt weiter als Sie. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Wir wissen eines – das haben Sie noch nicht begriffen –: Teilzeitarbeit ist heute eine Falle für die Frauen. Unsere Regelung wird dafür sorgen, dass es eine solche Falle nicht mehr gibt. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sie wollen den Menschen alles vorschreiben!) Frau Golze, ich betone an dieser Stelle: Es ist ein gutes Konzept für Alleinerziehende; denn sie brauchen ein flexibles Arbeitszeitmodell und nicht 24 Monate Elternzeit, die Sie vorschlagen. Ich bin skeptisch, ob das wirklich eine Lösung wäre. Das wäre in der Tat für die Frauen eine Falle in Bezug auf den Wiedereinstieg. Frau Golze, Sie haben auch gesagt: Das Ehegattensplitting muss abgelöst werden. Ja, das ist richtig. Das Ehegattensplitting ist ein überholtes Modell, es manifestiert vor allem die Rolle der Frau als Hinzuverdienerin. Ich gebe Ihnen also völlig recht: Das Ehegattensplitting muss endlich reformiert werden; denn dann hätten wir Geld – das ist ein weiterer Aspekt – für das, was wir zusätzlich brauchen, nämlich mehr Infrastruktur. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich bin froh, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen!) – Das ist gut. Verantwortung kann man aber nur übernehmen, wenn das Geld dafür vorhanden ist. Wenn jeder sein eigenes Geld verdient, Frau Bär – das wäre das Wünschenswerte –, dann kann man gegenseitig Verantwortung übernehmen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das müssen die Familien doch für sich entscheiden, wie sie das machen wollen! Wieder wird ihnen hineingeredet! Wieder wird ihnen vorgeschrieben, wie sie zu leben haben!) Dann können auch Frauen Familienernährerinnen sein, wenn der Mann arbeitslos wird. Genau darum geht es. Ich komme zu meinem letzten Punkt: Infrastruktur. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Humme, das wird jetzt aber ganz schwierig. (Heiterkeit – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Die Rede ist ohnehin schon schwierig!) Christel Humme (SPD): Nur noch eine Bemerkung. – Ich bedaure es sehr, dass die Familienministerin nicht aktiv wird und keinen Krippengipfel einberuft. Frau Bär, Sie haben gesagt: Alles ist unterfinanziert. Nehmen Sie das Geld aus dem Topf für das Betreuungsgeld – 2 Milliarden Euro –, nehmen Sie die Begünstigung der Hoteliers zurück – 1 Milliarde Euro –, und gehen Sie die Reform des Ehegattensplittings an. Sie haben so viele Möglichkeiten, bei den Familienleistungen umzuschichten. Dann hätten Sie genug Geld. Viele familienpolitische Maßnahmen, die modern sind, kosten eigentlich gar nichts, aber man muss es wollen und darf nicht ideologisch verblendet in irgendeiner Ecke sitzen. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sie sind ideologisch! Die SPD ist ideologisch!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Bracht-Bendt das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Humme, Ihre Bewertung unserer Regierungsarbeit teile ich natürlich nicht. Ich sehe das ganz anders als Sie. (Christel Humme [SPD]: Das kann ich mir vorstellen!) Der Antrag der Fraktion der Linken enthält einige Passagen zur Familienpolitik, die ich durchaus mittrage – Frau Golze hat es schon erwähnt –, zum Beispiel: Familie ist dort, wo Menschen füreinander soziale Verantwortung übernehmen, unabhängig von Trauschein oder sexueller Orientierung. … Gemeinschaften, in denen Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, sind gleichzustellen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie einmal Ihrem Koalitionspartner sagen!) Das sehe ich genauso wie Sie. Dann heißt es weiter: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stärken, ist wesentlicher Bestandteil einer sozialen und geschlechtergerechten Familienpolitik. Das hat die Koalition in einem gemeinsamen Antrag längst beschlossen. Auch hierin sind wir uns also einig. Aber dann gehen mit Ihnen in Ihrem Antrag wieder einmal die Pferde durch. Woher das Geld für Ihren Rundumwohlfühlstaat kommen soll, das sagen Sie natürlich nicht. Sie wollen auch noch Gesetze, die alle Einzelheiten des Zusammenlebens regeln – ich zitiere –: So ist auch die ungleiche Verteilung von unbezahlter (Familien-)Arbeit und Erwerbsarbeit zu Lasten der Frauen eine wesentliche Basis der bestehenden Geschlechterverhältnisse. Trotz eines Neutralitätsanspruchs gegenüber verschiedenen Formen sozialen Zusammenlebens – jetzt kommt es – ist politisch aktiv auf die Beseitigung von geschlechterstereotypen Festlegungen und Rollenzuweisungen hinzuwirken. Wollen Sie per Gesetz vorschreiben, wer welchen Beruf ausüben soll, wer daheim den Müll runterträgt oder spült? Ihr Antrag liest sich, als hätte die Koalition in Sachen moderner und zukunftsweisender Familienpolitik bislang geschlafen. Was wichtig ist, haben wir aber längst erkannt. Nicht nur das, wir handeln auch. Das sieht man an allen einzelnen Bausteinen. Sie werfen Frau Ministerin Schröder vor, sie halte an überholten Rollenbildern fest. Das Gegenteil ist richtig: In ganz unterschiedlichen Initiativen streichen wir immer wieder heraus, dass Stereotype bei der Berufswahl veraltet sind. Junge Menschen sollen ermutigt werden, sich nicht nur für vermeintliche Frauen- oder Männerberufe zu entscheiden. Schauen Sie sich den Erzieherberuf an. Wir haben gezielt die Initiative „MEHR Männer in Kitas“ auf den Weg gebracht. Oder denken Sie an unsere Anstrengungen, um Mädchen für MINT-Berufe zu gewinnen. Zentrales Anliegen der Koalition ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In unserem Frauenantrag haben wir eine klare Zielrichtung vorgegeben. Da ist die Rede vom Ausbau der Kinderbetreuung – das ist bekanntlich Sache der Bundesländer –, weil eine gut ausgestattete, flexible Betreuung wichtig ist. Damit Eltern gleichberechtigt Familie und Beruf in Einklang bringen können, hat der Bund den Ausbau mit 4 Milliarden Euro angestoßen. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind ab drei Jahren ist kein Pappenstiel. Sie sagen, dass „Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen … überwiegend von Frauen übernommen“ werden. Das bedeute ein „erhöhtes Armutsrisiko im Alter“. Auch diesbezüglich hat die Koalition in Form eines Familienpflege-Gesetzes längst gehandelt. (Widerspruch der Abg. Caren Marks [SPD]) – Wir sehen das so. Sie betrachten das natürlich anders. – Damit Pflegende nicht in die Altersarmut abrutschen, bleiben sie zwei Jahre lang sozialversichert. Ihre Rentenversicherungsbeiträge bleiben gleich. Mit diesem Gesetz sprechen wir gezielt auch Männer an. Von den berufstätigen Frauen mit pflegebedürftigen Angehörigen nehmen übrigens 81 Prozent Pflegeaufgaben wahr. Von den berufstätigen Männern – hören Sie bitte zu – sind das laut Allensbach-Institut immerhin schon 54 Prozent. Noch ein Wort zum Mindestlohn: Es ist richtig, dass zum Beispiel in sozialen Berufen die Gehälter zum Teil viel zu niedrig sind. Hier muss etwas geschehen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was?) Ich lehne es aber ab, dass sich die Politik an dieser Stelle zu sehr einmischt. Die Tarifhoheit von Wirtschaft und Arbeitnehmern darf nicht ausgehebelt werden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie kapieren es nicht mehr! Aber in zwei Jahren sind Sie ja nicht mehr dabei! – Gegenruf des Abg. Florian Bernschneider [FDP]: Das wollen wir mal sehen!) In unserer Fraktion – hören Sie bitte genau zu – diskutieren wir mit unabhängigen Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft über Fragen des Mindestlohns; das ist sehr interessant. (Christel Humme [SPD]: Wir lernen nichts mehr aus Ihrer Rede!) Liberale Politik setzt vor allem auf flexible Arbeitszeitmodelle für beide Elternteile. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Liberale Politik ist in zwei Jahren nicht mehr gefragt!) Väter wie Mütter müssen neben dem Beruf Zeit für die Familie haben. Dabei sind die Unternehmen in der Pflicht. Auch hier haben wir geliefert: Die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ des Ministeriums mit dem DIHK verfolgt genau dieses Ziel. Familienfreundlichkeit wird zunehmend zu einem Wettbewerbsfaktor bei der Suche nach Fachkräften. Ein gutes Betreuungsangebot und flexible Arbeitszeitmodelle sind das eine. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat die Koalition dafür gesorgt, dass Familien über die Erhöhung des Kindergeldes und die Anhebung des Kinderfreibetrages direkt entlastet werden. Neben Wahlfreiheit und finanzieller Unterstützung ist für mich ein früher Zugang zu Bildungs- und Betreuungsangeboten entscheidend. Bildung von Anfang an ist Chancengerechtigkeit. Meine Damen und Herren, die Koalition hat ein klares und gutes familienpolitisches Konzept. Den Antrag der Fraktion Die Linke, der völlig überzogene Forderungen enthält, lehnt die FDP-Fraktion natürlich ab. Ganz herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Katja Dörner ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den andauernden Streitereien in der Koalition über das Betreuungsgeld und das Elterngeld in den letzten Wochen wäre heute Abend eigentlich eine gute Gelegenheit gewesen, um Klarheit zu schaffen. Es wäre angemessen gewesen, den Menschen reinen Wein einzuschenken und sie darüber aufzuklären, was die Koalitionsfraktionen tatsächlich planen, insbesondere beim Betreuungsgeld. Aber was müssen wir erleben? Das ist ein Mix aus unsachlicher Polemik und Süßholzgeraspel. Ich finde, das ist in einer familienpolitischen Debatte völlig unangemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unwürdig ist das!) Ich möchte hier einiges in Erinnerung rufen: Fakt ist, dass Kinder in diesem Land immer noch das größte Armutsrisiko darstellen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die immer sofort „Skandal!“ schreien. An dieser Stelle finde ich es aber absolut angemessen, von einem Skandal zu sprechen. Was hat die Regierung gemacht? Sie hat den Kinderfreibetrag und das Kindergeld erhöht. Dagegen ist erst einmal nichts zu sagen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Gnädig!) Aber was war der Effekt? Familien mit einem hohen Einkommen haben im Monat pro Kind 40 Euro mehr im Portemonnaie, Familien mit einem durchschnittlichen Einkommen haben 20 Euro mehr, aber Familien im ALG-II-Bezug haben davon überhaupt nichts gehabt. Sie gehen komplett leer aus. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Gerechtigkeit à la Schwarz-Gelb!) – Genau. Das ist schwarz-gelbe Gerechtigkeit. Es kommt noch schlimmer. Mit dem sogenannten Sparpaket wurde – Kollegin Golze hat es schon gesagt – den ALG-II-Beziehenden faktisch auch noch das Elterngeld gestrichen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Skandal!) Das ist Politik nach dem Motto „Wer hat, dem wird gegeben“. Das ist nicht kinderfreundlich, das ist nicht familienfreundlich, das ist das Gegenteil von einer familienfreundlichen Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wir Grünen sagen ganz klar: Die Förderung von Kindern und Familien muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden, damit endlich bei denen das meiste ankommt, die den größten Bedarf haben. Jetzt wird von einigen aus der Koalition das Elterngeld sogar infrage gestellt. Ich weiß, dass die Ministerin und einige Mitglieder Ihrer Fraktionen im Fachausschuss das immer dementieren, aber ich habe den Eindruck, dass das die Großkopferten in der CDU/CSU und in der FDP nicht beeindruckt. Diese Debatte wird uns weiter begleiten. Die angekündigten Weiterentwicklungen beim Elterngeld, also das Teilelterngeld und der Ausbau der Vätermonate, liegen auf Eis. Dabei wären das genau die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt gewesen, nicht nur um die materielle Absicherung von jungen Familien zu verbessern, sondern auch, um die Gleichberechtigung und die Beteiligung der Väter in der Familienarbeit zu befördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Nächstes Thema – Stichwort „Dauerstreit“ –: das Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern. Die Justizministerin, die heute Abend sogar anwesend ist, hatte den entsprechenden Gesetzentwurf bereits für den Herbst 2010 angekündigt. Das ist jetzt ein Jahr her. Wir warten immer noch. Auf ihrer Homepage verkündet die Ministerin lapidar, sie habe einen Kompromissvorschlag gemacht, aber die Union bewege sich nicht. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!) Ich finde, es ist ein sehr bezeichnender und ungewöhnlicher Vorgang, den Koalitionsstreit im Internet zu dokumentieren. Dies ist eine zu begrüßende Transparenzoffensive. Aber es ist offensichtlich: Der Frust sitzt hier wohl tief. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir Grüne haben als einzige Fraktion bis dato einen Vorschlag zum gemeinsamen Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern gemacht: eine Kombination aus Antrags- und Widerspruchslösung. Unsere Lösung ist sehr niedrigschwellig, weil es den Kindern letztlich egal ist, ob die Eltern miteinander verheiratet sind, und weil wir der Meinung sind, dass es keinen Grund gibt, verheiratete und nicht miteinander verheiratete Eltern per se unterschiedlich zu behandeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seitens der CSU wurde gegen einen solchen einfachen Weg zum gemeinsamem Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern eingewandt, dann sei die Ehe bald gar nicht mehr attraktiv und so gut wie gar nichts mehr wert. Diese Meinung teilen sicherlich nicht alle in der Koalition, aber die schwarz-gelbe Familienpolitik orientiert sich immer noch an einem veralteten Familienbild: verheiratete Paare mit Kindern, am besten sie zu Hause oder in Teilzeit beschäftigt. Das hat aber schon lange nichts mehr mit der Realität zu tun. In den letzten zehn Jahren ist der Anteil der Kinder, die bei unverheirateten Eltern aufwachsen, um 32 Prozent gestiegen. Der Anteil der Alleinerziehenden steigt. Homosexuelle Väter und Mütter leben mit ihren Kindern in Regenbogenfamilien zusammen. Diese Pluralität der Familienformen, die es in unserem Land gibt, spiegelt diese Regierungspolitik an keiner Stelle wider. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für uns Grüne ist Familie da, wo Kinder sind und Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Es geht nicht an, dass Kinder und Familien immer noch Nachteile in Kauf nehmen müssen, nur weil sie in familiären Strukturen leben, die einer konservativen Regierung nicht ganz geheuer sind. Die Familienpolitik muss sich an den Familien orientieren und nicht umgekehrt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wenn sich die Koalition einmal nicht streitet, dann steckt sie den Kopf in den Sand. Wir warten auf die Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes mit der angekündigten Ausweitung. Auch das kann man wohl in die Kategorie Dauerstreit einordnen. Frau Laurischk hat vorgeschlagen, statt des Betreuungsgeldes den Unterhaltsvorschuss auszuweiten. Das ist eigentlich eine ganz vernünftige Idee, aber auch da kommen, glaube ich, diese Regierung und diese Koalitionsfraktionen nicht zusammen. Wo bleiben die dringend notwendigen Initiativen der Bundesregierung, um sicherzustellen, dass der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren 2013 tatsächlich Realität wird und die Kommunen, was die Kosten angeht, nicht im Regen stehen bleiben, wenn der Bedarf höher ist als das, was ursprünglich prognostiziert worden ist? Angesichts all dieser Herausforderungen, über die wir heute Abend gesprochen haben, leistet sich die Koalition eine Diskussion über das Betreuungsgeld. Das ist bizarr. Ich könnte auch sagen: Mir fehlen die Worte. (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das ist am Ende der Rede meistens gut!) Das stimmt zwar nicht, aber ich denke, das ist eine gute Schleife, um zum Ende meiner Rede zu kommen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ein rhetorisches Feuerwerk!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Peter Tauber für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familie ist dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Das stimmt in der Tat. Dies gilt für Paare, die mit ihren Kindern zusammenleben und sagen: Wir brauchen dafür keinen staatlichen und auch keinen kirchlichen Segen. – Dies gilt für verheiratete Ehepaare, bei denen der eine den anderen nach 40 Jahren Ehe bis zum Tode pflegt. Dies gilt genauso für das ganz klassische, traditionelle Familienmodell (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und auch für gleichgeschlechtliche Paare!) – für viele andere Konstellationen auch, Frau Kollegin – von verheirateten Paaren, die Kinder haben. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was folgt daraus für die Politik?) Wenn wir uns, ableitend von einem so weit gefassten Familienbegriff, mit dem sehr weitläufigen und bunt schillernden Antrag der Linksfraktion beschäftigen, (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!) sollten wir zunächst einmal zwei grundsätzliche Aspekte oder Ziele in den Blick nehmen. Zunächst einmal gilt: Familie ist und bleibt ein Erfolgsmodell und ein Grundpfeiler dieser Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Das zeigen auch alle Zahlen. Ich empfehle Ihnen die Studie „Kinder in Deutschland 2010“ von World Vision, in der sehr deutlich wird, dass weit über 70 Prozent der Kinder nach wie vor in einer klassischen Familie mit verheirateten Eltern groß werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist eine gute Sache. So sehen nun einmal der Alltag und die Realität aus. Was aber nicht heißt, dass man alle anderen Formen von Familie ausblendet. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie ab und zu schon!) Das bedeutet auch Folgendes – darauf kann man in dieser Debatte ruhig einmal hinweisen –: Dieses Modell ist nach wie vor attraktiv. Viele wünschen sich das. Wenn Sie junge Leute fragen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Heiraten offensichtlich sexy ist. Man überlegt es sich vielleicht nur eine Weile länger. Hinzu kommt, dass dieses Modell hervorragend funktioniert. Auch dazu kann ich die Studie „Kinder in Deutschland 2010“ zitieren. Weit über 80 Prozent der Kinder sagen: Ich glaube, mein Leben wird richtig schön. – Das ist ein wunderbarer Satz aus Kindermund. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dagegen hat auch niemand etwas!) Auf die Frage, ob sie der Auffassung sind, dass die Form der elterlichen Zuwendung, die sie erfahren, ausreichend ist, sagen ebenfalls weit über 80 Prozent der befragten Kinder – das ergibt sich bei allen Familienmodellen, von denen wir gesprochen haben –, dass sich die Eltern, die alleinerziehende Mutter oder auch die Mutter zusammen mit dem neuen Vater ausreichend um sie kümmern. Auch das ist ein guter Befund. Deswegen gehört es sich an dieser Stelle, dass man den Eltern ein herzliches Dankeschön sagt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gehört ebenfalls dazu, dass man den Kindern ein herzliches Dankeschön sagt; denn es gibt unheimlich viele Kinder, die ihre Eltern bis zum Tode pflegen und eben nicht wollen, dass sie in ein Heim kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Nicht jeder kann das für sich frei entscheiden. Es gibt aber viele, die diese Entscheidung für sich treffen. Das muss man an dieser Stelle wertschätzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Damit komme ich zu den Rahmenbedingungen. Sie haben dargestellt, was alles nicht geht. Lassen Sie uns auch einmal rekapitulieren, was alles geht und ging. Es beginnt bei der Kindergelderhöhung und der Erhöhung des Kinderfreibetrags, was ebenfalls genannt worden ist. Natürlich haben wir auch etwas für die Kinder aus sozial schwachen Familien getan. Sie haben das Paket für Bildung und Teilhabe komplett ausgeblendet. Dieses Paket bietet eine gute Chance, diesen Kindern eine Perspektive zu eröffnen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst das Geld wegnehmen und dann 10 Euro im Monat geben!) Weil Sie unterstellen, wir täten für diese Kinder nichts, sage ich: Das setzt sich sogar noch fort. Mit der Offensive Frühe Chancen sollen 4 000 Kitas gefördert werden, die konkrete Hilfe und Unterstützung für benachteiligte Kinder ermöglichen. Damit haben wir einen echten Meilenstein gesetzt. (Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU]) Ich weiß, wovon ich rede. Allein in meinem Wahlkreis gibt es über 15 solcher Kitas, die auf diesem Weg benachteiligten Kindern eine Perspektive eröffnen. Das ist eine ganz tolle Sache. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aus meiner Sicht muss an dieser Stelle auch das Bundeskinderschutzgesetz, das wir auf den Weg gebracht haben, genannt werden. Das sind schon einmal drei Dinge. Sie können sie negieren. Das macht die Opposition nun einmal so. Sie müssen aber damit leben, dass wir sie als positive Beispiele herausstellen. Wir können diese Aufzählung auch fortsetzen. Es gibt noch etliche Beispiele. Ich beschränke mich jetzt aber auf vier weitere Punkte. Man kann den Bundesfreiwilligendienst nennen, weil er einen Ort bietet, an dem Menschen lernen, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Man kann an dieser Stelle auch das Gesetz zur Familienpflegezeit anführen. Ich habe beispielhaft einen konkreten Fall genannt. Dieses Gesetz ist ein ganz wichtiger Meilenstein, weil es dem Wunsch alter Menschen entspricht, möglichst zu Hause und nicht in einer Einrichtung gepflegt zu werden. Deswegen ist auch das ein wichtiger Punkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu nennen sind auch die Mehrgenerationenhäuser. Führen Sie sich einmal vor Augen, welch hervorragende generationenübergreifende Arbeit dort geleistet wird; (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ja! Mir gefällt das gut!) viele von Ihnen kennen das aus dem eigenen Wahlkreis. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer hat dafür gekämpft? – Caren Marks [SPD]: Warum haben Sie die Anzahl der Förderungen reduziert? – Gegenruf der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer hat die Förderung denn durchgesetzt? Wir!) Auch ich habe mit dem „Kleinen Anton“ in Gründau ein Mehrgenerationenhaus in meinem Wahlkreis. Das ist ein ganz hervorragendes Beispiel. Es handelt sich um ein gutes Projekt, das wir weiterführen. Letztlich ist auch das Elterngeld zu nennen. All dies sind wichtige Maßnahmen, die zeigen: Familie steht für uns an erster Stelle. Wir wollen (Caren Marks [SPD]: Kürzen!) eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik machen, die Perspektiven eröffnet. Wenn man immer nur meckert und alles schlechtredet, (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ja! So wie die da drüben!) dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn viele Menschen in diesem Land den Eindruck haben: Es lohnt sich nicht, Kinder zu kriegen. Es ist vielleicht sogar gefährlich. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir sehen das nur differenziert! Das ist der Unterschied!) Das Gegenteil ist der Fall. Schauen Sie sich in der Welt doch einmal um! In welchem anderen Land gibt es solche Rahmenbedingungen für Familien, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gucken Sie mal bitte nach Skandinavien!) und in welchem anderen Land können Kinder so behütet groß werden wie in Deutschland? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist doch eine Verunglimpfung des eigenen Landes und der eigenen Gesellschaft, was Sie zum Teil hier praktizieren. Das heißt nicht, dass wir nicht auch über Probleme sprechen sollten. Ich bin in manchen Punkten durchaus Ihrer Meinung und sage: Hier gibt es noch Baustellen. Hier müssen wir noch besser werden. Hier ist der Anspruch, den wir haben, noch lange nicht erfüllt. – Das beginnt bei der Kinderbetreuung und geht weiter bis zu den Ganztagsangeboten an Schulen. An dieser Stelle merken wir allerdings sehr schnell: Familie ist, wenn wir über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reden, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, nicht nur eine des Bundes, sondern auch eine der Länder, der Kommunen, der gesellschaftlichen Kräfte und der Wirtschaft. Hier ist in der Tat noch einiges zu tun. Zum Beispiel brauchen wir flexiblere Arbeitszeitmodelle. All diese Punkte sind zu nennen. Jetzt bin ich bei einem Punkt, den wir in dieser Debatte aus meiner Sicht viel zu selten berücksichtigen, nämlich beim demografischen Wandel. – Herr Präsident, da ich gerade meine Redezeit überziehe: Herr Jarzombek schenkt mir bestimmt zwei Minuten seiner Redezeit, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) weil ich diesen Gedanken gerne noch ausführen möchte. Präsident Dr. Norbert Lammert: Da er das mit strahlendem Kopfnicken bestätigt, (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Bei so einer großartigen Rede gern!) habe ich den Eindruck: Wenn Sie sagen würden, dass er seine Redezeit komplett an Sie abtreten möge, würde er die weiße Flagge hissen. (Heiterkeit – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Nein! Nur zwei Minuten!) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Wir wollen seinen Großmut nicht überstrapazieren. – Der demografische Wandel ist, wie ich glaube, ein ganz wichtiges Stichwort, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Wenn sich der demografische Wandel so wie in der Vergangenheit fortsetzt, dann schreiben wir auch diese negative Entwicklung einfach fort. Das kann nicht unser Ziel sein. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung hat einen leichten Anstieg der Geburtenrate errechnet; das ist zunächst einmal ein gutes Signal. Aber ich glaube, es bleibt dabei: Die Politik muss den Menschen sagen, dass Kinder in dieser Gesellschaft willkommen sind und gute Rahmenbedingungen vorfinden. An dieser Stelle vergleichen wir die Situation in Deutschland gerne mit der in Frankreich, auch deshalb, weil wir viele familienpolitische Maßnahmen und Leistungen der Franzosen inzwischen nachvollzogen haben. Warum ist aber immer noch ein eklatanter Unterschied bei der Höhe der Geburtenrate festzustellen? Hierzu gibt es eine sehr lesenswerte Studie der Wissenschaftler Stephan Sievert und Reiner Klingholz und ein sehr lesenswertes Buch des französischen Schriftstellers Yves-Marie Laulan, in denen sich die Autoren mit dieser Frage intensiv beschäftigt haben. Alle drei kommen zu einem einheitlichen Ergebnis: In Frankreich war die Familienplanung, so wie sie es formulieren, frühzeitig Teil der Staatsräson; die Förderung von Familien ist also schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine zentrale Aufgabe der Politik geworden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das hat hier ja sehr lange gedauert!) Außerdem hat die gesellschaftliche Wertschätzung von Kindern in Frankreich ungebrochen fortbestanden, und sie findet eine extrem hohe Anerkennung. Der französische Schriftsteller Laulan bringt es am Ende auf den Punkt, indem er schreibt: (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe mittlerweile den Eindruck, er will die gesamte Redezeit von Herrn Jarzombek!) Niemand wird sich Kinder wünschen, wenn er nicht, wenn auch nur unbewusst, an die Zukunft glaubt, wenn er sich nicht danach sehnt, dass seine Nation und sein Vaterland über seine eigene Existenz hinaus fortbestehen. Vielleicht ist da etwas dran. Wenn wir die Situation bei uns immer nur schlechtreden und suggerieren, dass Kinder in diesem Land keine Zukunft und keine Chance haben, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich junge Paare dagegen entscheiden, Kinder in die Welt zu setzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bleibe dabei: Es gibt nur wenige Länder auf diesem Planeten, in denen die Rahmenbedingungen für Kinder so gut sind wie bei uns. Deutschland ist ein lebenswertes Land, auch und gerade für Kinder. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist die Botschaft unserer Politik. Wenn Sie eine andere haben, ist das in Ordnung. Ich glaube, unsere ist die bessere. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat der Kollege Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stefan Schwartze (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war wieder einmal eine ganz besondere Debatte, die wir hier und heute geführt haben. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sie ist ja noch nicht zu Ende! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Aber jetzt nichts schwarzreden, Herr Schwartze!) Ich denke, wir sollten versuchen, mehr Sachlichkeit in die Diskussion zu bringen. (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD] – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Alle sprechen von der Bedeutung der Familie und betonen: Familien müssen gestärkt werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss verbessert werden. – All das wird in vielen Reden hier im Hause immer wieder betont. (Christel Humme [SPD]: Richtig!) Wir haben aber nicht den gleichen Familienbegriff. Das ist hier heute noch einmal deutlich geworden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat man heute eindeutig gemerkt!) Eine Familie besteht heute nicht mehr immer nur aus Vater, Mutter und Kindern, sondern die Familie ist bunt, es gibt sie in vielen Formen. Sie lassen sich nicht mehr in das alte Familienbild zwängen. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das hat aber auch keiner gesagt!) Wer heute eine zukunftsweisende und moderne Familienpolitik machen will, der muss diesen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen und seinen Familienbegriff erweitern. (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Hätten Sie mal zugehört! – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Genau das tun wir!) Familie ist für uns Sozialdemokraten dort, wo Menschen gemeinsam leben und füreinander Verantwortung übernehmen: Verantwortung für Kinder, Ältere oder Kranke, die zu dieser Partnerschaft gehören, Verantwortung losgelöst von der Verwandtschaft oder dem Trauschein, Verantwortung, die in Beziehungen zwischen Frauen und Männern genauso gelebt wird wie in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In den Familienformen von klassisch bis modern wird ein großer Dienst für diese Gesellschaft und das Miteinander geleistet. Dieser neue Familienbegriff wird von einem immer größeren Teil der Gesellschaft getragen und geteilt. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur nicht von der Bundesregierung und der Koalition!) All diese Familien, egal in welcher Form, stehen vor einer ganzen Reihe von Herausforderungen. Für viele junge Familien ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von ganz besonderer Bedeutung. Viele junge Frauen und junge Männer wollen eine wirkliche partnerschaftliche Aufteilung der Aufgaben in einer Familie. Junge Frauen und junge Männer wollen beides: Verantwortung für die Familie und Verantwortung für den Beruf. (Beifall bei der SPD) Die SPD will die Rahmenbedingungen verbessern, um eine wirklich partnerschaftliche Aufgabenteilung von Familien- und Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Wir wollen das Elterngeld partnerschaftlicher ausbauen, und wir wollen gute Arbeit, von der man auch leben und die Familie ernähren kann. Dazu gehört aber auch, dass wir Arbeitsbedingungen schaffen, mit denen Freiräume für die Familien ermöglicht werden. Wir wollen eine Verbesserung der Teilzeitregelung mit einem Rechtsanspruch auf eine befristete Teilzeit und dem Rückkehrrecht auf Vollzeit. Teilzeitarbeit darf keine Falle mehr sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das geht nicht mit freiwilligen Regelungen, sondern nur mit einem Rechtsanspruch. Dazu gehört auch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Studium. Ich glaube, hier müssen wir auch noch einmal auf die BAföG-Regelungen schauen. Auch da muss für junge Familien, für junge Väter und für junge Mütter mehr möglich sein. Die Lebenswirklichkeit in den Betrieben ist noch längst nicht so familienfreundlich, wie es nötig wäre. Hier muss sich die Einstellung ändern. Familienfreundlichkeit muss zur Unternehmenskultur werden. Das muss für die Chefs genauso wie für die Kollegen im Betrieb gelten. Wie lang dieser Weg ist, kann man heutzutage ganz schnell erleben. Sprechen Sie als Angestellter einmal mit Ihrem Chef über flexiblere Arbeitszeiten, weil Sie sich um Ihre Kinder kümmern wollen. Erklären Sie den Kollegen, dass das nächste Projekt und die nächsten Aufträge ohne Sie erledigt werden müssen, weil Sie in Elternzeit gehen. Sie werden dann ganz schnell merken, was im Vordergrund steht: die Betriebsabläufe oder die Familienfreundlichkeit im Unternehmen. (Caren Marks [SPD]: Ja!) Hier muss die Politik entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Wir können diese Familienfreundlichkeit, diese Unternehmenskultur, nicht gesetzlich verordnen, aber wir können den Rahmen dafür geben. Dafür ist es höchste Zeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind gegen die weitere Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Auch wir wollen den Kündigungsschutz ausweiten. Er soll wieder für Unternehmen ab fünf Beschäftigten gelten. Eine Ausweitung des Kündigungsschutzes für Eltern, der bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr des Kindes gilt, wie das von den Linken hier vorgeschlagen wurde, können wir an dieser Stelle nicht mittragen. Damit gehen Sie an der Wirklichkeit in den Betrieben vorbei, und ich weiß auch nicht, warum Sie auf das vollendete sechste Lebensjahr gekommen sind. Eigentlich könnte man dann diesen Schutz auch bis zum Berufsabschluss des Kindes ausdehnen. Das ist ein schwieriger Teil. Auch die Festlegung der Arbeitszeiten, die Sie gesetzlich regeln wollen, sehen wir weiterhin in den Händen der Tarifpartner. An dieser Stelle sollte der Gesetzgeber keine Vorschriften machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Politik muss sich auf den Ausbau der Infrastruktur konzentrieren. Wir brauchen die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Betreuung ab dem ersten Lebensjahr. Die angestrebte Betreuungsquote von 35 Prozent reicht nicht aus. (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsangebote für Kinder im Vorschulalter. Wir brauchen eine neue Initiative für die Einrichtung von Ganztagsschulen und am Ende einen Rechtsanspruch auf den Besuch der Ganztagsschule. (Beifall bei der SPD) Das wären Meilensteine für eine familienfreundliche Gesellschaft. Das würde die Familienpolitik in diesem Lande wirklich weiterbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, geben Sie bitte endlich die furchtbare, unsägliche Idee des Betreuungsgeldes auf. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nehmen Sie das Geld und investieren Sie es in die Infrastruktur! Dort wird es dringend gebraucht, damit Eltern wirklich die Wahlfreiheit haben. Für Wahlfreiheit müssen genügend Angebote vorhanden sein. Daran mangelt es immer noch. Bis zu dieser wirklichen Wahlfreiheit haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Stampfen Sie endlich die Idee ein, Eltern eine Prämie zu geben, wenn sie ihre Kinder von den guten Angeboten der frühkindlichen Bildung fernhalten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollegin Laurischk hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Sibylle Laurischk (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir als Koalition haben gleich zu Beginn unserer Regierungszeit einiges für die Familien getan: Wir haben im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes das Kindergeld erhöht, den Kinderfreibetrag angehoben und den Kinderzuschlag gerade für Familien mit geringem Einkommen erhöht und ausgeweitet. Unser erster Impuls war also durchaus ein familienpolitischer. Das wird von der Opposition gerne vergessen, aber so war es nun einmal. Wir sind weiter dran. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben gehört, dass es durchaus unterschiedliche Meinungen geben kann, wie sich Familie definiert. Aber immer sind Kinder dabei. Ich möchte dabei das Augenmerk auf ein Familienmodell richten, das leicht vergessen wird: Das sind die Alleinerziehenden. Es ist kein Zufall, dass ich daran denke. Ich habe drei Kinder weitgehend alleine großgezogen. Insofern weiß ich, was es heißt, Verantwortung allein zu tragen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht hört Herr Geis mal zu!) Es geht nicht nur um die Verantwortung, sondern Alleinerziehende haben auch eine große Belastung zu tragen: mental und körperlich. Deswegen ist es wichtig, darauf hinzuweisen, was wir dazu im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wir haben uns vorgenommen, dass gerade die finanzielle Belastung nicht alleine von den Alleinerziehenden geschultert werden soll, sondern dass hier Hilfestellungen ermöglicht werden. Wir müssen realisieren, dass der Unterhalt für die Kinder, die in alleinerziehenden Familien groß werden, oftmals ausbleibt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, will ich gar nicht bewerten. Aber ich habe das Gefühl, dass es leider immer noch als Kavaliersdelikt angesehen wird, keinen Unterhalt zu zahlen. Immerhin haben wir in solchen Fällen eine staatliche Leistung vorgesehen, den Unterhaltsvorschuss, der dann für insgesamt sechs Jahre bis zum Höchstalter von 12 Jahren zu zahlen ist. Wir haben in den Koalitionsvertrag aufgenommen, diese Grenze von 12 Jahren auf 14 Jahre zu erhöhen; denn gerade in diesem Alter sind Kinder kostenintensiv. Es gibt keinen logischen Grund, zu sagen, dass mit 12 Jahren die Grenze erreicht ist. Die Altersgrenze von 14 Jahren erscheint uns hier sinnvoll. Daran arbeiten wir. Wir haben vonseiten der Liberalen gerade wieder formuliert, dass wir diesen Wunsch haben. Ich denke, dass wir uns dabei auch in konstruktiven Diskussionen mit dem Koalitionspartner bewegen. Ein anderes Thema – Sie haben es zu Recht angesprochen, Frau Dörner – ist das Sorgerecht Nichtverheirateter. Wir gehen hier transparent vor. Es gibt keinen Streit, sondern es geht nur um die Frage, welche Lösung wir finden. Dass man erst einmal den gemeinsamen Weg ausarbeiten muss, ist, glaube ich, keine Frage. Wir haben allerdings die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, hier aktiv zu werden und eine Lösung herbeizuführen. Ich bin der Meinung, dass das auch für die vor uns liegende Zeit der Koalition eine dringende Aufgabe ist; das steht außer Frage. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht mehr lange!) Das Verfassungsgericht hat interessanterweise bereits eine Hilfestellung gegeben. Das Sorgerecht kann bereits vom sorgeberechtigten Vater eingeklagt werden. Das geschieht auch bereits. Gerade deshalb wird von den Betroffenen stark nachgefragt, wann eine Lösung kommt. Wie gesagt, die FDP ist in dieser Frage klar positioniert. Wir wollen das, und ich bin sicher, dass sich auch die Union diesem Thema widmet, weil es nun einmal eine Vorgabe des Verfassungsgerichts ist. Insofern sind wir in den spezifischen Fragestellungen, die Alleinerziehende und beim gemeinsamen Sorgerecht nichtverheirateter Eltern vor allem die Mütter betreffen – deren Interessenlage muss man sicherlich mit berücksichtigen, auch wenn das Kindeswohl allem voransteht –, durchaus aktiv. Wir sind seit Bestehen des Koalitionsvertrags klar aufgestellt. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind schon auf das Ergebnis gespannt!) Insofern gibt es auch vonseiten der Linken nichts beizutragen, was uns in irgendeiner Form beeindrucken könnte. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei 3 Prozent sollte man nicht so resistent sein!) Ihre Forderungen sind allerdings Milliardenforderungen ohne eine seriöse Gegenfinanzierung. Deswegen ist dieser Antrag mit den darin enthaltenen Forderungen schlichtweg abzulehnen. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Aber die Steuergeschenke, die sind gegenfinanziert? – Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist doch erst die Einbringung! Lassen Sie uns doch wenigstens darüber reden!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat der Kollege Thomas Jarzombek noch das Wort. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als unser erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, 1957 die gesetzliche Krankenversicherung auf Umlagefinanzierung umstellte, hat er gesagt: Kinder kriegen die Leute sowieso. – Das war, glaube ich, der einzige große Irrtum, dem Konrad Adenauer aufgesessen ist. (Caren Marks [SPD]: Na ja! Es waren schon noch mehr!) Denn wir haben in den letzten Jahren zwar sehr viel für die Familien und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf getan. (Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Eben nicht!) – Doch, wir haben sehr viel getan, um alle technischen Rahmenbedingungen für Familien zu verbessern. Meine Kollegen haben es vorhin im Detail aufgezählt. Wir haben das Elterngeld eingeführt und Betreuungsplätze für unter Dreijährige geschaffen. Zu Beginn unserer Regierungszeit vor zwei Jahren haben wir beschlossen, das Kindergeld um 20 Euro zu erhöhen, und viele andere Maßnahmen mehr durchgeführt. Dennoch – das macht mich an dieser Stelle betrof-fen – ist die Geburtenrate in all diesen Jahren relativ unverändert geblieben. Natürlich ist das nicht alles, aber die Geburtenrate ist das Ergebnis einer Familienpolitik, über die wir reden müssen. Als ich selber unlängst mit meinem Vater, der mittlerweile 82 Jahre alt ist, im Krankenhaus war, habe ich vieles begriffen. Man glaubt vielleicht, dass in unserer Gesellschaft heute vieles vom Staat übernommen wird, dass vieles selbstverständlich ist und Sicherheit bringt. Am Ende braucht man aber doch Kinder, die für einen selbst eine große Stütze sind. Da habe ich begriffen, was ich früher nicht in diesem Maße gesehen habe, nämlich wie wichtig es ist, eigene Kinder zu haben. Der Sozialstaat heute kann das nicht alles ersetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) So wichtig es ist, über diese vielen technischen Faktoren, wie ich sie weiterhin nenne, wie Teilzeitarbeit, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und finanzielle Aspekte zu reden, gibt es noch eine Menge, was wir tun können und auch tun werden. Ich habe vorhin gerne dem Kollegen Peter Tauber Redezeit abgegeben; denn ich habe es genossen, ihm zuzuhören. (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht dabei nicht nur um sogenannte technische Faktoren, sondern auch um unsere Kultur. Ich frage mich, warum die Familien in Frankreich mehr Kinder bekommen als die in Deutschland. (Christel Humme [SPD]: Weil die Betreuung von Anfang an stimmt!) – Es geht doch nicht nur um die Betreuung, Frau Kollegin. Sie können das doch nicht darauf reduzieren. (Christel Humme [SPD]: Natürlich! Nur darauf!) Ich jedenfalls finde, dass man das nicht kann. Ich bin froh, dass wir heute über das Thema Familienpolitik einmal so grundsätzlich reden können und dass Sie den Aufschlag dafür gemacht haben. (Christel Humme [SPD]: Ihr Konzept haben wir noch nicht erkannt nach den vielen Reden!) – Frau Kollegin, ich glaube, Sie werden dem Thema nicht gerecht, wenn Sie die ganze Zeit dazwischenrufen. (Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Doch!) Wir müssen eine Diskussion darüber führen, welche Faktoren es noch gibt, die eine Kultur für mehr Kinder und mehr Kinderfreundlichkeit begründen und die die Menschen in diesem Land ermuntern, wieder mehr Kinder zu bekommen. Das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Die Geburtenrate muss wieder steigen. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die nur noch aus alten Menschen besteht. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wollen Sie das denn anordnen?) – Wir können das natürlich nicht anordnen, sondern müssen auf diejenigen, die Kinder haben und Familie und Beruf miteinander verbinden, als Vorbilder verweisen und ein positives Klima schaffen. Wir müssen zeigen, wie wichtig es ist, Kinder zu haben, egal in welchem Lebensabschnitt, auch im Alter, um wieder Lust auf Kinder zu machen. Daran fehlt es bisher. Hier müssen wir viel mehr tun. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Katharina Landgraf für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Katharina Landgraf (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel des Antrags der Linken lautet: „Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik“. Gratulation, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, zu dieser Formulierung! Sie ist außerordentlich treffsicher und geschickt. Als Familienpolitikerin der Union bleibt mir da keine andere Wahl, als hier zuzustimmen. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Denn für eine moderne zukunftsweisende Familienpolitik bin ich auch. Wer will schon eine unmoderne und rückwärtsgewandte Familienpolitik? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die CSU! Frau Bär!) Dem Titel stimme ich also zu. Aber das war es dann auch schon. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was Sie da so aufgeschrieben haben, können Sie eigentlich mit gutem Gewissen nur auf einem Parteitag der Linken einbringen. Das haben Sie ja gerade in Erfurt auch irgendwie so gemacht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kommen Sie doch mal vorbei!) – Ich glaube, das ist keine gute Idee. – Im Deutschen Bundestag haben wir für solche Träumereien und Vergesellschaftungsorgien keinen Platz. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind keine Propagandisten. Aber Ihr Antrag gibt mir wenigstens die Chance, hier über unsere Familienpolitik zu sprechen. Wir machen Politik für die reale Welt und die reale Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Da sind wir jetzt aber gespannt, Frau Landgraf!) Für uns ist die Familie der Grundpfeiler der Gesellschaft. Studien verweisen immer wieder darauf, dass die Mehrheit unserer Bürger großen Wert auf die eigene Familie legt. Kinder wachsen hier am besten auf. Jung und Alt helfen sich. Das ist der Idealfall. Unsere Aufgabe in der Politik beschreibt das Grundgesetz in Art. 6; das ist nach wie vor aktuell. Kollegin Bär hat schon darauf hingewiesen. Genau genommen ignoriert Ihr Antrag die schwarz-gelbe Koalition und deren Politik. Das ist sicherlich auch Ihre Absicht. Nehmen Sie doch endlich wahr, was wir als Union tatsächlich erreicht haben! Wir machen schon lange eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hier noch eine persönliche Empfehlung: Gehen Sie doch einmal auf die Internetseite des Familienministeriums. Dort finden Sie alle Informationen. Dort können Sie auch die druckfrische Broschüre Familie zuerst! bestellen. Die finde ich gar nicht so schlecht, Frau Golze. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das ist ein hohes Lob!) – Das ist in der Tat ein hohes Lob. – Diese Broschüre ist eine knackige Dokumentation realer und moderner Familienpolitik der Bundesregierung. Dieses Heft legen Sie sich bitte einmal unter das Kopfkissen. Vielleicht lassen Sie dann ab von Ihren unrealistischen Familienträumen. (Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Schwartze [SPD]: Wenn, dann würde ich es lesen! Aber darauf schlafen?) Die Politik der Union setzt den Rahmen und gibt Orientierung für das Leben der Familien und der familienähnlichen Verbünde. Darüber, wie die unterstützenden Angebote von Gesellschaft und Wirtschaft angenommen werden, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger selbst in Freiheit und Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir ermöglichen Wahlfreiheit (Christel Humme [SPD]: Stimmt nicht! Falsch!) zwischen verschiedenen Lebensentwürfen und Familienmodellen, Frau Lazar. Unser Ziel ist es, Eltern zu stärken, Kinder zu stärken, dafür Rahmen zu schaffen und Netzwerke zu initiieren und zu stärken. (Zuruf von der LINKEN: Warme Worte!) Da sind wir schon lange auf einem guten Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wenn Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Linksfraktion, das Thema moderne Familienpolitik so sehr am Herzen liegt, wie Sie behaupten, warum haben Sie dann dem neuen Kinderschutzgesetz nicht zugestimmt? Sich nur kraftvoll zu enthalten, ist zu wenig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich komme zum Schluss. Wie ich Sie kenne, werden Sie Ihren Antrag, den wir ablehnen, in die Schublade legen und irgendwann wieder herausholen. (Diana Golze [DIE LINKE]: Heute geht es noch nicht um die Abstimmung! Lassen Sie uns erst einmal darüber reden, bevor Sie ihn ablehnen!) In der Zwischenzeit sollten Sie ganz nebenbei Ihre Trauminsel suchen. Dort können Sie all Ihre unrealistischen Visionen propagieren und versuchen, andere Träumer zu begeistern, aber bitte nicht hier in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6915 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 12 a und b: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen – Drucksachen 17/7141, 17/7171 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/7402 – Berichterstattung: Abgeordneter Pascal Kober b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit von Städten, Gemeinden und Landkreisen – zu dem Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Katja Dörner, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien – Drucksachen 17/1744, 17/7189, 17/7514 – Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Bernd Scheelen Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und ein weiterer der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch das ist offenkundig unstreitig. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Die Familienpolitiker haben in den Debatten heute Nachmittag mehrfach ausgeführt: Der heutige Tag ist mit der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes ein Meilenstein für die Kinder. – Der heutige Tag ist aber auch ein Meilenstein für die Kommunen, für die Städte, für die Gemeinden, für die Landkreise in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir stimmen heute in letzter Lesung über das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen ab. Damit wird der erste Schritt der Protokollerklärung von Bund und Ländern im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vollzogen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die an diesem Kompromiss mitgewirkt haben, auch bei den Genossinnen und Genossen der SPD und natürlich bei unserer Regierung, heute vertreten durch beide Staatssekretäre, Herrn Kollegen Fuchtel und Herrn Kollegen Brauksiepe, die sich mit eingebracht haben. Das Gesetz bringt erhebliche Erleichterungen für die prekäre Finanzsituation unserer Kommunen. Mit den umfangreichsten Entlastungen seit Bestehen der Bundesrepublik beweist die christlich-liberale Koalition nicht nur, dass der Ernst der Lage, gerade für die Kommunen, erkannt wurde, sondern auch, dass konstruktive Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Das kann man von der rot-grünen Regierung beim besten Willen nicht behaupten. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es!) Damals, 2003, wurde die Altersgrundsicherung eingeführt und auf die Kommunen übertragen, ohne die notwendige Finanzierung zu sichern. Meine Damen und Herren von der SPD, jetzt müssen Sie tapfer sein. 600 Millionen DM waren Ihnen die Kommunen damals wert. Umgerechnet in Euro sind das 307 Millionen Euro. (Bernd Scheelen [SPD]: Das stimmt gar nicht! 800 Millionen!) Die Summe wurde im Vermittlungsausschuss auf 409 Millionen Euro aufgestockt, aber nicht nur durch Ihre eigene Initiative, sondern auch durch unsere kritische Begleitung. Dies ist kurzfristig gedachte Politik. Dies hat die schwierige Finanzlage der Kommunen auch durch die enorme Steigerung der Kosten für die Grundsicherung in den letzten Jahren noch zusätzlich verschärft. Darüber hinaus ist die Vorsorge gegen Altersarmut eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sachgerecht richtig beim Bund angesiedelt sein sollte. Der Gesetzentwurf legt fest, dass der Bund bis 2014 schrittweise die kompletten Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernimmt. Das sind erhebliche Beträge. Die Kostenübernahme beginnt im Jahr 2012 im ersten Schritt, über den wir heute entscheiden, mit 45 Prozent; das sind immerhin 1,216 Milliarden Euro. 2013 liegt sie bei 75 Prozent – das sind 2,67 Milliarden Euro – (Kirsten Lühmann [SPD]: Das steht aber nicht im Gesetz! – Gegenruf des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das braucht da auch nicht rein!) und im Jahr 2014 bei immerhin 4,075 Milliarden Euro. Im Jahr 2015 sind voraussichtlich Kosten von immerhin 4,35 Milliarden Euro zu übernehmen. Dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zunächst der erste Teil geregelt wird, hat allein organisatorische Gründe und ändert nichts an der inhaltlichen Realisierung des Gesamtvorhabens bis 2014 durch weitere Gesetzgebungsverfahren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Legt man einen Zeitraum bis etwa 2020 zugrunde, so ergibt sich aus heutiger Sicht ein Finanztransfer im Umfang von circa 54 Milliarden Euro vom Bund auf die Kommunen: rund 15 Milliarden Euro Kompensation für Bildung und Teilhabe durch zusätzliche Bundesbeteiligung an den Kosten für Unterkunft und rund 38,9 Milliarden Euro durch die zusätzliche Übernahme von Kosten der Grundsicherung im Alter. Sie sehen daran: Wir kleckern nicht, wir klotzen zugunsten der Kommunen. Für meine Wahlkreisstadt Würzburg bedeutet dies bereits im nächsten Jahr eine Entlastung von über 2 Millionen Euro. Mein Landrat freut sich immerhin über 600 000 Euro, über die er verfügen kann. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Kommunen mehr Mittel haben, über die sie in eigener, in kommunaler Zuständigkeit entscheiden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben alle die besagten Briefe der Kommunalpolitiker nach dem harten Winter auf die Tische bekommen. Darin stand: Wir können unsere Straßen nicht mehr sanieren. Wir haben einen Sanierungsstau bei den Brücken, bei den öffentlichen Straßen und Wegen. – Wir glauben, dass wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs zumindest teilweise dazu beitragen können, dass Kommunen wieder Luft zum Atmen haben, dass Kommunen wieder ihre Aufgaben in eigener Zuständigkeit erfüllen können, und dass wir auf dem richtigen Weg sind. Meine Damen und Herren, die Gemeindefinanzkommission hat in ihrer Sitzung vom 15. Juni dieses Jahres die Bundesbeteiligung an der Grundsicherung expressis verbis begrüßt. Obwohl sich dadurch erhebliche Mehrkosten für den Bund ergeben, ist die Finanzierung sichergestellt. Wir wollen hier nicht den gleichen Fehler machen wie die rot-grüne Regierung in dem zuvor gebrachten Beispiel. Die zusätzlichen Kosten werden im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit im gleichen Umfang eingespart. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Gekürzt!) So wird die Bundesbeteiligung an den Kosten für Arbeitsförderung ab 2012 entsprechend abgesenkt, allerdings in der letzten Stufe maximal in Höhe eines halben Mehrwertsteuerpunktes, um die BA nicht zu überlasten. Dass wir das zumutbar machen können, zeigen die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur ist noch im März des laufenden Jahres von einem Defizit von immerhin 5,4 Milliarden Euro ausgegangen, die sie uns quasi als Darlehen erst nächstes Jahr zurückzahlen kann. Dieser Betrag hat sich bis August auf 1,9 Milliarden Euro reduziert. Im aktuellen Regierungsentwurf sprechen wir von 1,0 Milliarden Euro. Die heutigen Zahlen belegen, dass die Bundesagentur im nächsten Jahr voraussichtlich bloß ganze 500 Millionen Euro an Darlehen zu tilgen hat. Das heißt, wir haben die geschätzten Verbindlichkeiten der Bundesagentur durch die gute Konjunktur, durch die richtigen Entscheidungen auf dem Arbeitsmarkt, durch die richtige Regierung in einem Zeitraum von weniger als einem Dreivierteljahr auf immerhin 10 Prozent reduzieren können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Meine Damen und Herren, Einsparungen, auch bei der Bundesagentur, werden durch Effizienzsteigerungen erreicht, nicht durch Streichung des Angebots; auch darauf möchte ich hinweisen. Was die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente angeht, müssen zunächst die Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens abgewartet werden. Die Finanzierung der Grundsicherung im Alter ist gesichert. Wir setzen uns nachhaltig für die Kommunen ein. In diesem Jahr werden die Steuereinnahmen der Kommunen um 3,3 Milliarden Euro steigen und sich insgesamt auf 73,7 Milliarden Euro belaufen. (Bernd Scheelen [SPD]: Dank der Gewerbesteuer, die ihr abschaffen wolltet!) Wir brauchen auch finanzstarke Kommunen, die nach den bisherigen Zahlen voraussichtlich schon 2012 die Chance haben, bei einer Gesamtbetrachtung einen ausgeglichenen Haushalt in unsere Schuldenbremse einzubringen, für die wir – Bund, Länder und Gemeinden – gemeinsam verantwortlich sind. Da wir zusammen einen Schuldenberg von über 2 Billionen Euro haben, sind wir gut beraten, dazu beizutragen, dass wir an allen Positionen versuchen, die Schulden im Griff zu haben. Wir, aber auch die Kommunen sind, glaube ich, auf dem richtigen Weg. Wir wollen nicht das Schicksal bestimmter Länder im Süden Europas erleiden, die derzeit große Finanzierungsschwierigkeiten haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Gabriele Hiller-Ohm ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute abschließend über die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter durch den Bund. Es ist gut, dass es die Grundsicherung im Alter gibt. Lieber Herr Lehrieder, sie wurde 2003 von Rot-Grün geschaffen und trägt erheblich dazu bei, versteckte Armut in unserem Land zu verringern. (Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/ CSU]: Zulasten der Kommunen!) Menschen, die keine existenzsichernde Rente haben, mussten bis 2003 zum Sozialamt gehen und auch die Einkommensverhältnisse der Angehörigen offenlegen. (Peter Götz [CDU/CSU]: Und warum müssen die Kommunen das bezahlen?) Es galt der Grundsatz: Nicht nur Eltern stehen für ihre Kinder ein, sondern auch Kinder für ihre Eltern. Viele alte Menschen haben auf Sozialhilfe verzichtet und von oft deutlich weniger als dem Existenzminimum gelebt, um ihren Kindern nicht auf der Tasche liegen zu müssen. Wir haben gemeinsam mit den Grünen diesen entwürdigenden Zustand beendet und die rückgriffsfreie Grundsicherung eingeführt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine soziale Leistung, auf die wir stolz sein können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Für die Kommunen und Landkreise, die die Grundsicherung finanzieren müssen, war dieser Schritt allerdings mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden. Es konnte ja nun nicht mehr auf die Angehörigen zurückgegriffen werden. Die Mehrkosten wurden durch eine Beteiligung des Bundes von 16 Prozent an der Grundsicherung im Alter aufgefangen. Alles wäre gut, wenn nicht die Gesamtkosten kontinuierlich gestiegen wären und viele Städte und Landkreise an den Rand der Handlungsfähigkeit getrieben hätten. (Peter Götz [CDU/CSU]: Ja, daran seid ihr schuld!) Auch für die Zukunft wird eine Steigerungsrate von 5 Prozent jährlich erwartet. Es musste also dringend etwas geschehen. Wir haben uns deshalb im Rahmen der Verhandlungen über das Hartz-IV-Paket im Februar dieses Jahres für die klammen Kommunen starkgemacht und die schrittweise Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund durchgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das war wohl unser Finanzminister!) Jetzt endlich, acht Monate später, liegt uns der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Schlussabstimmung vor. Lieber Herr Kollege Lehrieder, es wirkt so, als wäre das für Sie eher ein Mühlstein als ein Meilenstein. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein, nein, Frau Kollegin!) Der Gesetzentwurf wurde im Schweinsgalopp durchs parlamentarische Verfahren gejagt – (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ging es jetzt zu langsam oder zu schnell? Was denn nun?) und das, obwohl es heftige Kritik sowohl von uns, von der Oppositionsseite, als auch vonseiten der Länder und Kommunen gibt. Sie haben nichts davon aufgegriffen und legen uns den Gesetzentwurf heute in unveränderter Fassung zur Abstimmung vor. Wir kritisieren dieses Verhalten aufs Schärfste. Wir haben deshalb auch einen Entschließungsantrag zu Ihrem Gesetzentwurf eingebracht, in dem wir unsere Position deutlich machen. Wir werden dem Gesetzentwurf zähneknirschend zustimmen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) um das Verfahren nicht noch weiter aufzuhalten. Unsere Kritik am Gesetz: Vereinbart war die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter durch den Bund in drei Schritten bis 2014. Was finden wir vor? Lediglich die Umsetzung der ersten Entlastungsstufe sowie eine für die Kommunen nachhaltige Abrechnung auf Basis der Daten des Vorvorjahres! (Peter Götz [CDU/CSU]: Das habt ihr eingeführt!) Die Länder und Kommunen brauchen Planungssicherheit und haben, genau wie wir, ein Gesetz aus einem Guss mit der Absicherung aller drei Stufen erwartet. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das geht doch gar nicht! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie wissen doch genau, warum!) Diese Zusage haben Sie nicht eingelöst. (Beifall bei der SPD – Antje Tillmann [CDU/ CSU]: Wir haben gar keine Zusage gemacht!) Wir fordern, dass die zweite und dritte Entlastungsstufe nun spätestens bis April nächsten Jahres gesetzlich abgesichert wird. Wie sieht es mit der umstrittenen Abrechnung der Kosten für die Grundsicherung im Alter aus? Der Kollege Peter Götz aus der CDU/CSU-Fraktion (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr guter Kollege! – Peter Götz [CDU/CSU]: Der kommt noch!) hat in seiner Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzes am 29. September die Kostenübernahme als – ich zitiere – „Einstieg in die größte Entlastung der Kommunen seit Bestehen der Bundesrepublik“ gepriesen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Da hat er recht!) Wenn das tatsächlich so wäre, warum, so frage ich mich und Sie, brechen die Kommunen dann nicht in Jubelstürme aus? Die Antwort ist einfach: Sie haben Ihr Versprechen an die Länder und Kommunen auch an dieser Stelle nicht gehalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Die Kommunen freuen sich!) Durch die Abrechnung auf der Grundlage von Zahlen des Vorvorjahres gehen den Städten und Gemeinden viele Millionen Euro verloren. Das ist die traurige Wahrheit. Wir erwarten, dass auch an dieser Stelle nachgebessert wird. Wir fordern in unserem Antrag einen Finanzierungsmodus, wonach die Abrechnung der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zeitnäher als bislang vorgesehen erfolgt. Wie verhält es sich nun tatsächlich mit der von CDU/ CSU und FDP so gepriesenen größten Entlastung der Kommunen seit Bestehen der Bundesrepublik durch die schwarz-gelbe Bundesregierung? (Peter Götz [CDU/CSU]: Nur kein Neid!) Es ist richtig, dass der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter übernimmt. Dadurch erfahren die Kommunen tatsächlich eine erhebliche Entlastung. Sich aber hier als Retter der Kommunen aufzuspielen, das ist weit hergeholt und geht voll an der Wahrheit vorbei. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU und FDP, ging es doch gar nicht schnell genug, ebendiese Kommunen zu rupfen wie eine Weihnachtsgans und sie ordentlich zur Kasse zu bitten. Gleich zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz die allseits bekannte Mövenpick-Steuer für Hoteliers sowie weitere Steuersenkungen beschlossen. (Peter Götz [CDU/CSU]: Deshalb sprudelt die Gewerbesteuer! – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Quatsch! Wir haben die Wirtschaft in Fahrt gebracht mit dem Gesetz!) Allein dadurch werden Länder und Kommunen mit knapp 4 Milliarden Euro Mindereinnahmen pro Jahr belastet. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!) So sehen Retter nun wirklich nicht aus. (Beifall bei der SPD) Unser Entschließungsantrag ist daher auch ein klares Signal an die Kommunen, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu unserem Verhandlungserfolg stehen und die Entlastung wie verabredet durchsetzen wollen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, wenn Sie, wie es der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Brauksiepe in seiner Rede in der ersten Lesung sagte, wirklich keinen Zweifel daran aufkommen lassen wollen, dass der Bund seiner Zusage nachkommt, dann stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen kommen wir als Bundespolitiker einer im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zur Neuberechnung der Arbeitslosengeld-II-Regelsätze getroffenen Vereinbarung nach. Damit entlasten wir die Kommunen nachhaltig, und zwar in einer Höhe, in der die Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie entlastet worden sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit diesem Gesetzentwurf beschließen wir den ersten Schritt zur Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die christlich-liberale Koalition sorgt dafür, dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012 und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euro entlastet werden. Würden wir keine gesetzlichen Änderungen herbeiführen, läge die Kostenübernahme durch den Bund im kommenden Jahr nicht bei 45 Prozent, sondern nur bei 16 Prozent. Wir gehen also einen wichtigen Schritt im Sinne der Kommunen. Nun äußern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Kritik, dass wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf nur die Entlastung für das Jahr 2012 in Höhe von 45 Prozent beschließen, aber die Folgejahre noch nicht berücksichtigen. Sie wissen aber auch, dass das damit zusammenhängt, dass wir eine Bundesauftragsverwaltung einrichten werden. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja! Das wusste man vorher!) Die Einrichtung dieser Bundesauftragsverwaltung bedarf einiger Regelungen und Änderungen. Sie bedarf der Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bundes und der Einführung und Umsetzung einer ganzen Reihe von Regelungen, was seine Zeit braucht. Seien Sie bitte so ehrlich und weisen Sie nicht uns die Schuld zu für etwas, was Sie nicht anders hätten lösen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wir wären schneller als Sie gewesen!) Sie sollten die Menschen und die Kommunen nicht verunsichern. Sie wissen ganz genau, dass sich Bundestag und Bundesrat in einer Protokollnotiz zu diesen Erhöhungsschritten verpflichtet haben, und ebenso wissen Sie ganz genau, dass diese Erhöhungsschritte kommen werden. Verunsichern Sie also bitte nicht von hier aus die Menschen in unserem Land. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das sind sie schon von alleine!) Da wir davon ausgehen müssen, Frau Hiller-Ohm, dass die Kosten für die Grundsicherung im Alter künftig weiter ansteigen werden, stellt diese Kostenübernahme durch den Bund im Bereich der Alterssicherung eine nachhaltige und zukunftsorientierte Entlastung für die Kommunen dar. Wir sollten aber auch bedenken, was die Kommunen finanziell am stärksten entlastet. Das ist nicht die Übernahme der Kosten für die Kinderbetreuung, für die der Bund allein zwischen 2009 und 2013 4 Milliarden Euro und ab 2014 770 Millionen Euro jährlich zahlt. Es sind auch nicht die Mittel aus dem Konjunkturpaket II in Höhe von 10 Milliarden Euro, von denen die Kommunen zu über 70 Prozent profitierten. All dies sind wichtige Entlastungen der Kommunen durch den Bund; keine Frage. Die größte Entlastung für die Kommunen ist und bleibt jedoch ein ordentliches und nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit den entsprechenden positiven Folgen. (Beifall bei der FDP) Wirtschaftswachstum führt zu wachsenden Steuereinnahmen und zu weniger Ausgaben im sozialen Bereich. Wenn man sich den Konjunkturverlauf und auch die Prognosen für das kommende Jahr anschaut, dann kann man feststellen, dass hier eine echte Entlastung bevorsteht. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nur so kann es gehen!) Das Defizit der Kommunen lag in den ersten sechs Monaten dieses Jahres nur noch bei 4,8 Milliarden Euro und damit um 3,5 Milliarden Euro niedriger als im vergangenen Jahr. Es ist ein Verdienst der wachstums- und beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik dieser Regierungskoalition, dass von dieser Seite aus Entlastungen für die Kommunen stattfinden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Das ist die Gewerbesteuer, die ihr abschaffen wolltet! – Zuruf von der SPD: Der Feind der Kommunalpolitik!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Regierungskoalition macht eine verantwortungsvolle Politik im Sinne der Entlastung der Kommunen. Wir haben darüber hinaus noch eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel im Bereich der Arbeitsvermittlung durch die Neuorganisation der Jobcenter vor Ort. Wir haben im Bereich der Neuorganisation und Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente Voraussetzungen geschaffen, um künftig die Arbeitslosigkeit noch weiter bekämpfen zu können und damit Entlastungen für die Kommunen zu generieren. Diese Regierung ist den Kommunen verpflichtet. Wir arbeiten mit den Kommunen vertrauensvoll zusammen, und zwar im Sinne der Kommunen. (Zuruf von der SPD: Übertreiben Sie mal nicht!) Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Axel Troost für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzlage in vielen Städten, Landkreisen und Gemeinden ist nach wie vor katastrophal. Zwar verzeichnen einige Gemeinden jetzt wieder steigende Gewerbesteuereinnahmen, trotzdem kann von einer Entwarnung überhaupt keine Rede sein. Als Folge explodieren die Kassenkredite weiter. Das sind die sogenannten Dispokredite der Kommunen, mit denen diese ihre Liquidität sichern und laufende Ausgaben finanzieren. Wir haben inzwischen einen Stand von über 40 Milliarden Euro erreicht. Das bedeutet eine Verdoppelung gegenüber dem Jahr 2004. Angesichts dieser untragbaren Situation hat man vonseiten der Regierung eine Gemeindefinanzreformkommission eingerichtet. Man wollte Lösungen finden, um die Gewerbesteuer abzuschaffen. Das ist gnadenlos gescheitert. Die Gemeinden haben sich nicht auf diesen Weg eingelassen. Damit sind alle Versuche, die Gewerbesteuer abzuschaffen und sich damit bei großen Unternehmen und Konzernen lieb Kind zu machen, gescheitert. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist doch Blödsinn!) Es ist gut, dass die Gewerbesteuer bleibt und dass damit das jämmerliche Possenspiel dieser Kommission ein Ende gefunden hat. Ich will aber noch einmal hervorheben: Die Finanzprobleme der Kommunen sind keineswegs gelöst. Deswegen bleiben wir dabei – das wird auch in unserem Antrag deutlich –: Die Gewerbesteuer muss zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickelt werden, damit die Einnahmen erhöht und stabilisiert werden können. (Beifall bei der LINKEN) Das hilft den Kommunen unmittelbar. Zudem benötigen die Kommunen mehr vom Steuerkuchen insgesamt. Die Lösung kann daher nur sein: Die Politik der Steuersenkungen muss endlich beendet werden. Hierzu haben wir gestern eine Debatte geführt. Wir brauchen ein Steuerkonzept, das die Staatsfinanzen durch Mehreinnahmen nachhaltig stärkt (Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau! Steuererhöhungen!) und Reiche und Vermögende als Profiteure mit zur Kasse bittet. Kommen wir jetzt konkret zu dem vorliegenden Gesetzentwurf, der ganz hochtrabend eine Stärkung der Finanzkraft der Kommunen verspricht. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Völlig zu Recht!) Wenn man sich den Inhalt im Einzelnen anschaut, stellt man fest, dass es sich um eine massive Mogelpackung handelt. Die Fraktion Die Linke hat die Zusage der Regierung, dass dem Bund bis 2014 die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung schrittweise übertragen werden sollen, zunächst begrüßt. Das ist eine wichtige Maßnahme, die den Kommunen auf der Ausgabenseite in der Tat erheblich hilft. Denn die Grundsicherung ist einer der Ausgabenbereiche, in denen die Kosten am stärksten explodieren; inzwischen machen sie schon über 10 Prozent der gesamten Sozialausgaben der Kommunen aus. Die Konsequenz daraus ist – das ist hier nicht so genau thematisiert worden –, dass immer mehr Menschen infolge von Altersarmut in die Grundsicherung hineinrutschen. Es ist gut, dass der Bund die entsprechenden Kosten in Zukunft übernimmt und damit für eine Teilentlastung der Kommunen sorgt. Die Lösung ist aber nur halbherzig – das ist hier schon angesprochen worden –; denn die Frage des Abrechnungsmodus ist völlig offen bzw. unzureichend gelöst. Die Erstattung der Kosten richtet sich jeweils nach den Ausgaben im Vorvorjahr. Dadurch geht den Ländern und Kommunen viel Geld verloren. Vonseiten des Bundesrates, auf Betreiben der Bundesländer Berlin – damals noch von Rot-Rot regiert – und Brandenburg – Rot-Rot –, ist deswegen eine Initiative gestartet worden, um an dieser Stelle eine Veränderung herbeizuführen und ein zeitnäheres Abrechnungsverfahren zu erreichen. Natürlich muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass die Kommunen wirklich die Gelder erhalten und sie nicht an den sogenannten klebrigen Fingern der Landesfinanzminister hängen bleiben. (Beifall bei der LINKEN) Zum Zweiten – das ist eigentlich das gravierendste Problem – schafft der Gesetzentwurf die rechtliche Grundlage für den Kahlschlag in Sachen aktiver Arbeitsmarktpolitik. Besonders schäbig ist, dass die sukzessive Übernahme der Kosten der Grundsicherung durch drastische Kürzungen bei der Arbeitsförderung gegenfinanziert wird: In dem Maße, in dem der Bund die Kosten der Grundsicherung übernimmt, werden der Bundesagentur für Arbeit Bundesmittel gestrichen. Bereits im kommenden Jahr, 2012, werden der Bundesagentur laut Finanztableau Kürzungen von rund 1,2 Milliarden Euro zugemutet. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wie viele Arbeitslose haben wir derzeit?) – Wenn Sie mit Vertretern der Bundesagentur für Arbeit sprechen, dann sagen sie Ihnen, dass sich die Kosten der Arbeitsförderung keineswegs proportional zum Rückgang der Arbeitslosigkeit senken lassen. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Aber er ist doch erheblich!) Dadurch, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen steigt, wird die Kostenbelastung pro Kopf immer größer. Die Mittel für Weiterbildungsmaßnahmen und vieles andere mehr werden gekürzt. Sie haben die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik völlig zusammengestrichen. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das stimmt so nicht! – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Die Mittel pro Person steigen!) Der Kuhhandel, der hier praktiziert wurde, wird zumindest von uns sehr stark kritisiert. Noch einmal zur Erinnerung: Die Gemeindefinanzreformkommission ist Ende letzten Jahres gescheitert. Zufällig kam es dann zu der Situation, dass im Vermittlungsausschuss im Zusammenhang mit der Hartz-IV-Erhöhung über die Frage entsprechender Regelungen gesprochen wurde. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Troost, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Middelberg von der CDU/CSU-Fraktion? Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ja. Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Troost, weil ich Sie besonders schätze, wage ich es kaum, Sie zu unterbrechen. Ich möchte Sie aber doch fragen, ob Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die Zahl der Arbeitslosen unterdessen erheblich zurückgegangen ist. (Zuruf von der LINKEN: Offiziell! – Weitere Zurufe von der LINKEN – Bernd Scheelen [SPD]: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen aber nicht! Um die geht es doch!) – Warten Sie bitte ab. – Ich möchte Sie fragen, ob es zutreffend ist, dass die Eingliederungsmittel pro erwerbsfähigem Leistungsberechtigten von 715 Euro im Jahr 2005 auf 1 229 Euro im Jahr 2010 und die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit pro Arbeitslosem im SGB-II-Bezug, Herr Kollege Scheelen, von 1 651 Euro im Jahr 2006 auf 2 783 Euro im Jahr 2010 gestiegen sind, (Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Dann streichen wir sie lieber gleich, oder was?) also pro eingliederungsfähiger und eingliederungsbedürftiger Person am Arbeitsmarkt mehr Mittel zur Verfügung stehen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege Troost, lassen Sie gleich noch eine weitere Zwischenfrage zu? Dann können Sie Ihre Redezeit beträchtlich verlängern. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ja, das können wir gern machen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollegin Mast, bitte. Katja Mast (SPD): Herr Kollege Troost, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass 2005 die Reformen am Arbeitsmarkt gerade erst angelaufen sind und deshalb der Ansatz im Haushalt noch nicht voll ausgenutzt worden ist und dass man, wenn man die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik seriös vergleichen möchte, die Zahlen von 2008 und nicht von 2005 verwenden muss? (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Jetzt hat der Kollege die Möglichkeit zur Antwort. – Herr Middelberg, Sie waren nicht gefragt. (Heiterkeit) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Das ist ja beides erst einmal richtig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Moment, ich bin ja noch nicht fertig. – Aber wenn Sie die Bundesagentur für Arbeit fragen oder sich Ihre letzte Veröffentlichung zur Langzeitarbeitslosigkeit und zu den damit verbundenen Problemen anschauen, dann werden Sie sehr deutlich feststellen, dass die Mittel für die Arbeitsvermittlung dieser Personengruppe deutlich erhöht werden müssen, weil die Ausgaben nicht proportional zur Arbeitslosigkeit zurückgehen werden. Machen wir uns doch nichts vor! Wir sind jetzt auf dem Gipfel des Beschäftigungsniveaus angelangt. Wir gehen doch nicht davon aus, dass sich jetzt noch viel tut, sondern mit dem nächsten Abschwung geht es wieder in die Massenarbeitslosigkeit hinein. Das heißt, die Mittel der Bundesagentur sind noch geringer; und die Maßnahmen können nicht mehr ermöglicht werden. Das ist das Problem. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Wie kommen Sie darauf?) Sie bringen zulasten der Ärmsten der Armen, der Langzeitarbeitslosen, die Mittel auf, die Sie anschließend den Kommunen zur Verfügung stellen. Das ist ein Kuhhandel, der mit uns nicht zu machen ist. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Deswegen werden wir dieses Gesetz ablehnen, obwohl wir wissen, dass die Übernahme der Kosten für die Kommunen sehr sinnvoll ist. Aber so einen schäbigen Kuhhandel zu machen und das eine mit dem anderen zu koppeln, ist aus unserer Sicht eine nicht zulässige Maßnahme, unter der – um das noch einmal zu sagen – letztlich die Ärmsten der Armen, nämlich die Langzeitarbeitslosen, leiden werden und die dazu führen wird, dass es keine aktive Arbeitsmarktpolitik mehr geben wird. Deswegen haben wir einen eigenen Entschließungsantrag eingebracht, in dem wir fordern, dass auf der einen Seite die Grundsicherung übernommen wird und auf der anderen Seite keine Kürzungen bei der Bundesagentur für Arbeit erfolgen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns jetzt in der Mitte der Debatte über den Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen, und ich bin sehr froh, dass bisher noch niemand aus den Regierungsfraktionen versucht hat, uns zu erklären, dass das der unglaubliche Erfolg der Gemeindefinanzkommission ist. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das mache ich gleich noch, keine Sorge!) Das erleichtert mich ungemein. Bisher reden wir nur in der Sache über das Gesetz; und das ist auch gut so. (Peter Götz [CDU/CSU]: Ist ja auch ein gutes Gesetz!) Denn die Regierung hat sich in der öffentlichen Diskussion und auch in der Diskussion im Finanzausschuss mangels Ergebnissen aus der Gemeindefinanzkommission – den Städten und Gemeinden war ja versprochen worden, dort über ihre desaströse Finanzlage zu sprechen – und mangels Ergebnissen in den Fragen Abschaffung bzw. Änderung der Gewerbesteuer, Standards und Rechtsetzung wild entschlossen auf die Ergebnisse gestürzt, die man schon im Februar im Vermittlungsausschuss im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebungskompromisse erzielt hat, und sie nun auch noch als Erfolg der Gemeindefinanzkommission verkauft. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: So war es auch!) Ich glaube, das wird Ihnen in den Städten und Gemeinden niemand durchgehen lassen; und wir tun das auch nicht. Deshalb erwähne ich das noch einmal vorweg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Lassen Sie uns lieber beim Gesetz selbst bleiben, und hören Sie auf mit der Lobhudelei, das sei das tolle Ergebnis der Gemeindefinanzkommission. Jetzt möchte ich etwas zum Gesetz sagen. In der Tat finde ich es richtig und gut, dass demnächst – das wird eine Entlastung für die Kommunen sein – die Grundsicherung im Alter in drei Schritten vom Bund bezahlt und finanziert werden soll und wir uns nicht mehr über die Bundesanteile in unterschiedlichen Höhen streiten müssen und darüber, ob die Anteile zu niedrig oder zu hoch sind. Das wird perspektivisch – gerade im Hinblick auf die steigende Altersarmut und die Tatsache, dass nicht alle Menschen eine rentenfinanzierte Alterssicherung haben – eine Entlastung für die Kommunen darstellen. (Peter Götz [CDU/CSU]: Also ein gutes Gesetz!) Das ist gut so, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) aber der Gesetzentwurf an sich ist schlecht. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) Herr Brauksiepe hat die Gelegenheit, sowohl Ihnen, meine Damen und Herren, die heute Abend zuhören, als auch uns noch einmal zu erläutern, warum eine Ministerin bzw. ein Ministerium nicht in der Lage ist, innerhalb von acht Monaten einen Kompromiss, der im Vermittlungsausschuss vereinbart wurde, umzusetzen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So viel Zeit bekommen sie nie wieder!) Sie stehen nun unter Erklärungsdruck; (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wir sind doch die Gesetzgeber! Sie hätten doch einen Gesetzentwurf vorlegen können!) denn es ist klar, dass Sie sich nicht an die Vereinbarung, die im Vermittlungsausschuss getroffen wurde, halten werden. Sie legen keinen Gesetzentwurf vor, der eine 100-prozentige Entlastung bis 2014 vorsieht. Sie tun das mit der Begründung, dass alles über 50 Prozent eine Auftragsverwaltung im Bundestag nach sich ziehen würde. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Genau! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie begreifen es ja!) – Ja, aber dieses Argument gilt auch noch nächstes und übernächstes Jahr. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau!) Ich frage mich, warum das Ministerium nicht in der Lage war, zwischen Februar und Oktober – alle, die bei den Verhandlungen dabei waren, wussten es schon im Februar – über dieses Problem nachzudenken und es zu lösen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Hier hat man genauso schludrig gehandelt wie bei vielen anderen Gesetzen im Bereich Arbeitsmarktpolitik: Erst einmal hat man es eine Weile liegen lassen; dann hat man gemerkt, dass da ein Problem auftauchen könnte, und dann hat man es einfach nur für das Jahr 2012 geregelt und offengelassen, was in den Jahren 2013 und 2014 passieren soll. Da kommen Sie nicht heraus. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein! Wir waren gründlicher und sorgfältiger als Rot-Grün!) Sie stehen unter Erklärungsdruck, sowohl gegenüber den Ländern als auch gegenüber den Kommunen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein zweiter Punkt. Sie haben den Kommunen in den Hartz-IV-Verhandlungen im Vermittlungsausschuss eine 100-prozentige Entlastung zugesagt. Dadurch, dass Sie sich auf die Zahlen des Vorvorjahres beziehen, kommt es aber nicht zu einer 100-prozentigen Entlastung. Sie sollten so ehrlich sein und das den Kommunen sagen. Für die Stadt Bielefeld, aus der ich komme, bedeutet das, dass ihr durch Ihre Berechnungsmethoden jährlich 2,7 Millionen Euro entzogen werden, und das gilt auch für andere Städte und Gemeinden. (Sönke Rix [SPD]: Hört! Hört!) Nicht umsonst erklärt heute der Deutsche Städtetag, dass er die Länder auffordert, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Das ist auch richtig; denn Sie bleiben nicht bei Ihrer Zusage, den Kommunen 100 Prozent zu erstatten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein weiterer Fehler im Gesetz ist übrigens die Spitzabrechnung. Mein dritter Punkt. Ich frage die Koalitionsfraktionen: Warum nehmen Sie eigentlich keine gesetzliche Klarstellung vor, damit deutlich wird, wofür das Geld vorgesehen ist? Warum regeln Sie das nicht gegenüber den Ländern? Vorhin haben schon mehrere Kolleginnen und Kollegen darauf hingewiesen, dass sich die Kommunen als letztes Glied in der Kette immer die Frage stellen, ob sie das, was für sie vorgesehen ist, auch bekommen. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist Länderverantwortung!) – Frau Reinemund, Sie sagen, das ist Länderverantwortung. So einfach kann man es sich machen, wenn man hier in Berlin sitzt und den Bezug zur lokalen Ebene verliert. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Es ist vorgesehen! So steht es im Gesetz!) Wir wissen, dass wir das gesetzlich regeln können und auch regeln sollten. Deshalb meine Frage an Sie – die kann der Staatssekretär gleich beantworten –: Warum sehen Sie eine solche Regelung nicht vor? Ich habe bereits ausgeführt, dass ich es gut finde, dass wir uns auf eine entsprechende Regelung einigen. In Bezug auf den Gesetzentwurf muss man aber insgesamt feststellen: Sie haben nicht geliefert. Sie bleiben auch eine Antwort auf die Fragen schuldig, was 2013 und 2014 kommt und wann Sie die Vorhaben umfänglich regeln wollen. Mein letzter Punkt. Sie wissen, dass die Haushalte des Bundes, der Länder und der Kommunen knapp sind. Wie können Sie in einer solchen Situation – gerade angesichts der Debatte, die wir gestern im Parlament zur Euro- und Schuldenkrise geführt haben – auf die Idee kommen, Steuersenkungen in Höhe von 6 bis 7 Milliarden Euro zu versprechen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) – Das gehört in eine Kommunaldebatte, Herr Lehrieder. Ich weiß, dass eine solche Debatte Ihnen unangenehm ist. Herr Seehofer, Mitglied der CSU, und Herr Carstensen, Mitglied der CDU, haben Sie bereits gefragt, ob Sie wissen, was das für die Länder und die Kommunen bedeutet. Eine solche Steuersenkung, die Sie in dieser Legislaturperiode jetzt zum 25. Mal ankündigen, würde die Länder 3 Milliarden Euro kosten und für die Kommunen eine Mindereinnahme in Höhe von 900 Millionen Euro bedeuten. Deshalb müssen wir an dieser Stelle sehr vorsichtig sein. Aus diesem Grund müssen wir eine solche Forderung zurückweisen. Die Entlastung von den Kosten für die Grundsicherung im Alter durch den Bund nützt den Kommunen gar nichts, wenn Sie sich mit solchen Steuersenkungsplänen in irgendeiner Art und Weise durchsetzen können. Sie müssen endlich einmal Farbe bekennen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Remmers [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen kommen wir hinsichtlich der Umsetzung der Protokollerklärung des Vermittlungsausschusses vom Februar dieses Jahres ein gutes Stück voran, insbesondere hinsichtlich der schrittweisen Entlastung der Kommunen. Wir geben den Kommunen damit ein großes Stück ihrer Souveränität zurück. Durch den Entzug der finanziellen Grundlagen wurde das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung jahrelang ausgehöhlt. Das ändern wir heute. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beim Studium der Rednerliste ist mir aufgefallen, dass hier kein Vertreter von SPD oder Grünen spricht, der schon in der 14. Wahlperiode dabei war, als über die Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gesprochen wurde. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entschuldigen muss ich mich jetzt nicht dafür!) Aber es gibt ja zum Glück Protokolle, in denen man nachlesen kann, was seinerzeit gesagt worden ist. Am 26. Januar 2001 – das war zu D-Mark-Zeiten – wurde hier über den Gesetzentwurf zur Einführung der Grundsicherung im Alter debattiert. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hatte 600 Millionen D-Mark zur Entlastung der Kommunen vorgesehen. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zu heute!) Die Kollegin Erika Lotz hat damals gesagt: Die den Kommunen dadurch entstehenden Kosten – gemeint waren die grundsicherungsbedingten Mehrkosten – werden vom Bund getragen. Die Kommunen werden also nicht belastet, wie es die CDU/CSU fälschlicherweise in ihrem Entschließungsantrag behauptet. Das Protokoll vermerkt zur Rede der Kollegin: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 600 Millionen D-Mark, das war Ihr schäbiges Angebot. Sie haben behauptet, das sei ausreichend für die Kommunen. Ich kann verstehen, dass heute keiner redet, der dafür verantwortlich war. Sie mögen zwar nicht persönlich verantwortlich sein, aber Sie stehen politisch in der Verantwortung für die Ausplünderung der Kommunen; denn Sie haben das damals auf den Weg gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hiller-Ohm? Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Gerne, Herr Präsident. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und beantworten Sie doch meine Fragen auch noch! Das mit den acht Monaten meine ich!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Dr. Brauksiepe, können Sie bitte ausführen, wofür die 16-prozentige Beteiligung des Bundes an den Kosten für die Grundsicherung im Alter damals gedacht war? Ist es richtig, dass dies als Ausgleich dafür vorgesehen war, dass die Kommunen nicht länger auf die Familienangehörigen zurückgreifen konnten? Weil wir diese Möglichkeit abgeschafft haben, ist die Grundsicherung im Alter ja überhaupt erst geschaffen worden. Können Sie das bestätigen? Warum vermitteln Sie hier den Eindruck, dass die gesamten Kosten für die Grundsicherung durch den Bund hätten übernommen werden sollen? Das war damals gar nicht im Gespräch. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Weil Sie es eben nicht gemacht haben! Sie haben die Kosten nicht übernommen!) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Frau Kollegin, ich muss Ihnen leider sagen, dass Ihr wiederholter Hinweis auf die 16-Prozent-Beteiligung belegt, dass Sie vollkommen falsch orientiert sind. Sie haben keine 16-prozentige Beteiligung eingeführt. (Peter Götz [CDU/CSU]: So ist es! Absolute Zahlen!) Sie haben eine absolute Summe eingeführt: 600 Millionen D-Mark. Das sind umgerechnet 307 Millionen Euro. Diese Summe wurde im Vermittlungsausschuss von der damaligen Opposition in diesem Haus und der Mehrheit im Bundesrat auf 409 Millionen Euro hochgesetzt. Das war eine absolute Zahl. (Peter Götz [CDU/CSU]: So ist es!) Es ging nicht um 16 Prozent. Ich kann Ihnen sagen, woher die 16 Prozent kommen. Das gehört noch zur Antwort auf Ihre Frage, Frau Kollegin. Wir haben in der Großen Koalition angefangen, hier aufzuräumen. Wir haben in der Großen Koalition eine prozentuale Beteiligung eingeführt, weil wir gesehen haben, dass die Beteiligung des Bundes mit einer festen Summe angesichts der steigenden Kosten relativ immer mehr abgenommen hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!) In der Großen Koalition sind wir auf eine prozentuale Beteiligung übergegangen, die wir schrittweise erhöht haben. Sie sprachen – im Passiv – davon, dass eine Beteiligung in Höhe von 16 Prozent eingeführt wurde. Da sind Sie leider in einem völlig falschen Film. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) 16 Prozent Bundesbeteiligung gäbe es dann, wenn der jetzt vorliegende Gesetzentwurf durch eine Blockade nicht in Kraft träte und im nächsten Jahr der Status quo gelten würde. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! Peinlich!) In diesem Jahr liegt die Beteiligung bei 15 Prozent; wenn sich nichts ändern würde, würde diese im nächsten Jahr auf 16 Prozent steigen. Nicht Sie haben unter Rot-Grün eine Beteiligung in Höhe von 16 Prozent eingeführt, sondern die Große Koalition hat eine schrittweise steigende prozentuale Beteiligung eingeführt, die im nächsten Jahr auf 16 Prozent steigen würde, wenn nicht das kommt, was wir wollen. Wir wollen im nächsten Jahr keine 16 Prozent, sondern 45 Prozent. Das ist der Unterschied. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Lühmann? Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Bitte. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich warte noch auf die Antwort auf meine Frage!) – Sie kommen auch noch dran, Frau Haßelmann. Kirsten Lühmann (SPD): Herr Dr. Brauksiepe, stimmen Sie mir zu, dass ein Teil der Menschen, die damals in die Grundsicherung im Alter kamen, vorher in der Sozialhilfe waren? Stimmen Sie mir weiterhin zu, dass die zusätzlichen Kosten, die durch die Menschen, die vorher nicht in Sozialhilfe waren und in dieses neue Konstrukt gekommen sind, mit 800 Millionen D-Mark richtig eingeschätzt wurden – damals hatte man noch keine Prognosen – und die Mittel für das Jahr der Einführung ausreichend waren? Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Frau Kollegin, Sie hatten nicht 800 Millionen D-Mark vorgesehen. Ich sage noch einmal: Das war das Ergebnis des Vermittlungsausschusses. Sie hatten 600 Millionen D-Mark vorgesehen. Sie hatten kein Gesetz für die Einführung der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemacht. Eine Dynamisierung der Kostenübernahme war nicht vorgesehen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Das haben wir in der Großen Koalition gemacht!) Im Gegensatz dazu hatten wir in der Großen Koalition eine prozentuale Beteiligung eingeführt und von vornherein eine Steigerung auf bis zu 16 Prozent vorgesehen. Sie – ich meine nicht Sie persönlich; Sie waren ja damals offenbar nicht dabei – hatten keine Dynamisierung vorgesehen. Sie reden ja gleich noch. Sie hatten beim Gesetz für die Einführung der Grundsicherung im Alter keine dynamische Kostenübernahme geregelt. Das Gesetz war auf Dauer angelegt, und darin war ohne Dynamisierungskomponente eine Beteiligung von 600 Millionen D-Mark vorgesehen. Das war viel zu wenig für die Kommunen. Das haben Sie gemacht. Hier sollte man bei der historischen Wahrheit bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kirsten Lühmann [SPD]: Was ist mit der Frage?) Um die Entwicklung weiter aufzuarbeiten, will ich daran erinnern, dass es Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble war, der in der Gemeindefinanzreformkommission als Erster den Vorschlag eingebracht hat, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) dass der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernimmt. Deswegen ist diese Kommission nicht gescheitert. Das war die Initiative des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Ich finde, es ist wichtig, dass man sich noch einmal vor Augen führt, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist. Im Vermittlungsausschuss ist nicht vereinbart worden, dass die stufenweise Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in diesem Jahr in einem einzigen Gesetzgebungsverfahren umzusetzen ist. Das ist im Vermittlungsausschuss nicht vereinbart worden. Deswegen kann eine solche Vereinbarung gar nicht gebrochen werden. Etwas anderes ist vereinbart worden; da komme ich zu Herrn Troost. Im Vermittlungsausschuss ist vereinbart worden, dass parallel zu der Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eine entsprechende Absenkung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Arbeitsförderung erfolgt. Das ist Ergebnis des Vermittlungsausschussverfahrens. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Kuhhandel!) Herr Kollege Troost, Bundestag und Bundesrat sind Verfassungsorgane. Der Vermittlungsausschuss ist in unserer Verfassung für solche Auseinandersetzungen vorgesehen. Beim Ergebnis eines demokratisch zustande gekommenen Vermittlungsverfahrens von einem Kuhhandel zu sprechen, zeugt von wenig Respekt für die verfassungsmäßige Ordnung in diesem Land. Das Ergebnis des Vermittlungsverfahrens hat nichts mit einem Kuhhandel zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ganz schwach!) Nun hat sich die Kollegin Hiller-Ohm nicht nur bei den 16 Prozent vergaloppiert, die es bis heute gar nicht gibt und die wir auch gar nicht wollen, weil wir für 45 Prozent im nächsten, 75 Prozent im übernächsten und 100 Prozent im darauffolgenden Jahr sind. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie müssen zuhören, Herr Kollege!) Frau Kollegin Hiller-Ohm sagte auch, wir hätten acht Monate gebraucht, um einen Gesetzentwurf vorzulegen, (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja! Genau!) und dann sprach sie vom Schweinsgalopp, in dem dieses Verfahren durchgezogen wird. Meine Damen und Herren, die Vereinbarungen im Vermittlungsausschuss wurden am 25. Februar 2011 von Bundestag und Bundesrat abgeschlossen. Am 20. Juli 2011 hat die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf beschlossen, der heute vorliegt. Den Kalender, auf dem zwischen dem 25. Februar und dem 20. Juli acht Monate liegen, müssen Sie mir einmal zeigen. Das muss sozialistische Mathematik sein. Für mich sind das keine acht Monate. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie dann bei einem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung am 20. Juli 2011 beschließt und über den heute, am 27. Oktober 2011, abschließend beraten werden soll, also bei einem über dreimonatigen Verfahren, von einem Schweinsgalopp sprechen, sagt das viel über Ihr parlamentarisches Verständnis aus, meine Damen und Herren. Für mich ist das kein Schweinsgalopp. Das sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich. Es ist eine richtige Entscheidung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Von den Kritikpunkten will ich noch einen wesentlichen Punkt aufgreifen. Da wird von der Erstattung orientiert an den Vorvorjahren gesprochen. Das ist wahr. Es ist so vorgesehen, weil wir gar keine anderen statistischen Daten haben. Auf der Basis von Daten, die wir nicht haben, können wir auch keine Entlastung der Kommunen vornehmen. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: So einfach ist das!) Das spielt natürlich dann keine Rolle, wenn ich es so mache wie Rot-Grün und überhaupt nur eine feste Summe vorsehe, seien es 600 Millionen D-Mark oder 800 Millionen D-Mark. Wenn ich nur eine absolute Zahl vorsehe und keine Dynamisierung, spielt es keine Rolle, welche Ausgaben im Vorjahr oder im Vorvorjahr tatsächlich angefallen sind. Erst in der Großen Koalition haben wir die Dynamisierung vorgenommen. Erst dann spielte die Bezugsgröße eine Rolle. Da hatten wir die Daten des Vorvorjahres. Danach haben wir uns gerichtet. In der Zeit der Großen Koalition war das der Sozialdemokratie genug. Das waren auch die einzigen Daten, die wir hatten. Sie handeln nach dem Motto: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. In der Regierung war es Ihnen recht; in der Opposition ist Ihnen das gleiche Verfahren plötzlich unrecht. Das kann nicht Maßstab des Handelns dieser Bundesregierung sein und ist es auch nicht, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir setzen das um, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist. In diesem Jahr setzen wir es in einem ersten Schritt um. Der nächste Schritt wird mit der Regelung zur Bundesauftragsverwaltung folgen. Dies ist ein Sieg für die Kommunen. Damit erhalten die Kommunen wieder die Handlungsfähigkeit, die sie brauchen. 1,2 Milliarden Euro beträgt die Entlastung allein im nächsten Jahr. Sie haben mit 307 Millionen Euro angefangen. Wir sorgen jetzt dafür, dass die Kommunen endlich die Ausstattung bekommen, die sie brauchen, um verantwortungsvoll handeln zu können. Dies ist der Sieg für die Kommunen. Das ist das großartige Ergebnis dieser Politik. Dafür bitte ich um Zustimmung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Kirsten Lühmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Herren und Damen! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! 5 Milliarden Euro beträgt das strukturelle Defizit, das die Kommunen dieses Jahr erwarten. Ein solches strukturelles Defizit bedeutet, dass die Kommunen dieses Jahr 5 Milliarden Euro aufnehmen müssen, um allein ihre gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben zu erfüllen. Im nächsten Jahr werden wir sie um zusätzliche 1,2 Milliarden Euro entlasten. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wir!) Das ist ein wichtiger Schritt und ein guter Schritt. Die Redner und Rednerinnen der Koalitionsfraktionen tun allerdings so, als hätten sie jetzt ein Allheilmittel gefunden – eine Art Dukatenesel –, um die Kommunen von allen Verpflichtungen und Nöten zu befreien. Die Realität sieht aber ganz anders aus. Das verdeutlicht schon die Anwendung einer einfachen Grundrechenart. 5 Milliarden Euro Defizit weniger 1,2 Milliarden Euro Bundeszuschüsse macht 3,8 Milliarden Euro Kredite. Diese 3,8 Milliarden Euro, die über Kredite finanziert werden müssen, sind wahrscheinlich die Luft zum Atmen, die Sie vorhin meinten, Herr Kollege Lehrieder. Worüber reden wir heute? Herr Brauksiepe, wir reden auch über die ehemalige Sozialhilfe, für die die Kommunen – auch unter Ihrer Regierung – in keiner Weise entlastet wurden. Sie hatten sie in voller Höhe zu tragen. Das Gesetz, über das wir heute sprechen, hat zum ersten Mal die Kommunen bei der – damals noch – Sozialhilfe entlastet, und zwar jährlich um 800 Millionen D-Mark. Das muss hier einmal deutlich gesagt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Da dies nicht mehr ausreicht, behandeln wir heute die erste Stufe der weiteren Entlastung bei den Kosten der Grundsicherung im Alter. Das ist aber nur eine erste Stufe. Die Bundesregierung ignoriert geflissentlich diese Formulierung. Sie behauptet, sie hätte einen großen Wurf getan, und verkennt dabei völlig die Realität. Die Realität ist, dass die Übernahme der Grundsicherung im Alter weder das Ergebnis noch der Erfolg der Gemeindefinanzkommission ist. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Gegenteil ist der Fall. Das ist ein Vorhaben, das die Länder im Vermittlungsausschuss vom Bund erstritten haben. (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Indem Sie etwas Falsches sagen, wird es nicht richtig! – Peter Götz [CDU/CSU]: Ja, ja! Und am Ende hat es die SPD gemacht!) Der Finanzminister verkennt das völlig. Er geriert sich hier als Retter der Kommunen. Man könnte meinen, man habe eine Art Robin Hood der Kommunen vor sich, wenn man ihn reden hört. (Zuruf von der CDU/CSU: Das könnte man allerdings auch von Ihnen sagen!) Wenn man aber die Verhandlungsführerin der SPD, Manuela Schwesig, fragt, (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Fragen Sie besser mich! Ich sage Ihnen die Wahrheit!) dann wird einem sehr schnell klar, dass diese Bundesregierung eher zum Jagen getragen werden musste. (Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/ CSU]: Jetzt wird es peinlich!) Wie sieht die generöse Entlastung aus? Ihr stehen zusätzliche Belastungen durch diverse Gesetzesvorhaben dieser Regierung in den letzten zwei Jahren gegenüber. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Da ist zum Beispiel das Gesetz zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts; dieses Gesetz bedeutet zum Beispiel für die Stadt Mönchengladbach, dass vier zusätzliche Stellen geschaffen werden müssen. Weitere Beispiele sind das heute verabschiedete Kinderschutzgesetz, der elektronische Aufenthaltstitel, der neue Personalausweis und die Änderungen im Eichwesen – alles nicht gegenfinanziert. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Zählen Sie doch mal auf, was bei Ihnen alles nicht gegenfinanziert ist!) Sogar in diesem Gesetzentwurf gibt es Belastungen, die festgeschrieben sind. Ich zitiere: Da beabsichtigt ist, dass der Bund ab dem Jahr 2014 die Nettoausgaben … für die Grundsicherung im Alter … vollständig erstattet, stehen Ländern und Kommunen dann ausreichend Finanzmittel zur Verfügung, um dauerhaft auch die … kommunalen Aufwendungen für Mittagessen und Schulsozialarbeit selbst finanzieren zu können. (Caren Marks [SPD]: Interessant!) Das, meine Herren und Damen, ist doch fast schon zynisch; das muss man so sagen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es würde mich nicht wundern, wenn der Finanzminister die geplanten Steuersenkungen gegenüber den Kommunen rechtfertigt, indem er darauf hinweist, dass die Kommunen das schon verkraften können, weil sie durch die Übernahme der Grundsicherung im Alter jetzt genug Geld bekommen. Und – ich wiederhole jetzt einige Punkte, die meine Vorrednerinnen angesprochen haben –: Das Gesetz ist auch noch schlecht gemacht. Die Hauptkritik, die übrigens nicht nur von uns, sondern auch vom Bundesrat und von den kommunalen Spitzenverbänden geübt wird, betrifft zwei Punkte. Die Vereinbarung regelt nur das Jahr 2012. Da ich selbst Kommunalpolitikerin bin, weiß ich: Wir können keine Doppelhaushalte verabschieden. Eine seriöse mittelfristige Finanzplanung ist nicht möglich. (Peter Götz [CDU/CSU]: Mein Landrat sieht das anders!) Was die Frage, warum Sie das in acht Monaten nicht geschafft haben, angeht, rate ich Ihnen: Schauen Sie einmal in den Gesetzentwurf hinein. Was steht da drin? Da steht drin: Wenn wir die zweite Stufe nicht rechtzeitig schaffen, bleibt es bei einer Übernahme von 45 Prozent. – Warum haben Sie das denn hineingeschrieben, wenn Sie das nicht auch machen wollen? (Bernd Scheelen [SPD]: Ja, genau!) Außerdem ist dieses Gesetz eine reine Mogelpackung. Denn es stellt auf die Ausgaben des Vorvorjahres ab. Ich möchte kurz beleuchten, was das bedeutet. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das wurde doch alles schon erklärt! – Peter Götz [CDU/CSU]: Hätten Sie zugehört, was der Staatssekretär gesagt hat, dann wüssten Sie das!) Der Betrag für die Grundsicherung im Alter steigt jährlich um etwa 5 Prozent an. Das entspricht einem Volumen von über 200 Millionen Euro. Damit zahlen die Kommunen jedes Jahr 500 Millionen Euro aus eigener Tasche. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Die sie später erstattet bekommen!) Ich möchte das einmal anders ausdrücken. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das, was Sie sagen, wird auch dann nicht besser, wenn Sie es anders ausdrücken!) Das heißt, für das Jahr 2012 zahlt der Bund den Kommunen nicht die vereinbarten 45 Prozent der Grundsicherung im Alter, sondern nur 42 Prozent. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist aber mehr als 15 Prozent, wie zu Zeiten der SPD!) Das ist eine Mogelpackung. (Beifall bei der SPD) Das könnte man auch das „Kleingedruckte“ dieser Vereinbarung nennen; das, was Sie hier machen, ist unlauter. Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt diesem Gesetzentwurf zu. Allerdings hat sie auch einen Entschließungsantrag eingebracht. Was in diesem Entschließungsantrag steht, hat meine Kollegin Hiller-Ohm schon dargelegt; ich möchte das nicht wiederholen. Wenn vonseiten der Bundesregierung wieder die Einlassung kommt, es sei völlig unnötig, dass wir unsere Bedenken hier darlegen, sage ich Ihnen aber: Dann dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, den Absichtserklärungen unseres Entschließungsantrages zuzustimmen. Darauf freue ich mich. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Das werden Sie nicht erleben!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Birgit Reinemund (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Lühmann, Sie sagten: Wir entlasten die Kommunen im nächsten Jahr. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Diese Chance hat die SPD verpasst!) Nicht Sie entlasten die Kommunen. Wir entlasten die Kommunen. Sie stimmen dem Gesetzentwurf zwar zu, (Antje Tillmann [CDU/CSU]: Aber nur zähneknirschend!) wollen aber einen Großteil seiner Regelungen durch Ihren Entschließungsantrag zurücknehmen. Wie ehrlich sind Sie an dieser Stelle? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nachdem die Opposition bisher hauptsächlich versucht hat, die technischen Details dieses Gesetzentwurfes zu zerpflücken, (Bernd Scheelen [SPD]: Das ist bei dem Gesetzentwurf ja auch einfach!) möchte ich auf das Wesentliche zurückkommen. Noch nie hat eine Bundesregierung die Kommunen finanziell so nachhaltig entlastet wie diese christlich-liberale Koalition. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Das ist weder christlich noch liberal!) Bis zum Jahr 2014 übernimmt der Bund schrittweise die kompletten Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung plus alle künftigen Kostensteigerungen plus die Verwaltungskosten für dieses Gesetz. (Bernd Scheelen [SPD]: Bisher nicht!) Für meine Heimatstadt Mannheim sind das ab 2014 immerhin 20 Millionen Euro pro Jahr plus alle Steigerungen von circa 5 Prozent pro Jahr, die noch folgen. Egal was Sie gegenrechnen und kleinreden wollen: Das ist eine Entlastung für Städte und Gemeinden in einer noch nie dagewesenen Höhe. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist richtig so und auch gerechtfertigt, und es war auch höchste Zeit; denn diese Aufgaben wurden den Kommunen bereits 2003 von Rot-Grün übertragen – ohne einen angemessenen finanziellen Ausgleich. Dies hat sich zu einem der größten Posten in den kommunalen Haushalten entwickelt. Heute nörgeln Sie hier herum, aber ehrlich ist das Ganze nicht. Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs beschließen wir nun den ersten Schritt für 2012. Die Regelungen für 2013 und 2014 werden in Kürze folgen. Das ist zugesichert und wird sicher auch eingehalten. (Kirsten Lühmann [SPD]: Dann stimmen Sie unserem Entschließungsantrag doch zu!) Das kommt gerade den klammen Kommunen mit problematischen Sozialstrukturen zugute. Gleichzeitig wurde den Kommunen durch die solide Wirtschaftspolitik der letzten beiden Jahre ein spürbares Einnahmeplus beschert, wie es in dieser Höhe noch Anfang des Jahres kaum zu erwarten war. (Bernd Scheelen [SPD]: Das war die Gewerbesteuer, die Sie abschaffen wollten, was wir Gott sei Dank verhindert haben! – Gegenruf des Abg. Peter Götz [CDU/CSU]: Dieser Zwischenruf ist schon oft genug gemacht worden! Er wird dadurch nicht besser!) Die historisch niedrige Arbeitslosenzahl führt gleichzeitig zur Entlastung bei den Sozialkosten. Die Steuereinnahmen der Kommunen stiegen in der ersten Jahreshälfte um 12,8 Prozent. Einige Kommunen erreichen bereits dieses Jahr die Rekordeinnahmen des Vorkrisenjahres 2008. Gerade die Wachstumsdynamik der Gewerbesteuer im Aufschwung ist unbestritten und sehr erfreulich. (Kirsten Lühmann [SPD]: Sehr schön!) Gleichzeitig entstehen jetzt große Sorgen über die Schwankungsanfälligkeit der Gewerbesteuer bei Konjunkturschwankungen. Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Lage regional und je nach Gemeindetyp weiterhin sehr unterschiedlich darstellt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr wahr!) Viele Kommunen stehen nach wie vor mit dem Rücken an der Wand. Ganz besonders schlimm ist es in Nordrhein-Westfalen. (Peter Götz [CDU/CSU]: So ist es! – Bernd Scheelen [SPD]: Nach fünf Jahren Schwarz-Gelb ist das kein Wunder!) Der Anteil der Kassenkredite nordrhein-westfälischer Kommunen an allen an Kommunen vergebenen Kassenkrediten beläuft sich auf mehr als 50 Prozent; es sind 20 Milliarden Euro. Die Ursachen sollte man vielleicht einmal analysieren. Sie liegen sicher nicht alleine in der Bundespolitik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Frank Schwabe [SPD]: Sondern? Wo denn sonst?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwabe? Dr. Birgit Reinemund (FDP): Der Herr Kollege Schwabe? Aber ja, gerne. Frank Schwabe (SPD): Frau Kollegin, da ich aus dem Ruhrgebiet komme – ich bin Wahlkreisabgeordneter für die Städte Recklinghausen, Castrop-Rauxel und Waltrop, die auch von CDU und FDP regiert werden – und Sie wahrscheinlich diese Region gemeint haben, würde ich von Ihnen gerne einmal wissen, worin denn die Gründe dafür liegen könnten, dass es den Kommunen im Ruhrgebiet besonders schlecht geht. Dr. Birgit Reinemund (FDP): Ich denke, dass Sie das sicher besser analysieren können als ich, da Sie aus NRW kommen. (Lachen bei der SPD) Ich möchte auch nicht behaupten, dass es alleine an den Kommunen liegt. Es liegt sicher auch am Strukturwandel im Ruhrpott, aber auch an den Aufgaben des Bundes, die vor allen Dingen Rot-Grün jahrzehntelang weitergegeben hat. (Anette Kramme [SPD]: Jahrzehnte? – Iris Gleicke [SPD]: Jetzt verstehe ich die Rechnung! Wir haben jetzt die Rechenschwäche ausgemacht!) – Jetzt verstehen Sie die Rechnung. – Reicht das als Antwort? (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP] – Pascal Kober [FDP]: 50 Jahre SPD an der Regierung übersteht kein einziges Land!) Liebe Kollegen der Opposition, natürlich haben Sie recht: Die Übernahme der Grundsicherung alleine führt nicht zur dauerhaften Stabilisierung der kommunalen Finanzen. Wir brauchen eine umfassende Strukturreform. Deswegen gab es im letzten Jahr eine Regierungskommission zur Reform der Gemeindefinanzen, und wir alle bedauern außerordentlich, dass diese ohne Ergebnis auseinandergegangen ist. Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände sind zu keiner Einigung gekommen – weder auf der Einnahmeseite noch auf der Ausgabenseite. Die Fronten sind geklärt und vor allen Dingen verhärtet. Mit Ihren Anträgen bieten Sie keine substanziellen Neuigkeiten. Sie tragen Ihre Forderungen, die ja ebenfalls Inhalt der gescheiterten Regierungskommission waren, immer und immer wieder hier vor. Dieses Zementieren hat uns bisher aber nicht wirklich weitergebracht. Zum Ergebnis führt hier nur ein Kompromiss. Wer Kompromisse erzielen will, darf seine Forderungen nicht in Stein meißeln. Sehen Sie denn irgendwo ein konsensfähiges Modell abseits der allseits bekannten Extrempositionen, die bereits mehrfach vorgetragen und abgelehnt wurden? Wir sind offen für konstruktive Vorschläge, mit denen die Chance besteht, alle Beteiligten zusammenzubringen. Eine Wiederholung der immer gleichen, bereits abgelehnten Positionen ist einfach nicht ehrlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Vielleicht hören Sie einmal mit dem Steuersenkungsgerede auf!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antje Tillmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, jetzt hat sich Herr Brauksiepe so viel Mühe gegeben, Ihnen zu erklären, wie dieses Gesetz historisch zustande gekommen ist. Das hindert Sie, Frau Lühmann, leider nicht daran, hier die gleichen Unwahrheiten, die Frau Hiller-Ohm schon erwähnt hat, zu wiederholen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fakt ist, dass unser Finanzminister Schäuble das erste Mal eine Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung ins Gespräch gebracht hat. Daraus können Sie schließen, dass diese Idee nicht im Vermittlungsausschuss entstanden ist; denn Herr Schäuble ist gar nicht Mitglied im Vermittlungsausschuss. (Bernd Scheelen [SPD]: Er hat sofort Gegenwind aus der Koalition bekommen!) Daraus können Sie auch schließen, dass das keine Idee der SPD war; denn Herr Schäuble ist gar nicht Mitglied der SPD. Diese Idee ist ganz klar im Rahmen der Gemeindefinanzreformkommission aufgegriffen und dann im Vermittlungsverfahren verhandelt worden. Eindeutig ist, dass es keine Idee der SPD-Länder war und leider auch nicht von Ihnen stammt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber es ist schön, wenn Sie heute mitmachen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fakt ist auch – das können Sie kleinreden, wie Sie wollen –: Das ist das größte Entlastungsprogramm für die Kommunen: 12 Milliarden Euro allein in den nächsten Jahren. Sie haben aber völlig recht, das allein löst das Problem nicht. Das ist auch nicht das einzige Programm. Daneben werden für das Bildungsprogramm 1,6 Milliarden Euro, für die Kinderbetreuung 4 Milliarden Euro und für die Sprachförderung von Kindern 400 Millionen Euro bereitgestellt. Weitere Stichworte sind: Mehrgenerationenhäuser, KfW-Sanierung, energetische Gebäudesanierung und Konjunkturprogramme. Ich weiß, dass mein Kollege Götz Ihnen jedes einzelne Programm gleich vorstellen wird. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Götz [CDU/CSU]: Keine Drohung!) Von daher ist das ein kleiner Schritt in die richtige Richtung zur Entlastung der Kommunen. Mir scheint, dass Sie die Lösung des Problems entweder in Steuererhöhungen sehen – so die Linken, Herr Kollege Troost – oder in ständigen Neubelastungen des Bundes. Mir ist nicht ganz klar, woher Sie die Zahlen nehmen, nach denen der Bund so viel Geld zur Verfügung hat, dass er sowohl die Probleme der Kommunen als auch die der Länder lösen kann. Nein, das können wir nicht. Deutlich muss man sagen: Dieses Gesetz ist für den Bund ein Kraftakt. Diese Finanzierung ist schwierig. Wir haben sie zugunsten der Kommunen gemeistert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Über die anderen Anträge ist noch gar nicht gesprochen worden. Wahrscheinlich war Ihnen selber peinlich, was in Ihrem Antrag steht. Lieber Kollege Troost, in Ihrem anderthalb Jahre alten Antrag, in dem noch steht, dass der Bund den Kommunen die Finanzierung für die Grundsicherung überlässt, hätten Sie wenigstens das Datum und diesen Satz verändern sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Der ist mit diesem Datum eingereicht worden! Das ist doch kein aktueller Antrag! Das kann man am Datum sehen!) Was auch noch in dem Antrag gefordert wird, ist die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, was wir auch für die Länder regeln sollen. Das stimmt aber mit unseren demokratischen Grundregeln nicht überein. Diese Abschaffung können nur die Landesparlamente beschließen. Aber Sie erinnern sich mit Sicherheit daran, weil ich es Ihnen schon mehrfach dargestellt habe, dass die Gewerbesteuerumlage eingeführt worden ist, weil die Kommunen festgestellt haben, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer sehr schwankungsabhängig sind. Damals haben wir gesagt: Die Länder bekommen einen Anteil an der Einkommensteuer und an der Umsatzsteuer. Dafür wurde im Gegenzug die Gewerbesteuerumlage eingeführt. Die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, hilft den Kommunen nicht. Wer zahlt denn die höchste Gewerbesteuerumlage? Das sind gerade die Kommunen, die sich nicht über die Gewerbesteuereinnahmen beklagen müssen. Die Kommunen, die finanzielle Probleme haben, zahlen so gut wie keine Umlage. Deshalb hilft ihnen auch eine Abschaffung nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu der immer wieder aufgestellten Forderung in den immer selben Anträgen – leider auch von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen –, auf Steuersenkungen zu verzichten, kann ich nur sagen: Das ist einfach unehrlich. Sie hatten leider nicht die Freude, in der Familiendebatte dabei zu sein. Eine Stunde lang haben wir über die Forderungen der Kollegen der Linken debattiert; alles, was Familien wünschenswert finden, wurde hier verlangt, unter anderem auch eine erneute Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze. (Beifall bei der LINKEN) Nicht mit einem Wort haben Ihre Kolleginnen und Kollegen bei den Reden erwähnt, dass das massive Belastungen für die Kommunen bedeuten würde. (Widerspruch bei der LINKEN) Das ist Ihnen völlig egal, wenn es um Ihre Interessen geht. Aber in dem Augenblick, in dem wir die Steuerzahler, die diese ganzen Sozialleistungen bezahlen, entlasten wollen – Stichwort: „kalte Progression“ – schreien Sie auf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) Schauen Sie sich Ihren Antrag zur Familienpolitik noch einmal an und rechnen Sie nach, was den Kommunen durch die Forderungen in Ihren Anträge an zusätzlichen Kosten entstehen würden. Wenn Sie das tun, dann können Sie sich ehrlich machen und dann brauchen Sie hier nicht zu jammern, dass die Kommunen kein Geld haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Können Sie alles in meiner Rede von gestern nachlesen!) Letzter Punkt: Steuersenkungen lehnen Sie ab. Das kann ich noch verstehen. Aber Steuererhöhungen, die Sie immer wieder erwähnen, machen einfach keinen Sinn. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Doch!) Die Ausweitung der Gewerbesteuer auf freie Berufe macht deswegen keinen Sinn, weil Sie dadurch unnötige Bürokratie forcieren: 1 Million Steuerbescheide, 1 Million Gewerbesteuermessbescheide, 1 Million Steuererklärungen und 3 Millionen bürokratische Bescheide, um was zu erreichen? Nichts. Denn die Gewerbesteuer wird sowieso auf die Einkommensteuer angerechnet. Das heißt, Sie erheben nicht einen müden Euro an Steuern zusätzlich, verursachen aber 3 Millionen Bürokratiebescheide. Deshalb ist es viel besser, die Kommunen auf dem Weg zu entlasten, den wir gehen, nämlich ihnen das Geld über die Finanzierungsübernahme der Grundsicherung direkt zuzuweisen. Dann kommt es auch bei ihnen an, statt an klebrigen Händen hängen zu bleiben. Wir belasten auch nicht zusätzlich die Bürgerinnen und Bürger. Sie haben noch die Chance, Ihre Meinung in dem Punkt zu ändern und den rechten Weg einzuschlagen. Ich würde mich darüber freuen. Ansonsten machen wir es aber auch gerne alleine. Wir stehen an der Seite der Kommunen und freuen uns über diesen Tag. Damit haben wir die Entlastung nämlich zu einem erheblichen Teil geschafft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Peter Götz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ob es Ihnen von der Opposition gefällt oder nicht: Mit dem Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen beschließen wir heute die größte Entlastung der Städte, Gemeinden und Kreise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch wenn Sie es nicht mehr hören wollen, sage ich es noch einmal: Allein bis 2015 entlastet der Bund die Kommunen um nahezu 13 Milliarden Euro. Zusammen mit dem bereits beschlossenen Bildungspaket übernimmt der Bund von den Kommunen bis zum Jahr 2020 Kosten in einer Größenordnung von mehr als 50 Milliarden Euro. (Bernd Scheelen [SPD]: Das Bildungspaket gab es doch vorher gar nicht!) Dadurch entstehen vor Ort endlich wieder Gestaltungsmöglichkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Insofern ist das ganze Genörgel und krampfhafte Suchen nach Negativem völlig unverständlich, Herr Kollege Scheelen. Frau Kollegin Hiller-Ohm, Kommunalpolitiker wissen ganz genau, wem sie die Kostenexplosion in den vergangenen Jahren vor allem im sozialen Bereich zu verdanken haben. Noch einmal zur Erinnerung – es wurde vorhin schon ausgeführt –: 2003 hatte Rot-Grün die Altersgrundsicherung eingeführt und den Kommunen übertragen, ohne für den notwendigen finanziellen Ausgleich zu sorgen. (Bernd Scheelen [SPD]: Das stimmt in Ihrer Rede so wenig wie in denen der anderen!) Sich jetzt als Retter der Kommunen aufzuspielen, ist ein dicker Hund. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie haben mit einer Reihe kommunalfeindlicher Entscheidungen die Grundlagen für die schwierige Haushaltslage vieler Städte und Gemeinden gelegt. Seit der Einführung der Grundsicherung im Alter haben sich die Kosten verdreifacht. Sie belaufen sich auf derzeit über 4 Milliarden Euro, demografiebedingt mit dynamisch steigender Tendenz. Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, wird ein weiterer kommunalfeindlicher Akt der Schröder-Regierung korrigiert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir erfüllen damit ein Versprechen aus der Koalitionsvereinbarung, in der es unter anderem heißt – ich zitiere –: Wir wollen in Deutschland starke Kommunen … Zusammen mit den kommunalen Spitzenverbänden werden wir nach Wegen suchen, Entlastungen für die Kommunen … zu identifizieren. Wir haben nicht nur gesucht, sondern wir haben in der Gemeindefinanzkommission auch einvernehmlich mit allen kommunalen Spitzenverbänden einen sehr guten Weg gefunden. (Bernd Scheelen [SPD]: Das war im Vermittlungsausschuss!) Zum Thema kommunale Spitzenverbände. Die Vizepräsidentin des Deutschen Städtetags, Frau Petra Roth, hat heute für den Deutschen Städtetag erklärt: „Städte begrüßen Entlastung bei der Grundsicherung – Bundesrat muss Bundesmittel in voller Höhe für Kommunen sichern“. Das verstehe ich als Zustimmung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich zitiere weiter, wenn Sie es hören wollen: Die Zusage des Bundes, schrittweise die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu übernehmen, ist ein wichtiger Beitrag, um die Kommunen wieder handlungsfähiger zu machen. Auf Dauer wird sich die drückende Last der kommunalen Sozialausgaben dadurch spürbar verringern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich erspare Ihnen, weiter zu zitieren. Lassen Sie mich noch auf einen inhaltlichen Aspekt eingehen, der mir sehr wichtig ist: Von dem Gesetz profitieren verstärkt vor allem strukturschwache Kommunen. Das gilt unter anderem für das Ruhrgebiet. Dort, wo die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist, müssen viele Menschen aufgrund ihrer Erwerbsbiografie mit einer niedrigen Rente rechnen. Viele sind im Alter auf die Grundsicherung angewiesen. Folglich werden die kommunalen Kassen überproportional belastet. Mit dem heutigen Gesetzentwurf schaffen wir somit auch eine überproportionale Entlastung vor allem der besonders finanzschwachen Kommunen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für meinen Heimatlandkreis Rastatt, der gewiss nicht zu den strukturschwachen Kreisen gehört, bedeutet dies in konkreten Zahlen eine Kostenerstattung in Höhe von 2,1 Millionen Euro im Jahr 2012, von 4,3 Millionen Euro im Jahr 2013 und von 6,7 Millionen Euro im Jahr 2014. Wie Sie sehen, Frau Kollegin Lühmann, ist mein Landrat sehr wohl in der Lage, Kostenerstattungen für drei Jahre im Voraus zu berechnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der mir etwas Sorge bereitet – ich habe Verständnis für die Sorgen der kommunalen Spitzenverbände –, dass nämlich die Bundesmittel tatsächlich vor Ort ankommen und nicht an den klebrigen Fingern von Landesfinanzministern hängen bleiben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) oder, wie es sich in meinem Heimatland Baden-Württemberg bereits abzeichnet, über den kommunalen Finanzausgleich der Länder wieder abgeschöpft werden. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Aha!) Wir alle – dazu zähle ich nicht nur uns, sondern auch alle anderen, die in der Politik Verantwortung tragen, auch die kommunalen Spitzenverbände in den Ländern – sollten in den nächsten Jahren den Landesregierungen sehr genau auf die Finger schauen. Das gilt für Nordrhein-Westfalen genauso wie für Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und Baden-Württemberg! Da ist es am nötigsten!) Zum Abschluss möchte ich das heute zu beschließende Gesetz in einen weiteren Zusammenhang stellen. Deutschlands Wirtschaft ist trotz globaler Krise so stark gewachsen wie noch nie seit der deutschen Wiedervereinigung. Die Zahl der Erwerbstätigen ist auf Rekordniveau. Städte, Gemeinden und Landkreise profitieren von den positiven wirtschaftlichen Daten in vielfältiger Weise. So steigen ihre Einnahmen bei der Gewerbesteuer, aber auch beim Gemeindeanteil an der Einkommensteuer; dazu hat übrigens auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz maßgeblich beigetragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ab 2012 wird diese erfreuliche Entwicklung zusätzlich durch das zu beschließende Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen positiv flankiert. Wir wissen, dass nur mit starken Kommunen, die sich im Wettbewerb langfristig behaupten, Wohlstand gesichert werden kann. In diesem Sinne vertrauen wir auf die Kraft und die Leistungsfähigkeit unserer Gemeinden, unserer Städte und Kreise. (Anette Kramme [SPD]: Amen!) Wir wollen, dass die Menschen vor Ort ihre Heimat wieder selbst gestalten können. Dieses Gesetz stärkt die kommunale Selbstverwaltung. Es ist Teil einer Kommunalentlastung in einer noch nie dagewesenen Größenordnung. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Peter Götz. – Da mir keine weiteren Redewünsche vorliegen, schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen. Uns liegen zwei Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1 Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7402, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/7141 und 17/7171 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/7507. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion der SPD. Gegenprobe! – Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7474. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 12 b: Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/7514. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1744 mit dem Titel „Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit von Städten, Gemeinden und Landkreisen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Linksfraktion. Enthaltungen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7189 mit dem Titel „Gemeindefinanzkommission gescheitert – Jetzt finanzschwache Kommunen – ohne Sozialabbau – nachhaltig aus der Schuldenspirale befreien“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? – Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils (C-555/07) – Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen – Drucksache 17/775 – – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 622 Absatz 2 Satz 2 BGB) – Diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen – Drucksache 17/657 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/7489 – Beichterstattung: Abgeordneter Dr. Johann Wadephul Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Sie sind damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster in dieser Debatte hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß das Wort. Bitte schön, Kollege Peter Weiß. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegen uns zwei Gesetzentwürfe von Oppositionsfraktionen vor, die, kurz gesagt, feststellen wollen, dass das, was der Europäische Gerichtshof entschieden hat, rechtens ist. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Um was geht es? Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Nichtberücksichtigung von Zeiten der Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr bei der Berechnung der Kündigungsfristen, wie wir es im Kündigungsrecht kennen, nicht mehr angewendet werden darf, weil das angeblich eine Diskriminierung darstelle. Das ist seit diesem Urteil geltendes Recht, dieses Recht wird angewandt, wir sind an diese Entscheidung gebunden, und an dieser Entscheidung ist nach allgemeiner Auffassung nichts zu ändern. Punkt. Damit könnten wir eigentlich Schluss machen. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So einfach ist die Welt halt nicht! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Dann fangen Sie mal an!) Allerdings möchte ich feststellen: Als damals in den 20er-Jahren – lange ist es her – diese Vorschrift in das deutsche Arbeitsrecht kam, war es mitnichten Absicht des Gesetzgebers, auch nicht der damaligen Regierung – übrigens unter sozialdemokratischer Führung –, irgendjemanden zu diskriminieren. Vielmehr ging es der damaligen Reichsregierung und dem damaligen Reichstag darum, mögliche Hürden beim Zugang ins Erwerbsleben abzubauen. Das war im Prinzip also eine durchaus löbliche Absicht. Das Thema ist auch nicht für große Aufregung geeignet; denn wenn man sich ausrechnet, was das eigentlich bedeutet, stellt man fest: Die Kündigungsfristen werden sich zum Beispiel für jemanden, der schon mit dem 21. Lebensjahr eine Festanstellung angetreten hat, je nach Beschäftigungsdauer gerade einmal um ein bis zwei Monate verlängern. Das, was da passiert, ist wahrhaftig nicht die Welt, und deswegen könnten wir bei diesem Thema den Ball eigentlich flachhalten. Bei aller Einigkeit – die sicher unter allen Bundestagsfraktionen besteht –, dass wir Diskriminierung abbauen wollen, muss ich Ihnen allerdings deutlich sagen, dass ich mich als Parlamentarier dadurch herausgefordert fühle, dass der Europäische Gerichtshof mit seiner Entscheidung massiv in unsere innerstaatlichen Kompetenzen, das Arbeitsrecht zu regeln, eingegriffen hat. Ich finde, das ist das eigentliche Thema, das man diskutieren muss. (Beifall bei der CDU/CSU) Hier liegt der eigentliche Klärungsbedarf. Gerade deswegen hielte ich es für falsch, wenn wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages die Verteidigung unserer nationalen Gesetzgebungskompetenzen im Arbeitsrecht davon abhängig machen, ob uns eine Entscheidung des EuGH einmal gefällt oder ein andermal nicht gefällt. Es wäre deswegen meines Erachtens das vollkommen falsche Zeichen, auf eine solche Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ohne jede Not reflexhaft gleich mit einer Gesetzesänderung zu reagieren. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wo sind wir denn?) Ich meine, frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages müssen nicht über jedes Hölzchen springen, das ihnen der EuGH hinhält. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb gibt es meines Erachtens auch gar keine Notwendigkeit, diesem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das bei uns jetzt geltendes Recht ist, gleich eine ausformulierte Gesetzesänderung hinterherzuschieben. Wenn dies zwingend notwendig wäre, wie von der Opposition behauptet wird, dann müssten etliche andere Vorschriften, die es im deutschen Recht gibt und die ebenfalls nicht mehr zur Anwendung kommen, in einem Großreinemachen beseitigt werden. (Anette Kramme [SPD]: Wunderbar!) Doch dieser mutige Antrag, in einer Fleißarbeit alle Regelungen, die nicht mehr angewendet werden dürfen, mit einem Schlag zu beseitigen, wird von der Opposition nicht gestellt. Dass die Opposition diesen Mut nicht hat, zeigt übrigens, dass sie ihre eigene Argumentation gar nicht so richtig ernst nimmt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die deutschen Arbeitsgerichte, die Fachanwälte für Arbeitsrecht in Deutschland, die Personalabteilungen in den Unternehmen, die Gewerkschaften und die Betriebsräte, die ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beraten, sie alle kennen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs; sie alle wissen, dass die alte Regelung nicht mehr angewandt werden darf, und deshalb besteht keine Not, jetzt und sofort die Gesetzgebungsmaschinerie anzuwerfen. Deswegen werden wir die Gesetzentwürfe der Opposition konsequenterweise ablehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Jetzt spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Anette Kramme. Bitte schön, Frau Kollegin Anette Kramme. (Beifall bei der SPD) Anette Kramme (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Momentan reden alle über Europa. Ich kann gut nachvollziehen, dass dabei generell ein flaues Gefühl vorhanden ist. Aber es gibt auch Dinge, die aus Europa kommen und die mehr als positiv sind. Im Januar 2010 befasste sich der Europäische Gerichtshof mit der Klage einer jungen Frau. Diese war im Alter von 18 Jahren bei einem Essener Unternehmen eingestellt und zehn Jahre später entlassen worden. Dabei ist ihr nur ein Monat Kündigungsfrist auf der Grundlage einer Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches zugestanden worden, und zwar mit dem Argument, es würden nur die Betriebszugehörigkeitszeiten seit dem 25. Lebensjahr berücksichtigt. Hätte man dagegen die volle Beschäftigungszeit angerechnet, hätte sie immerhin einen Anspruch auf vier Monate gehabt. Die Frau klagte gegen diese Ungleichbehandlung – und gewann. Der Europäische Gerichtshof stellte fest, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches gegen geltendes europäisches Recht verstößt. Der Europäische Gerichtshof hat weiter entschieden, dass die Norm durch die nationalen Gerichte ab sofort nicht mehr angewendet werden darf. Der Passus „Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt“ widerspricht schlicht und einfach dem Verbot der Altersdiskriminierung, auch wenn es in diesem Fall eine Jugenddiskriminierung war. Dieser Passus ist auch ganz offensichtlich unfair. Gleiches soll gleich behandelt werden, und ein Arbeitsjahr ist ein Arbeitsjahr, egal in welchem Alter es erbracht worden ist. Diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs war damit auch nicht richtig überraschend. Überraschend ist vielmehr, dass Sie, verehrte Damen und Herren von Schwarz-Gelb, es immer noch nicht geschafft haben, dieses Urteil in deutsches Recht umzusetzen. (Beifall bei der SPD – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Gar nicht überraschend!) Wenn ich darüber nachdenke, überrascht mich das doch nicht; es ist schlichtweg außerordentlich peinlich. Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, seine Gesetzgebung dem Unionsrecht anzupassen und unionswidriges nationales Recht zu ändern oder zu beseitigen. Von sämtlichen EU-Neumitgliedern fordern wir das immer wieder vehement ein, nur auf dem eigenen Hof wird nicht gekehrt. Das scheint Ihnen zumindest abstrakt bewusst zu sein. Noch am Tag der Urteilsverkündung ließ Frau Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen durch eine Sprecherin verkünden, dass sie eine Gesetzesänderung vorbereite; genaue Festlegungen könnten jedoch erst nach näherer Analyse des Urteils getroffen werden. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist doch klug!) Am 11. Februar 2010 erklärte Herr Staatssekretär Brauksiepe in einer schriftlichen Antwort auf eine Frage meiner geschätzten Kollegin Lösekrug-Möller, das BMAS bereite eine unionskonforme Änderung des § 622 Abs. 2 Satz 2 vor. Dass Sie innerhalb von fast zwei Jahren noch nicht zu Potte gekommen sind und es weder schaffen, ein kurzes Urteil zu analysieren, noch es schaffen, einen einzigen Satz im Bürgerlichen Gesetzbuch zu streichen, grenzt an Arbeitsverweigerung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na!) Dabei ist die Lösung so einfach wie schnell umsetzbar. Wir haben sie in unserem Gesetzentwurf dargelegt. Der kritisierte Satz muss einfach nur aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen werden. Künftig soll bei der Berechnung von Kündigungsfristen jedes einzelne Arbeitsjahr gezählt werden, egal in welchem Lebensalter es erbracht worden ist. Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, ich höre schon Ihre Worte: Wenn der Passus nicht mehr anwendbar ist, können wir ihn auch im Gesetz stehen lassen. – Genau so hat es der Herr Weiß von der CDU/ CSU auch formuliert. Nein, das können wir nicht! Wenn wir einfach sagen: „Der Satz darf nicht mehr angewendet werden“, verlagern wir das Risiko für die korrekte Umsetzung des europäischen Rechts auf die einzelnen Beschäftigten in unserem Land. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein!) Die Sachverständige Professor Körner von der Bundeswehruni in München hat das in der Anhörung auch klargemacht. Die Nichtanwendung wird nur relevant, wenn jemand gegen die Berechnung seiner Kündigungsfrist klagt; nur dann, sonst nicht. Viele Arbeitnehmer werden den Weg zum Gericht scheuen und damit schlechtergestellt sein, als europarechtlich gewollt ist. Allein schon um der Rechtssicherheit willen ist es deshalb nötig, eine rechtswidrige Norm aus dem Gesetz herauszunehmen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gibt es Beispiele für Ihre Behauptung? Gibt es ein praktisches Beispiel für Ihre Behauptung?) Ich kann auch keinen stichhaltigen Grund dafür sehen, dass eine Norm, die für europarechtswidrig erkannt worden ist, im BGB stehen bleiben soll. Aus Nostalgie soll das ja wohl kaum geschehen. Die Streichung ist schlicht erforderlich. Der EuGH hat sich eindeutig geäußert. Eine andere Frage ist, ob man den § 622 BGB insgesamt umgestaltet. Das haben Sie, Frau Connemann, in der ersten Beratung unseres Gesetzentwurfs vertreten. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja!) Überlegungen, den § 622 Abs. 2 Satz 2 europarechtskonform anzupassen und etwa eine Verlängerung der Kündigungsfristen generell erst ab Erreichen des 25. Lebensjahres vorzusehen, laufen auf eine genauso wenig europarechtskonforme Lösung hinaus. Am Ende steht unter dem Strich genau das gleiche Ergebnis: Junge Menschen werden aufgrund ihres Alters diskriminiert. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dann haben Sie meinen Vorschlag nicht verstanden!) Letztlich geht es bei der Debatte auch nicht um Altersdiskriminierung. Sie von den Regierungsfraktionen stoßen immer in das gleiche Horn: Kündigungsschutz behindere die Schaffung neuer Arbeitsplätze und müsse deshalb, soweit es geht, minimiert werden. – Das konnte noch nie bewiesen werden. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Hat das jemand von uns gesagt?) – Herr Weiß, wir hören es von Ihnen doch ständig. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Nicht von Peter! Das kann man nicht sagen!) Wenn Sie es in Ihrem Redebeitrag vorhin nicht gesagt haben: Ich bin mir sicher, Frau Connemann wird an dieser Stelle noch nachlegen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja!) Deshalb noch einmal: Die Einstellungsbereitschaft wurde durch erhöhte Flexibilität in der Vergangenheit noch nie gesteigert. Das wird auch in Zukunft nicht geschehen. Ihre Argumentation beruht auf falschen Annahmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Schluss noch einmal auf die Sachverständigenanhörung zu sprechen kommen. Besonders amüsiert hat mich ein Beitrag der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Herr Wolf lehnte die Initiative ab mit der Begründung, sie sei kein Beitrag, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mag ja stimmen. Ich bin mir aber sicher, dass auch die heute ebenfalls anstehende Änderung des deutschen Gräbergesetzes nicht zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit beiträgt und trotzdem die Mehrheit finden wird. Wenn das also Ihr einziges Argument ist, dann stimmen Sie doch heute einfach unserem Gesetzentwurf zu. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen herzlichen Dank, Frau Kollegin Anette Kramme. – Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Kolb. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kramme, ich möchte zunächst auf Ihren Vorwurf der Arbeitsverweigerung eingehen. Das ist wirklich unangemessen, weil wir in den letzten Jahren sehr viel Zeit darauf verwendet haben, Ihre Baustellen im Hartz-IV-Bereich aufzuräumen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Welche Gesetze haben Sie denn dort gemacht?) Dies betrifft die Jobcenterreform, die Regelsatzreform usw. Sie wissen doch, wie uns das alles gebunden hat, wie viel Zeit die Anhörungen im Ausschuss gekostet haben usw. Wir haben Sonderschichten gefahren. Wir hätten deshalb ein Lob von Ihnen verdient, aber nicht den Vorwurf der Arbeitsverweigerung. Das will ich hier sehr deutlich sagen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Sie als Mehrheit im Parlament machen doch keine Gesetze, weil Ihre Ministerin nichts vorlegt!) – Hören Sie mir doch einmal zu! Außerdem sagen Sie, die Einstellungsbereitschaft von Arbeitgebern – das sei Ihre Erfahrung – sei durch erhöhte Flexibilität nicht gesteigert worden. Da frage ich mich, wie blind Sie eigentlich sind. Die derzeitigen Riesenerfolge am Arbeitsmarkt zeigen sich doch gerade deshalb, weil mehr Flexibilität geschaffen worden ist. (Anette Kramme [SPD]: Nicht deswegen!) Zugegebenermaßen findet neue Beschäftigung auch in Beschäftigungsformen statt, die Sie zwar im Wesentlichen eingeführt haben, mit denen Sie aber heute nichts mehr zu tun haben wollen. Diese Flexibilität hat aber nachweislich zu dem hohen Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung geführt, den wir heute erfreulicherweise feststellen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deswegen ist es falsch, wenn Sie sagen, Flexibilität und Umfang der Beschäftigung hätten nichts miteinander zu tun. Jetzt kommen wir zu dem, was konkret geschehen kann. Wie Sie sehen auch wir einen gewissen Klarstellungsbedarf hinsichtlich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Allerdings – das ist in der Anhörung von den Vertretern aller Verbände gesagt worden – besteht dieser nicht nur punktuell. Vielmehr gilt es, im Lichte der Antidiskriminierungsgesetzgebung eine Normenbereinigung im Allgemeinen vorzunehmen. Das heißt, es gilt, systematisch zu schauen, an welchen anderen Stellen möglicherweise auch Diskriminierungsgefahr besteht. Wir sollten also nicht darauf warten, bis irgendwann ein weiteres Urteil vom EuGH kommt, sondern wir sollten uns selbst an die Arbeit machen. Das ist auch ein Gebot der Stunde. Das will ich hier sehr deutlich sagen. (Anette Kramme [SPD]: Ich bin gespannt auf die Gesetzesinitiative!) – Darauf dürfen Sie auch gespannt sein. Das ist etwas, was man nicht im Galopp machen muss. Da stimme ich dem Kollegen Weiß zu. (Anette Kramme [SPD]: In Jahren vielleicht!) – Nein, im Schweinsgalopp, mit der heißen Nadel gestrickt und übers Knie gebrochen – hat der Kollege Hinsken früher immer gesagt –: Das muss nicht sein. Eine Rechtsklarstellung auf Sicht halte ich sehr wohl für erforderlich. Wir sollten uns aber ernsthaft Gedanken darüber machen, wie diese Rechtsklarstellung aussehen sollte. Die Väter des § 622 Abs. 2 Satz 2 haben eine bestimmte Intention gehabt. Es ging um eine Beschäftigungsförderung auch in einer bestimmten Altersklasse. Gerade wenn es um die Übernahme von Jugendlichen in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis geht, mögen solche beschäftigungsfördernden Überlegungen bisher auch eine Rolle gespielt haben. Deshalb muss man sich die Frage stellen, ob man das wirklich ersatzlos streicht oder ob man es auf andere Weise europarechtskonform macht, zum Beispiel durch späteres Nachholen; auch diese Anregung ist in der Anhörung gegeben worden. Wenn man sich dieser Aufgabe so nähert, Frau Kramme, dann tut man das verantwortungsvoll. Das sollten wir tun; denn hohe Beschäftigungsstände fallen uns nicht auf Dauer anstrengungslos in den Schoß. Vielmehr ist es erforderlich, dass wir ständig und dauerhaft prüfen, mit welchen Maßnahmen Beschäftigung gefördert werden kann und welche Maßnahmen Beschäftigung möglicherweise nicht so voran-bringen, wie wir uns das wünschen. In diesem Sinne lade ich Sie zur Mitberatung in der Zukunft – nicht heute; heute werden wir Ihre Anträge ablehnen – ein. (Anette Kramme [SPD]: In der nächsten Legislaturperiode?) Es wäre doch schön, wenn wir irgendwann gemeinsam sagen könnten: Durch eine EuGH-konforme Neugestaltung des § 622 BGB haben wir für noch mehr Beschäftigung in Deutschland gesorgt. Ich fände es schön. Eingeladen sind Sie. Für heute bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Kolb. – Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Yvonne Ploetz. Bitte schön, Frau Kollegin Ploetz. (Beifall bei der LINKEN) Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie lebt meine Generation eigentlich? Bevor ich zum Thema Kündigungsschutz komme, möchte ich einige Punkte klarstellen; denn ich glaube, es ist nicht jedem bekannt, welche Probleme junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt eigentlich erwarten. Erstens. Für 38,5 Prozent der Jugendlichen sind Befristungen, Leiharbeit, Niedriglöhne oder Praktikaschleifen ihr tägliches Brot. Jeder und jede Dritte unter 24 Jahren startet mit Leiharbeit ins Berufsleben, hangelt sich von befristeter Stelle zu befristeter Stelle oder wird mit Teilzeitjobs abgespeist, von denen man kaum leben kann. Zweitens. Diese Jugendlichen gehören zu den Beschäftigten, die neben Leiharbeitnehmerinnen und befristet Beschäftigten in Problemzeiten als Erste entlassen werden. Drittens. Sie haben nach ihrer Ausbildung enorme Probleme, von ihrem Betrieb übernommen zu werden. Nur rund die Hälfte der Auszubildenden wird übernommen; die andere Hälfte wandert zum großen Teil in die Arbeitslosigkeit. Viertens. Weit mehr als 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschland sind arbeitslos; das ist mehr als in jeder anderen Altersgruppe. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das stimmt leider nicht, Frau Kollegin! Ich habe eine neue Zahl!) Erklären Sie diesen jungen Menschen bitte, wie sie sich in dieser Situation eine Zukunft aufbauen sollen, wie sie ihr Leben planen oder gar eine Familie gründen sollen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Frau Ploetz, Sie müssen die richtigen Zahlen nehmen!) Das können Sie nicht erklären. (Beifall bei der LINKEN) Statt diese verheerende Ausgangslage endlich anzugehen, halten Sie an Gesetzesvorschriften fest, die jungen Menschen noch zusätzlich Steine in den Weg legen – und das, obwohl diese Vorschrift längst gekippt wurde. Sehen wir uns kurz an, um was es heute geht: Bei der Berechnung der Kündigungsfristen werden die Beschäftigungszeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer herangezogen. Das gilt für alle die, die 26 Jahre und älter sind. Hat man das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet, wird die Beschäftigungszeit nicht angerechnet. Ich bitte Sie! Junge Menschen sind doch keine Arbeitnehmer zweiter Klasse. Gerade am Arbeitsmarkt brauchen wir Regelungen, die jungen Menschen, wenn sie ihren Start ins Berufsleben erfolgreich meistern sollen, besonderen Schutz geben, statt ihnen Steine in den Weg zu legen. (Beifall bei der LINKEN) Wie bereits erwähnt, hat der Europäische Gerichtshof diese Diskriminierung aufgrund des Alters zum Glück gekippt; diese Regelung darf nicht mehr angewendet werden. Er hat im Januar 2010 entschieden, und Landesarbeitsgerichte sind ihm gefolgt. Das ist eine sehr wichtige Entscheidung, wie wir finden. Deshalb stimmen wir den Gesetzesentwürfen von Grünen und SPD sehr gerne zu. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Herzlichen Dank. – Leider ist trotz dieser Urteile bislang nichts passiert. Wir reden heute – knapp zwei Jahre später – immer noch darüber, dass diese Norm gestrichen werden muss. Eine solche Verzögerung ist der Problematik ganz und gar nicht angemessen. (Beifall bei der LINKEN) Es ist höchste Zeit, dass Sie sich dafür starkmachen, dass nicht nur die bestehenden Benachteiligungen – wie die im Kündigungsschutz – angegangen werden, sondern dass auch dafür gesorgt wird, dass echte Perspektiven am Arbeitsmarkt geschaffen werden, mit fairen Löhnen und sicheren Arbeitsbedingungen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, es kann doch nicht sein, dass immer erst Gerichte Sie zum Jagen tragen müssen, wenn es um soziale Gerechtigkeit oder um Aufhebung von Diskriminierung geht. Das heißt konsequenterweise: Auf Sie warten – das wurde bereits angesprochen – noch weitere Aufgaben. Es gibt nämlich noch mehr Diskriminierungen am Arbeitsplatz, zum Beispiel im Bereich der Sozialplanabfindungen oder bei den Urlaubsansprüchen, aber auch bei der betrieblichen Altersversorgung. Frau von der Leyen sagt, sie wolle Zukunftschancen im Blick behalten. „Im Blick behalten“ ist uns viel zu wenig. Wo bleiben denn Ihr Engagement, Ihre Leidenschaft, Ihr Herzblut, wenn es um die Belange junger Menschen geht? (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie tragen mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik dafür die Verantwortung, dass aus der derzeitigen Generation Prekär, der Generation Befristet, der Generation Abgehängt eine Generation wird, die hoffnungsvoll in ihre eigene Zukunft blicken kann. Ich bitte Sie: Setzen Sie mit der Streichung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ein erstes ermutigendes Zeichen für diese jungen Menschen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Ploetz. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Beate Müller-Gemmeke. Bitte schön, Frau Kollegin. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wissen: Diskriminierungen aufgrund des Alters sind inzwischen tabu. Das gilt auch in der Arbeitswelt, sowohl für ältere Beschäftigte als auch für junge. Folgerichtig kam der Europäische Gerichtshof zu dem Schluss, dass es gegen europäisches Recht verstößt, wenn junge Beschäftigte kürzere Kündigungsfristen haben als ältere. Bisher konnte einer 28-Jährigen, die zehn Jahre in einem Betrieb gearbeitet hat, mit Frist von nur einem Monat gekündigt werden. Wäre sie älter und hätte später zu arbeiten angefangen, läge die Kündigungsfrist, Herr Weiß, eben nicht bei einem oder zwei Monaten, sondern bei vier Monaten. Möglich wurde dies durch einen einzigen Satz in § 622 BGB. Diesen Satz wollen wir, genauso wie die SPD, streichen, und zwar ersatzlos. Seit dem Urteilsspruch des EuGH darf dieser Satz – das wurde schon gesagt – in Deutschland nicht mehr angewandt werden. Aber wer weiß das schon? Herr Weiß, glauben Sie wirklich, dass alle Beschäftigten und alle kleinen und mittelständischen Betriebe die Rechtsprechung des EuGH im Detail verfolgen? Wissen der Handwerker und die Kleinunternehmerin, dass sie eine falsche Auskunft bekommen, wenn sie einen Blick ins Gesetzbuch werfen? Wer kommt schon auf die Idee, dass in einem Gesetz etwas drinsteht, das gar nicht mehr gültig ist? So etwas ist meiner Meinung nach eines Rechtsstaates unwürdig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Hier fordern wir klare Rechtssicherheit. Eine Norm, die seit fast zwei Jahren nicht mehr anzuwenden ist, darf auch nicht im Gesetz stehen. Warum wollen Sie diesen Satz eigentlich nicht streichen? Es wurde schon angesprochen, dass man ein bisschen beleidigt ist, dass sich hierzu ein europäisches Gericht äußert. Es kann auch sein, dass Sie unseren Gesetzentwurf ablehnen, weil er eben von uns kommt – dann könnten Sie aber schnell tätig werden und selber etwas vorlegen –, oder der Gesetzentwurf den alten Reflex ausgelöst hat, dass den Arbeitgebern keine Verschlechterung zugemutet werden kann. In den Debatten ist schon angeklungen, dass es durchaus Alternativen gibt: zwei Jahre Vorbeschäftigungszeit für alle, andere Differenzierungen. Es wurde auch die damalige Begründung angeführt, dass junge Menschen leichter einen Job finden als ältere. Das ist aber die Begründung aus dem Jahr 1926. Die Arbeitsrealität ist heute eine andere – immerhin sind seitdem 85 Jahre vergangen –: Mangelnde Berufserfahrung wird zum Hindernis. Auszubildende werden nicht immer übernommen. Befristete Verträge werden zur Regel. Neben der Generation Praktikum gibt es längst die Generation Befristung und Erprobung; Kollegin Ploetz hat es eben ausgeführt. Viel zu viele Menschen jeglichen Alters kämpfen doch heute damit, dass ihre Arbeitsverhältnisse nicht mehr auf Dauer angelegt sind. Unsichere und prekäre Beschäftigung nehmen zu. Es gibt sechs Monate Probezeit und Leiharbeit. Phasen der Arbeitslosigkeit gehören schon fast zu einer normalen Erwerbsbiografie. Da müssen Sie, die Regierungsfraktionen, sich doch nicht noch darüber Gedanken machen, die Kündigungsfristen zu verändern; da haben wir wahrlich ganz andere Probleme. Unser Arbeitsmarkt ist längst flexibel genug. Heute kann es nicht mehr um weniger Sicherheit gehen; wir brauchen stattdessen ein Mehr an Sicherheit für die Menschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Da müssen nicht nur Sie endlich anfangen, umzudenken; auch die Arbeitgeber müssen einsehen, dass es so nicht weitergehen kann. Arbeitgeber brauchen doch loyale und engagierte Beschäftigte. Sie brauchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Fähigkeiten in innovative Richtungen lenken können und so einen Wettbewerbsvorteil bringen. Sie brauchen Beschäftigte und deren Fachkenntnisse, um einen Betrieb am Laufen zu halten. Mit Blick auf den demografischen Wandel und auf den Fachkräftemangel sollten Beschäftigte motiviert werden. Mit längeren Kündigungsfristen wird das wahrlich nicht gelingen. Ich appelliere also an die Regierungsfraktionen: Begraben Sie, vor allem die FDP, Ihren alten Reflex, immer und immer wieder die Arbeitgeber schützen zu müssen. Unser Gesetzentwurf bietet Ihnen die Möglichkeit, mit einem ersten kleinen Schritt zu beginnen. Zeigen Sie endlich etwas Empathie, wo Sie bisher noch keine zeigen. Sorgen Sie zugleich für ein gutes Stück Rechtssicherheit in unseren Gesetzbüchern. Überprüfen Sie endlich das Arbeitsrecht auf weitere Kollisionen mit EURecht. Geben Sie sich einfach einen Ruck, und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Als nächster Redner spricht unser Kollege Ulrich Lange für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Ulrich Lange. (Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP) Ulrich Lange (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Problemstellung der heutigen Debatte, das Urteil des EuGH, ist ausreichend beleuchtet. Ich möchte unterstreichen, dass eine einzelne EuGH-Entscheidung keinen Automatismus in dem Sinne hat, dass deswegen eine Norm oder der Teil einer Norm oder der Satz oder Teilsatz einer Norm gestrichen wird. Frau Kollegin, Sie scheinen nicht allzu viel davon zu verstehen, wenn Sie sagen, wir sollen die gesetzliche Regelung streichen. (Zuruf von der LINKEN: Sie verstehen anscheinend nichts vom realen Leben!) Ich möchte doch darauf hinweisen, dass es nicht automatisch zu einer Streichung kommen muss. Dass § 622 Abs. 2 Satz 2 – um das genau zu benennen – auf der Agenda steht, ist ebenso unstreitig. Aber, Kollegin Kramme, ich muss Ihnen in einem Punkt schon widersprechen: Das Ganze ist keine grundsätzliche Verlagerung eines Risikos zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Falsche Kündigungsfristen müssen durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grundsätzlich angegriffen werden. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die wissen das aber nicht!) Wenn sie das binnen der bekannten Drei-Wochen-Frist nicht tun, dann gilt die Kündigung auch mit der falschen Frist. Insoweit ist diese Argumentation, glaube ich, nicht schlüssig. Auch die Tatsache, dass eine Norm oder der Teilsatz einer Norm über mehrere Monate im Gesetz steht und keine Anwendung findet, ist nicht gerade etwas Außergewöhnliches. Kollege Lehrieder und ich haben uns gerade an einen Spruch aus dem Studium erinnert. – Soll ich ihn wirklich bringen? Vizepräsident Eduard Oswald: Überlegen Sie bitte, ob Sie ihn wirklich bringen sollten. (Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt muss er!) Ulrich Lange (CDU/CSU): Gut: Klagt die Maid aus dreizehnhundert, schaut der Knabe ganz verwundert. – Für diejenigen, die es nicht wissen: Es geht hier ums Kranzgeld. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Ich glaube, der Präsident hatte recht!) Kommen wir aber zum Ernst der Debatte zurück. Allen Fachkundigen ist natürlich längst klar, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB keine Anwendung mehr findet. Aber ich glaube, wir dürfen uns durchaus Professor Thüsing anschließen, indem wir feststellen, dass die bloße Streichung fantasielos wäre. Insgesamt gesehen, muss man das Problem natürlich vielschichtiger betrachten. Es besteht letztlich ein Binnenkonflikt innerhalb eines Diskriminierungsverbotes; denn über eines sind wir uns wohl einig: Schutz älterer Arbeitnehmer ja, aber nur soweit nötig und zulässig. Wir sind uns sicherlich auch darin einig, dass Differenzierungen per se nicht europarechtswidrig sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur an die Themenkomplexe Sozialauswahl, Urlaubsregelungen oder tarifliche Vereinbarungen erinnern. So einfach, wie Sie es hier darstellen – einfach ein bisschen streichen, und dann ist das Problem gelöst –, ist das Ganze natürlich nicht. Kollege Weiß hat schon daran erinnert, woher diese Norm kommt. Sie stammt aus dem Jahr 1926 und ist natürlich vor einem anderen Hintergrund entstanden. Das heißt aber nicht, dass wir als nationaler Gesetzgeber deswegen keine Möglichkeiten hätten, in die Beschäftigungspolitik, in den Arbeitsmarkt und in die berufliche Bildung einzugreifen. Ich will die grundsätzliche Kritik am EuGH aus der ersten Debatte nicht vollumfänglich wiederholen. Aber ich möchte in Richtung EuGH schon kritisch sagen: Die Einmischung in primärrechtliche und privatrechtliche Grundsätze bzw. der grundsätzliche Vorrang von Unionsrecht gegenüber primärrechtlichen und privatrechtlichen Grundsätzen können von uns als nationalem Gesetzgeber in dieser Form nicht immer widerspruchslos hingenommen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich fordere den EuGH auch im Hinblick auf die europapolitische Debatte, die wir in Bezug auf andere Punkte und auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zum Rettungsschirm geführt haben, auf, zu bedenken, dass man als Hüter der nationalen Gesetzgebung mitgliedstaatliche Abwehrreflexe hervorruft, wenn man meint, in jeder Phase über den EuGH in die nationalen Belange des Arbeitsmarktes eingreifen zu können. Ich fasse zusammen: Der Themenkomplex ist differenzierter und komplizierter, als der Antrag der Opposition glauben machen möchte. Ich kann Sie nur auffordern: Seien Sie gemeinsam mit uns fantasievoller. Wir brauchen eine europarechtskonforme Regelung, die differenziert und den Schutz von Beschäftigungszeiten und von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die aufgrund ihres Alters längere Zeit brauchen, um sich auf dem Arbeitsmarkt neu zu orientieren, gewährleistet. Wir müssen beiden Seiten gerecht werden. Liebe Kollegin Ploetz von den Linken, einfach zu sagen: Gebt den Jugendlichen eine Chance, ist zu wenig. Wir haben Verantwortung für alle Generationen und nicht nur für eine. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In diesem Sinne handeln wir nicht nach dem Motto „Hier streichen wir was, und dann ist alles erledigt“. (Yvonne Ploetz [DIE LINKE]: In dem Fall schon!) Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Lange. – Jetzt spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So einfach ist es nicht: Wenn man über Fragen des Kündigungsschutzes spricht, dann sind die verschiedenen Interessen der Partner abzuwägen. Frau Kollegin Müller-Gemmeke, es geht nicht, dass wir nur eine Perspektive einnehmen. Natürlich geht es beim Kündigungsschutz darum, die berechtigten Befürchtungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ernst zu nehmen. Die Befürchtungen sind berechtigt. Aber wir dürfen nicht vergessen, warum der Paragraf, über den wir heute sprechen, vor vielen Jahren eingeführt worden ist. Er ist eingeführt worden, um Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) Insofern müssen wir, wenn wir über Fragen des Kündigungsschutzes sprechen, berücksichtigen, dass ein veränderter Kündigungsschutz Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit haben kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir ins europäische Ausland schauen, dann sehen wir, dass es in unseren Nachbarländern eine viel höhere Jugendarbeitslosigkeit gibt, als es in Deutschland glücklicherweise der Fall ist. Experten bestätigen immer wieder, dass die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa auch mit einem relativ hohen Niveau beim Kündigungsschutz zusammenhängen kann. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wohl wahr!) Insofern sollten wir es uns nicht so einfach machen. Vielmehr sollten wir uns mit den anstehenden Fragen klug und im Detail befassen. Wir sollten uns die Zeit nehmen, lange darüber nachzudenken, damit wir keine voreiligen Entscheidungen treffen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wie lange denn noch? Wie lange dauert es, bis sich etwas ändert?) Die Proteste der Jugendlichen in Europa haben gezeigt: In manchen Ländern ist die Situation dramatisch. In Deutschland liegt die Jugendarbeitslosigkeit glücklicherweise nur bei 9,1 Prozent. Damit haben wir die drittniedrigste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der Europäischen Union. Noch 2005, als Sie von den Grünen die Regierungsbeteiligung abgegeben haben, lag die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland bei 15,5 Prozent. In den letzten Jahren ist viel geschehen, in den letzten beiden Jahren, seit die christlich-liberale Koalition verantwortungsvoll regiert, noch viel mehr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Kollegen vor mir haben es bestätigt: Wir werden uns die Zeit nehmen, über die Bereiche Kündigungsschutz, Jugendarbeitslosigkeit und die Umsetzung einer vielleicht völlig neuen Richtlinie nachzudenken. Wir bitten Sie, sich konstruktiv daran zu beteiligen. Einen Schnellschuss, wie Sie ihn heute Abend präsentieren, brauchen wir nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Gitta Connemann. Bitte schön, Frau Kollegin Connemann. (Beifall bei der CDU/CSU) Gitta Connemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mutlos und fantasielos, das sind nur zwei Urteile von Sachverständigen über die vorliegenden Gesetzentwürfe. Das Gros der Experten kam in unserer Anhörung zu dem Ergebnis: Die Gesetzentwürfe von Rot und Grün (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Taugen nichts!) sind nicht die richtige Antwort auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach dieser Entscheidung verstößt § 622 Abs. 2 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch gegen Europarecht. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Rängen, diese Vorschrift überhaupt etwas sagt. Ich gehe davon aus, dass sie Ihnen nichts sagt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir wollen jetzt keinen Dialog mit den Zuhörern!) Wie sollte sie auch? Vizepräsident Eduard Oswald: Ich werde es trotzdem nicht abfragen, Frau Kollegin. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Anette Kramme [SPD]: Dafür ist Panorama zuständig!) Gitta Connemann (CDU/CSU): Zur Erklärung: In Deutschland gilt der Grundsatz: Je länger ein Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt ist, desto länger ist die Kündigungsfrist, die der Arbeitgeber beachten muss. Die Vorschrift, um die es heute geht, besagt: Bei Berechnung der Beschäftigungsdauer müssen Zeiten, die vor dem 25. Lebensjahr des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt werden. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: So, als hätte man nie gearbeitet!) Diese Regelung ist laut EuGH altersdiskriminierend. Sie darf nicht mehr angewendet werden. Deswegen fordern jetzt SPD und Grüne die ersatzlose Streichung der Vorschrift. (Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Genau!) Wir haben darüber bereits einmal debattiert. In dieser Debatte haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, suggeriert, dass die Streichung die einzige rechtlich mögliche und denkbare Reaktion ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist falsch!) Weit gefehlt! Ich zitiere aus der Anhörung, die leider wieder einmal nur wenige von den Oppositionsfraktionen besucht haben: Man sollte hier nicht den Eindruck erwecken, dass die EuGH-Entscheidung eine Automatik bedeute und alles andere als eine ersatzlose Streichung europarechtswidrig wäre. So mahnte der Vertreter des Deutschen Anwaltvereins Sie, die Sie diese Gesetzentwürfe eingebracht haben. Der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit stellte fest, die Vorschrift solle neu gefasst werden. Dies könne auf unterschiedliche Weise erfolgen. Ich zitiere: Es ist möglich, den Paragrafen zu streichen. Es ist aber auch möglich, eine Neuregelung der Kündigungsfristen insgesamt zu fassen, sodass sie nicht mehr eine Abhängigkeit vom Lebensalter darstellen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben aber auch gesagt, dass etwas getan werden muss!) Wir als Gesetzgeber können also ein vollkommen neues Fristenregime vorsehen. Wir können auch nichts tun. Halten wir fest: Es gibt mehrere rechtliche Alternativen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Darüber müssen wir jetzt politisch entscheiden. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir gesagt: Wir müssen politisch entscheiden!) Es kommt zu einer Interessenabwägung, die der Kollege Kober gerade dargestellt hat. Auf der einen Seite haben wir Bürgerinnen und Bürger, die einen Anspruch auf Rechtssicherheit haben. Natürlich wissen die Arbeitsgerichte, dass diese Vorschrift unwirksam ist. Das wissen auch die Rechtsabteilungen in den großen Unternehmen. Daher wenden sie diese Vorschrift nicht mehr an. Hier geht es aber Gott sei Dank nicht nur um Juristen – das sage ich als Juristin –, (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als Nichtjurist muss ich da klatschen!) sondern es geht auch um den Handwerker und die Einzelhändlerin im Geschäft um die Ecke. Sie schließen Arbeitsverträge im Vertrauen auf diese Vorschrift und werden fehlgeleitet. Darüber müssen wir natürlich sprechen, und das tun wir. Mit einer ersatzlosen Streichung der Vorschrift ist es aber mit Sicherheit nicht getan. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht? Natürlich geht das!) Das wäre reine Gesetzeskosmetik. Die Arbeit des Gesetzgebers, des klugen Gesetzgebers beginnt mit der Überlegung, wie wir den Grundgedanken dieser Regelung europarechtskonform neu fassen können. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss einmal überlegen, ob der Grundgedanke heute noch richtig ist!) Ich erinnere daran, warum diese Vorschrift ursprünglich eingeführt wurde. Sie wurde eingeführt, um jüngeren Arbeitnehmern den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! Zweitniedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in Europa! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist 85 Jahre her!) Dieses Ziel ist in Deutschland erreicht worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Frau Ploetz, ich muss Sie fragen, ob Sie sich über Zahlen informieren. (Yvonne Ploetz [DIE LINKE]: Selbstverständlich!) Den Eindruck hatte ich nicht. Wenn Sie sich über die Zahlen informiert hätten, dann wüssten Sie, dass das Bild, das Sie vom deutschen Arbeitsmarkt gezeichnet haben, ein Zerrbild ist, dann wüssten Sie, dass Deutschland die drittniedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote in ganz Europa hat. Die Abstände sind erheblich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Ploetz, kennen Sie wirklich die aktuellen Zahlen von August 2011? In Spanien sind 46,2 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unglaublich!) In Litauen sind es 33 Prozent, in der Slowakei 31 Prozent (Iris Gleicke [SPD]: Ist das jetzt unsere Vergleichsbasis?) und in Großbritannien 20,9 Prozent. Dagegen haben wir hier in Deutschland 8,9 Prozent. Das ist großartig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Ploetz, ich möchte Sie bitten, das zu akzeptieren. Lesen Sie die Zahlen! Dann müssen Sie nicht länger diskutieren. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie übertreffen sich heute selbst, Frau Connemann! – Zurufe von der LINKEN) Die bloße Streichung der Vorschrift, um die es geht, würde gerade die Unternehmen treffen, die sich bei der Ausbildung junger Menschen besonders engagieren. Betriebe, die selbst ausbilden und die die Auszubildenden im Anschluss weiterbeschäftigen, wären im Wettbewerb viel schlechtergestellt als die Unternehmen, die selber wenig oder gar nicht ausbilden und stattdessen ausgebildete Fachkräfte einstellen; denn die Betriebe, die intensiv ausbilden, hätten wesentlich längere Kündigungsfristen zu beachten. Das ist absurd. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann doch niemand wollen!) Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Entweder würde die Ausbildungsbereitschaft sinken oder die Übernahmebereitschaft. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wollen Sie das wirklich? Ich sage: Wir wollen es nicht. Deshalb werden wir etwas tun, das Sie leider nicht getan haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nachdenken! Nachdenken! Und noch einmal nachdenken!) Wir werden uns mit allen Interessen beschäftigen und zu einer ausgewogenen Lösung kommen, die eines nicht zur Folge haben wird: Arbeitslosigkeit in Deutschland steigern. Dafür sind wir nicht zu haben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Gitta Connemann. – Auf meiner Liste findet sich kein weiterer Rednerwunsch. Deshalb schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der Sozialdemokraten zur Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7489, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/775 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB) – Diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7489, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/657 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Auch hier entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes – Drucksachen 17/6925, 17/7172 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) – Drucksache 17/7513 – Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Frank Hofmann (Volkach) Dr. Dieter Wiefelspütz Gisela Piltz Jan Korte Ulla Jelpke Wolfgang Wieland b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) – zu dem Antrag der Fraktion der SPD Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren – Drucksachen 17/5483, 17/3687, 17/7513 – Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Frank Hofmann (Volkach) Dr. Dieter Wiefelspütz Gisela Piltz Jan Korte Ulla Jelpke Wolfgang Wieland Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Sie sind damit einverstanden. Sie sind auch einverstanden, dass ich die Namen der Rednerinnen und Redner nicht verlese?2 – Gut. Tagesordnungspunkt 14 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7513, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/6925 und 17/7172 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen CDU/CSU und FDP, also Koalition, und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/7513 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5483 mit dem Titel „Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linksfraktion, also alle einstimmig. Vorsichtshalber frage ich noch nach Gegenstimmen. – Keine. Stimmenthaltungen? – Auch keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3687 mit dem Titel „Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten – Drucksache 17/7360 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Sie sind alle damit einverstanden. Die Namen der Rednerinnen und Redner liegen uns vor.3 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7360 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts – Drucksache 17/6051 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 17/7453 – Berichterstattung: Abgeordneter Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Sieling Frank Schäffler Dr. Barbara Höll Dr. Gerhard Schick Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist es so beschlossen. Der erste Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege Klaus-Peter Flosbach. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In unserem Koalitionsvertrag haben wir versprochen, dass es nach den Krisen keinen Akteur, kein Produkt und keinen Vermittler mehr im deutschen Finanzmarkt geben darf, das bzw. der nicht reguliert wird. Dieses Versprechen haben wir eingehalten. Schon nach zwei Jahren setzen wir es heute mit diesem Gesetz um. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die erste Krise war eine Bankenkrise. Die jetzige Krise ist eine Staatsschuldenkrise. (Dr. Daniel Volk [FDP]: So ist es!) Es wird aber nie darüber gesprochen, wer in den Krisen persönlich über Zertifikate betroffen war. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich haben wir über die Zertifikate gesprochen, nur Sie nicht!) Wer heute Griechenland-Anleihen hat, wird einen großen Teil seines Vermögens verlieren. Wir haben deutlich gemacht: Wir wollen alle Produkte, die es im Finanzmarkt gibt, aus Sicht des Verbrauchers regulieren. Wir wollen den Verbraucherschutz im Finanzmarkt deutlich stärken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb wollen wir heute das Gesetzgebungsverfahren zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts in zweiter und dritter Lesung abschließen. Es geht hier um die Regulierung von Vermögensanlagen, aber auch um Vermittlerregulierung. Wir werden zum ersten Mal einige Bereiche aus dem nicht regulierten Markt bzw. dem Graumarkt herausholen und einer umfassenden Aufsicht unterwerfen. Hier geht es um zwei Bereiche, um eine Produktregulierung und um Anforderungen an den Vertrieb. Das ist ein Quantensprung gegenüber der bisherigen Situation und gegenüber dem, was in elf Jahren von einem SPD-geführten Finanzministerium geleistet worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal auf die inhaltlichen Schwerpunkte einzugehen. Vermögensanlagen, vor allen Dingen in geschlossenen Fonds, werden jetzt als sogenannte Finanzinstrumente definiert und unterfallen deshalb der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Das heißt, diese Produkte werden jetzt stärker kontrolliert. Entsprechende Verkaufsprospekte müssen erstellt werden. Diese Prospekte werden auf Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit geprüft. Hinzu kommen sogenannte Kurzinformationsblätter. Das sind gewissermaßen Beipackzettel, die dem Anleger ein neues Maß an Transparenz und Information, das wir im deutschen Markt bisher nicht kennen, bieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch bei der Vertriebsregulierung wird signifikant angezogen. Alle freien Vermittler werden heute beaufsichtigt. Es geht in allen Bereichen darum, dass in Zukunft nur derjenige am Markt tätig werden kann, der registriert ist, eine Qualifikation nachweisen kann, eine Berufshaftpflichtversicherung hat und seine Gespräche dokumentiert und protokolliert. Das ist wirklicher Schutz des Anlegers und Verbrauchers. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden gleich im Anschluss die Oppositionsredner hören, die natürlich darauf hinweisen werden, dass die Regierungsparteien alles falsch gemacht haben. Gut, das haben wir nach den Gesprächen, die wir geführt haben, erwartet. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sagen ja gar nicht, dass Sie alles falsch machen! Nur das Entscheidende!) Aber: Wir erleben zum ersten Mal eine Regulierung des Vertriebs, und zwar für Produkte, die einer eigenen Aufsicht unterliegen. Das heißt, wir regulieren den Vertrieb über Produkte, die selbst kontrolliert werden. Hier wird uns der große Vorwurf gemacht, wir hätten die Vermittler nicht der zentralen Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht unterworfen. Das kann man selbstverständlich so sehen. Aber es ist falsch. Wir gehen den richtigen Weg – wir sind ihn auch im Hinblick auf die Versicherungsvermittlerordnung gegangen –: den Weg über die Gewerbeordnung. Sonst hätten wir folgende Situation: Vermittler, die mit Versicherungen, Investments, Immobilien oder geschlossenen Fonds zu tun haben, müssten jeweils einer unterschiedlichen Aufsicht unterliegen. Das wollten wir nicht. Wir wollten keine Zersplitterung der Aufsicht, sondern eine Zusammenfassung der Aufsicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Ihr Minister wollte erst etwas anderes!) Nun zu dem Besonderen im Hinblick auf die Opposition. Wir haben eine Expertenanhörung durchgeführt. Die erste Frage ging an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Sie lautete: Sehen Sie sich in der Lage, die Aufsicht über 80 000 Vermittler zu übernehmen? Die Antwort war: (Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein!) Nein, wir sehen uns dazu nicht in der Lage. – Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ist nämlich eine Institutsaufsicht. Sie ist keine Individualaufsicht, sondern eine Institutsaufsicht für Versicherungsunternehmen, Banken und größere Institute. Deswegen sind wir diesen Weg gegangen. Das ist genau der richtige Weg. Es wird auch kritisiert, die Aufsicht zwischen den verschiedenen Gewerbeämtern und zwischen den Industrie- und Handelskammern würde nicht funktionieren. Es gibt inzwischen ein bundesweit einheitliches Qualitätsniveau bei der Aufsicht, und zwar aufgrund von sehr umfangreichen Musterverwaltungsvorschriften, es gibt den sogenannten Bund-Länder-Ausschuss, und es findet ein Informationsaustausch zwischen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und den Gewerbe-ämtern statt. Gerade dieser Informationsaustausch ist entscheidend. Deswegen haben wir uns im parlamentarischen Verfahren für diesen Weg entschieden. Für uns ist wichtig: Wir können den Finanzmarkt nicht regulieren, indem wir nur an die Aufsicht glauben. Ein System darf nicht vom Urteil und von der Weisheit der Aufsicht abhängen. Wir müssen uns an der Praxis orientieren und uns fragen: Wie sieht die Praxis aus, was ist für den Vermittler richtig, und was ist vor allen Dingen für den Verbraucher wichtig? Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein zweiter Aspekt ist von der Opposition sehr heftig kritisiert worden, nämlich die sogenannte Alte-Hasen-Regelung, die wir auch im Versicherungsvermittlerrecht eingeführt haben und die dort schon nach drei Jahren galt. (Patrick Döring [FDP]: So ist das!) Wer damals drei Jahre am Markt war, konnte bei den Qualifikationsanforderungen eine Befreiung bekommen. Wir erhöhen die Dauer, die man am Markt tätig gewesen sein muss, bezogen auf den 1. Januar 2013, auf sieben Jahre. Wer also sieben Jahre im Markt gearbeitet hat, wer sich in diesen sieben Jahren auch der Prüfung durch den Wirtschaftsprüfer unterzogen und eine Meldung beim Gewerbeamt vorgenommen hat, der wird befreit. Abgesehen von den sonstigen Qualifikationsanforderungen, die den Beruf betreffen, haben wir einen Weg aufgezeigt, der sicherstellt, dass diejenigen, die ihren Beruf seit mindestens sieben Jahren ausüben, nicht mit einem Berufsverbot belegt werden. Das ist ein wichtiger Aspekt für 80 000 Vermittler. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aus unserer Sicht ist das schärfste Schwert in der Aufsicht die neu eingeführte Berufshaftpflichtversicherung. Das war bisher nicht nötig. Jeder, der am Markt tätig sein will, muss zu einer Versicherungsgesellschaft gehen, einen entsprechenden Antrag stellen und dann erst einmal alles offenlegen, was er bisher gemacht hat, damit er überhaupt Versicherungsschutz bekommt. Das ist die erste und wichtigste Prüfung; denn hier werden möglicherweise viele durch das Raster fallen. Deswegen ist die Berufshaftpflichtversicherung die beste Kontrolle. Sie ist besser, als eine staatliche Behörde mit der Kontrolle zu beauftragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben gesagt: Da dies ein neuer Weg der Aufsicht ist – bisher gibt es diese Aufsicht nicht; es gibt bisher keine Registrierung, keinen Qualifikationsnachweis, keine Haftpflichtversicherung und keine Protokollierung –, wollen wir diesen Weg in wenigen Jahren überprüfen, also evaluieren. Ich denke, es ist gerade bei einem neuen Weg wichtig, zu prüfen, ob es der richtige Weg gewesen ist. Einen Punkt möchte ich abschließend noch erwähnen: Im Bereich der privaten Krankenversicherung haben wir in die bisherigen Provisionsregelungen im Markt eingreifen müssen. Es gab einige Gesellschaften und Vermittler, die Kunden für eine private Krankenversicherung geworben und diesen Vertrag schon nach 15 bis 18 Monaten wieder gekündigt haben, um erneut einen Vertrag abzuschließen und im Grunde zweimal zu überhöhten Provisionen zu gelangen. Wir haben dort auch in Abstimmung mit der Wirtschaft eingegriffen; denn sie sah sich selbst nicht in der Lage, dies umzusetzen. Ich denke, das war einer der wichtigsten Schritte, um einen sauberen Markt für die Vermittlung von privaten Krankenversicherungen zu erreichen, und die Versicherungsbranche ist uns dankbar, dass wir in den Markt eingegriffen und diesen Missbrauch beseitigt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen wir, die Koalitionsparteien und die Bundesregierung, ein weiteres Versprechen unseres Koalitionsvertrags ein. Alle Märkte, alle Produkte, alle Anbieter und alle Vermittler sollten der Regulierung unterliegen. Dem sind wir ein wesentliches Stück nähergekommen. Ich denke, darauf können wir sehr stolz sein. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Flosbach – angesichts der fortgeschrittenen Zeit auch dafür, dass Sie Ihre Redezeit bei weitem nicht ausgeschöpft haben. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Da würde ich aber noch einmal nach vorne gehen!) Für die Sozialdemokraten ist Kollege Dr. Carsten Sieling der nächste Redner. (Beifall bei der SPD – Torsten Staffeldt [FDP]: Nehmen Sie sich ein Beispiel! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie müssen die Redezeit auch nicht ausschöpfen, Herr Kollege!) Dr. Carsten Sieling (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für den Hinweis. Ich versuche, ihn aufzunehmen, aber ich muss erst einmal sagen, dass ich heute Morgen, als ich den Wetterbericht hörte und berichtet wurde, dass sich der Nebel auflösen würde, sehr frohgemut gestimmt war. Ich hätte nicht gedacht, Herr Flosbach, dass es Ihnen mit Ihrer Rede hier gelingen kann, diesen Nebel des Tages auch noch in den Plenarsaal zu tragen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Sie müssen sich die Brille putzen, Herr Kollege! – Patrick Döring [FDP]: Da hat er sich aber viel Mühe gemacht!) Wir haben in den Vorberatungen, in der ersten Lesung usw. das ständige Gerede davon gehört, dass dieser Gesetzentwurf ein Meilenstein und ein Quantensprung sei, und stolz sind Sie am Ende auch noch. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Warum haben Sie elf Jahre lang nichts gemacht? Erzählen Sie uns das doch einmal!) – All das erkläre ich Ihnen jetzt gleich. – Das ist natürlich nichts anderes, als dass Sie gute Stimmung für ein durch und durch verfahrenes Verfahren machen, was dazu führen wird, dass die Anlegerinnen und Anleger in Deutschland gerade vor diesen gefährlichsten Produkten nicht hinreichend geschützt werden, und das ist peinlich. Darauf kann ich nicht stolz sein, und Sie sollten es auch nicht sein, Herr Kollege Flosbach. (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Doch, sind wir! – Patrick Döring [FDP]: Das ist wirklich Quatsch!) Der graue Kapitalmarkt zeichnet sich durch Intransparenz bei den Produkten und durch Vertriebsformen aus, die immer wieder dazu geführt haben, dass Schäden in Milliardenhöhe entstanden sind. Für die einzelnen Personen waren das teilweise vielleicht auch einmal kleine Summen, aber den Einzelnen macht das viel aus. Viele Leute haben darunter gelitten. Der politische Anspruch musste doch sein, den grauen Kapitalmarkt zu beleuchten, sodass dieser wichtige Bereich quasi ein weißer Markt wird. Ich will Ihnen sagen: Das, was Sie hier gemacht haben, ist nichts anderes als die Erzeugung einer schwarz-gelben Sonnenfinsternis, durch die neue Schatten geworfen wurden. Das ist Stückwerk. Das reicht nicht, um den Anlegerschutz in Deutschland zu stärken. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Bei jeder Sonnenfinsternis kommen auch ein paar Sonnenstrahlen durch. Deshalb will ich hier sehr deutlich sagen, dass wir das, was Sie im Bereich der Produktregulierung gemacht haben, positiv finden. Hier wird es dazu kommen, dass nun geschlossene Fonds und Ähnliches von der BaFin geprüft werden. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch der entscheidende Punkt!) Das ist ein entscheidender Punkt, aber es reicht nicht. Anders sieht es im Bereich des Vertriebs aus. Da haben Sie die Normen des WpHG, des Wertpapierhandelsgesetzes, nicht angewandt, sondern geteilt. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Eins zu eins! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Lesen!) – Zu der Eins-zu-eins-Umsetzung komme ich gleich sehr gerne. Ich bitte Sie, da ein bisschen Geduld zu haben. Sie wissen genau, dass Sie diese Regelungen nicht eins zu eins umgesetzt, sondern diese Umsetzung nur an-gekündigt haben. Der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium – damals noch Herr Asmussen – hat eine Eins-zu-eins-Umsetzung erbeten. Das Bundeswirtschaftsministerium, immer FDP-geführt, hält seine Zusagen nicht ein. Sie haben keine Eins-zu-eins-Umsetzung erreicht. Wenn Sie sich das genau anschauen, dann merken Sie, dass es im Bereich der Offenlegungspflichten von Zuwendungen nicht hinreicht. Auch eine Beschwerdestelle gibt es im Gegensatz zu den Regelungen, die wir bei dem bisherigen Anlegerschutzgesetz hatten, nicht. Es gibt keine Pflicht zur Meldung von Beschwerden. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nichts verstanden! Sechs! Setzen!) Das Wichtigste ist: Es gibt – darauf komme ich noch – keine Sanktionen bei Falschberatung. Das ist das Allerschlimmste. Wir brauchen eine Regelung, damit die schwarzen Schafe vom Markt verschwinden. Das leisten Sie nicht. Damit haben Sie an dieser Stelle versagt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Versagt – jetzt rüsten Sie doch einmal ab, Herr Sieling!) – Ich habe Ihnen schon in der ersten Lesung gesagt: Ich verstehe Ihre Aufregung. Dies ist ein Paradebeispiel dafür, wie bei Ihnen der Lobbyismus durchregiert. Bundesfinanzminister Schäuble hat im Frühjahr 2010 einen Vorschlag vorgelegt, der einen einheitlichen Anlegerschutz gewährleisten sollte. Dieser Vorschlag ist im weiteren Verfahren zwischen den Ministerien zerlegt worden, weil es die Lobbyisten, die auf den grauen Kapitalmärkten, gerade im Vertriebsbereich, unterwegs sind – Sie kennen das; sie sind mit einem ordentlichen Hebel ausgestattet –, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Können Sie das erläutern?) über den Kanal FDP geschafft haben, den Lobbyismus in die Regierungspolitik zu hebeln. (Patrick Döring [FDP]: Das sind alles unbewiesene Behauptungen! – Nicolette Kressl [SPD]: Immer diese Hotels!) Den Lobbyisten ist es jedenfalls gelungen, über Ihren damaligen Bundeswirtschaftsminister, Herrn Brüderle, entsprechende Regelungen hineinzuhebeln und Herrn Schäuble leider umzuhauen. Die CDU/CSU hat sich dagegen leider nicht gewehrt. Darum werden wir einen gespaltenen Anlegerschutz bekommen. Das ist schlechter Anlegerschutz. Das schadet den Menschen in Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Haben Sie das Gesetz nicht gelesen oder nicht verstanden?) – Im Gegensatz zu Ihnen habe ich beides getan. (Patrick Döring [FDP]: Nicht gelesen und nicht verstanden! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kennen sogar die erste Fassung!) Das unterscheidet uns wahrscheinlich, Herr Kollege. Sie müssen aber genau das erzählen, weil Sie wissen, was Sie damit durchgesetzt haben, nämlich dass der Anlegerschutz damit unter die Gewerbeordnung und unter die Kontrolle der Gewerbeämter fällt. Ich sage Ihnen: Einen einheitlichen Anlegerschutz und eine entsprechende Kontrolle können Sie mit 7 000 unterschiedlichen lokalen Gewerbeämtern nicht gewährleisten. Das wird zu keinen Verbesserungen führen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Bei den Versicherungsvermittlern haben Sie letztes Mal mit-gemacht! Jetzt erklären Sie doch einmal den Sinneswandel!) – Wir reden hier über Kapitalmarktinstrumente. Wir können gerne über einen Vorschlag Ihrerseits reden, den Schutz auch im Versicherungsbereich zu verbessern. Hier ist es jedenfalls so, dass Sie einen gespaltenen Anlegerschutz produzieren. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist genau der richtige Weg! – Gegenruf des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie widersprechen Ihrem Minister!) Fonds und ähnliche Produkte werden von der BaFin kontrolliert. Auch Bankberater werden in Form von Registrierungspflichten kontrolliert. Aber beim Anlegerschutz beugen Sie sich der FDP-Politik und lassen die Kontrollen von den Gewerbeämtern durchführen. Davon werden in den kleinen Orten schwarze Schafe profitieren, weil die Gewerbeämter diese Kontrolle von ihren anderen Aufgaben und ihrer Ausstattung her gar nicht leisten können. (Patrick Döring [FDP]: Sie haben eine schlechte Meinung von deutschen Gewerbeämtern!) Wenn Sie mir hier erzählen wollen, dass 7 000 einzelne Stellen stärker sind als eine starke BaFin, dann gehören Sie zu den Märchenonkeln dieses Parlaments. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben an dieser Stelle einen falschen Weg eingeschlagen. Ich will gerne ergänzen, dass wir eine Reihe von Vorschlägen gemacht haben, damit es nicht dazu kommt, dass die einzelnen Vermittler und Berater aufgrund von Kostenbelastungen – dieses Argument höre ich schon jetzt – Schwierigkeiten bekommen. Deshalb haben wir als Lösung immer vorgeschlagen, sie aus gewissen Kostenanforderungen herauszunehmen. Das war der sogenannte Kreditwesengesetz-light-Vorschlag. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Sie haben aber keinen Änderungsantrag gemacht! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Leasing light hat zu einer Katastrophe geführt!) Diesen Weg hätte man gehen können. Sie sind nicht darauf eingegangen, weil Ihnen schon das zu viel war. Sie wollen den grauen Kapitalmarkt gerne grau lassen. Damit er auch wirklich grau und zahnlos bleibt, haben Sie uns in den Beratungen durch die Koalitionsfraktion eine Alte-Hasen-Regelung vorgelegt, die unangenehm, peinlich und überzogen ist, weil sie nämlich dazu führt, dass jemand, der, sagen wir mal, 30 Jahre alt ist und schon die sieben Jahre, die Herr Flosbach angesprochen hat, gearbeitet hat, bis zu seiner Pension ohne Prüfung und weiteren Sachkundenachweis vermitteln kann. Das halten wir für nicht hinreichend. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nach jetzigem Recht muss er sieben Jahre gut gearbeitet haben!) Wir hätten eine Härtefallregelung empfohlen. Das wäre richtig gewesen. Das wäre guter und wirksamer Anlegerschutz gewesen. Ihr Gesetz lehnen wir ab, weil es für den Anlegerschutz in Deutschland nicht gut ist. Es ist in der Tat eine Gefahr und Verlängerung der krisenhaften Entwicklung und Gefährdung für die Leute. Sie werden deshalb unsere Zustimmung nicht erhalten. (Beifall bei der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Nein! Wir wollen nur Zustimmung von Leuten, die das Gesetz verstehen! Damit können wir leben, dass Sie nicht zustimmen!) Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag, und ich entschuldige mich, dass ich 13 Sekunden länger geredet habe als vorgesehen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling. – Nächster Redner für die Fraktion der FDP unser Kollege Frank Schäffler. Bitte schön, Kollege Frank Schäffler. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frank Schäffler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz stärkt den Anlegerschutz durch mehr Wettbewerb, und der Wettbewerb ist eigentlich der beste Anlegerschutz. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Können Sie das mal erklären? – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich jetzt nicht verstanden!) Denn wenn wir den Vorschlägen der Opposition gefolgt wären, hätten wir am Ende 80 000 Vermittler auf diesem Markt in ihrer Existenz vernichtet. Am Ende hätte es nur noch Banken und große Vertriebe gegeben, die in Deutschland Finanzprodukte vermitteln können, auch von den Kosten her. Wozu hätte das geführt? Hätte das zu mehr Anlegerschutz geführt? Nein. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso nicht?) Es hätte zu weniger Anlegerschutz geführt, und es hätte am Ende dazu geführt, dass die Produkte, die in der Vergangenheit, als es viele schwarze Schafe gab, nämlich die geschlossenen Fonds, zu Recht kritisiert wurden, nur noch von Banken vermittelt worden wären. Schon heute werden geschlossene Fonds zu 60 Prozent nur von Banken vermittelt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sollten gar nicht vermittelt werden!) Das heißt, das, was in der Vergangenheit schiefgegangen ist, ist in dem regulierten Bereich geschehen, den Sie so hoch loben und über den die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Aufsicht geführt hat. Ich finde, der beste Wettbewerbsschutz ist, wenn wir einen Ordnungsrahmen schaffen, bei dem es keine Arbitrage-Effekte gibt und nicht der eine in das andere, weniger regulierte Segment ausweichen kann. Das war in der Vergangenheit der Fall. Nach Ihrer Versicherungsvermittlerrichtlinie – die Sie im Übrigen in der Gewerbeordnung umgesetzt haben – konnte man sich in der Vergangenheit am Ende über die Vermittlung geschlossener Fonds aus der Regulierung herausbewegen. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wir sind im Kapitalanlagebereich!) Das, was Sie damals eingeleitet haben und was richtig war, vollenden wir jetzt also. Künftig wird es kein Finanzprodukt mehr geben, das nicht unter einheitlicher Aufsicht mit einheitlichen Vermittlungsstandards, Ausbildungsstandards, Regulierungsstandards und Haftungsbedingungen vermittelt wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist ein großer Erfolg dieser Koalition für den Anlegerschutz. Es ist ein Riesenerfolg. Denn es wird am Ende dazu führen, dass Sie, egal ob Sie eine Versicherung, einen Fonds oder einen geschlossenen Fonds vermitteln, als freier Finanzvermittler den gleichen Bedingungen unterliegen. Es ist klar, dass man dann auch Übergangsregelungen schaffen muss. Wer weiß das besser als Sie? Sie haben es bei der Umsetzung der Versicherungsvermittlerrichtlinie genauso gemacht, wie wir es jetzt machen. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber man muss ja Fehler nicht wiederholen!) Jetzt kritisieren Sie diese Regelung und polemisieren dagegen. Das halte ich für nicht lauter. Lauter wäre, wenn Sie akzeptierten, dass es genügend Menschen gibt, die ordentlich gearbeitet haben, die vielleicht am Ende ihres Berufslebens stehen und die man nicht mehr zwingen kann, die Schulbank zu drücken, da sie jahrelang oder jahrzehntelang auf diesem Markt erfolgreich tätig waren. Das wäre unsozial. Das können wir nicht zulassen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dafür hätten wir eine Lösung gefunden!) Ein entscheidender Faktor ist, dass es den Markt der nebenberuflichen Vermittler nicht mehr geben wird; denn wir haben die Latte bei den Ausbildungsstandards und mit der Pflicht zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung so hoch gelegt, dass das ein Nebenberufler nicht mehr leisten kann. Allein das wird die Qualität der Vermittlung entscheidend verbessern. Insbesondere die Pflicht, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen, wird den Markt radikal bereinigen. Wer ein-, zweimal einen Schadensfall verursacht hat, für den bedeutet das faktisch das Ende seiner beruflichen Existenz als Finanzvermittler. Der Betreffende wird keine Berufshaftpflichtversicherung auf dem Markt mehr bekommen. Das ist wahrscheinlich der notwendige Preis dafür, dass wir die Marktkräfte wirken lassen. Durch Wettbewerb schaffen wir zusätzlichen Anlegerschutz. Insofern ist heute ein guter Tag für den Anlegerschutz in Deutschland. Das haben wir gemeinsam zustande gebracht. Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich bei unserem Koalitionspartner für die konstruktive Zusammenarbeit. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Frank Schäffler. – Jetzt hat für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Caren Lay das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der LINKEN) Caren Lay (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kann nicht sein, dass ein Teil des Kapitalmarkts so gut wie gar nicht reguliert wird. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Deswegen haben wir es geändert!) Auf dem sogenannten grauen Kapitalmarkt werden Verbraucherinnen und Verbraucher Jahr für Jahr um Milliardenbeträge in zweistelliger Höhe geprellt. Was ändert nun das Gesetz der Bundesregierung – das ist der Streitpunkt – an dieser misslichen Lage? – Aus unserer Sicht leider ausgesprochen wenig. Ich möchte auf einige Schwächen des Gesetzentwurfs eingehen, der heute zur Abstimmung steht. Zuerst zu den bereits angesprochenen Beipackzetteln. Die von Verbraucherschutzministerin Aigner immer so gerne angepriesenen Infoblätter für Finanzprodukte sind kaum standardisiert. Sie unterliegen keiner Aufsicht. So können sie doch gar keine zuverlässige Informationsquelle für Verbraucherinnen und Verbraucher sein. (Beifall bei der LINKEN) Dann kritisieren wir die Reichweite des Gesetzes. Wir sind der Auffassung, dass eine Ausweitung der Regulierung auf Schrottimmobilien dringend notwendig ist. Wir sind als Linke selbstverständlich der Auffassung, dass solche Produkte überhaupt nicht auf den Markt gehören. Aus unserer Sicht ist der zentrale Kritikpunkt Folgendes: Freie Vermittler sollen nach dem Willen der Bundesregierung der Gewerbeaufsicht unterstellt werden statt der Finanzaufsicht. (Patrick Döring [FDP]: Genauso wie alle anderen Vermittler!) Damit wird eine kompetente und länderübergreifend einheitliche Aufsicht verhindert. Auf diesen Punkt werde ich gleich näher eingehen. Damit bleibt aus unserer Sicht der graue Kapitalmarkt ein Einfallstor für Betrug und ein Tummelplatz für unkalkulierbare Risiken. Leidtragende dieser mangelhaften Regulierung sind Kleinanlegerinnen und Kleinanleger, die ihr Erspartes in sicheren Händen wissen wollen, also Menschen, die über relativ wenig Geld verfügen und nur geringe Anlageerfahrung haben. Wir sagen als Linke: Einen solchen grauen Kapitalmarkt darf es überhaupt nicht mehr geben. (Beifall bei der LINKEN) Mit unserem Entschließungsantrag legen wir ein Maßnahmenpaket zur Überwindung des grauen Kapitalmarkts vor. Lassen Sie mich auf einige Aspekte eingehen. Wir fordern schon seit langem einen sogenannten Finanz-TÜV. Wir möchten, dass alle Formen der Geldanlage geprüft und zugelassen werden müssen, bevor sie auf den Markt kommen. Nur so kann verhindert werden, dass sogenannte Finanzinnovationen, die sich später als Finanzschrott herausstellen, ungeprüft auf den Markt gelangen. Des Weiteren sagen wir: Nicht nur die Finanzprodukte, sondern auch die Finanzvermittler müssen einer fachlich kompetenten und einheitlichen Finanzaufsicht unterliegen. Ein Flickenteppich zwischen Finanzaufsicht und Gewerbeaufsicht – das wäre die Konsequenz aus dem Gesetz – kann die Anforderungen nicht erfüllen. An dieser Stelle kann ich mich der Kritik von Kollegen Sieling völlig anschließen. Auch wir als Linke sind allerdings der Auffassung, dass die BaFin an Interessenkonflikten leiden kann, nämlich denen zwischen Unternehmen auf der einen Seite und Verbraucherinnen und Verbrauchern auf der anderen Seite. Deshalb schlagen wir als Linke mittelfristig eine eigene Verbraucherschutzbehörde für die Finanzmärkte vor. (Beifall bei der LINKEN) Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen. Wir Linke kümmern uns nicht nur um den Anlegerschutz, sondern wir kümmern uns auch um die Menschen, die gar kein Geld haben, das sie anlegen könnten, und die darauf angewiesen sind, sich Geld am Markt zu leihen. Es gibt nicht nur den grauen Kapitalmarkt, sondern es gibt auch einen grauen Kreditmarkt. Anleger locken zum Beispiel mit schufafreien Krediten und berechnen Vorleistungen, ohne dass überhaupt ein Kredit vermittelt wird. Auch dagegen muss aus unserer Sicht dringend etwas geschehen. Das sieht auch die Verbraucherschutzministerkonferenz vor. Sie hat bereits vor einem Jahr, und zwar einstimmig, also auch mit den Stimmen der Koalition, ein Vorleistungsverbot bei der Kreditvermittlung gefordert. Geschehen ist seitdem nichts. Auch hier muss die Bundesregierung endlich handeln. Ich komme zum Schluss. Dieser Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht ein viel zu vorsichtiger Schritt. Ausreichend zur Überwindung des grauen Kapitalmarkts ist er bei weitem nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Lay. Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Schick. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will als Erstes damit beginnen, zu klären, worüber wir beim grauen Kapitalmarkt reden, und dazu ein Beispiel schildern, das deutlich macht, wie krass manchmal die Fehlberatung und wie schlecht die Produkte sind. Eine Fondsgesellschaft sammelt für die Produktion zweier Filme 180 Millionen DMark – jetzt etwa 92 Millionen Euro – ein. Das liegt schon einige Jahre zurück. Freie Vermittler bringen das Produkt auf den Markt. Vor kurzem haben die Anleger erfahren, dass die Filme für etwa 250 000 Dollar verkauft werden konnten. Die Anleger können also mit einem Rückfluss im Promillebereich ihrer Einlage rechnen. Das ist eines von vielen Beispielen im Bereich der Medienfonds. Dort ist übrigens bekannt, dass man riskante und häufig auch schlechte Projekte am besten in Deutschland finanziert. Man könnte andere Beispiele aus dem Bereich der Schiffsfonds oder Ähnliches hinzufügen. Es handelt sich um ein großes Volumen. Die Gelder vieler Anleger werden in betrügerischer Weise fehlgelenkt. Das hat zwei Gründe. Der eine liegt auf der Produktebene, der andere auf der Vertriebsebene. Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben deswegen 2007, als es um die Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie ging, gesagt, dass dieser Bereich bei der Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie einbezogen werden muss. Die Große Koalition – übrigens beide Fraktionen, Herr Flosbach, die CDU/CSU-Fraktion wie die SPD-Fraktion – wollte damals diesen Bereich explizit unreguliert lassen. Deswegen kommt das, was wir heute tun, viereinhalb Jahre zu spät. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!) Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben dann gefordert, dass zumindest im Ausschussbericht stehen müsse, dass wir uns mit dieser Thematik noch einmal beschäftigen. Wir haben das auch vorangebracht und im Juli 2009 eine Anhörung initiiert, in der wir, glaube ich, alle deutlich dazugelernt haben, welcher Regelungsbedarf besteht und was zum Schaden der Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland falsch läuft. Das ist die Grundlage, auf der dann im Koalitionsvertrag völlig richtige Punkte zur Regulierung dieses Marktes festgelegt wurden. Das muss man festhalten. Deswegen sind einige von den Forderungen, die wir damals in unserem Antrag vorgetragen haben, tatsächlich in diesen Gesetzentwurf eingegangen. Trotzdem werden wir dem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen. Ich will das begründen. An zwei zentralen Stellen – es gibt mehrere Beispiele – greift dieser Gesetzentwurf zu kurz. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Verbraucherministerin Aigner. Sie antwortete auf die Frage, ob die Gewerbeaufsichtsämter den Vertrieb kontrollieren sollten – ich zitiere –: Das ist aus meiner Sicht falsch. Die Finanzaufsicht sollte komplett bei der Finanzaufsicht BaFin angesiedelt werden. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber die will es doch selber nicht!) Der Vertreter der Bundesbank, die sicher eine relativ neutrale Instanz in dieser Frage ist, beschrieb in der Anhörung zum Gesetzentwurf am 6. Juli 2011 – das zielt auf den Kern und bringt zum Ausdruck, warum es so nicht sein darf – die Gefahr – ich zitiere –, dass gut gemeinte Anlegerschutzregelungen durch eine unterschiedliche Beaufsichtigung möglicherweise zum Gegenteil dessen führen, was man beabsichtigt hat, und durch eine möglicherweise unzureichende Beaufsichtigung in der Fläche das eigentlich intendierte Anlegerschutzniveau zumindest aufsichtlich eben nicht erreicht werden kann. Das ist das Problem. Es besteht die Gefahr, dass manche der guten Normen, die im Gesetzentwurf stehen, ins Leere laufen werden, und deswegen können wir nicht zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber die BaFin hat doch selber gesagt, dass sie es nicht will!) – Ja, die BaFin hat das natürlich gesagt. Stellen Sie doch eine Zwischenfrage. Ich beantworte sie wirklich gerne. Der Punkt ist doch einfach, dass die BaFin gesagt hat, mit ihrer gegenwärtigen Ausstattung könne sie dieser Anforderung nicht gerecht werden; sie brauche dafür eine anständige Ausstattung. Das ist doch logisch. Das gilt auch für die Gewerbeämter. Bloß diese werden die entsprechende Kompetenz gar nicht aufbauen können. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Die BaFin will es doch gar nicht! – Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was hat denn die Bundesbank gesagt? Genau das Gegenteil! – Nicolette Kressl [SPD]: Wo sich doch sonst die FDP immer auf die Bundesbank bezieht!) Ein weiterer Punkt: Ihr Staatssekretär Heitzer hat gesagt, dass die anlegerschützenden Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes eins zu eins umgesetzt werden sollen. Das ist bisher nicht der Fall. Trotz des aggressiven Vertriebs, den wir in diesem Bereich gehabt haben – provisionsorientierte Fehlberatung –, haben Sie gerade bei der Offenlegung der Provisionen keine Einszu-eins-Umsetzung vorgenommen. Angesichts dessen müssen wir einfach sagen: Es ist zu befürchten, dass vieles von dem Falschen, was wir kritisieren, weitergeht. Deswegen können wir hier nicht zustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Ich darf nun die Aussprache hierzu schließen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7453, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6051 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7475. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Die Linksfraktion. Der Entschließungsantrag ist somit abgelehnt. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7476. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7477. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen, Sozialdemokraten und Linksfraktion. Gegenprobe! – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Somit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen – Drucksache 17/7386 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben.4 – Alle sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich brauche Ihnen die Namen der Kolleginnen und Kollegen nicht vorzulesen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7386 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems – Drucksache 17/6255 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 17/7508 – Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Manfred Zöllmer Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.5 – Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7508, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6255 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber frage ich noch: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? – Niemand. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Zivilpersonal in Konflikten besser betreuen – Drucksachen 17/7191, 17/7506 – Berichterstattung: Abgeordnete Karl-Georg Wellmann Edelgard Bulmahn Joachim Spatz Jan van Aken Kerstin Müller (Köln) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.6 – Sie alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7506, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7191 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umweltauditgesetzes – Drucksache 17/6611 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) – Drucksache 17/7490 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Dr. Matthias Miersch Judith Skudelny Sabine Stüber Dorothea Steiner Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor. Sie sind damit einverstanden. Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Der Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 hat mit der Agenda 21 das Thema der nachhaltigen Entwicklung ins Rampenlicht gerückt. Seither wird die Frage der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung in vielen Bereichen und durch viele Instrumente adressiert. Im Vordergrund steht dabei, wie es gelingen kann, die Bedürfnisse heutiger Generationen zu befriedigen, ohne die Chancen künftiger Generationen zu beeinträchtigen. Wie schaffen wir es, Ökonomie und Ökologie und die sozialen Aspekte miteinander in Einklang zu bringen? Wir stehen hierbei vor enormen Herausforderungen, aber auch vor großen Chancen: Auf internationaler Ebene setzen wir uns für ein verbindliches Nachfolgeabkommen des Kioto-Protokolls ein. Wir benötigen verbindliche Zielsetzungen der Staaten für die Mengenbegrenzungen ihrer Treibhausgasemissionen. Deutschland bezieht bereits jetzt gut 20 Prozent seiner Stromversorgung aus erneuerbaren Energien. In den kommenden Jahren werden wir den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter forcieren. Die Europäische Kommission hat im Rahmen ihrer Europa-2020-Strategie eine Leitinitiative zum Thema Ressourceneffizienz verabschiedet mit dem Ziel, die Effizienz der Wirtschafts- und Produktionsweisen in Europa weiter zu erhöhen und den Verbrauch von Ressourcen zu optimieren. Das geplante deutsche Ressourceneffizienzprogramm ProgRess verfolgt diese Zielsetzung auf nationaler Ebene. Ein wichtiges Instrument der nachhaltigen Entwicklung, das nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, das aber bereits parallel zur Rio-Konferenz im Jahre 1992 auf EU-Ebene im 5. Umweltaktionsprogramm entworfen wurde, ist das Europäische Umwelt-Audit-System – kurz EMAS. Dieses freiwillige Umweltmanagementsystem, das mit dem Umweltauditgesetz in Deutschland umgesetzt wurde, misst der Eigenverantwortung von Unternehmen und Organisationen beim Umweltschutz eine große Bedeutung bei. Mit diesem System erhalten Unternehmen und Organisationen eine Handhabe zur effektiven Selbstkontrolle. Die durch ihre Tätigkeit entstehenden direkten und indirekten Umweltauswirkungen werden durch Umwelterklärungen transparent. Einerseits verpflichten sich die Unternehmen und Organisationen, eine über ihre gesetzlichen Pflichten hinausgehende Verbesserung ihres betrieblichen Umweltschutzes zu erreichen. EMAS-Organisationen werden durch staatlich zugelassene Umweltgutachterinnen und Umweltgutachter kontrolliert. Andererseits werden innerhalb der Umsetzung von EMAS regelmäßig – auch wirtschaftlich rentable – Umweltschutzmaßnahmen identifiziert, mit denen Ressourcen eingespart werden können. Win-win-Situationen werden somit erschlossen. Mit dem nun vorliegenden Zweiten Gesetz zur Änderung des Umweltauditgesetzes werden aufgrund der EG-Verordnung Nr. 1221/2009 und weiterer Beschlüsse der Kommission weitere wichtige Neuregelungen umgesetzt. Ich will an dieser Stelle zwei Punkte nennen: Erstens werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nunmehr auch eine EMAS-Registrierung für Organisationen mit Sitz außerhalb der EU angeboten wird. Deutsche Umweltgutachter erhalten hierdurch ein neues Betätigungsfeld. Wir eröffnen damit gleichzeitig die Möglichkeit einer weiteren Durchdringung der EMAS-Zielsetzungen über die Europäische Union hinaus. Zweitens sieht das neue Gesetz vor, dass eine Registrierung von Teilstandorten abgeschafft wird. Das heißt im Klartext, dass keine umweltrelevanten Teile einer Anlage aus der EMAS-Registrierung ausgelassen werden können. Ein „Rosinenpicken“ kann es hierdurch nicht mehr geben. Alles in allem sind die Neuerungen zu begrüßen. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung. Dr. Matthias Miersch (SPD): Im Jahr 1993 wurde das erste und auf dauerhaften Betrieb angelegte Umweltmanagementsystem mit festen Regeln EG-rechtlich etabliert. Damals wurden die Grundlagen gelegt, um den – relativ neuen – Gedanken, ökonomisch und ökologisch sinnvolles Handeln miteinander zu verbinden, in die Praxis umzusetzen. Unternehmen, Verwaltungen, Dienstleister, die ihre Umweltdaten erfassten, bilanzierten und transparent darstellten, konnten durch das Umweltaudit die Umwelt und die Ressourcen schonen, Kosten einsparen, Genehmigungsabläufe verkürzen und mit dem EMAS-Logo für sich und die gute Sache werben. Das Vorhaben müsste eigentlich angesichts der Erkenntnis, dass unsere natürlichen Ressourcen begrenzt und nicht immer und überall verfügbar sein würden, eine Erfolgsgeschichte sein, ein Selbstläufer. Heute, fast 20 Jahre und einige Novellen später, ist Ernüchterung eingetreten. Das Umweltaudit wird von einer zwar steigenden Zahl von Unternehmen, aber immer noch von viel zu wenigen durchgeführt. Im Oktober 2009 hatte EMAS europaweit gerade einmal 7 400 Teilnehmer. Darüber hinaus ist das EMAS-Logo aufgrund der geringen Teilnehmerzahlen nach wie vor einem Großteil der Bürgerinnen und Bürger nicht bekannt, sodass der Werbeeffekt und damit der Anreiz für die Firmen gering sind. Wir müssen leider feststellen: Das Umweltauditsystem ist bis jetzt nicht so erfolgreich, wie ursprünglich angenommen und erhofft wurde. Es ist zwar mittlerweile anerkannt, dass Ökonomie und Ökologie zwei Seiten einer Medaille sind. Leider ist diese Erkenntnis immer noch nicht ausreichend ins tägliche Handeln umgesetzt worden. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der EU-Kommission, die Anzahl der Teilnehmer innerhalb der nächsten fünf Jahre zu verdreifachen, ein sehr ambitioniertes Ziel, das wir unterstützen. Durch die Novellierungen hat die Bürokratie für das Zertifizierungsverfahren abgenommen, und die Vorteile, Betriebe und Verwaltungen angesichts steigender Energie- und Ressourcenpreise umzustrukturieren, liegen auf der Hand. Halten wir gemeinsam fest: Wir wollen diesen Prozess weiter beschleunigen. So wichtig EMAS – gerade auch als Vorreiter für nachhaltige Produktionsprozesse – ist, es ist nicht das einzige Instrument, um zukünftiges unternehmerisches Denken und Verwaltungshandeln auf einen nachhaltigen Pfad zu setzen. Die Energieeffizienzrichtlinie, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, Klimaschutzprogramme, kommunale Aktionspläne oder nachhaltige Beschaffungsmaßnahmen bilden ein Bündel an Instrumenten, die die Umwandlung der Wirtschaftsprozesse hin zu einer nachhaltigen ressourcenschonenden Wirtschaftsweise unterstützen und befördern können. Wir erlauben uns hier leider eine allzu große Toleranz. Die Bundesregierung diskutiert über einen Nachhaltigkeitskodex für Unternehmen, kann sich aber zu keiner Regelung durchringen. Ebenso fehlen kraftvolle Zertifizierungssysteme, die Konsumenten Kaufentscheidungen überdenken lassen und so Unternehmen aus eigenem Gewinnstreben den gesamtstaatlichen Zielen verpflichten. Wo bleibt die Umweltgesamtkostenrechnung, und was ist mit einem neuen Wachstumsbegriff abseits des BIP? Schwarz-Gelb setzt nach wie vor auf falsche Anreizsysteme und wundert sich später über die daraus resultierenden Marktentscheidungen. Leider blockiert die Bundesregierung ernsthafte Anstrengungen in Richtung messbarer Nachhaltigkeitsanreize. Allen voran das FDP-geführte Wirtschaftsministerium bezeugt ein ums andere Mal, dass das existenzielle Zusammenspiel und die gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung von Ökologie und Ökonomie noch nicht hinreichend verstanden wurden. Das Umweltauditsystem muss zu neuer Stärke geführt und vergleichbare Ansätze müssen ausgebaut werden. Mittlerweile sollte eigentlich überall die Einsicht erreicht worden sein, dass nichtnachhaltige Produktionsweisen schlicht eine Externalisierung von Kosten bedeuten. So gewinnen Unternehmen, aber auch der Staat auf Kosten der nächsten Generationen. Wir nehmen aktuell einen kostenlosen Kredit auf, indem wir Gewinne heute realisieren, Folgekosten dafür aber von kommenden Generationen tragen lassen. Die Absurdität dieser Wirtschaftsweise zeigt sich in Phänomenen wie dem Klimawandel. Einem liberalen Wirtschaftsminister müsste diese Gleichung eigentlich klar sein. Ich hoffe inständig, dass die schwarz-gelbe Regierung in den letzten Monaten ihrer Amtszeit dieser einfachen, aber folgenschweren Wahrheit deutlich mehr Beachtung schenkt, als sie es bisher getan hat. Eine Belebung des Umweltaudits, am besten vereinheitlicht auf Ebene der EU, wäre ein erster und richtiger Schritt. Judith Skudelny (FDP): Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung der Regelungsaufträge der Verordnung (EG) Nr. 1221/ 2009 in nationales Recht. Diese Verordnung über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung hat die EMAS-Verordnung über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung abgelöst. Das Umweltauditgesetz bezweckt die Verbesserung der Umweltleistungen der teilnehmenden Organisationen. Es ist damit Grundlage und Anreiz für Unternehmen und andere Organisationen, ihre Umweltleistung freiwillig, systematisch und effizient zu bewerten und zu verbessern. Geprüft werden alle Umweltauswirkungen, das heißt, alle positiven oder negativen Veränderungen der Umwelt, die ganz oder teilweise aufgrund der Tätigkeiten, Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmens eintreten, zum Beispiel der Ressourcenverbrauch, der aktuell aufgrund der Knappheit zahlreicher Ressourcen eine ganz wichtige Rolle spielt. Dabei wird der Eigenverantwortung der Wirtschaft bei der Bewältigung ihrer direkten und indirekten Umweltauswirkungen eine große Bedeutung beigemessen. Genau das ist der richtige Ansatz für eine liberale, verantwortliche und nachhaltige Umweltpolitik. Wesentliche Pfeiler zur Erreichung der Ziele des Umweltauditgesetzes sind die Zulassung unabhängiger, zuverlässiger und fachkundiger Umweltgutachter und Umweltgutachterorganisationen sowie deren Aufsicht und die Registrierung der geprüften Organisationen. Eine der wichtigsten Neuerungen ist, dass die EU-Mitgliedstaaten nun die Möglichkeit haben, auch eine EMAS-Registrierung für Organisationen anzubieten, die ihren Sitz außerhalb der EU haben, Stichwort: EMAS Global. Entsprechendes Interesse wurde von interessierten Wirtschafts- und Regierungskreisen von außerhalb der Europäischen Union artikuliert. Zusätzlich eröffnet sich auch ein weiteres Betätigungsfeld für die deutschen Umweltgutachter. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Voraussetzungen hierfür geschaffen. Es enthält Vorgaben für die Erweiterung der Umweltgutachterzulassung und für das Registrierungsverfahren für außereuropäische Standorte. Dies ist zu begrüßen, auch wenn nach Schätzungen aufgrund der bisherigen Auslandstätigkeit von Umweltgutachtern höchstens 22 Umweltgutachter von dieser Ergänzung ihrer Zulassung auf Drittländer einmalig Gebrauch machen werden. Außerdem wird durch den Gesetzentwurf die Registrierung von Teilstandorten abgeschafft. Hier bestand die Problematik, dass so bisher teilweise umweltrelevante Teile einer Anlage aus der EMAS-Registrierung ausgespart wurden. Dem soll nun ein Riegel vorgeschoben werden. Des Weiteren gibt es eine Neuerung im Bereich des Umweltgutachterausschusses. Die bisher ununterbrochene Berufungsdauer der Mitglieder des Umweltgutachterausschusses wird auf 6 Jahre begrenzt. So erhalten auch andere Branchen und Gutachter die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Dies ist aus marktwirtschaftlicher Sicht sehr zu unterstützen. Bislang schließt die Zulassung als Umweltgutachter die Befugnis ein, Zertifizierungsbescheinigungen nach DIN EN ISO 14001:2004 zu erteilen. Diese wird nun auf die Erteilung von Zertifizierungsbescheinigungen für Energiemanagementsysteme nach DIN EN 16001:2009 ausgedehnt. Begründet wird dies im Gesetz damit, dass die Anforderungen an ein Energiemanagementsystem in den Anforderungen für ein Umweltmanagementsystem nach EMAS enthalten seien und die entsprechende Kompetenz der Umweltgutachter daher bereits im Zulassungsverfahren abgeprüft würden. Auch dies ist als Verfahrensvereinfachung zu begrüßen. Neu ist außerdem, dass im Fall von befristeten Arbeitsverhältnissen mit juristischen Personen des öffentlichen Rechts nun eine Ausnahme vom sonst zwingenden Widerruf der Zulassung oder von der Fachkenntnisbescheinigung des Umweltgutachters besteht. Stattdessen gibt es ein Ausübungsverbot für den Zeitraum des befristeten Arbeitsverhältnisses, danach muss jedoch kein erneutes Zulassungsverfahren durchgeführt werden. Im Einzelfall kann auch eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Berufsfreiheit eine richtige Neuerung. Die Neuerungen des Umweltauditgesetzes sind grundsätzlich zu begrüßen, beschränken sich jedoch weitestgehend auf die notwendigen Korrekturen. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, auch insgesamt ein Fazit zum Umweltauditgesetz zu ziehen und mich nicht nur auf die Novellierungen zu beschränken. Das Umweltauditgesetz ist ein gutes Beispiel für freiwilligen, aber rechtlich verbindlichen Umweltschutz, ein freiwilliges Instrument des Umweltschutzes in Eigenverantwortung der betroffenen Wirtschaft. Dies ist sehr zu begrüßen und der richtige Ansatz in der Umweltpolitik. Gerade vor dem Hintergrund der Herausforderung von Klimawandel und Ressourcenverknappung ist das Umweltauditgesetz ein wichtiger und richtiger Ansatz mit seinen Maßnahmen zur Ressourcen- und Energieeffizienz. Für ein ehrliches Fazit ist meines Erachtens jedoch auch wichtig, die Bewährung des Umweltauditverfahrens an sich zu berücksichtigen. Dabei zeigt sich, dass es trotz der grundsätzlich sehr positiven Bewertung weiterhin Verbesserungsbedarf gibt. Betrachtet man die Bewährung des EMAS-Systems insbesondere auf EU-Ebene, so wird es hauptsächlich von vier Ländern – Deutschland, Österreich, Spanien und Italien – richtig angenommen. Diese Länder stellen 85,5 Prozent der am EMAS teilnehmenden Unternehmen. Im Rest der EU gibt es zusammen nur circa 607 vom EMAS zertifizierte Organisationen. Nach einer anfangs sehr regen Beteiligung der Unternehmen und Organisationen ist der Trend rückläufig. Gründe hierfür liegen darin, dass das EMAS-System international nicht anerkannt ist. Außerdem wird auch der zu hohe Bürokratieaufwand bemängelt. Wichtig ist meines Erachtens auch eine weitere Verbesserung der Außenwirksamkeit. Das Einsparen von Energie, Material, Abfall etc. ist ein wichtiger Erfolg des Unternehmens und muss als solcher, nicht zuletzt auch als Anreiz für andere Unternehmen, nach außen kommuniziert werden. Wichtig ist auch, das Umweltauditsystem so gut wie möglich den Bedürfnissen der großen Bandbreite an Unternehmen anzupassen und insbesondere auch neuen Entwicklungen gegenüber offen zu gestalten. Wünschenswert wäre, das Nebeneinander der bestehenden Managementsysteme abzuschaffen. Doppelspurigkeiten, hoher Abstimmungs- und Koordinationsaufwand, aber auch eine begrenzte Wirkung der Maßnahmen im Umweltbereich sind die Folge. Ziel muss es sein, ein flächendeckendes Umweltmanagement einzuführen. Das Umweltauditgesetz leistet hierzu einen wichtigen Beitrag. Sabine Stüber (DIE LINKE): Wussten Sie eigentlich, dass es Atomkraftwerke mit dem Zertifikat „besonders umweltfreundlich“ gibt? Das bayerische Atomkraftwerk Isar 1, das einen Tag nach dem Unfall von Fukushima abgeschaltet wurde, gehörte dazu. Auch Isar 2, das noch bis 2022 am Netz sein wird, ist als umweltfreundlich zertifiziert. Wie das?, frage ich mich. Was ist das für ein Unsinn? Aber nein, alles ging nach Recht und Gesetz zu. Das Umweltauditgesetz macht‘s möglich. Unternehmen, die sich freiwillig zu umweltfreundlichen Maßnahmen verpflichten und diese von einem anerkannten Berater überprüfen lassen, können sich von eben diesem Berater zertifizieren lassen. Es gibt keine Mindestanforderungen, keine messbaren Kriterien für die Umweltleistungen eines Unternehmens. Nein, das Unternehmen setzt ein Umweltmanagement ein, und das macht einen Plan und setzt sich seine Ziele selbst. Da reichen oft schon Energiesparlampen und Recyclingpapier im Büro. Kommen wir auf die bayerischen Atomkraftwerke zurück. Der Betreiber Eon hat regelmäßig in einem Bericht seine Umweltbemühungen im Atomkraftwerk Isar 2 veröffentlicht, die von einem anerkannten Berater geprüft wurden. Zu den Umweltaktivitäten gehörten neben der Pflege einer Orchideenwiese auch die saubere Mülltrennung. Na, das wollen wir doch hoffen, dass in einem Atomkraftwerk der Müll getrennt wird. So jedenfalls wurde das Atomkraftwerk Isar 2 als umweltfreundliches Unternehmen zertifiziert. Also, wenn das nicht des Kaisers neue Kleider sind! Umweltgefahren, die von einem Atomkraftwerk ausgehen, wurden nicht bewertet. Oder denken wir an die radioaktiven Abfälle, die produziert werden, und kein Mensch weiß, wohin damit für die nächsten Millionen von Jahren. All das spielt keine Rolle im Zertifizierungsverfahren, es gehört nicht zum „Prüfauftrag“. Von einer ökologischen Visitenkarte der Unternehmen sprechen die einen, von Lug und Trug die anderen. Ich halte es da mit Immanuel Kant, der die Menschen auffordert, den Mut zu haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Und ich stelle einfach mal in den Raum, dass wir hier einem Zertifizierungswahn aufsitzen. Nun gut, wenn Umweltaudit denn sein soll, dann sollten wir wenigstens versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber nein, die Zertifikate werden praktisch zum Nulltarif verteilt, und Unternehmen können damit ihr Image aufpolieren. Daran ändert leider auch der heutige Antrag nichts. Es geht um Formalien, um Zuständigkeiten und auch um Pfründe, die gesichert werden wollen. Welcher Gutachter darf wo in Europa zertifizieren? Das wird jetzt geregelt. Um Inhalte geht es nicht. Und das ist Wasser auf die Mühlen der kritischen Stimmen, denn substanzielle Umweltanforderungen an die Unternehmen wird es auch künftig nicht geben, dafür aber jede Menge grüne Mäntelchen aus der Ramschkiste. Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der heute hier zu beratende Gesetzentwurf ist wenig spektakulär. Mit dem Vorschlag passt die Bundesregierung das Umweltauditgesetz an neue Vorgaben der europäischen EMAS-Verordnung an. Die einzige maßgebliche inhaltliche Änderung, neben vielen redaktionellen, ist die Einführung der Möglichkeit, dass deutsche Umweltgutachter zukünftig auch Organisationen im Nicht-EU-Ausland prüfen können. Dies eröffnet den hochqualifizierten deutschen Umweltgutachtern ein neues Betätigungsfeld in Nicht-EU-Ländern und trägt dazu bei, dass die Idee des Umweltaudits international verbreitet wird. Wir begrüßen diese neu eingeführte Möglichkeit. Es gibt hierfür ein Interesse von vielen Unternehmen mit Sitz im Ausland, die das in Europa erprobte EMAS-System auch für ihr Umweltmanagement nutzen wollen. Bisher galt gerade die fehlende internationale Anerkennung als ein großer Nachteil für EMAS. Mit der Neuregelung wird daher ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu besserer internationaler Anerkennung gegangen. Das Umwelt-Audit-System hat sich als effektives Instrument des Umweltmanagements in vielen Unternehmen und Institutionen bewährt und den betrieblichen Umweltschutz nachhaltig verbessert. Wir sind sehr erfreut, dass das Umweltaudit heute in Deutschland allgemein anerkannt ist und vonseiten der Wirtschaft nicht als unnötige Last, sondern als wichtige Chance angesehen wird. Natürlich gibt es aber auch noch Verbesserungspotenzial bei EMAS und beim Umweltaudit. Den Vorwurf gegen EMAS, es würde allein dem Greenwashing dienen, teilen wir zwar nicht, aber es gibt durchaus gute Gründe, EMAS zu kritisieren. Das System erhält noch immer zu wenige konkrete, verbindliche Anforderungen. Die Berichtspflichten müssen erweitert und klar definierte Indikatoren für die Messung der Umweltleistung eingeführt werden. EMAS muss stärker hin zu einem echten Umweltzeichen für Betriebe entwickelt werden. Das EMAS-Zeichen muss zukünftig nicht allein Beleg für eine Auseinandersetzung mit Umweltmanagement sein, es muss ein Zeichen für einen umweltfreundlichen Betrieb werden. Daher muss die Bundesregierung sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, EMAS weiter zu stärken. Dazu bedarf es einer Anschärfung der Regeln, aber auch die öffentliche Bekanntheit und Anerkennung des Zertifizierungssystems müssen verbessert werden. Dafür werden wir Grüne uns hier im Bundestag und im Europäischen Parlament einsetzen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7490, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6611 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die gleichen Fraktionen wie zuvor. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Das ist die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Silberhorn, Monika Grütters, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken – Drucksache 17/7357 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Sie haben Verständnis dafür, dass ich sie nicht vorlese. Monika Grütters (CDU/CSU): „Was lange währt, wird endlich gut“, heißt es in einem schönen deutschen Sprichwort, und so sind wir erleichtert und auch froh, heute hier – nach langen Beratungen – diesen Antrag zur Stärkung der UNESCO-Welterbestätten in Deutschland vorlegen zu können. Weltkultur- und Weltnaturerbestätten besitzen einen außergewöhnlichen Wert nicht nur für die eigene Nation, sondern für die gesamte Menschheit. Welterbestätten stehen beispielhaft für herausragende Kulturleistungen; und sie geben wichtige Impulse für die jeweilige Region. Viele Generationen haben diese bis heute unter oft schwierigsten Umständen geschützt, erhalten und zu dem gemacht, was sie heute sind. 1972 hat die UNESCO das internationale „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ verabschiedet. Der Schutz von Kultur- und Naturdenkmälern mit „außergewöhnlichem universellen Wert“ liegt nicht in der Hand einzelner Staaten, sondern ist Aufgabe der gesamten Menschheit. Deutschland hat dieses Übereinkommen 1976 ratifiziert; mittlerweile wurde diese Konvention von 184 Staaten unterzeichnet. Im kommenden Jahr begehen wir das vierzigste Jubiläum dieses Übereinkommens – und es ist eine großartige Erfolgsgeschichte. Zum Kulturerbe gehören Baudenkmäler, Städteensembles, Kulturlandschaften, Industriedenkmäler und Kunstwerke. Das Naturerbe umfasst neben geologischen Formationen, Fossilienfundstätten und Naturlandschaften auch Schutzreservate der Tiere und Pflanzen, die vom Aussterben bedroht sind. Heute sind 936 Kultur- und Naturstätten in 153 Staaten auf der UNESCO-Liste des Welt- und Kulturerbes verzeichnet: 725 Kulturdenkmäler, 183 Naturerbestätten und weitere 28 Stätten, die zu beiden Kategorien zählen. Ein Teil dieser Stätten ist aufgrund geografisch-historischer Gegebenheiten sogar grenzüberschreitend. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit insgesamt 36 Welterbestätten auf der UNESCO-Liste des Kultur- und Welterbes vertreten. Zuletzt aufgenommen wurden die Berliner Siedlungen der Moderne (2008), das Wattenmeer (2009, 2011 ergänzt um den Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer), die „Oberharzer Wasserwirtschaft“ als Erweiterung der Welterbestätte Erzbergwerk Rammelsberg und die Altstadt Goslar (2010). In diesem Sommer sind drei weitere Stätten hinzugekommen: das „Fagus-Werk“ im niedersächsischen Alfeld (die von Walter Gropius und Adolf Meyer entworfene Schuhfabrik gilt als Schlüsselbau der Moderne), die „Alten Buchenwälder Deutschlands“ als serielle Erweiterung der bereits 2007 in die Welterbeliste aufgenommenen Buchenurwälder der Karpaten und die „Prähistorischen Pfahlbauten rund um die Alpen“ als grenzüberschreitendes Weltkulturerbe. Die Verleihung des UNESCO-Welterbe-Titels ist nicht nur eine große Chance, denn sie bedeutet internationale Anerkennung – es ist zugleich die große Verpflichtung, für den fortdauernden Schutz und den Erhalt des gemeinsamen Erbes der Menschheit Sorge zu tragen. Daher unterstützt der Bund in großem Umfang die deutschen Welterbestätten. So fördert der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM, Welterbestätten institutionell: die Museumsinsel in Berlin, die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, die Stiftung Weimarer Klassik etc. Das Programm „National wertvolle Kulturdenkmäler“ gilt der Substanzerhaltung und Restaurierung gesamtstaatlich bedeutender Baudenkmäler; beträchtliche Mittel werden auch für denkmalpflegerische Maßnahmen im Bereich der UNESCO-Welterbestätten eingesetzt. Im Rahmen der Programme „Städtebaulicher Denkmalschutz“ und „Städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen“ unterstützt der Bund die Welterbestätten seit Jahren finanziell – 2011 kommen weitere Bundesfinanzhilfen in Höhe von 92 Millionen Euro zur Förderung des städtebaulichen Denkmalschutzes dazu (62 Millionen Euro für die neuen und 30 Millionen Euro für die alten Länder). Besonders hervorzuheben ist das Programm zur Förderung von Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten: seit 2009 fördern wir die deutschen Welterbestätten durch zwei Sonderprogramme mit insgesamt 220 Millionen Euro in Umsetzung der Empfehlungen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ (2009 bis 2013 insgesamt 150 Millionen Euro Programmmittel für die nationalen UNESCO-Welterbestätten, für die Jahre 2010 bis 2014 stehen weitere rund 70 Millionen Euro zur Verfügung). Die deutschen Welterbestätten verdienen es – mehr noch als bisher geschehen –, in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt zu werden, um den Erhalt des Welterbes für die künftigen Generationen zu sichern und gleichzeitig ihr wirtschaftliches, baukulturelles und Stadtentwicklungspotenzial zu stärken. Hierauf hatte ja bereits der Abschlussbericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hingewiesen. Die UNESCO-Welterbestätten bergen ein vielfältiges Potenzial, das wir schützen und stärken müssen. Wir möchten mit unserem Antrag daher vor allem das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für diese Schätze schärfen. So soll das touristische Potenzial der UNESCO-Welterbestätten noch stärker ausgeschöpft werden, zum Beispiel durch die Schaffung eines „UNESCO-Welterbetickets“. Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, den Bildungsauftrag der Welterbestätten durch engere Kooperation mit Schulen weiterzuentwickeln und den Welterbegedanken im Unterricht sowie in der außerschulischen kulturellen Bildung zu verankern. Bedingung dafür ist aber natürlich, dass die finanzielle Unterstützung von UNESCO-Welterbestätten auch in Zukunft ermöglicht wird. Mit Sicherheit steht die Steigerung der wirtschaftlichen Profitabilität der deutschen Weltkulturerbestätten nicht an erster Stelle unserer Überlegungen. Wichtig ist die Anerkennung, dass kulturelle Güter und Dienstleistungen einen Doppelcharakter haben: den nämlich als Wirtschaftsgüter einerseits und den als Ausdrucksform der individuellen nationalen, regionalen oder auch lokalen Kultur andererseits. Art. 5 der Welterbekonvention verpflichtet jeden Beitrittsstaat zu der Bemühung, seine Welterbestätten im Rahmen der Gegebenheiten seines Landes zu schützen, um „… zu gewährleisten, dass wirksame und tatkräftige Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen Kultur- und Naturerbes getroffen werden …“. Es geht um nichts weniger als das Gesicht der Kulturnation Deutschland. Diesem Schutzauftrag der Konvention entsprechend stellen wir deshalb finanzielle Mittel für die Förderung und Finanzierung der UNESCO-Welterbestätten bereit. Ich bin dennoch überzeugt, dass wir vor allem zur Unterstützung des privaten Engagements zusätzlich auch noch prüfen sollten, ob Welterbegebiete ähnlich wie Sanierungsgebiete nicht von einer höheren steuerlichen Absetzbarkeit profitieren könnten (vergleiche § 10 g EStG). In mehr als 70 Ihrer Wahlkreise befinden sich unsere Welterbestätten – wenn das nicht geradezu eine Pflicht, aber auch eine große Lust ist, mit Leidenschaft diese kulturpolitische Trommel zu rühren! Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag „UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken“ sendet ein klares Signal: Wir bekennen uns zu unserem kulturellen Erbe und zu der Verantwortung, die daraus entsteht. Unsere Kultur- und Naturerbestätten für nachfolgende Generationen zu bewahren, ist eine Verpflichtung, die wir gerne eingehen. Schaut man auf unsere heute bereits 36 UNESCO-Welterbestätten in Deutschland, so erkennt man, welche Bandbreite an herausragenden Schätzen der Menschheit wir besitzen: von Städten wie Bamberg, dem größten zusammenhängenden Altstadtensemble Deutschlands, über die Berliner Museumsinsel mit ihren einzigartigen Meisterwerken aus 6 000 Jahren Menschheitsgeschichte bis zum Wattenmeer als weltweit einmaligem Lebensraum für mehr als 10 000 Tier- und Pflanzenarten. Aus diesem Reichtum entsteht eine große Verpflichtung. Nur ein Zusammenwirken aller Beteiligten aus Bund, Ländern und Kommunen, von Kirchen, Stiftungen und Privaten kann den Erhalt und Schutz dieser Stätten gewährleisten. Den Ländern und Kommunen obliegt dabei die Hauptverantwortung. Sie haben den besonderen Bedürfnissen der Welterbestätten bei ihren raumordnerischen und stadtentwicklungspolitischen Zielsetzungen Rechnung zu tragen. Die Denkmalschutzgesetze der Länder sollten daher vergleichbar hohe Standards gewährleisten. Der Bund unterstützt bereits seit vielen Jahren in erheblichem Umfang die deutschen Welterbestätten. So kamen etwa das Programm „National wertvolle Kulturdenkmäler“ des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Städtebauförderung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auch den UNESCO-Welterbestätten zugute. Vor allem aber ist es 2009 gelungen, bis 2013 150 Millionen Euro zur Förderung von Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten bereitzustellen. Für die Jahre 2010 bis 2014 stehen weitere rund 70 Millionen Euro zur Verfügung. Mit diesem Programm ist es gelungen, die zuvor nur partielle Förderung einiger weniger Welterbestätten so zu erweitern, dass alle deutschen Welterbestätten nach denselben Kriterien davon profitieren können. Noch nie ist in so kurzer Zeit so viel in den Erhalt unseres Kultur- und Naturerbes investiert worden. Wir sollten daher alles daransetzen, diese finanzielle Unterstützung der UNESCO-Welterbestätten durch den Bund über 2014 hinaus zu ermöglichen. Die deutschen UNESCO-Welterbestätten und touristische Organisationen haben sich in dem Verein UNESCO-Welterbestätten Deutschland zusammengeschlossen. Dessen Ziel ist es, die deutschen Welterbestätten bekannter zu machen, Denkmalschutz und Tourismus besser zu koordinieren und dadurch auch deren wirtschaftliche Potenziale stärker als bisher auszuschöpfen. Ein wichtiger Schritt hierzu ist die Erstellung von Managementplänen der einzelnen Welterbestätten, die bisher nur für die ab dem Jahr 2000 aufgenommenen Welterbestätten existieren. Auch sollten die Möglichkeiten der touristischen Erschließung besser genutzt werden. Besonders hervorheben möchte ich die Idee eines UNESCO-Welterbetickets. Ein Sonderfahrschein der Deutschen Bahn für Fahrten zu den verschiedenen UNESCO-Welterbestätten würde die Entdeckung unseres Kultur- und Naturerbes zu einem ganz neuen Erlebnis für Besucher aus dem In- und Ausland werden lassen. Von wachsender Bedeutung für die Träger der UNESCO-Welterbestätten ist die Bildungs- und Forschungsarbeit. Sie bietet die Chance, durch fachgerechte und zeitgemäße Wissensvermittlung über die jeweilige Welterbestätte den Einheimischen wie den Besuchern die Wertschätzung für diese besonderen Orte nahezubringen und das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung und die Bewahrung von Welterbestätten zu fördern. Ich will nicht verschweigen, dass der nun vorliegende Antrag keine leichte Geburt war und einige Kompromisse beinhaltet. Ich bedaure es, dass mein Anliegen nicht aufgenommen werden konnte, für Welterbegebiete die gleiche steuerliche Absetzbarkeit von Investitionen wie in städtebaulichen Sanierungsgebieten zumindest zu prüfen. Da heute oft ganze Ensembles und nicht nur einzelne Gebäude zu Welterbestätten erklärt werden, sind viele Privatleute Einschränkungen für Bau- und Sanierungsmaßnahmen unterworfen, ohne dass es sich um Denkmäler handelt. Die Vergleichbarkeit von Welterbeschutzgebieten mit städtebaulichen Sanierungsgebieten liegt daher nahe. Eine entsprechende steuerliche Absetzbarkeit zu prüfen, wäre ein wichtiges Signal zur Unterstützung des privaten Engagements für unsere Welterbegebiete. Denn es kann nur in unser aller Interesse sein, dass Investitionen Privater zum Erhalt der Welterbestätten beitragen. Der Schutz des UNESCO-Welterbes in Deutschland entwickelt sich derzeit ausgesprochen positiv und verdient unsere weitere Unterstützung. Wir beglückwünschen die 2011 neu in die Liste aufgenommenen Welterbestätten Fagus-Werk in Alfeld, die in Deutschland gelegenen prähistorischen Pfahlbauten rund um die Alpen sowie die Alten Buchenwälder Deutschlands. Auch unterstützen wir die Neubewerbungen zur Aufnahme in die Welterbeliste und die Kandidatur Deutschlands für einen Sitz im Welterbekomitee. Ich freue mich zudem über die positive Resonanz auf unsere Koalitionsinitiative zur Ratifizierung der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe. Damit wird es fortan auch möglich sein, Bräuche, Handwerkstechniken, Volkslieder, Märchen oder Minderheitensprachen, die unser kulturelles Erbe ebenso ausmachen wie die materiellen Kulturleistungen, im Rahmen des immateriellen Kulturerbes der Menschheit zu bewahren. Auch zollen wir damit den Ländern in Afrika, Australien und Asien Respekt, die ihre Kulturleistungen von Generation zu Generation überliefert und nicht in Stein gemeißelt haben. Deutschland ist bekanntlich nicht reich an Bodenschätzen. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere kulturellen Schätze und unser Naturerbe bewahren und fördern. Dazu bekennen wir uns ausdrücklich – nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Über die hohe Bedeutung des UNESCO-Übereinkommens für das Welterbe sind wir uns alle einig. International erfährt das UNESCO-Übereinkommen höchste Anerkennung. Die UNESCO-Welterbestätten sind Zeugen der Geschichte, sie haben hohen Wert für die nationale und regionale Identität. Sie sind Tourismusmagneten und tragen in hohem Maße zur wirtschaftlichen Entwicklung in den Kommunen und Regionen bei. Meine Damen und Herren von Union und FDP, auch in ihrem Antrag stellen Sie die Vorzüge der Welterbestätten in Deutschland heraus – und auch ihrer Förderung. Dementsprechend fordern Sie, dass die Welterbestätten auch in Zukunft finanziert werden sollen und die Bundesregierung die Welterbestätten nachhaltig fördern soll. Man muss sich schon sehr wundern, dass Sie, Union und FDP, gleichzeitig – sowohl in den Fachausschüssen als auch im Haushaltsausschuss – ablehnen, das überaus erfolgreiche Investitionsprogramm zum Weltkulturerbe nach 2014 fortzuführen. Das ist nicht nur dreist, sondern doppelzüngig. Auch Verkehrsminister Ramsauer betont ausdrücklich die Vorzüge des Investitionsprogramms in der Broschüre des Verkehrsministeriums – für die wirtschaftliche Entwicklung und die Stadtentwicklung, als Erfolgsgeschichte. Das ist es auch. Nur ist das nicht das Verdienst von Herrn Minister Ramsauer. Sein Vorgänger Bundesminister Tiefensee hat es initiiert und eingesetzt, es hat sich bewährt und es hat eine große Resonanz. Das steht auch in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von Union und FDP. Aber wenn das so ist, nennen Sie einen Grund, warum Sie den vorliegenden Antrag einbringen, wenn Sie gleichzeitig dieses anerkannte, bewährte und investiv ausgerichtete Programm, das im Ergebnis Wertschöpfung schafft und das die kulturelle Identität von Regionen stärkt, einstellen wollen. Das ist schlicht unlogisch, oder Sie wollen die Wähler täuschen. Wir sind stolz, dass Deutschland mittlerweile 36 Welterbestätten beheimatet. Der Aachener Dom mit seinem karolingischen Erbe, die Berliner Museumsinsel mit ihren epochalen Kulturschätzen, das klassische Weimar, das Welterbe in Trier sind Stätten mit weltgeschichtlicher Bedeutung, Zeugnisse der bewegten Geschichte Deutschlands. Auch das wunderschöne Dresdner Elbtal zählte zu diesen Welterbestätten. Ich finde es schon ein wenig merkwürdig, dass in dem Antrag von Union und FDP der Streit um die Aberkennung des Dresdner Welterbestatus oder die Debatten dazu aus der letzten Legislaturperiode mit keinem Wort Erwähnung finden. Ihr Antrag ist auf dem Stand der letzten Legislaturperiode, nahezu wortgleich. Da wollten wir schon einmal eine gemeinsame Initiative starten, und da wollten Sie nicht mitgehen, als es beispielsweise um ein Verfahren zur Lösung von Konflikten ging, wie sie sich beim Dresdner Welterbe aufgetan haben. Wer die Vorzüge aufzählt, darf die Probleme nicht weglassen. Auch eine mögliche Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens in Deutschland findet mit keinem Wort Erwähnung. Ihr Antrag ist zum großen Teil Makulatur und bleibt es, wenn Sie nicht für die notwendige finanzielle Ausstattung sorgen. Die SPD hat sich in den bisherigen Haushaltsberatungen entschieden dafür eingesetzt, das UNESCO-Investitionsprogramm auf dem bisherigen Niveau weiterzuführen. Das werden wir auch weiterhin tun, und wir fordern Sie auf, endlich mit einer Stimme zu sprechen und nicht bei der Finanzierung der Welterbestätten zu sparen. Reiner Deutschmann (FDP): Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen einen Text von der Webseite der Deutschen UNESCO-Kommission zitieren, der die Bedeutung der UNESCO-Welterbestätten auf den Punkt bringt. Dort steht Folgendes geschrieben: „Was verbindet den Kölner Dom mit den Pyramiden Ägyptens, den Mont Saint-Michel mit dem Tadsch Mahal, oder die Inkastadt Machu Picchu in Peru mit dem Ngorongoro-Krater in Tansania? Es sind Zeugnisse vergangener Kulturen, künstlerische Meisterwerke und einzigartige Naturlandschaften, deren Untergang ein unersetzlicher Verlust für die gesamte Menschheit wäre. Sie zu schützen, liegt nicht allein in der Verantwortung eines einzelnen Staates, sondern ist Aufgabe der Völkergemeinschaft.“ Deutschland allein kümmert sich derzeit um 36 von weltweit über 900 UNESCO-geschützten Natur- und Kulturstätten. Der Welterbetitel ist international bekannt, geachtet und als Gütesiegel ein Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt. Dies ist für die christlich-liberale Koalition zugleich Verpflichtung für den fortdauernden Schutz der Welterbestätten in Deutschland. In angemessenem Rahmen bemühen wir uns auch, über die Grenzen Deutschlands hinaus für die Welterbestätten Sorge zu tragen. Mit unserem Antrag „UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken“ geht es uns darum, die Einzigartigkeit und Schönheit der Welterbestätten noch besser herauszustellen, mehr Aufmerksamkeit auf sie zu lenken und diese noch interessanter für ein breiteres Publikum zu machen. Die Stärkung der nationalen Welterbestätten ist für die christlich-liberale Koalition ein wichtiger Pfeiler, um die touristische Attraktivität Deutschlands zu sichern und weiter auszubauen. Deutschland ist das unangefochtene Urlaubsland Nummer eins der Deutschen, und jedes Jahr steigt die Anzahl der Gäste aus dem Ausland, die die Vielfalt Deutschlands zu schätzen wissen. Interessanterweise verzeichnen die Besucherzahlen aus Indien und China laut der Deutschen Zentrale für Tourismus die größten Wachstumsschübe. Um diese erfreuliche Entwicklung positiv zu begleiten, sind Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung nötig. Nur so kann der Tourismussektor auf seinem hohen Niveau gehalten werden. Hier weiß ich die Tourismuswirtschaft an unserer Seite; das wurde gerade erst auf dem 15. Tourismusgipfel, der letzte Woche in Berlin stattfand, deutlich. Sie arbeitet ständig daran, die an sie gestellten hohen Ansprüche auch zu erfüllen. Gerade die vielen Kulturtouristen erwarten das. Deutschland sieht sich zu Recht als Kulturnation. Dies kommt nicht nur in dem reichen künstlerischen und literarischen Erbe, sondern durchaus auch in den Welterbestätten zum Ausdruck. Bund, Länder und Gemeinden leisten schon heute einen großen Beitrag zum Schutz der Welterbestätten. Trotz der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder für die Bereiche der Kulturförderung und des Denkmalschutzes fördert auch der Bund die Welterbestätten, so zum Beispiel durch den Haushalt des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. So fördert der BKM unter anderem die Berliner Museumsinsel, die Klassik-Stiftung Weimar oder den grenzüberschreitenden Fürst-Pückler-Park in Bad Muskau. Wir sind durchaus zufrieden mit dem derzeitigen Stellenwert, den die 36 Natur- und Kulturstätten Deutschlands innehaben. Wir sind aber auch der Meinung, dass man die Welterbestätten noch attraktiver für seine zukünftigen Besucher aus dem In- und Ausland gestalten sollte. Dazu gehört neben einer verstärkten kulturtouristischen Anstrengung auch eine Ausweitung der Bildungsarbeit in den Welterbestätten. Darüber hinaus sollte, so wie auch durch die UNESCO selbst gefordert, die flächendeckende Erstellung von Managementplänen für die Welterbestätten einer der nächsten Schritte sein, um einen höheren Grad der nationalen und internationalen Vernetzung der Stätten zu erreichen. Ein Managementplan könnte auch hilfreich sein, um neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Damit würde sich idealer-weise ein neuer Spielraum bei der Gestaltung des Angebots rund um die UNESCO-Stätten auftun. Insbesondere sollten die Synergien einer engeren Zusammenarbeit der unterschiedlichen Handlungsebenen genutzt werden. Wir wünschen uns von der Bundesregierung, das ihr Mögliche zu tun, um das wirtschaftliche und kulturelle Potenzial der Welterbestätten noch besser zu nutzen. Die bessere Ausschöpfung des ohne Zweifel vorhandenen touristischen Potenzials in Kombination mit stärkerer Bildungs- und Forschungsarbeit sowie überzeugende Managementpläne sollten es Deutschland ermöglichen, die Welterbestätten für die Aufgaben der Zukunft wetterfest zu machen. Dies brächte im Ergebnis nicht nur das Interesse und die Aufmerksamkeit neuer Besucherkreise, sondern wäre auch im Interesse der kulturellen Vielfalt Deutschlands. Auch volkswirtschaftlich ist dies sinnvoll, insbesondere da in einigen Regionen in Deutschland der Tourismus zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählt. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Welch großes Anliegen und welch schmalbrüstiger Antrag, in dem alle wesentlichen Forderungen zur UNESCO-Konvention fehlen. Worum es der Koalition hier vor allem geht, ist die wirtschaftliche Auswertung der Welterbestätten durch den Tourismus. Einem solchen Antrag können wir nicht zustimmen. 2006 schon hatte die Linke beantragt, dass Bundestag und Bundesregierung in Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen mit 30-jähriger Verspätung (!) Position beziehen müssten – ohne Erfolg. 2009 wurde der Antrag der Grünen, ein Umsetzungsgesetz für das UNESCO-Welterben, vorzulegen abgelehnt. Heute nun haben wir uns mit einem Antrag von CDU/CSU und FDP zu befassen, in dem noch immer die wesentliche Forderung nach der Umsetzung der UNESCO-Welterbekonvention in deutsches Recht, also nach einem „Umsetzungs-“ oder „Ausführungsgesetz“, fehlt. Als wäre die höchst bedauerliche Streichung des Dresdner Elbtals von der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes 2009 nicht Grund genug, uns zu zeigen, dass wir in Deutschland dringend ein solches Ausführungsgesetz benötigen. Zwar hat der Denkmalschutz in fast allen Bundesländern Verfassungsrang. Es gibt aber keine konkreten landesgesetzlichen Regelungen zum Schutz des Welterbes, geschweige denn ein Bundesgesetz. Innerstaatlich ist die Welterbekonvention noch immer nicht durch ein Vertragsgesetz umgesetzt worden. In rechtlichen Konfliktfällen kann diese Konvention deshalb keine Wirkung entfalten. Der Denkmalschutz ist dadurch deutlich geschwächt. Das muss dringend verändert werden. In epischer Breite wird in dem vorliegenden Antrag das finanzielle Engagement des Bundes bei den Welt-erbestätten geschildert. Kein Wort aber fällt zu der wirklich nötigen finanziellen Untersetzung. Das ist kein Wunder, denn real will die Koalition die im Haushalt 2011 vollzogene Kürzung bei der Städtebauförderung und damit auch bei den Denkmalschutzprogrammen 2012 fortsetzen. Notwendig wäre aber eine Erhöhung der Städtebauförderung mindestens auf das Niveau von 2010. Und wo ist das deutliche Bekenntnis zur Fortsetzung des erfolgreichen Sonderförderungsprogramms „Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten“ im bisherigen Rahmen? Auch hierzu kein klares Wort. Dieser Antrag ist – fast vier Jahre nachdem der Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ mit umfangreichen Handlungsempfehlungen zu diesem Thema mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedet wurde – zutiefst enttäuschend. Denn an erster Stelle stand schon damals die Forderung nach einem Ausführungsgesetz. Bei dieser Forderung sind wir als Linke, wie auch die Grünen, strikt geblieben. Nicht so die anderen Parteien, die sich sehr wetterwendisch zeigten. Ich erinnere daran, dass die FDP ihre Haltung zu dieser gesetzlichen Regelung diametral verändert hat. Noch 2009 erklärte sie öffentlich: „Die höchst bedauerliche Streichung des Dresdner Elbtals von der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes zeigt schwarz auf weiß, dass wir in Deutschland dringend ein Ausführungsgesetz benötigen.“ Die geltenden rechtlichen Bedingungen genügten nicht mehr den Ansprüchen der Konvention. Heute feiert sie nur noch den Beitrag, den die Welt-erbestätten zur Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland leisten, und fordert vermehrte Anstrengungen, das wirtschaftliche Potenzial der Welterbestätten stärker zu nutzen. Was für ein Sinneswandel! Die SPD hat als damaliger Koalitionspartner laviert und vermieden, eine klare Position zu beziehen. Ein Umsetzungsgesetz solle in der nächsten Wahlperiode geprüft werden. Wir sind gespannt, welche Haltung sie heute hat. Der entscheidende Grund für Ihren Antrag scheint mir nicht die von Ihnen betonte „große Verpflichtung für den fortdauernden Schutz und die Erhaltung des gemeinsamen Erbes der Menschheit“ zu sein, sondern hier soll ganz ungeniert die wirtschaftliche Auswertung der Welterbestätten befördert werden. So der Punkt zwei in Ihrem Antrag – im Übrigen auch der weitaus konkreteste. Wir aber wollen das Kulturerbe nicht wirtschaft-lichen Interessen untergeordnet sehen. Für uns steht der Schutz der kulturellen Substanz klar im Vordergrund. Das sollte sich auch in den Forderungen eines Antrages zum Weltkulturerbe widerspiegeln. Die öffentliche Hand, die Bundesregierung, muss endlich in angemessener Weise die Verantwortung übernehmen. Ja: „Weltkulturerbestätten können nur erhalten, geschützt und entwickelt werden im Zusammenwirken mit der Gesellschaft, die sie ererbt oder aus der sie kulturell und materiell hervorgegangen ist“ – wie es in Ihrem Antrag heißt. Und es sind alle Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen und mit verschiedenem Status im öffentlichen, privaten oder gemeinnützigen Sektor aufgerufen, für den Erhalt des Welterbes zusammenzuarbeiten. Der Bund aber hat in dieser Sache eine klare nationale Verantwortung, die er auch entsprechend wahrnehmen muss: Er muss die entsprechenden rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen schaffen. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im nächsten Jahr jährt sich zum 40. Mal die Verabschiedung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt. Die Bundesrepublik hat die Konvention vor 35 Jahren ratifiziert und ist inzwischen mit 36 Stätten auf der Welterbeliste vertreten. Weitere Stätten stehen auf der Vorschlagsliste oder sind auf dem Weg zur Bewerbung. Wir müssen uns intensiv um die bestehenden Stätten kümmern und sie im Rahmen unserer finanziellen und gesetzgeberischen Möglichkeiten unterstützen. Und natürlich dürfen wir auch nicht nachlassen, weitere Bewerber zu ermutigen. Denn wir haben ein unvorstellbar reiches Kulturerbe, das nicht nur uns gehört, sondern auch den kommenden Generationen, allen Menschen dieser Welt. Wir begrüßen es, dass die Regierungskoalition sich Gedanken darüber macht, wie wir das Welterbe weiter stärken und besser schützen können. Mit vielen Vorschlägen und Forderungen im Koalitionsantrag stimmen wir überein. Tatsächlich müssen wir unsere Kräfte zum Schutz der Stätten zusammenführen und koordinieren. Auch das touristische Potenzial der Stätten sollte weiter erschlossen werden. Ebenso sollte die Bildungs- und Forschungsarbeit bei der institutionellen Förderung unterstützt werden, denn das ist ja ein wesentlicher Beitrag, um die Stätten lebendig zu halten. Wichtig ist es auch, auf Barrierearmut hinzuwirken, damit wirklich alle Menschen Zugang haben. Und auch die Erstellung von Managementplänen kann die Stätten organisatorisch stärken. Auch im Abschlussbericht der Enquete-Kommission Kultur finden sich entsprechende Empfehlungen und es ist gut, dass es hier einen tragfähigen Konsens zwischen den Fraktionen gibt. Doch bei aller Übereinstimmung sehen wir Grüne zwei wichtige Punkte, die im Antrag fehlen bzw. zu kurz kommen: Einmal werden keine Konsequenzen aus der Aberkennung des Welterbestatus für Dresden gezogen. Zum anderen werden die besonderen Probleme des Weltnaturerbes zu wenig berücksichtigt. Die Aberkennung des Welterbestatus für Dresden, die aus dem Bau der Waldschlößchenbrücke resultierte, war ein Vorgang, der weltweit Aufsehen erregte. Das war ein Fanal für die Stadt, für das Land Sachsen, für den Kulturstandort Bundesrepublik. Und es war nicht nur ein „Politikum“, wie einige meinten, ein Einzelfall, aus dem man keine allgemeinen Rückschlüsse ziehen müsste. Risiken für den Welterbestatus gab und gibt es auch anderswo: in Potsdam, in Köln, im Mittelrheintal. Die Enquete-Kommission Kultur hat klare Empfehlungen zum Welterbe ausgesprochen, an erster Stelle die Empfehlung an die Bundesregierung, in Abstimmung mit den Ländern ein Vertragsgesetz zum Schutz des Welterbes auf den Weg zu bringen, um die Welterbe-Konvention mit einer innerstaatlich verpflichtenden Bindungswirkung auszustatten. Das haben seinerzeit alle Fraktionen in der Enquete-Kommission unterstützt. Ein Antrag unserer Grünen-Fraktion aus dem Jahr 2009, der nach Dresden mit dieser Empfehlung ernst machen wollte, fand aber leider nur die Unterstützung der damaligen Oppositionsfraktionen. Die Große Koalition lehnte ab, mit Begründungen, die nicht nur für mich, sondern wohl auch für Kulturpolitikerinnen und -politiker aus SPD und Union nicht ganz überzeugend sein dürften. Dass ein solches Umsetzungsgesetz etwa Bürokratie schaffen würde, sehe ich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Bei Dresden wäre viel Bürokratie erspart worden, wenn das Welterbe einen klaren Schutzstatus hätte. Dass man sich mit den Gründen für die Ablehnung eines Umsetzungsgesetzes seinerzeit nicht ganz sicher war, zeigte sich auch daran, dass eine erneute Prüfung eines solchen Gesetzes für die gegenwärtig laufende Legislaturperiode angekündigt worden war. Zu einer solchen – unvoreingenommenen – Prüfung möchte ich die Koalition nun auffordern. Der Schutz des Welterbes ist es wert. Unser zweiter größerer Kritikpunkt am Antrag der Koalition ist die unzureichende Berücksichtigung des Weltnaturerbes. Mit dem Wattenmeer und jüngst auch den Buchenwäldern haben wir bedeutende Naturerbestätten hinzugewonnen, die teilweise sogar grenzübergreifend sind. Darüber freuen wir uns. Auch wenn der Naturschutz in die Zuständigkeit der Länder fällt, ist die gesamtstaatliche und sogar internationale Relevanz dieser Stätten denkbar groß. Wir sollten nun sehen, wie wir das Naturerbe angemessener in den Förderstrukturen berücksichtigen können. Wir begrüßen, dass das Wattenmeersekretariat jüngst per Gesetz die Möglichkeit erhielt, selbst Fördermittel zu beantragen. Das ist gut für diesen Teil des Naturerbes, aber die Buchenwälder haben nichts davon. Wichtig ist es, die Förderinstrumente besser auf die relevanten Träger zuzuschneiden, ohne dabei jedem Träger per Gesetz einen passenden Rechtsstatus verpassen zu müssen. Dazu sollte insbesondere das auf Kommunen zugeschnittene Förderprogramm „Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten“ leichter für andere Träger wie Nationalparkverwaltungen und grenzübergreifende Vorhaben zugänglich werden. Auch hier sehen wir einen wichtigen Ergänzungsbedarf im Koalitionsantrag. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7357 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist dies so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Strategie gegen Lebensmittelverschwendung entwickeln – Drucksache 17/7458 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.7 – Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7458 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) – Drucksache 17/6263 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksachen 17/7469, 17/7524 – Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Daniel Volk Dr. Thomas Gambke – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 17/7515 – Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider (Erfurt) Otto Fricke Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz (Herborn) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben.8 – Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/7469 und 17/7524, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6263 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Das sind die Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mineralölhaltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier und Lebensmittelverpackungen verbieten – Drucksache 17/7371 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Carola Stauche (CDU/CSU): Wir stimmen heute über einen Antrag der Linksfraktion ab, den wir – das wird Sie sicherlich nicht überraschen – ablehnen. Wir lehnen diesen Antrag nicht ab, weil wir uns der Problematik von durch Mineralölbestandteile verunreinigten Lebensmitteln nicht bewusst sind. Wir als CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wissen um die möglichen Folgen, welche durch aromatische Mineralölkohlenwasserstoffe in Lebensmitteln verursacht werden können. Die Ablehnung des Antrags der Linksfraktion bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass wir den Plänen des BMELV unkritisch gegenüberstehen. Wir setzen bei der Lösung des Problems – anders als die Linksfraktion – nicht auf Verbote und Vorschriften, sondern wir sind der Überzeugung, dass nur eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Beteiligten zu einer sinnvollen Lösung führen kann. Erzeuger von Lebensmitteln, die Papier- und Verpackungsindustrie, die Druckindustrie und die Hersteller von Druckfarben sollen unserer Ansicht nach gemeinsam mit Parlament und den beteiligten Ministerien auf Landes- und Bundesebene für eine praktikable und vor allem nachhaltige Reduzierung von Mineralölbestandteilen in Packstoffen sorgen, die für alle tragbar ist. Wir sind entgegen der Meinung der Antragsteller der Ansicht, dass die beteiligten Unternehmen den Verbraucherschutz als hohes Gut ansehen und an einer Reduzierung der Mineralöl-bestandteile ebenso interessiert sind wie wir alle hier in diesem Hohen Haus. Das eben Vorgestellte ist natürlich nur Zukunftsmusik, und wir müssen jetzt Wege finden, um das Risiko, welches durch die Migration von Mineralöl in Lebensmitteln unbestritten entsteht, zu minimieren. Ich gehöre der Generation an, die ihre Lebensmittel noch lose gekauft und zu Hause in Blechdosen oder Ähnlichem aufbewahrt haben. Das ist heute sicherlich nicht mehr modern, wäre aber eine kurzfristige Möglichkeit, einer zu langen Aufbewahrung in eventuell gefährlichen Materialien zuvorzukommen. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung hat die Papierindustrie bereits getan, indem sie bei der Herstellung von Packstoffen für Lebensmittelverpackungen bewusst auf den definierten Eintrag von Zeitungsaltpapier und auf mineralölbasierte Prozesshilfestoffe verzichtet. Auch wird bereits – wie in dem Antrag gefordert, jedoch freiwillig – mineralölfreie Druckfarbe durch die bearbeitende Industrie eingesetzt, um so eine weitere Belastung zu reduzieren. Das BMELV hatte bereits im vergangenen Jahr viele Gespräche mit Vertretern der Industrie geführt, in denen deutlich wurde, dass technische Maßnahmen auf der Verpackungsebene vordringlich sind, um das von uns heute hier diskutierte Problem der Mineralölbelastung von Lebensmitteln durch Verpackungen zu lösen. Möglich wären beispielsweise Innenverpackungen mit Barrierewirkung, wie sie bereits bei vielen Verpackungen am deutschen Markt existieren. Dass viele dieser Innenverpackungen noch nicht den Schutz bieten, den wir uns alle wünschen, wissen wir. Es wird bereits an Innen-beschichtungen für Recyclingpapier geforscht, die den Übergang von Mineralöl auf Lebensmittel effektiv verhindern. Dies wird aktiv durch das BMELV unterstützt, was wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich befürworten. Natürlich wäre es begrüßenswert, wenn die Zeitungsverleger mineralölfreie Zeitungsdruckfarben benutzen würden. Dabei gibt es allerdings noch erhebliche Probleme. Angefangen bei der Umstellung der Druckverfahren bis hin zur Recyclefähigkeit des Papiers gibt es viele Dinge zu beachten, die eine solche grundlegende Veränderung mit sich bringt. Ein Verbot auszusprechen, wäre sicherlich einfach, kommt aber unserem Ansatz, eine gemeinsame Lösung mit allen Beteiligten herbei-zuführen, nicht entgegen. Was bei der Diskussion um die Mineralölminimierung in Lebensmitteln nicht vergessen werden darf, ist der Anteil von Mineralölbestandteilen, der nicht durch die Verpackung in die Lebensmittel gerät. Es wäre doch möglich, dass es noch andere Quellen gibt als eine Verpackung, durch welche mineralölhaltige Bestandteile in die Lebensmittel gelangen können. Diese gilt es zu untersuchen, und auch hier müssen Lösungsansätze erdacht werden, um dies zu verhindern. Lassen Sie uns gemeinsam nach einer praktikablen und nachhaltigen Lösung zur Reduzierung von Mineralölbestandteilen in Lebensmitteln suchen, die für alle Beteiligten tragbar ist. Kerstin Tack (SPD): Die Linke fordert in ihrem vorliegenden Antrag, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen soll, in dem ein sofortiger Verzicht auf mineralölhaltige Druckfarben festgelegt wird, eine Positivliste für unbedenkliche Druckfarben vorgibt und dafür sorgt, dass nur Druckfarben verwandt werden dürfen, für die eine gesundheitliche Unbedenklichkeit vorliegt. Diese Forderungen sind alle richtig, genauso hatte der Verbraucherzentrale Bundesverband es übrigens auch in einer Stellungnahme festgehalten. Es ist auch richtig, dass in dem Entwurf zur 21. Verordnung zur Änderung der Bedarfsgegenständeverordnung der Bundesregierung nur ein teilweises Verbot von Mineralölbestandteilen in Druckfarben und nur für Verpackungsaufdrucke vorgesehen ist. Recyclingpapier, das ebenfalls für Lebensmittelkartons verwandt wird, wird in dieser Verordnung nicht berücksichtigt, obwohl es als Problem erkannt wird. Auch ich finde es höchst bedenklich, dass Druckfarbenrückstände in Recyclingpapier oder -kartons für Lebensmittelverpackungen enthalten sind und gesundheitliche Schäden der Verbraucherinnen und Verbraucher hervorrufen können. Es müssen aus unserer Sicht dringend Lösungen für eine Reduzierung der Übergänge von Mineralöl aus Recyclingkartonverpackungen auf Lebensmittel gefunden werden. Dafür muss die Bundesregierung Regelungen treffen. Untersuchungen in Schweizer Laboren und Warnungen des Bundesinstitutes für Risikobewertung haben aufgezeigt, dass die schädlichen Stoffe für gesundheitliche Beeinträchtigungen insbesondere dann auftreten können, wenn Lebensmittel wie zum Beispiel Reis oder Nudeln lose in Kartons aus Recyclingpapier verpackt sind. Die schädlichen Erdölreste gelangen vor allem über die Verwendung von Zeitungen im Altpapiermix in die Kartons. Druckfarben für Zeitungen bestehen bis zu 30 Prozent aus Mineralöl. Aus dem Lebensmittelkarton verdampft dann der Stoff und schlägt sich auf den Nahrungsmitteln nieder. Zur Zeit wird teilweise eine Minimierung der Schadstoffanreicherung durch Umverpackungen der Lebensmittel erreicht. Dies kann aber nur eine vorübergehende Lösung sein. Denn erstens sollte aus Umweltschutzgründen noch mehr Verpackungsmüll vermieden werden. Und zweitens gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, dass selbst durch Plastik die Schadstoffe in die Lebensmittel übergehen können. Wir brauchen also dauerhafte Lösungen und neue technische Verfahren, um Verbraucherinnen und Verbraucher vor den Schadstoffen zu schützen. Durch strenge Grenzwerte in einer Mineralölverordnung hat das BMELV in einem Referentenentwurf vom Mai 2011 einen ersten Vorschlag zur Lösung des Problems vorgelegt. Darin wurde ein von der WHO festgelegter Grenzwert für gesättigte Kohlenwasserstoffe im Essen übernommen. Danach dürfte jeder im Schnitt nur 0,6 Milli-gramm pro Tag davon zu sich nehmen, die Untersuchungen in der Schweiz hatten aber 2010 bereits den vierzigfachen Wert in bestimmten Lebensmitteln festgestellt. Der Vorschlag aus dem BMELV wird aber zur Zeit noch diskutiert und, wie wir hören, könnte noch eine Grenzwertänderung aufgrund von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgen. Auch soll dann der Verpackungsindustrie überlassen werden, wie sie die Einhaltung der Grenzwerte umsetzt. Das geht aus meiner Sicht so nicht. Wir wollen, dass innovative und neue Ansätze erforscht werden, mit denen auch weiterhin recyceltes Altpapier für Verpackungen zugelassen werden kann. Zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher muss das BMELV klare Vorgaben für strenge Grenzwerte festlegen und deren Einhaltung genau vorschreiben und kontrollieren. Selbst ein Verbot von allen mineralölhaltigen Druckfarben für Zeitungen wäre nach meiner Meinung durchaus angebracht. Dr. Erik Schweickert (FDP): Mineralölhaltige Druckfarben in Lebensmittelverpackungen sind in letzter Zeit ins Gerede gekommen, weil in einigen Messungen erhöhte Übertritte von Mineralölrückständen in das Lebensmittel nachgewiesen wurden. Wir als christlich-liberale Koalition nehmen diese Erkenntnisse sehr ernst. Denn wir wollen den Verbraucher vor Gesundheitsgefahren schützen. Deshalb sind wir als Koalition auch vorangegangen. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat inzwischen einen entsprechenden Verordnungsentwurf vorgelegt, der sich derzeit in der Anhörung befindet. Mit dieser Verordnung greifen wir das Problem auf und wollen den Einsatz von mineralölhaltigen Druckfarben klarer regeln. Unser Ziel ist es dabei, zu erreichen, dass durch Druckfarben keine Migration mehr in das Lebensmittel erfolgen kann. Ist also ein Verbot solcher mineralölhaltiger Druckfarben, wie es die Linke in ihrem Antrag fordert, notwendig und sinnvoll? Da bin ich sehr skeptisch und ich möchte auch gerne ausführen, warum. Bisher ist noch Vieles ungeklärt. Es muss erst einmal anhand wissenschaftlicher Daten geprüft werden, welche Höchstwerte aus Gründen des Gesundheitsschutzes überhaupt erforderlich sind. Darüber hinaus müssen aus Gründen der Rechtssicherheit validierte Analyseverfahren festgelegt werden. Ebenfalls unklar ist, woher denn die Einträge von Mineralölspuren überhaupt stammen. Quellen sind offenbar im Rahmen des Altpapierrecyclings in den Karton gelangte Zeitungsdruckfarben sowie mineralölhaltige Farben, mit denen die Kartonverpackung bedruckt wurde. Darüber hinaus gibt es aber auch noch weitere mögliche Quellen wie Transport-, Verarbeitungs- und Lagerbedingungen von Lebensmittelrohmaterialien, die nicht ausgeschlossen werden können. Auch der Übergang von Mineralölspuren von Umverpackungen in die eigentliche Lebensmittelverpackung und darüber in das Lebensmittel ist nicht auszuschließen. Die Folgen eines grundsätzlichen Verbots von mineralölhaltigen Druckfarben bei wiederverwertbarem Papier wären jedoch für die Zeitungsherstellung erheblich. Zeitungsverleger würden vor erhebliche Probleme gestellt, da sie zu einer Umstellung ihrer Drucktechnik gezwungen wären. Dabei trägt der Zeitungsverleger keine Verantwortung dafür, dass sich Zeitungen als Recyclingprodukte in Lebensmittelverpackungen wiederfinden. Man könnte sich zwar auf den Standpunkt stellen, dass Zeitungen zukünftig separat recycelt werden müssen, um einen Eintrag von Mineralölen in Lebensmittelverpackungen zu vermeiden. Dabei muss man aber aufpassen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Denn eine Trennung von Zeitungen und anderen Papierprodukten bei der Altpapiererfassung stellte den gesamten Prozess des in Deutschland vorbildlichen Papierrecyclings infrage. Deshalb verfolgen wir als christlich-liberale Koalition ein Minimierungskonzept, um den Übergang von Mineralölrückständen in Lebensmittel zu vermeiden. Zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen Gesundheitsgefahren werden Höchstmengen für den Übergang von gesättigten und aromatischen Kohlenwasserstoffen aus Lebensmittelbedarfsgegenständen, die unter Verwendung von Altpapierstoff hergestellt sind, auf Lebensmittel festgelegt werden. Es bleibt aber dabei, dass mehr Evaluation nötig ist, auf welchem Wege diese Rückstände in die Lebensmittel gelangen bzw. welche Grenzwerte zum Schutz der Verbraucher notwendig sind. Die Europäische Kommission geht diesen Fragen derzeit ebenfalls nach. So führt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, eine entsprechende Risikobewertung durch. Die von ihnen geforderte Positivliste wird es im Übrigen geben. Einen entsprechenden Verordnungsentwurf hat das BMELV auch bereits vorgelegt und diskutiert ihn mit den beteiligten Akteuren. In die Positivliste sollen nur solche Stoffe aufgenommen werden, für die eine Risikobewertung oder hierfür geeignete und ausreichende toxikologische Daten verfügbar sind, sodass ihre Auswirkungen auf die Gesundheit vom BfR geprüft und auf dieser Basis sichere Höchstmengen abgeleitet werden können. Stoffe, zu denen keine für eine gesundheitliche Bewertung ausreichenden Unterlagen vorhanden sind, sollen zwar auch verwendet werden dürfen. Die Zulassung wird jedoch an die Maßgabe geknüpft, dass diese Stoffe aus Druckfarben nicht auf Lebensmittel übergehen, das heißt, in Lebensmitteln nicht nachweisbar sind. Als Nachweisgrenze ist ein Wert von jeweils 0,01 Milligramm pro Kilogramm Lebensmittel vorgesehen. Auf Grund ihres besonderen Gefährdungspotenzials sollen von der Verwendung allerdings CMR-Stoffe, also Stoffe mit krebserregenden, erbgutverändernden oder fortpflanzungsgefährdenden Eigenschaften ausgeschlossen werden. Damit verbunden wird auch sein, dass keine Druckfarben mit mineralölhaltigen Bestandteilen bei der Bedruckung von Lebensmittelverpackungen verwendet werden dürfen. Die Verpackungsindustrie selbst ist unterdessen nicht untätig geblieben und hat auf das Problem bereits reagiert. Die Wirtschaftsverbände Papierverarbeitung (WPV) und die angeschlossenen Mitgliedsverbände haben beispielsweise eine Selbstverpflichtung erarbeitet, beim Bedrucken von Verpackungen aus Papier, Karton und Pappe nur noch mineralölfreie Druckfarben einzusetzen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist ein ausgezeichneter Ansatz. Aus meiner Sicht lässt sich das Problem vor allem durch technische Maßnahmen auf der Verpackungsebene selbst lösen. Beispielsweise können auch durch die Verwendung von Innenverpackungen mit Barrierewirkung Mineralölübergänge minimiert werden. Ein Müsli kann zum Beispiel in einen Innenbeutel verpackt werden, so dass es mit der Umverpackung gar nicht mehr in Berührung kommt. Diese bietet einen effizienten Schutz, ohne dass wir den gesamten Zeitungsmarkt vor Probleme stellen, die dieser gar nicht zu verantworten hat. Der Antrag der Linken schießt also weit über das Ziel hinaus. Daher lehnen wir diesen ab. Karin Binder (DIE LINKE): Wir behandeln einen Antrag meiner Fraktion Die Linke, der zum Ziel hat, mineralölhaltige Farben bei Druckerzeugnissen zu verbieten. Der Grund: In kartonverpackten Lebensmitteln finden sich gesundheitsschädliche Bestandteile dieser Druckfarben wieder, und zwar in Dosierungen, die die Grenze der Unbedenklichkeit bei Müsli, Mehl oder Nudeln zum Teil um das Hundertfache überschreiten. Diese Stoffe lagern sich im menschlichen Organismus ein, in den inneren Organen und in den Lymphknoten. Dies kann zumindest zu Vergiftungen und Schädigungen dieser Organe führen und auch weitergehende gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, kommt daher zu dem Schluss, „dass der Übergang von Mineralölen auf Lebensmittel dringend minimiert werden sollte“. Das Problem entsteht nicht erst durch die Werbeaufdrucke auf den Verpackungen. Sie machen lediglich ein Fünftel der Schadstoffbelastung aus. Die Hauptgefahr steckt im Papier bzw. im Karton selbst. Die Kartonagen bestehen zum größten Teil aus wiederverwendetem Altpapier, das mit Mineralölfarben bedruckt war. Die gesundheitsschädlichen Farbbestandteile können beim Recycling jedoch nur zu einem Teil herausgewaschen werden. Es ist hervorzuheben: Ohne Recycling geht in der Papierindustrie heute gar nichts mehr. Aus Gründen des Umweltschutzes und der Wirtschaftlichkeit ist die Wiederverwertung unverzichtbar. Der Anteil von Recyclingpapier und -karton beträgt im Lebensmittelbereich bereits 70 Prozent und macht jährlich nahezu 3 Millionen Tonnen aus. Um den hohen Bedarf der Papierindustrie an Altmaterial auch unter wirtschaftlichen Aspekten zu sichern, ist ein sofortiger Verzicht auf mineralöl-haltige Druckfarben erforderlich, und zwar für alle Druckerzeugnisse aus Papier und Karton. Die von der Druckindustrie vorgeschlagene Trennung der Recyclingware zwischen Druckpapier und Verpackungen ist logistisch kaum machbar und wirtschaftlich unsinnig. Zudem werden auf dem Markt vielfältige unbedenkliche und mineralölfreie Druckfarben angeboten. Nun muss ein rasches Verbot mineralölhaltiger Druckfarben dafür sorgen, dass innerhalb der nächsten Jahre die Schadstoffe aus dem Verwertungskreislauf verschwinden. Aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes wird es vorübergehend, bis zum Erreichen der Unbedenklichkeit der Schadstoffwerte, nötig sein, die Lebensmittel mit einer zusätzlichen Folienver-packung in der Kartonage abzuschirmen. Die jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Einundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Bedarfs-gegenständeverordnung – Druckfarbenverordnung – sieht aber nur ein Verbot von mineralölhaltigen Druckfarben für die Aufdrucke der Lebensmittelverpackungen vor. Die weitaus größere Schadstoffquelle, das vormals bedruckte Recyclingpapier, findet darin keine Berücksichtigung. Die Belastung von Lebensmitteln durch gesundheitsschädliche Druckfarbenbestandteile wird damit nicht verhindert. Das Vorhaben der Bundesregierung ist daher für einen wirksamen gesundheitlichen Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher völlig ungeeignet. Deshalb fordern wir, die Linke, mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, den Einsatz mineralölhaltiger Druckfarben bei wiederverwendbaren Papier- und Kartonmaterialien umgehend zu verbieten. Wir brauchen für die Firmen eine Positivliste unbedenklicher Druckfarben, die für Lebensmittelbedarfsgegenstände verwendet werden dürfen. Um eine geringstmögliche Freisetzung von Schadstoffen und den Schutz der Menschen vor unnötigen gesundheitlichen Gefahren zu erreichen, sollen die Regelungen für Lebensmittelkontaktmaterialien nach dem anerkannten ALARA-Prinzip, „As Low As Reasonably Achievable“ – so niedrig wie vernünftigerweise zu erreichen, zugrunde gelegt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf: Schützen Sie die Gesundheit der Bevölkerung und nehmen Sie den Verbraucherschutz ernst. Nur ein Verbot von mineralölhaltigen Druckfarben macht unsere Lebensmittel sicher. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits 2009 hat das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR, vor der Verunreinigung von Lebensmitteln durch Verpackungen aus Recyclingpapier gewarnt, Quelle für die Verunreinigung sind nach Studien des BfR mineralölhaltige Druckfarben. Das Problem ist ernst. Mineralöle enthalten gesundheitsschädliche Kohlenwasserstoffe, die sich im Körper anreichern und zu Schäden an inneren Organen oder zu Krebs führen können. Solche Mineralölreste finden sich nun in unseren Lebensmitteln. Durch Lebensmittelverpackungen aus Recyclingpapier werden die darin verpackten Lebensmittel offensichtlich verunreinigt. Eine Untersuchung der Stiftung Warentest vom Herbst 2010 brachte hervor, dass von 31 Fertigkloßprodukten neun Ölverschmutzungen enthielten. Bei manchen Klößen reichte bereits eine Portion, um den in Ihrem Verordnungsentwurf vorgelegten Grenzwert von 0,6 Milligramm zu erreichen. Auch das Expert Committee on Food Additives, JECFA, der World Health Organization, WHO, hat einen Grenzwert für Mineral Oil Saturated Hydrocarbons – kurz MOSH – von 0,6 Milligramm pro Kilogramm in Lebensmitteln beschlossen. Bei Studien in der Schweiz und in Deutschland sind Überschreitungen dieses Wertes um einen Faktor 10 bis 100 gefunden worden. Recyclingpapier ist ökonomisch und ökologisch notwendig, Verpackungen aus Frischfasern herzustellen, wäre ökologisch kaum verantwortbar. Daher muss die Bundesregierung umfassende Regelungen schaffen, die den Verbraucher vor weiteren Schäden bewahren. Das BMELV hat erst in diesem Sommer einen Verordnungsentwurf zum Bedarfsgegenständegesetz vorgelegt. Wo bleibt hier der vorsorgliche Verbraucherschutz? Das Problem ist seit langem bekannt. Entsprechende Schutzmaßnahmen sind bisher ausgeblieben. Dabei hält das Bundesinstitut für Risikobewertung es für „dringend geboten“, die Diffusion von Mineralöl in Lebensmittel so gering wie möglich zu halten. Gefragt sind Lösungen, die auch ökologisch Sinn machen: Es liegt an den beteiligten Industriezweigen, – Druckfarben, Zeitungsdruck, Erfassung von Altpapier, Papierherstellung, Verpackungsmittelherstellung, Lebensmittelabfüllung –, gemeinsam ökologisch vertretbare Lösungen zu finden, welche den strengen rechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Konsumenten gerecht werden. Der Gesundheitsschutz muss aber höchste Priorität haben. Wenn die Grenzwerte akut nicht ohne Innenbeutel einzuhalten sind, ist das vorübergehend hinzunehmen. Letztlich hilft allerdings nur eines: mineralölhaltige Druckfarben durch gesundheitlich unbedenkliche zu ersetzen. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Die Druckindustrie muss sich bewegen. Die Industrie scheint nicht in der Lage zu sein, die Verunreinigung von Lebensmitteln mit Mineralölen einzudämmen. Nicht zuletzt der Umgang mit ITX-Druckfarben aus dem Jahr 2006 hat gezeigt, dass die Industrie sich mit freiwilligen Vorgaben schwertut. Hier muss die Bundesregierung Vorgaben für die Druckindustrie machen. Freiwilligkeit hilft hier nicht weiter. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7371 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind alle damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes – Drucksache 17/6207 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) – Drucksache 17/7424 – Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Franz Müntefering Florian Bernschneider Heidrun Dittrich Till Seiler Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Markus Grübel (CDU/CSU): Auf unserer Tagesordnung steht heute der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes. Bevor ich genauer ausführe, welche Änderungen im Einzelnen vorgesehen sind, möchte ich zunächst auf den eigentlichen Kern der Gräbergesetzes zur sprechen kommen. „Der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in besonderer Weise zu gedenken und für zukünftige Generationen die Erinnerung daran wach zu halten, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben“ – so ist der genaue Wortlaut des § 1 Abs. 1 Gräbergesetz. Mit dem in diesem Gesetzestext festgelegten Ruherecht wollen wir insofern all jener gedenken, die Opfer des nationalsozialistischen Regimes waren: Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Kranken, aus politischen oder religiösen Motiven Verfolgten, Homosexuellen und all deren, die sich nicht den genannten Gruppen zuordnen lassen. Gedenken wollen wir außerdem der Opfer von rechtswidrigen Maßnahmen des kommunistischen Regimes oder den Vertriebenen gemäß § 1 des Bundesvertriebenengesetzes. Wir wollen aber auch die Erinnerung an den Soldaten, der bei seinem militärischen Dienst oder in Kriegsgefangenschaft verstarb, wachhalten. Diese Gräber haben einen nicht messbaren Wert für uns, und ihr Erhalt ist unverzichtbar. In absehbarer Zeit wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die zukünftige Generationen daran erinnern, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben. Das dauerhafte Bestehen der Gräber kann dies. Ich komme nun zu dem vorliegenden Dritten Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes. Ziel ist erstens, die Kosten der Ruherechtsentschädigung zu stabilisieren und transparent zu gestalten, und zweitens das bisher aufwendige Verwaltungshandeln zu vereinfachen. Mehr Transparenz und Effizienz statt überflüssiger bürokratischer Regelungen. Es ist seither so geregelt, dass die finanziellen Mittel für eine Ruherechtsentschädigung – die dann gezahlt wird, wenn durch den dauerhaften Bestand eines Grabes im Sinne des Gräbergesetzes, Ruherecht, dem Eigentümer des betroffenen Grundstücks ein Vermögensnachteil entsteht, § 3 Absatz 1 des Gräbergesetzes – den Ländern vom Bund zur Verfügung gestellt wird. Die Bundesländer prüfen die von Friedhofsträgern geltend gemachten Ansprüche und leisten sodann Zahlungen in Höhe des jeweiligen Anspruchs. Dieses bürokratische Verfahren lässt sich einfacher gestalten: Mit der vorliegenden Gesetzesänderung ist vorgesehen, dass der Bund den Ländern die Ruherechts-entschädigung in Form einer Pauschale zahlt. Diese wird formal der bewährten Praxis bei der Zahlung von Pauschalen zur Instandsetzung und Pflege der Gräber angeglichen. Die Umstellung auf eine Pauschale trägt dem Gebot der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung Rechnung und führt zu mehr Effizienz im Verwaltungshandeln. Die Neuregelung ist außerdem bereits erprobt, da die Zahlung der Instandsetzungs- und Pflegekosten nach § 10 Abs. 4 des Gräbergesetzes schon 2005 auf Pauschalen umgestellt wurden. Insofern verfügen wir über einen Erfahrungswert. Der Gesetzentwurf zur Änderung des Gräbergesetzes steht in Einklang mit der Zielsetzung der Bundesregierung, Verwaltungsverfahren effizienter zu gestalten. Profitieren können davon sowohl Bund als auch Länder. Die geplante Novellierung trägt zudem dem Wunsch der Länder Rechnung, dass mit ihr keine Änderung von bewilligten Ruherechtsentschädigungen einhergeht. Ich bitte um Ihre Unterstützung für die geplante Änderung des Gräbergesetzes. Franz Müntefering (SPD): Das Dritte Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes – Drucksache 17/6207 – dient dem Ziel, die Kosten der Ruherechtsentschädigung stabil zu halten. Wir stimmen dem Anliegen zu. Das gilt auch für einen neuen Art. 2 a. Mit ihm wird klargestellt, dass in näher bezeichneten Fällen zur Klarstellung die Dienststelle für die Benachrichtigung der Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, WASt, angerufen werden kann. Also: Zustimmung in der Sache. Trotzdem ist die Entstehung dieses Gesetzes nicht voll befriedigend verlaufen. Dazu diese Anmerkung und Ankündigung: Im Zusammenhang mit den Beratungen im zuständigen Familienausschuss kamen auch eine Intervention des Zentralrates der Sinti und Roma und eine Einzelpetition zur Sprache, mit denen Neuregelungen zum Erhalt der Grabstätten von NS-verfolgten Sinti und Roma angestrebt werden. Leider blieb keine Zeit, die Problematik gründlich zu vertiefen und Lösungen zu entwickeln. Das bedauern wir. Vereinbart wurde aber, in einem Expertengespräch alle in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen zu erörtern, die Positionen der Kommunen ebenfalls zu bedenken und so zu klären, ob der Ausschuss und mit welchem Inhalt er einen Vorschlag formulieren kann, der eine akzeptable Lösung garantiert. Die SPD legt großen Wert darauf, dass diese Beratungen bald stattfinden mit dem Ziel, das ehrende Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft dauerhaft zu sichern und die Erinnerung daran festzuhalten, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben. Florian Bernschneider (FDP): Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährte sich in diesem Jahr zum 65. Mal. Nicht zuletzt die nationale und internationale Kriegsgräberfürsorge hat dafür gesorgt, dass die Wunden dieser Zeit weitgehend verheilen konnten. Angst und Schrecken sind der Versöhnung über den Gräbern gewichen. Dennoch sind Kriegsgräber sowohl stumme Zeugen als auch mahnende Institutionen einer lebendigen Erinnerungskultur. Instandhaltung und Pflege dieser Gräber werden bereits seit langem über Pauschalen vom Bund an die Länder abgegolten. Da in der Regel die Kommunen als Friedhofsträger für den Unterhalt der Gräber zuständig sind, wird die Pauschale direkt an die kommunalen Kämmerer weitergeleitet. Dieses Pauschverfahren hat sich durch seine Einfachheit in der Verwaltungspraxis gut bewährt. Allerdings ist die sogenannte Instandhaltungs- und Pflegepauschale nur ein Teil der mit den Kriegsgräbern verbundenen Ausgaben des Bundes. Per Gesetz steht den in den Kriegsgräbern bestatteten Opfern das ewige Ruherecht zu. Die Friedhofsträger sind daher verpflichtet, die Begräbnisstätten dauerhaft zu erhalten. Dies kann in Gemeinden mit vielen Weltkriegsopfern zu einer erheblichen Flächeninanspruchnahme führen, was wiederum mit finanziellen Einbußen für die Friedhofsträger verbunden ist. Daher erhalten die Träger eine Ruherechtsentschädigung. Bisher meldeten die Länder die Anzahl der jeweils vorhandenen Kriegsgräber an den Bund und erhielten für jedes Grab die entsprechende Entschädigung. Dieses Verfahren war dem Umstand geschuldet, dass auch viele Jahre nach Kriegsende immer noch Opfer der Weltkriege gefunden wurden und sich die Zahl der Kriegsgräber damit ständig erhöhte. Insbesondere mit der Wiedervereinigung stieg die Zahl der Kriegsgräber noch einmal erheblich. Grund hierfür waren vor allem nichtdeklarierte Massengräber im Umfeld ehemaliger Konzentrationslager in den neuen Bundesländern. In den letzten Jahren gab es jedoch kaum noch Funde in nennenswertem Umfang, und damit hat sich auch die Zahl der Kriegsgräber kaum mehr verändert. Von vereinzelten Funden abgesehen, ist nach derzeitigem Kenntnisstand davon auszugehen, dass sich hieran über 65 Jahre nach Kriegsende kaum mehr etwas ändern wird. Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes wird diesem Umstand Rechnung getragen. Die Neuregelung sieht vor, dass die Ruherechtsentschädigung an die Länder zukünftig in Form von Pauschalen geleistet wird. Das entspricht exakt dem Verfahren, das bei der Festsetzung der Instandsetzungs- und Pflegepauschale für die Kriegsgräber bereits vorgesehen ist und sich in der Praxis lange Jahre bewährt hat. Die neue Regelung soll die Finanzierung der Ruherechtsentschädigung stabilisieren und sie haushaltsrechtlich besser planbar machen. Auch für den Fall, dass die festgesetzte Pauschale in einzelnen Kommunen nicht zur Deckung der Ansprüche auf Ruherechtsentschädigung ausreicht, ist in der Gesetzesnovelle vorgesorgt: Auf Antrag wird ein Zuschlag in Höhe von bis zu 10 Prozent der Pauschale gewährt, um eventuell nicht abgedeckte Kosten aufzufangen. Damit kommt die Bundesregierung dem Wunsch der Länder nach, durch die Reform keine finanziellen Einbußen hinnehmen zu müssen. Die Anwendung von Pauschalen hat sich in vielen anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung bewährt und an zahlreichen Stellen die umständliche Einzelfallbewilligung abgelöst. Für eine solche Verschlankung und Vereinfachung bürokratischer Verfahren hat sich die FDP seit jeher eingesetzt. Es ist daher auch ihr Verdienst, dass die Finanzierung der Kriegsgräber nun auf zeitgemäßen und soliden Füßen steht – damit die Versöhnung auch in Zukunft über würdigen Gräbern stattfinden kann. Ziel der heute zu verabschiedenden Novelle ist in erster Linie eine Verwaltungsvereinfachung. Hiervon unberührt bleibt jedoch die Frage, bis zu welchem Stichtag die Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft unter den Geltungsbereich des Gräbergesetzes fallen und damit das ewige Ruherecht zugesprochen bekommen können. An die Parlamente von Bund und Ländern wurde vonseiten der Sinti und Roma verschiedentlich der Wunsch herangetragen, den derzeitigen Stichtag 31. März 1952 im Zuge der Novelle zu verändern. Sinti und Roma argumentieren, dass Angehörige ihrer Gemeinschaft zum Teil deutlich später als 1952 an den Folgen ihrer erlittenen Misshandlungen gestorben seien. Aus Sicht dieser Menschen ist die Frage, warum ihren verstorbenen Angehörigen das ewige Ruherecht verwehrt wird, also durchaus berechtigt. Es ist ein Gebot der Fairness für uns als Politiker, diese Frage ernst zu nehmen und in der gebotenen Tiefe zu behandeln. Dabei lassen sich jedoch schon heute einige Problemfelder identifizieren. So müsste eine Änderung des Stichtages in gleicher Weise für alle anderen Opfergruppen gelten und wäre voraussichtlich mit einem deutlich erhöhten Prüfaufwand verbunden. Und auch wenn wir uns entschließen sollten, diesen Prüfaufwand in Kauf zu nehmen, stünde einer Erweiterung des Ruherechts auf nach dem 31. März 1952 verstorbene Opfer weiterhin die Tatsache entgegen, dass die Gräber dieser Opfer von den Familien der Angehörigen gepflegt werden. Nach § 9 Abs. 2 Gräbergesetz können privatgepflegte Gräber jedoch nicht in die öffentliche Obhut übernommen werden. Nichtsdestotrotz müssen diese Fragen diskutiert werden. Deswegen haben auch wir den Vorschlag gemacht, im Kreise der Berichterstatter ein Expertengespräch zum Gräbergesetz durchzuführen, um die skizzierten Fragen und mögliche Lösungen zu erörtern. Wir können nicht in einem „vorauseilenden Gesetzesgehorsam“ die berechtigten Anliegen, Gefühle und Werte der Sinti und Roma übergehen. Vielmehr sollten wir uns noch einmal ergebnisoffen und in aller diesem sensiblen Thema angemessenen Breite damit auseinandersetzen. Für die FDP schließt an diesen Themenkomplex zudem die Frage an, wie wir mit Opfern umgehen, die in heutigen Einsätzen ums Leben kommen. Ich würde mich freuen, wenn wir im Sinne einer lebendigen und aktuellen Ereignissen angemessenen Erinnerungskultur auch diese Frage ausführlicher erörtern würden. Auch hierfür bietet das geplante Expertengespräch einen guten Rahmen. Heidrun Dittrich (DIE LINKE): Bisher schützt der Staat mit diesem Gesetz die Gräber aller Opfer aus Krieg und Gewaltherrschaft, unabhängig davon, ob sie als deutscher Soldat oder als Opfer des deutschen Faschismus gestorben sind. Durch diese Gesetzesänderung wird dieser Schutz aus Kostengründen heruntergeschraubt. Stellen Sie sich Folgendes vor: Bei Bauarbeiten auf Ihrem Grundstück finden Sie menschliche Überreste. Wenn Sie diese melden, kann es passieren, dass Sie einen Teil ihres Grund und Bodens verlieren, da sie nach § 2 Abs. 2 GräbG dazu verpflichtet sind, „das Grab bestehen zu lassen, den Zugang zu ihm sowie Maßnahmen und Einwirkungen zu seiner Erhaltung zu dulden“. Bisher erhalten sie dafür eine finanzielle Entschädigung. Wenn heute dieser Gesetzentwurf beschlossen wird, gibt es bei neu gefundenen Grabstellen keine Entschädigungszahlungen mehr. Das bedeutet, dass sich Grundstückseigentümer wohl zukünftig sehr genau überlegen werden, ob sie einen Fund melden oder nicht. Und da muss man sich dann fragen, wie das Ruherecht zukünftig wirkungsvoll gewährleistet werden soll. Zum Zweiten kritisiere ich, dass zukünftig für schon bestehende Gräber den Ländern nur noch eine pauschalierte Kostenerstattung für die Grabpflege gewährt wird. Konnten die Kommunen bisher die realen Kosten ersetzt bekommen, so steht Ihnen zukünftig nur noch ein Betrag von circa 20 Euro pro Jahr für ein Grab zur Verfügung; Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen vom 19. Mai 2011 Az.: IV1/6491.03-1/4. Somit versucht die Bundesregierung, 65 Jahre nach Kriegsende die Finanzierung des Gräberschutzes und das Niveau der Gedenkkultur abzusenken. Wir sind der Meinung, dass demokratische Politik in Deutschland immer der bis heute einzigartigen Verbrechensgeschichte des deutschen Faschismus und der daraus erwachsenen historischen Verantwortung gerecht werden muss. Dazu gehört auch der Erhalt und der Ausbau der Gedenkstätten und der Gedenkstättenarbeit. Besonders wichtig ist aus meiner Sicht der Erhalt der Opfergräber der Sinti und Roma. Seit 2009 fordert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Gräber der verfolgten Sinti und Roma unter den Schutz des Gräbergesetzes zu stellen. Bisher ist leider nichts geschehen. Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nahmen sich auch nicht der Bitte des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma an, in dieser Frage zu vermitteln. Im Januar 2011 sprach Zoni Weisz im Deutschen Bundestag zum Völkermord an den Sinti und Roma. Er bedauerte, dass dieser in den Medien, aber auch in der Politik immer wieder vergessen wird. Bis heute ist es immer noch nicht gelungen, die Gedenkorte von den Sinti und Roma für ihre verstorbenen Holocaust-Überlebenden zu erhalten. Viele Sinti und Roma haben nicht die finanziellen Mittel, diese wichtigen Gedenkorte für die Nachwelt zu erhalten. Die Begründung, warum Grabstätten von Sinti und Roma nicht mithilfe des Gräbergesetzes erhalten werden sollen, ist immer dieselbe: Wenn man eine bundesgesetzliche Regelung für die Erhaltung der Gräber von Sinti und Roma treffen würde, so müsste man ja auch alle anderen Opfergruppen in einer solchen Regelung beachten. Das kostet Geld, und das will die Bundesregierung nicht ausgeben. Da stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung wirklich die Gedenkkultur an die Opfer des deutschen Faschismus aufrechterhalten möchte. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wünscht sich den Erhalt von circa 2 000 Grabstätten als geschützte Gedenkorte. Diese sind für die Sinti und Roma von großer Bedeutung, weil es für die meisten vom deutschen Faschismus ermordeten Angehörigen keine weiteren Grabstellen gibt. Der Schutz dieser Gräber wäre ein wichtiges Zeichen für die Demokratie. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass heutzutage Sinti und Roma in Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Tschechien wieder verfolgt werden. In diesen Ländern werden sie schikaniert und bedroht. Ihre Häuser werden angezündet, sie werden vertrieben und manchmal auch brutal ermordet. Und in dieser Situation werden Sinti und Roma gruppenweise vor allem nach Rumänien ausgewiesen. Besonders Frankreich treibt diese Handhabung gerade voran. Angesichts dieser zunehmend gegen Sinti und Roma gerichteten Angriffe in Europa muss es uns ein Anliegen sein, dass Grabstätten der Sinti und Roma geschützt werden. Aus meiner Sicht hat gerade Deutschland eine besondere Verpflichtung für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Und man sollte darüber nachdenken, ob wirklich alle im Gesetz genannten Gruppen geschützt werden müssen. Denn wer Täter und Opfer gleichbehandelt, verharmlost die Verbrechen. Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich denke, wir alle sehen es als wichtige gesellschaftliche Aufgabe an, eine vielfältige Erinnerungskultur zu pflegen und am Leben zu erhalten, die die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft angemessen ehrt und nachfolgenden Generationen das Ausmaß der Gewalt und Verfolgung des letzten Jahrhunderts begreiflich macht. Gerade in Zeiten, in denen es immer weniger Zeitzeugen gibt, muss Erinnerung sichtbar und als Mahnung erhalten bleiben. Hierfür setzen wir uns ein. Die heute zur Abstimmung stehende Änderung des Gräbergesetzes allerdings zielt nicht nur auf eine Verwaltungsvereinfachung, sondern auch auf eine Eindämmung von Kosten. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass 65 Jahre nach Kriegsende nicht mehr mit einem wesentlichen Anstieg der Zahl von Kriegsgräbern zu rechnen sei. Dies scheint auf den ersten Blick plausibel, doch haben wir, die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, hierzu noch offene Fragen. Schwerwiegendere offene Fragen ergeben sich zu weiteren Aspekten des Gräbergesetzes, die von der anstehenden Gesetzesänderung nicht berührt werden. Sehr ernst nehmen wir die vorliegende Petition, die das Anliegen der Sinti und Roma betrifft, für die im Nationalsozialismus verfolgten Sinti und Roma ein ewiges Ruherecht zu erwirken. Der Völkermord an den Sinti und Roma muss in der Erinnerungskultur eine angemessene Rolle spielen. Hierzu gehört, dass ihre Gräber erhalten bleiben. Angesichts dieser und anderer zu klärender Fragen begrüßen wir es, dass wir uns fraktionsübergreifend verständigen konnten, mithilfe von Experten zu klären, ob es weitergehenden Bedarf gibt, das Gräbergesetz zu ändern. Auf dieser Grundlage stimmen wir dem Dritten Gesetz zur Änderung des Gräbergesetzes zu. Sollten bei dem anstehenden Expertengespräch praktikable Lösungen für die anstehenden Probleme gefunden werden, die mit einer weiteren Änderung des Gräbergesetzes umgesetzt werden können, so muss diese zeitnah auf den Weg gebracht werden. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7424, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6207 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? – Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenstimmen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz – Drucksache 17/7463 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine neue Bleiberechtsregelung – Drucksache 17/7459 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Helmut Brandt (CDU/CSU): Das Thema Bleiberecht für langjährig in Deutschland lebende ausreisepflichtige Ausländer war in den letzten Jahren sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene immer wieder Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen und kontrovers geführten Diskussionen, insbesondere auch jetzt wieder vor dem Ablauf der verlängerten Regelungsfrist zum 31. Dezember 2011. Auch heute ist das Thema Bleiberecht wieder Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag. Zugrunde liegen dieser Debatte zum einen ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Antrag der Fraktion Die Linke. Mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes vorzulegen, der Menschen nach spätestens fünfjähriger Aufenthaltsdauer ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt, bei Familien mit Kindern nach drei Jahren und bei besonders schutzbedürftigen Personen auch früher. Weiterhin wird unter anderem gefordert, dass das Kriterium der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts keine unüberwindbare Hürde darstellen dürfe, ernsthafte Bemühungen müssten ausreichen. Zudem sollen vorhandene Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis gemacht werden. Die Regelung in § 104 a Abs. 3 Aufenthaltsgesetz, wonach begangene Straftaten eines in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienmitglieds die Versagung der Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder zur Folge hat, soll gestrichen werden. Der Antrag der Fraktion Die Linke entspricht inhaltlich im Wesentlich dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Die Linke fordert mit ihrem Antrag die Bundesregierung ebenfalls auf, eine Bleiberechtsregelung zu schaffen, die Menschen nach spätestens fünfjähriger Aufenthaltsdauer ohne wesentliche zusätzliche Bedingungen ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt, bei Familien mit Kindern nach drei Jahren und bei besonders schutzbedürftigen Personen auch früher. Außerdem fordert sie die Bundesregierung auf, gesetzliche Änderungsvorschläge vorzulegen, die bereits im Ansatz verhindern, dass Kettenduldungen über Jahre hinweg entstehen, vor allem in Fällen, in denen Abschiebungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohnehin unmöglich sind, und sich im Rahmen der Innenministerkonferenz für eine sofortige Übergangsregelung einzusetzen, mit der zum Jahreswechsel ein Rückfall von Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ in den Duldungsstatus beziehungsweise deren Abschiebung verhindert wird. Zusammenfassend enthalten beide Anträge eine deutliche Herabsenkung der Kriterien für ein dauerndes Bleiberecht. Begründet werden die Forderungen beider Anträge insbesondere damit, dass von den Beschlüssen der IMK aus den Jahren 2006 und 2009 und der Altfallregelung des Jahres 2007 eine nur sehr geringe Zahl an Menschen tatsächlich profitiert und eine Aufenthaltserlaubnis erlangt habe, da die dabei aufgestellten Anforderungen, insbesondere die Bedingung einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung, übermäßig restriktiv seien. Hinsichtlich der Änderungen verweist die Fraktion Die Linke auf ihre eigenen Vorschläge zur Neugestaltung des § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz vom Mai 2010. Eine besondere nachvollziehbare Begründung für die geforderte Fünfjahresfrist bieten der Entwurf und seine Begründung allerdings auch diesmal nicht. Es ist unbestritten – die Zahlen sind uns auch bekannt –, dass wir eine große Anzahl von Menschen mit Duldungsstatus in Deutschland haben. Wir stimmen auch darin überein, dass die aus der Bleiberechtsregelung in bestimmten Fällen resultierenden Kettenduldungen für die Betroffenen und auch für die Allgemeinheit einen sehr unbefriedigenden Zustand darstellen. Dennoch verkennen beide Anträge die Systemwidrigkeit ihrer Forderungen und gehen meiner Meinung nach an der Realität vorbei. Die bloßen Zahlen lassen für mich nicht automatisch den Rückschluss zu, dass die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes ungeeignet sind oder dass hier eine Regelungslücke besteht. Ein geduldeter Aufenthalt ist zwar ein strafloser, aber dennoch ein rechtswidriger Aufenthalt. Dieser Umstand bleibt meiner Meinung nach in der Diskussion um ein Bleiberecht allzu häufig unbeachtet. Alle Menschen mit einer Duldung sind grundsätzlich ausreiseverpflichtet, aber aus unterschiedlichen Gründen kommen sie dieser Ausreiseverpflichtung nicht nach. Der Staat wiederum ist häufig nicht in der Lage, diese Menschen mit Duldung abzuschieben, also Zwang anzuwenden – ebenso aus unterschiedlichen Gründen. Dabei wird durch die Antragsteller nicht berücksichtigt, dass in sehr vielen Fällen die Ursache für die Kettenduldungen von den Betroffenen selbst herbeigeführt wird. Denn ein Hauptgrund ist oft, dass Unklarheit in Hinblick auf die Identität der Geduldeten besteht, dass die Papiere fehlen und die Betroffenen oft nicht dabei mitwirken, das Problem zu lösen, oder gar aktiv verhindern, dass ihre Identität ermittelt wird. Ich bin im Gegensatz zu Ihnen davon überzeugt, dass dies in einer nicht geringen Anzahl durchaus bewusst bzw. vorsätzlich geschieht, um eben nicht ausreisen zu müssen. Sollen wir nun diejenigen, die ihre Mitwirkungspflichten, die ich im Übrigen für durchaus zumutbar halte, vorsätzlich verletzen und ihre Ausreise dadurch hintertreiben, nun auch noch belohnen? Ich denke, es ist richtig, dass wir hier unterscheiden zwischen denen, die nicht ausreisen können, und denen, die nicht ausreisen wollen, und Letzteren auch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis versagen. Denn ansonsten ist am Ende der Ehrliche der Dumme. Insofern sehe ich es als sehr problematisch an, dass die beiden hier vorliegenden Anträge die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels an Geduldete im Vergleich zur Altfallregelung des § 104 a Aufenthaltsgesetz in einem nicht vertretbaren Umfang herabsetzen wollen. Gleiches gilt für Ihre Forderung nach einer stichtagsunabhängigen Lösung: Übereinstimmend fordern die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke die Einführung einer dauerhaft stichtagsfreien, einer sogenannten rollierenden gesetzlichen Bleiberechtsregelung. Eine solche stichtagsunabhängige Regelung lehnen wir ab, weil das in § 1 Aufenthaltsgesetz bestimmte Ziel, die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen, nicht mehr erreicht würde und die Ausnahme zur Regel würde. Die Aufenthaltslegalisierung Geduldeter muss auch in Zukunft die Ausnahme bleiben. Vorschriften, die ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund des Zeitablaufs vorsehen, würden wieder diejenigen begünstigen, die ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sind. Dies hätte eine falsche Signalwirkung zur Folge, nämlich die, dass jeder in Deutschland bleiben kann, wenn er nur lange genug durchhält. Das wiederum müsste von vielen einreisewilligen Ausländerinnen und Ausländern geradezu als Aufforderung zur illegalen Einreise und zur Inanspruchnahme der hiesigen Sozialsysteme aufgenommen werden. So einen Anreiz wollen wir nicht schaffen. Damit würden im Übrigen auch die Bemühungen zur Bekämpfung von Schlepperbanden konterkariert. Abgelehnt wird von uns außerdem Ihre Forderung nach einem Verzicht auf die Voraussetzung der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung. Ein Verzicht auf diese Voraussetzung würde einen Pull-Effekt mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen für die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme entfalten und die kommunale Ebene mit weiteren zusätzlichen Kosten belasten. Die Lebensunterhaltssicherung der Betroffenen war und ist Kern jeder Bleiberechtsregelung und muss es meiner Meinung nach auch künftig bleiben. Der Erfolg am Arbeitsmarkt als wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Integration muss auch weiterhin entscheidender Maßstab für die Beantwortung der Frage sein, wer dauerhaft in Deutschland bleiben darf, obwohl ein legaler Anspruch nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen nicht besteht. Es gibt kein Bleiberecht durch Aussitzen. Das bedeutet in der Konsequenz auch, den Aufenthalt derjenigen beenden zu können und zu müssen, die keinerlei Bemühungen um ihre Integration nachgewiesen haben. Diese Maxime ist im wohlverstandenen Interesse gerade auch jener, die sich in Deutschland legal aufhalten bzw. sich ernsthaft um ihre Integration in Deutschland bemüht haben. Ansonsten ist nämlich, wie ich es anfangs bereits sagte, der Ehrliche der Dumme. Solch eine Ungerechtigkeit birgt meiner Meinung nach einen gesellschaftlich nicht vertretbaren Zündstoff. Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, vorhandene Deutschkenntnisse nicht zur Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis zu machen, lehne ich ebenfalls ab. Wir alle haben in den letzten Jahren erfahren müssen, dass eine Integration in Deutschland ohne hinreichende Deutschkenntnisse nicht möglich ist. Es ist deshalb auch nicht im Interesse der Betroffenen selbst, die Anforderungen an deren Sprachkenntnisse herabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen als Mindeststandard anzusehen. In der Konsequenz führen der Forderungen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke zu einem quasi bedingungslosen Daueraufenthaltsrecht. Die in diesen Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts bestehende Ausreisepflicht der Betroffenen liefe damit ins Leere. Die Frage, die sich mir dann immer wieder aufdrängt, ist: Können wir uns eine solche Konsequenz als Gesetzgeber leisten und widerspricht dies nicht auch dem Gerechtigkeitsgefühl der Allgemeinheit? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich denke nein. Die hier vorgelegten Forderungen stellen in meinen Augen keine sachgerechte Lösung dar. Ich bin außerdem der Auffassung, dass die von uns geschaffenen Regelungen humanitären Standards genügen. Im Frühjahr haben wir ein ganzes Gesetzespaket geschnürt, das eine Reihe von Verbesserungen enthält. Das Bleiberecht für gut integrierte ausländische Jugendliche ist eine enorme Verbesserung und bedeutet eine realistische Perspektive für viele junge Menschen mit Migrationshintergrund. Den Ländern stehen ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung, um auf das Auslaufen der nach dem IMK-Beschluss verlängerten Aufenthaltserlaubnisse reagieren zu können, zum Beispiel § 25 Abs. 4 und Abs. 5 sowie § 23 a Aufenthaltsgesetz. Es sollte ihnen überlassen werden, ob und wie sie von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen. Rüdiger Veit (SPD): Wir sprechen heute über einen Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen und einen der Fraktion Die Linke, die beide ein uns allen altbekanntes Thema behandeln. Im Kern geht es um den Umgang mit Menschen, die seit Jahren mit uns in Deutschland leben, keinen gesicherten Aufenthaltsstatus und keine gesicherte Lebensperspektive haben und die wir auf der anderen Seite jedoch auch nicht haben abschieben können. Es geht also um den Umgang mit langjährig sich bei uns aufhaltenden Geduldeten. Immer wieder haben die Innenminister der Länder mit verschiedenen Altfall- bzw. Bleiberechtsregelungen versucht, Menschen, die lange Voraufenthaltszeiten in Deutschland haben, unter bestimmten, genau definierten Bedingungen dann einen gesicherten Aufenthalt zu ermöglichen. All diese Regelungen waren allerdings Stichtagsregelungen, ebenso wie die im Jahr 2007 über § 104 a und b in das Aufenthaltsgesetz aufgenommene Bleiberechtsregelung und die damit verbundene Aufenthaltserlaubnis auf Probe. Wie wir alle wissen, ist diese Aufenthaltserlaubnis auf Probe auf der Innenministerkonferenz bis zum 31. Dezember 2011 verlängert worden. Alle diese Maßnahmen haben im Ergebnis, obwohl sie durchaus auch Wirkung gezeigt haben, das Problem der Kettenduldungen nur zum Teil beheben können. Mit jedem Jahr, das seither verstreicht, wächst wiederum die Zahl der Menschen mit einer ungesicherten Aufenthaltsperspektive, deren Aufenthaltszeiten sich summieren. Wir teilen die Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke, dass die bisherigen Bleiberechtsregelungen vor allem deshalb ihr Ziel nicht vollständig erreichen konnten, weil zum einen die Anforderungen an die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts zu hoch waren und es sich eben durchweg um Stichtagsregelungen gehandelt hat. Wir haben daher bereits im Dezember 2009 einen eigenen Gesetzentwurf für eine Altfall- bzw. Bleiberechtsregelung in den Bundestag eingebracht, die jedoch leider am 17. März 2011 abgelehnt worden ist. Darin haben wir zur Vermeidung künftiger Kettenduldungen eine gesetzliche Regelung vorgeschlagen, die auf einen festen Stichtag verzichtet und die Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung dahin gehend absenkt, dass auch das ernsthafte Bemühen um Arbeit ausreicht. Außerdem wollten wir eine Regelung für Minderjährige schaffen. Diese sollten bei günstiger Integrationsprognose nach vier Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Menschen, die einen Schulabschluss in Deutschland gemacht haben, sollten mit einer eigenständigen Regelung ebenfalls privilegiert werden. Schließlich wollten wir für Altfälle mit einem Aufenthalt von einem Jahrzehnt und mehr eine noch weitreichendere Ausnahme von den allgemeinen Voraussetzungen einführen. Wir werden unseren eigenen Antrag in etwas überarbeiteter Form, aber mit den gleichen politischen Forderungen demnächst erneut in den Geschäftsgang einbringen. Unser Antrag und die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke unterscheiden sich vor allem in einem Punkt: der Dauer der Voraufenthaltszeiten. Die beiden heute zu beratenden Anträge wollen ledigen Ausländerinnen und Ausländern mit einer Voraufenthaltszeit von fünf Jahren und Ausländerinnen und Ausländern mit minderjährigen Kindern nach einer Voraufenthaltszeit von drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erteilen. In unserem Antrag sehen wir dagegen Fristen von acht Jahren für alleinstehende Ausländerinnen und Ausländer und sechs Jahre für Ausländerinnen und Ausländer mit minderjährigen Kindern vor. Ich persönliche habe große Sympathie für die kürzeren Fristen der Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen und der Linksfraktion; das will ich hier gar nicht verheimlichen. Allerdings waren und sind wir bemüht, unsere Vorstellungen mit den sozialdemokratischen Innenministern und Senatoren abzustimmen, damit wir uns nicht spätestens im Bundesrat auch noch mit deren Argumenten auseinandersetzen müssten, sodass die von uns vorgeschlagenen längeren Fristen trotzdem noch einen sehr guten Kompromiss darstellen. Daher werde ich meiner Fraktion empfehlen, sich bei den beiden vorliegenden Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke der Stimme zu enthalten. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Innenministerkonferenz hat Ende 2009 die Bleiberechtsregelung um zwei Jahre verlängert. Die FDP hat das nachdrücklich begrüßt. Eine dauerhafte Regelung zu finden, die das Problem der Kettenduldungen nachhaltig löst, ist nach wie vor eine Herausforderung und gleicht der Quadratur des Kreises. Die Sachlage bleibt unverändert: Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rechnung getragen werden. Die „Kettenduldungen“ müssen einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden; wir brauchen für alle, insbesondere für die bisher „Geduldeten“, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern findet. Die vorliegenden Anträge thematisieren zum wiederholten Male zwar tapfer das erstgenannte Problem, zeigen aber keine Lösung für das zweite auf. Tatsächliche Integration in Deutschland muss das zentrale Kriterium sein. Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei, anders als es die vorliegenden Anträge sehen, sehr wohl von entscheidender Bedeutung. Der Antrag der Linken verneint die Notwendigkeit einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr erweist die Linke damit den Bemühungen um Ausländerintegration einen Bärendienst. Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegen Zuwanderer. Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sehr wohl ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das dient der Integration. Wer das, wie die Linken es tun, in die Nähe von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus rückt, verabschiedet sich aus dem Spektrum des demokratischen Diskurses. Unter Demokraten muss es möglich sein, Sachfragen zu diskutieren, ohne unter Rechtsextremismusverdacht gestellt zu werden. Die Linken beleidigen mit dieser Diffamierung nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, die mit Recht von jedem Zuwanderer erwarten, für seinen Lebensunterhalt selbst zu sorgen, sondern auch alle Demokraten im Parlament, die dieses Bürgeranliegen hier vertreten. Human ist nicht die Zementierung eines Bittstellerstatus für immer mehr Menschen in unserem Land, wie die Linken es wollen, sondern die Eröffnung von Lebenschancen, wie die Koalition aus CDU/CSU und FDP es tut. Zuwanderer sind zu fördern, sie sind aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demokratie und Rechtsstaat, die Grund- und Menschenrechte sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozialsysteme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. Auf einen fundierten Beitrag von Linken oder auch Grünen zur Lösung der sehr realen Integrationsprobleme in Deutschland, der nicht nur auf Wunschdenken und Ideologie beruht, warten wir nun schon, seitdem es diese Parteien gibt. Durch die Wiederholung der immer gleichen Anträge wird leider kein Problem gelöst. Wir Liberalen wollen dagegen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir geben Menschen Chancen. Darauf sind wir stolz. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Weiterhin gibt es 87 000 Menschen in der Bundesrepublik, deren Aufenthalt lediglich geduldet wird. 60 Prozent dieser Menschen leben bereits seit sechs und mehr Jahren in Deutschland. Unter ihnen befinden sich annähernd 10 000 Roma aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, denen in ihren Herkunftsstaaten massive Ausgrenzung und Diskriminierung drohen. Tausende kommen aus Syrien, dem Irak und weiteren Staaten, deren Regierungen ihren Bürgern keine Sicherheit geben wollen oder können. Neben der Lage in den Herkunftsländern ist für uns ein anderer Punkt von entscheidender Bedeutung. Egal, ob diese Menschen nun die deutsche Sprache beherrschen oder in den Arbeitsmarkt integriert sind, sie sind faktisch verwurzelt; sie haben sich in Deutschland eingelebt. Das gilt in besonderem Maße für die Kinder und jungen Heranwachsenden, die immerhin ein Drittel aller Geduldeten ausmachen. Im Sommer wurde eine Regelung für besonders gut integrierte Jugendliche geschaffen. Für ihre Eltern gilt aber weiterhin: Können sie keinen eigenständigen Lebensunterhalt nachweisen, bleiben sie in der Duldung und müssen mit Abschiebung rechnen, wenn die Kinder volljährig sind. Dass viele Familien auf dieses vergiftete Geschenk verzichten, verwundert daher nicht. Die im Sommer in Kraft getretene gesetzliche Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche war die letzte in einer langen Reihe von Regelungen, mit denen langjährig Geduldeten ein Aufenthaltstitel verschafft werden sollte. Seit 2006 ist fast kein Jahr ohne neue Bleiberechtsregelung ausgekommen. 2006 gab es einen Beschluss der Innenminister, 2007 eine gesetzliche Regelung, 2009 folgte ein weiterer Beschluss der Innenminister. All diese Beschlüsse sind nur unter dem großen Druck von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden entstanden. Sie haben – das wollen wir nicht bestreiten – vielen Menschen auch einen sicheren Aufenthaltsstatus gebracht. Zugleich sind parallel zu diesen Altfallregelungen wieder neue Duldungen entstanden. Der Anteil der langjährig Geduldeten an der Gesamtzahl aller Menschen mit einer Duldung stieg zwischenzeitlich sogar auf 64 Prozent und liegt heute bei 59 Prozent. Das heißt, dass für die Betroffenen von Kettenduldungen die Gefahr groß ist, über viele Jahre hinweg in diesem unsicheren Status gefangen zu bleiben. Eine neue, gesetzliche Regelung zu beschließen, ist von großer Dringlichkeit. Denn mit der gesetzlichen Altfallregelung von 2007 wurde die sogenannte Aufenthaltserlaubnis auf Probe eingeführt. Wer bis zu einem Stichtag keinen eigenständigen Lebensunterhalt, aber immerhin Bemühungen um eine Beschäftigung nachweisen konnte, erhielt diesen neuen Aufenthaltstitel. Kaum einer schaffte es aber, in die reguläre Aufenthaltserlaubnis zu wechseln. Deshalb haben dann die Innenminister der Länder und des Bundes 2009 entschieden, dass für die über 30 000 Betroffenen auch eine Verlängerung um zwei Jahre möglich sein soll. Diese zwei Jahre laufen Ende des Jahres ab. Darum besteht dringender Handlungsbedarf, um ein erneutes Abgleiten dieser Personengruppe in die Duldung und letztlich sogar die Abschiebung zu verhindern. Die Einführung einer sogenannten Probeaufenthaltserlaubnis und die Verlängerung dieses Aufenthaltstitels werten wir als Eingeständnis der Unionsparteien und der FDP, dass mit dem Festhalten am Erfordernis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung eine befriedigende Lösung nicht erreicht werden kann. Die Betroffenen sind jahrelang bewusst vom Arbeitsmarkt ferngehalten worden. Die Beschäftigungsverhältnisse, die ihnen offenstehen, sind meist nicht existenzsichernd. Davon sind mittlerweile auch weit über 1 Million Bundesbürger betroffen, die ihren Verdienst mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen, um von ihrer Arbeit leben zu können. Die Lösung dieser Probleme – Entstehung neuer Kettenduldungen durch Stichtage und zu hohe Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung – kann nur in einer einfachen und stichtagsungebundenen Bleiberechtsregelung bestehen. Dafür wollen wir ein gesetzliches Bleiberecht für all jene schaffen, die sich seit fünf Jahren geduldet in einem Asylverfahren oder als Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland befinden. Für Familien, Kinder, Traumatisierte und weitere Härtefälle sollen auch kürzere Fristen gelten. Bis zum Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung fordern wir Übergangsbestimmungen zur Verlängerung der geltenden Aufenthaltstitel. Damit soll verhindert werden, dass Menschen abgeschoben werden, die möglicherweise in den Genuss der neuen Bleiberechtsregelung kommen könnten. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit verschiedenen Altfall- und Bleiberechtsregelungen haben Bund und Länder in den vergangenen Jahren versucht, zu bestimmten Zeitpunkten langjährig Geduldeten unter engen Voraussetzungen einen legalen Aufenthalt zu ermöglichen. Eine grundlegende Lösung fehlt jedoch weiterhin. Die Zahl der langjährig in Deutschland geduldeten Personen ohne gesicherte Aufenthaltsperspektive ist weiterhin hoch. Ende Juni 2011 lebten 87 000 Geduldete in Deutschland, davon über 51 000 bereits länger als sechs Jahre. Die 2007 über §§ 104 a, 104 b in das Aufenthaltsgesetz aufgenommene – stichtagsgebundene – Bleiberechtsregelung und die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz durch Beschluss der Innenministerkonferenz vom Dezember 2009 haben die weithin kritisierte Praxis der „Kettenduldungen“ nicht wirksam beenden können. Zudem wird diese Regelung am 31. Dezember 2011 auslaufen. Gründe für die Defizite der bisherigen Bleiberechtsregelungen sind die strikten Ausschlusskriterien, willkürlich festgesetzte Stichtage und überzogene Anforderungen, insbesondere an die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts. Die bisherigen Regelungen berücksichtigen zudem humanitäre Härtefälle nicht ausreichend; denn gerade alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, sowie kinderreiche Familien werden von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen. Stichtagsregelungen führen immer wieder zu neuen humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauerhafte gleitende Bleiberechtsregelung ohne festen Stichtag notwendig, die auch auf zukünftige Fälle Anwendung finden kann. Zwar trat zum 1. Juli 2011 mit dem neuen § 25 a Aufenthaltsgesetz eine stichtagsunabhängige Regelung in Kraft, die gut integrierten Jugendlichen eine Bleiberechtschance bieten soll. Die konkreten Bedingungen führen jedoch dazu, dass erneut nur eine kleine Zahl davon profitieren wird. Mit dem Auslaufen der Bleiberechtsregelung Ende 2011 droht vielen in Deutschland lebenden Menschen, die derzeit nur über eine Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ verfügen, ein Ende ihres vorläufigen Bleiberechts. Ihnen droht der Rückfall in die Duldung. Der vorliegende Antrag fordert daher die Bundesregierung auf, zeitnah eine stichtagsunabhängige sogenannte rollierende gesetzliche Bleiberechtsregelung zu schaffen. Damit soll zum einen Ausländerinnen und Ausländern, die bisher lediglich eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes erhalten haben, eine gesicherte Perspektive eröffnet werden. Zum anderen gilt es, die Zahl der Kettenduldungen für Personen, die sich seit mehreren Jahren hier aufhalten, deutlich zu reduzieren. Insbesondere an der Bedingung einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung scheitern bisher viele Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, daher müssen die Kriterien gesenkt werden. Denn bisher gefordert wird nicht nur ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis, sondern auch ein regelmäßiges Arbeitseinkommen in Höhe des Arbeitslosengeldes II – zuzüglich zusätzlicher Freibeträge. Während fast 1,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland aufstockende Hartz-IV-Leistungen erhalten – für Beschäftigte im Niedriglohnsektor ist das sogenannte Aufstocken ein Normalfall –, wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von der vollständigen Lebensunterhaltssicherung abhängig gemacht. Dies sind überzogene und unrealistische Anforderungen; ernsthafte Bemühungen, den Lebensunterhalt überwiegend zu sichern, müssen ausreichend sein. Unter die gesetzliche Bleiberechtsregelung sollten auch Menschen fallen, die nicht arbeiten können, etwa weil sie alt, krank, traumatisiert oder behindert sind oder weil sie Angehörige pflegen oder Kinder erziehen. Bei besonders verletzlichen Personen, wie unbegleiteten Minderjährigen, Traumatisierten und Opfern von rassistischen Übergriffen, sind zudem die Aufenthaltszeiten als Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis deutlich zu verkürzen. Bei Traumatisierten bestätigen alle Experten, dass ein gesichertes Aufenthaltsrecht zwingende Voraussetzung für eine Genesung ist. An die Erfüllung von Mitwirkungspflichten dürfen keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwiegende Verletzungen von Mitwirkungspflichten können zum Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führen. Insbesondere die Frage, ob eine Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht eindeutig zu beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen Fällen aufgrund der politischen Entwicklungen im Herkunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung sinnvoll und gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des Rechtsweges darf im Rechtsstaat nicht negativ sanktioniert werden. Im Hinblick auf Straftaten als Ausschlussgrund sollte nicht die ganze Familie aufgrund einer Straftat durch ein Familienmitglied von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen bleiben („Sippenhaftung“). Vorhandene deutsche Sprachkenntnisse sollten nicht zur Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemacht werden. Viele langjährig geduldete Personen verfügen zumindest über Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Personen, die nach dieser Regelung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sollte die Teilnahme an den Integrationskursen ermöglicht werden. Nur eine großzügige Bleiberechtsregelung, die auch humanitären Grundsätzen genügt, ist auf Dauer geeignet, das Problem der Kettenduldungen zu lösen und den betroffenen Menschen eine gesicherte Lebensperspektive zu eröffnen. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7463 und 17/7459 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte – Drucksache 17/7460 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor. Stephan Stracke (CDU/CSU): Die Gesundheitswirtschaft hat eine sehr große Bedeutung in unserem Land. Wir haben rund 4,6 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen. Der Bereich Gesundheit ist somit ein riesiger Wirtschaftsfaktor. Damit dies so bleibt, dürfen wir uns Entwicklungen, egal in welchem Bereich, nicht verschließen; wir brauchen nicht nur Produkt- sondern auch Prozessinnovationen. Zu Letzterem gehört auch die Informationstechnik. Sie bietet für das Gesundheitswesen große Chancen und gute Perspektiven für eine bessere Versorgung und bessere Abläufe. Es ist völlig klar, dass die moderne Informationstechnologie auch Eingang in das Gesundheitswesen erhalten muss. Ein wichtiger Teil davon ist die elektronische Gesundheitskarte. Der Start der elektronischen Gesundheitskarte erfolgte jedoch unter schwierigen Bedingungen. Mit den vielen Funktionen wie dem elektronischen Rezept, dem elektronischen Arztbrief und der Patientenakte war das Projekt schlicht überfrachtet und daher nicht umsetzbar. Das hat die christlich-liberale Koalition erkannt und ist es deshalb neu angegangen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, vor einer weitergehenden Umsetzung der elektronischen Gesundheitskarte eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, bei der Geschäftsmodell und Organisationsstruktur der Gematik sowie die bisherigen Erfahrungen in den Testregionen überprüft und bewertet werden. Diese Bestandsaufnahme wurde erfolgreich abgeschlossen. Folgende Anwendungen sollen nun umgesetzt werden: der Notfalldatensatz, das moderne Versichertenstammdaten-management und die sichere Kommunikation der Leistungserbringer. Wir konzentrieren uns also zunächst auf die Kernfunktionen der elektronischen Gesundheitskarte. Alle weiteren Funktionen werden zunächst zurückgestellt, bis praxistaugliche und sichere Lösungen vorgelegt werden. Die Linken fordern nun mit ihrem Antrag ein Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte. Dieser Antrag entspricht nahezu wortwörtlich einem Antrag der Fraktion der FDP aus der letzten Wahlperiode. Soviel FDP war noch nie bei den Linken. Das bedeutet ja ein ganz neues Lebensgefühl. Herzlichen Glückwunsch dafür. Allerdings hätten Sie Ihr Plagiat ruhig kennzeichnen können. Aber von Fußnoten halten Sie wohl nicht viel. Außerdem frage ich Sie, wo Sie die letzten drei Jahre seit dem Antrag der FDP waren. Wie so häufig offensichtlich nicht im Hier und Jetzt, sondern im ewigen Gestern. Mit dem Projekt und den Fortschritten der elektronischen Gesundheitskarte haben Sie sich jedenfalls nicht beschäftigt. Nur so ist es zu erklären, dass Sie den Antrag eins zu eins übernommen haben, ohne auch nur mit einem einzigen Wort auf die Veränderungen des Projektes einzugehen. Das Einzige, was Sie können, ist abschreiben. Das ist politisch nicht gerade anspruchsvoll. Die christlich-liberale Koalition hat sich vorgenommen, eine Telematikinfrastruktur zu schaffen, um medizinische Daten im Bedarfsfall sicher und unproblematisch austauschen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass die elektronische Gesundheitskarte dazu einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Die rechtliche Grundlage für die Karte wurde bereits im Jahr 2004 geschaffen, die flächendeckende Einführung war ursprünglich für das Jahr 2006 geplant. Weil Testergebnisse damals noch viele Unzulänglichkeiten zeigten, wurde die Einführung der Karte verschoben. Das war auch richtig so. Seitdem sind jedoch weitere fünf Jahre vergangen und die damaligen Schwächen wurden behoben. Warum Sie in Ihrem Antrag immer noch vor einer übereilten Einführung der Karte warnen, ist mir daher völlig unverständlich. Der Vorwurf ist absurd. Mir ist kaum ein anderes Projekt bekannt, das über so lange Zeit diskutiert wurde. Allerdings kommt man mit bloßem Diskutieren nicht weiter. Erforderlich sind Taten. Deshalb bin ich froh, dass wir in der christlich-liberalen Koalition die Weichen so gestellt haben, das das Projekt entscheidend vorankommt. Die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte ist sinnvoll, denn sie bietet den Versicherten erhebliche Vorteile. Ich will drei nennen: Erstens trägt sie mit dem Lichtbild dazu bei, die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen einzudämmen. Nach Schätzungen gehen bislang jedes Jahr rund 800 Millionen Euro an Versichertengeldern durch Betrug verloren. Jeder so gesparte Euro ist eine echte Entlastung für die Beitragszahler. Zweitens haben wir die Einführung des neuen Versichertenstammdatendienstes beschlossen. Dadurch werden bei jeder erstmaligen Inanspruchnahme von Leistungen im Quartal die Versichertenstammdaten bei den Leistungserbringern online mit den Krankenkassen abgeglichen und gegebenenfalls aktualisiert. Auch dies dient vor allem der Eindämmung des Missbrauchs, aber auch der Kostenreduzierung; denn bei einer Änderung der Daten bedarf es nun keiner Ausstellung einer neuen Versichertenkarte mehr. Drittens ist die Karte technisch so vorbereitet, dass in weiteren Ausbaustufen auch medizinische Daten wie zum Beispiel Notfalldaten sowie Hinweise auf Patientenverfügungen und Organspendeerklärungen gespeichert werden können. Ausdrücklich betonen möchte ich dabei: Dies gilt nur bei dem ausdrücklichen Wunsch der Versicherten. Die Versicherten können selbstverständlich in eigener Verantwortung darüber entscheiden, in welchem Umfang Daten gespeichert oder gelöscht werden sollen und wem sie diese Daten zugänglich machen wollen. Für die Versicherten gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Daran wird nicht gerüttelt. Diese Vorteile überzeugen. Und deshalb ist es richtig, dass die gesetzlichen Krankenkassen seit Oktober dieses Jahres die elektronische Gesundheitskarte an ihre Versicherten ausgeben. Ermöglicht wurde auch dies durch Maßnahmen der christlich-liberalen Koalition. Wir haben bei den gesetzlichen Krankenkassen die nötigen Anreize zur zügigen Einführung der elektronischen Gesundheitskarte gesetzt und damit den Ausgabeprozess beschleunigt. Diese Anreize werden wir auch im Versorgungsstrukturgesetz weiterführen. Im Rahmen des gesamten Prozesses der Einführung der Gesundheitskarte mit ihren Anwendungen haben wir alle geäußerten Anliegen und Sorgen ernst genommen, und wir werden dies auch weiterhin tun; denn für uns haben die Datensicherheit und die Selbstbestimmung des Patienten über seine Daten die höchste Priorität. Wir werden auch in Zukunft die Datensicherheit ganz genau im Auge behalten. Eine enge Abstimmung mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit sowie dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ist für uns selbstverständlich. Mit der Bestandsaufnahme haben wir uns bewusst die Zeit genommen, die Karte nochmals einer gründlichen Überprüfung und Bewertung zu unterziehen. Wir haben die bisherigen Schritte sehr genau geprüft, und wir werden auch weiter prüfen, wann wir was machen. Das betrifft auch den Datenschutz. Die Linke fordert in ihrem Antrag, die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte zurückzustellen, bis sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der Datensicherheit erfüllt sind. Dabei übersehen Sie jedoch eins: Durch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und der damit verbundenen Sicherheitsinfrastruktur werden die Gesundheitsdaten ab sofort sicherer als bisher. Wir haben mit der elektronischen Gesundheitskarte einen höheren Sicherheitsstandard als bei der jetzigen Versichertenkarte. Das Datenschutzniveau wird also deutlich angehoben. Darüber besteht in der Fachöffentlichkeit Einigkeit. Dies haben auch die Sachverständigen in der Anhörung in der letzten Wahlperiode bereits bestätigt. Dieser Gewinn für die Versicherten würde durch ein Moratorium zunichtegemacht. Das werden wir nicht unterstützen. Ich freue mich, dass wir nach Jahren des Stillstands nun endlich erreicht haben, dass das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ entscheidende Schritte vorankommt. Deutschland ist ein modernes Land, ein Hightechland. Davor darf sich auch das Gesundheitswesen nicht verschließen. Ich hoffe, dass wir die elektronische Gesundheitskarte in ein paar Jahren als Selbstverständlichkeit begreifen, so wie wir heute Handys, SMS, Computer und E-Mails als Selbstverständlichkeit begreifen und uns ein Leben ohne kaum noch vorstellen können. Und die Linken? Sie denken, dass Sie die Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte durch ein Moratorium verbessern können. Ich sage Ihnen: Das ist falsch. Die Entwicklungen im technischen Bereich schreiten sehr schnell voran. Für ein so anspruchsvolles Projekt wie die elektronische Gesundheitskarte bedeutet dies, dass es immer weiterentwickelt, verbessert und an neue Anforderungen angepasst werden muss. Aus diesem Grund kann man nicht, wie Sie es gerne hätten, zu einem Zeitpunkt X alles festlegen, um erst dann den Startknopf zu drücken. Die schrittweise Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, wie sie jetzt beschlossen wurde, ist eine vernünftige, verantwortbare und die einzig richtige Lösung. Die elektronische Gesundheitskarte und die Telematik-infrastruktur sind wesentliche Voraussetzungen für eine grundlegende Modernisierung des Gesundheitswesens und bilden die Plattform für eine vernetzte Versorgung. Dies erfolgt mit dem Ziel, die Qualität und Effizienz der Patientenversorgung zu verbessern. Dieses Ziel wird die christlich-liberale Koalition konsequent weiterverfolgen. Der Antrag der Linken widerspricht diesem Ziel und deshalb werden wir ihn ablehnen. Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute den Antrag „Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte“ der Fraktion Die Linke. Genau genommen ist es ein Antrag zur Verhinderung der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. Die Fraktion Die Linke will mit diesem Antrag ihre Kampagne gegen die elektronische Gesundheitskarte mit der Folge der Verunsicherung der Bevölkerung in das Parlament tragen. Das ist zurückzuweisen. Ich will namens meiner Fraktion auch sagen: Es ist unredlich und wider besseres Wissen. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist das Gegenteil von Politik, die sich an den Bedürfnissen der Menschen in unserem Land orientiert. Es ist das Gegenteil von konstruktiver Politik. Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, die elektronische Gesundheitskarte jetzt endlich einzuführen. Worum geht es? Zunächst: Für die Patientinnen und Patienten unterscheidet sich die neue Karte lediglich in zwei Dingen von der alten: Auf der Vorderseite ist ein Foto des Versicherten. Die Rückseite ist so gestaltet, dass sich die Besitzer damit auch im europäischen Ausland behandeln lassen können. Alles Weitere wie elektronische Rezepte, Speicherung von Allergiedaten oder gar eine elektronische Patientenakte ist reine Zukunftsmusik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken. Wenn in dem uns heute vorliegenden Antrag so getan wird, als sei die neue Krankenversicherungskarte bürokratischer und datenschutzrechtlicher Irrsinn, will ich auf einen Vergleich hinweisen: Die bisherige Krankenversichertenkarte ist eine reine Speicherkarte mit einem Magnetstreifen. Ihre Informationen können zurzeit mit einfachen Mitteln kopiert, gelöscht oder auch manipuliert werden, da sie keinerlei Schutzmechanismen bietet. Dagegen sind die gespeicherten Daten der neuen Gesundheitskarte verschlüsselbar. Selbst der Datenschutzbeauftragte des Bundes ist von der Sicherheit der Karte überzeugt, indem er erklärt hat, dass sie hundertprozentigem Schutz nahe kommt. Auch das Fraunhofer-Institut FOKUS kommt zu derselben Erkenntnis. Sie von der Linken sollten also aufhören, an dieser Stelle die Menschen zu verunsichern! Wenn, frühestens 2015, medizinische Angaben auf der Karte gespeichert werden können, werden diese doppelt abgesichert sein. Der Patient verwendet eine persönliche Identifikationsnummer, PIN, – wie bei der EC-Karte –, und der behandelnde Arzt muss sich per Heilberufsausweis identifizieren. Lassen Sie mich einen Satz sagen zum Status quo: Wo befinden sich aktuell die hochsensiblen Daten von Patientinnen und Patienten? Was geschieht mit Arztberichten? Und vor allem: Wie sieht eine Arzneimitteldokumentation aus? Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Datensicherheit aktuell nicht eben hoch ist. Denn meist sind die Daten handschriftlich auf Karteikarten festgehalten, die sich in einem Schrank in der Praxis befinden. Im übrigen, so meine ich, gerade in der Frage der Dokumentation kann die neue elektronische Gesundheitskarte Gutes für die Bürgerinnen und Bürger leisten. Künftig können die jeweils den Patienten behandelnden Mediziner sehr einfach nachvollziehen, welche Medikation der Patient bereits bekommt, und können dann entscheiden, inwieweit sich diese mit weiteren Arzneimitteln für die akute Behandlung verträgt. Ebenso können durch die Angaben auf der Karte bzw. auf dem zentralen Server künftig Doppeluntersuchungen vermieden werden. Das spart nicht nur Kosten. Es ist vor allem auch gut für die Patientinnen und Patienten. Kosten werden im übrigen auch dadurch gespart, dass der Kartenmissbrauch mit der neuen Karte erheblich eingeschränkt werden kann. Dieser Missbrauch durch Nutzung abgelaufener oder fremder Versichertenkarten kostet jedes Jahr erhebliche Millionenbeträge und geht letztlich zulasten der Patienten, die den Missbrauch durch ihre Beiträge bezahlen müssen. Ich möchte an dieser Stelle auch einen Punkt ansprechen, der mir besonders wichtig ist. Ich meine den beabsichtigten Hinweis auf der Karte, wenn es eine Organspendebereitschaft des Karteninhabers gibt. Wir sind uns doch alle einig, dass wir in dieser Frage in Deutschland Handlungsbedarf haben. Abschließend will ich eines besonders deutlich machen: Alle personenbezogenen Daten, die auf der elektronischen Gesundheitskarte künftig gespeichert werden können, die also über die Stammdaten hinausgehen, bedürfen bei der Erhebung immer der Einwilligung des Karteninhabers. Alle Patienten entscheiden selbstständig und freiwillig, ob sensible Patientendaten gespeichert werden. Wahr ist aber auch: Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte bietet die Möglichkeit, medizinische Versorgung in Zukunft für alle zu optimieren. Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke sollten ihre Kampagne gegen die elektronische Gesundheitskarte beenden. Der Antrag ist purer Populismus. Aber wir sind von den Linken nichts anderes gewöhnt. Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ist die Möglichkeit, medizinische Versorgung in Zukunft für alle zu optimieren. Sie dient der Missbrauchsbekämpfung, der Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung und der Wirtschaftlichkeit. Das ist gut für alle Patientinnen und Patienten, denn deren Interessen müssen im Mittelpunkt stehen. Heinz Lanfermann (FDP): Bekanntermaßen macht es sich die Linke immer sehr einfach: ein simpel gestricktes Weltbild mit eindeutig bösen und eindeutig guten Akteuren. Es bedarf aber schon ein wenig Dialektik, wenn eine Forderung der – in ihren Augen – Bösen nun plötzlich einer guten Sache dienlich sein soll. Aber genau das sehen wir auch hier: In ihrem Antrag, der bis hin zur Überschrift ziemlich genau einem drei Jahre alten Antrag der FDP-Fraktion entspricht und dem keine eigene Leistung zugrunde liegt, kritisieren sie die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, die die christlich-liberale Koalition jetzt schrittweise einführt, nachdem die 2008 von uns kritisierten Schwierigkeiten und Probleme beseitigt worden sind. Insgesamt ist der Antrag der Linken ein Plagiat, das zudem drei Jahre zu spät kommt und deshalb inhaltlich völlig überholt ist. Die elektronische Gesundheitskarte hat, was unbestritten ist, gegenüber der jetzigen Versichertenkarte mehrere Vorteile: Der Austausch medizinischer Daten erfolgt im Interesse der Patienten viel leichter und vor allem sicherer als bisher. Damit das hohe Datenschutzniveau auch gewährleistet ist, werden der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik weiterhin bei der technischen Umsetzung mitwirken. Aufgrund des besseren Datenaustausches wird die Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen erhöht, weil die Ärzte zukünftig viel effektiver zusammenarbeiten können und gerade die Betreuung von Patienten mit mehreren Krankheiten besser erfolgen kann. Dabei haben – darauf legen wir allergrößten Wert – sowohl Datenschutz als auch informationelle Selbstbestimmung der Patienten höchste Priorität. Der jetzige Datenaustausch zwischen den Ärzten per Fax oder E-Mail ist erheblich unsicherer – das verschweigt die Linke in ihrem Antrag. Das auf der Gesundheitskarte abgedruckte Lichtbild verhindert zukünftig den Leistungsmissbrauch zulasten der Versichertengemeinschaft, der heute einen erheblichen Schaden anrichtet. Die konkrete Kritik an der Gesundheitskarte, die die Linken in ihrem Antrag – der ja, wie bereits erwähnt, bis auf Kleinigkeiten dem Antrag der FDP-Fraktion von 2008 entspricht – üben, wurde bei der nun stattfindenden Umsetzung voll berücksichtigt. Sie verlangen zum Beispiel – und dies auch aus unserer Sicht natürlich zu Recht –, die Zugriffssicherheit der sensiblen Daten vor staatlichen Stellen, Industrieunternehmen und weiteren Dritten zu gewährleisten. Bei der Gesundheitskarte haben wir genau deshalb sichergestellt, dass die Daten nur zum Zweck der medizinischen Behandlung verwendet werden dürfen. Ein Zugriff Dritter ist ausgeschlossen; das hat im Übrigen der Bundesdatenschutzbeauftragte ausdrücklich bestätigt. Weiterhin wird die Freiwilligkeit der Nutzung aller über die Identifikation hinausgehenden Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte für Patienten und Leistungsanbieter gefordert. Genau dazu wurde doch gesetzlich geregelt, dass jeder Versicherte selbst entscheiden kann, ob seine Gesundheitsdaten gespeichert werden oder nicht. Auch die Minimierung des bürokratischen Aufwandes liegt in unserem Interesse. Die Gesundheitskarte erhöht neben einer besseren Patientenversorgung auch die Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen durch bessere Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten. Die elektronische Gesundheitskarte führt grundsätzlich auch im Praxisbetrieb zu keinem wesentlichen Mehraufwand. Die Forderung nach einer Prüfung durch unabhängige Sachverständige, ob alternative Speicherungsmöglichkeiten praktikabler und sinnvoller sind als eine Speicherung auf zentralen Servern ist doch längst erfolgt. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat die Tauglichkeit der elektronischen Gesundheitskarte geprüft und bestätigt. Die Regierungskoalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die elektronische Gesundheitskarte unter bestimmten Bedingungen einzuführen. Ich zitiere: „Deutschland braucht eine Telematikinfrastruktur, die die technischen Voraussetzungen dafür schafft, dass medizinische Daten im Bedarfsfall sicher und unproblematisch ausgetauscht werden können. Die Arzt-Patientenbeziehung ist ein besonders sensibles Verhältnis und daher ausdrücklich zu schützen. Datensicherheit und informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten sowie der Versicherten haben für uns auch bei Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte höchste Priorität. Vor einer weitergehenden Umsetzung werden wir eine Bestandsaufnahme vornehmen, bei der Geschäftsmodell und Organisationsstrukturen der Gematik und ihr Zusammenwirken mit der Selbstverwaltung und dem Bundesministerium für Gesundheit sowie die bisherigen Erfahrungen in den Testregionen überprüft und bewertet werden. Danach werden wir entscheiden, ob eine Weiterarbeit auf Grundlage der Strukturen möglich und sinnvoll ist.“ Dieser Zeitpunkt ist nun gekommen. Die Gesundheitskarte wird sukzessive eingeführt. Sie können sich aber darauf verlassen, dass wir im weiteren Verfahren sehr genau prüfen werden, ob die Punkte, die sich derzeit noch in der Vorbereitung befinden, auch unseren hohen Anforderungen an Qualität und Sicherheit genügen. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Noch vor zwei Jahren gebärdete sich die FDP als strikte Gegnerin der sogenannten elektronischen Gesundheitskarte: Viel zu teuer, kein ausreichender Datenschutz, die Freiwilligkeit nicht gewährleistet – das waren nur einige Kritikpunkte im Antrag der FDP-Fraktion von 2008, den die Linke mit dem vorliegenden Antrag Wort für Wort übernommen hat. Wir wollen Ihnen damit ein Angebot machen, dem Sie eigentlich nur zustimmen können. Ich weiß, Sie werden einwenden, dass Sie doch eine Bestandsaufnahme gemacht hätten. Aber es wurde keine Ihrer früheren Forderungen umgesetzt. So sind Ihre Kritikpunkte von damals auch heute hochaktuell. Dazu kommt noch, dass die abgespeckte Variante, die jetzt kommt, erst einmal nicht mehr kann als die alte Versichertenkarte: Sie bekommt ein Foto und wird sechsmal teurer. 150 000 Arztpraxen müssen neue Lesegeräte anschaffen, 70 Millionen Versicherte sollen Passfotos machen lassen, und wofür? Nachdem die FDP das Gesundheitsministerium übernommen hatte, schöpften die Kritiker der E-Card Hoffnung, doch die Lobbyisten der IT-Industrie haben ihre guten Drähte zum ehemaligen niedersächsischen Wirtschaftsminister Rösler erfolgreich genutzt. Nach einer kurzen Schamfrist ging es bruchlos weiter, und zwar ohne eine wirkliche Überprüfung der Risiken von zentral gespeicherten Gesundheitsdaten und von dezentralen Alternativen. Unabhängige Expertinnen und Experten wurden nicht zu Rate gezogen. Nur die Betreiberfirma Gematik selbst durfte einen Winter lang über andere Speichermöglichkeiten nachdenken, kam aber, wie zu erwarten war, zu keinem Ergebnis. Das Gesundheitsministerium drückte nun mit mehreren Gesetzesänderungen, jeweils verschämt an andere Gesetzesvorhaben angehängt, aufs Tempo, und neue Funktionen der E-Card befinden sich in der Ausarbeitung. Dass die gesetzlich vorgeschriebenen Tests in verschiedenen Regionen mit zunächst 10 000 und später 100 000 Personen vielfach gar nicht stattfanden oder zu desaströsen Ergebnissen führten und abgebrochen werden mussten, interessierte Sie dabei nicht. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, warum Sie Ihre eigenen Forderungen von 2008 und 2009 völlig aufgeben und es der Linken überlassen, Sie daran zu erinnern? Sie wollten ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis sicherstellen. Davon ist gar nichts übrig geblieben. Das elektronische Rezept und andere Funktionen der neuen Karte, mit denen Ausgaben gesenkt werden sollten, sind auf Eis gelegt oder gestrichen worden. Aber später soll die E-Card neue Einnahmequellen für die Krankenkassen erschließen: Über sogenannte Mehrwertdienste sollen Gesundheitsdaten an die Industrie verkauft werden. Den Mehrwert davon haben nicht die Versicherten, sondern allein die Unternehmen; gleichzeitig riskieren Sie den gläsernen Patienten. Das ist nicht akzeptabel. Darum forderte die FDP in der letzten Legislaturperiode völlig zu Recht, dass weder Kostenträger noch staatliche Stellen oder Industrieunternehmen Zugriff auf sensible Gesundheitsdaten haben dürften. Das ist absolut notwendig, und darum hat die Linke auch diese Forderung wieder aufgegriffen. Das Prinzip der Freiwilligkeit haben Sie vollends aufgegeben: Rösler und Bahr zwingen die Kassen dazu, den Versicherten die E-Card schnellstens aufs Auge zu drücken. FDP und Union haben per Gesetz finanzielle Sanktionen gegen Kassen verhängt, die es nicht schaffen, bis Ende dieses Jahres mindestens 10 Prozent ihrer Versicherten mit der E-Card auszustatten. Zwar sind bislang keine Zwangsmittel direkt gegen die Versicherten vorgesehen, aber die Techniker Krankenkasse ließ schon verlauten, dass die Geduld mit Fotoverweigerern und E-Card-Gegnern irgendwann erschöpft sei. So ist es um die Freiwilligkeit schlecht bestellt. Dann forderte die FDP damals, dass eine Prüfung durch unabhängige Sachverständige erfolgen müsse. Sehr richtig! Das fordern wir auch in unserem Antrag, und deswegen hat Die Linke im Gesundheitsausschuss eine eigene Anhörung zu der neuesten Gesetzesänderung, dass bis Ende nächsten Jahres 70 Prozent der Versicherten die E-Card haben sollen, beantragt. FDP, Union und SPD haben dies mit vereinten Stimmen abgelehnt. Das ist undemokratisch und intransparent! Die privaten Krankenversicherungsunternehmen sind übrigens längst aus dem Projekt E-Card ausgestiegen. Wieder einmal müssen allein die gesetzlich Versicherten mit ihren Mitgliedsbeiträgen das Milliardengrab füllen. Das ist das Stuttgart 21 der Gesundheitspolitik! Abschließend möchte ich Daniel Bahr zitieren: „Wir wollen nicht, dass ein Druck zur schnellen Umsetzung dieses umfassenden Konzepts der elektronischen Gesundheitskarte entsteht, das immer noch viel Fragen und Sorgen aufwirft. … Die Einführung muss so lange zurückgestellt werden, bis wirklich sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der Datensicherheit erfüllt sind. Das ist aus unserer Sicht noch nicht gegeben. Deswegen darf hier nicht mit Druck an der Umsetzung gearbeitet werden. Wir sollten uns vielmehr so viel Zeit für die Umsetzung lassen, bis alle offenen Fragen geklärt sind.“ Herr Minister Bahr, dem ist nichts hinzuzufügen. ELENA ist wegen zu hoher Kosten und Datenschutzproblemen gestoppt worden. Die Linke fordert: Stoppen Sie die E-Card, machen Sie den Stresstest, und klären Sie endlich die offenen Fragen! Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Linke und FDP eint, dass sie in der Opposition vollmundige Versprechungen machen, die bei einer Regierungsbeteiligung nicht eingehalten werden können. Der FDP führt die Linke dies gerade vor. Sie hat den von Ende 2008 stammenden, vom jetzigen Gesundheitsminister Daniel Bahr zu verantwortenden Antrag der FDP, von dem diese heute nichts mehr wissen will, einfach abgekupfert. Bei der Linken wäre dies nicht anders – linke Rhetorik und das Regierungshandeln in Bundesländern liegen auch dort weit auseinander. Die FDP bot damals eine Morgengabe für ihre Klientel in der Ärzteschaft. Das trifft sich nun mit einer fundamentalen Haltung: der Ablehnung der Linken in Bezug auf die elektronische Gesundheitskarte. An beide Adressen sei gesagt, dass es Aufgabe von Politik ist – und aus meiner Sicht nicht nur in der Regierungsverantwortung, sondern auch in der Opposition –, Forderungen anderer nicht ungeprüft aufzugreifen, um sich beliebt zu machen, sondern eine eigene Haltung zu entwickeln und zu begründen. Ein Blick ins Gesetz ist dabei behilflich: Gerade beim Projekt der elektronischen Gesundheitskarte klafft ein großer Widerspruch zwischen den vermeintlich offenen Punkten und den klaren, bereits von Anfang an im Gesetz zu findenden Regelungen. Es gibt kaum ein IT-Großprojekt, in dessen Entwicklung der Bundesdatenschutzbeauftragte so eng eingebunden ist wie in dieses und für dessen Einführung dieser sich stark macht. Die von allen geforderte Freiwilligkeit der Teilnahme der Versicherten, zum Beispiel an der für die Zukunft geplanten Patientenakte, ist bereits vor Jahren gesetzlich verankert worden. Selbstverständlich muss immer wieder neu überprüft werden, ob die elektronische Gesundheitskarte dem Datenschutz genügt, in der Anwendung praktikabel ist und ob die Freiwilligkeit auch in der Praxis Bestand hat, wenn es in Zukunft um den Ausbau der für die Versorgung relevanten freiwilligen Zusatzmodule geht. Es darf darüber aber nicht vergessen werden, dass es gegen die bestehende Versicherungskarte massive datenschutzrechtliche Bedenken gibt und im Moment immer mehr Anwendungen, zum Beispiel internetbasierte elektronische Patientenakten entstehen, die datenschutzrechtlich fragwürdiger sind als das, was als Anwendung im Kontext der e-Card geplant ist. Ein zentrales Argument der Kritikerinnen und Kritiker der e-Card ist die Befürchtung, dass Gesundheitsdaten in großem Umfang abgelegt werden und es dann keinen Schutz gegen entsprechende Begehrlichkeiten etwa von gesetzlichen Kassen oder privaten Versicherungen gebe. Das technische Risiko, dass Verschlüsselungstechnologien veralten und durch neue, sicherere ersetzt werden müssen, haben wir im Blick, und wir setzen uns dafür ein, dieses Risiko so weit wie möglich zu minimieren. Auch rechtlich besteht ein gewisses Restrisiko, da niemand von uns ausschließen kann, dass in Zukunft gänzlich andere demokratische Entscheidungen im Bundestag fallen. Ich setze jedoch darauf, dass sich die Grünen auch in Zukunft für den Schutz persönlicher Daten stark machen werden. Darüber, ob Daten aus der Patientenakte für die Kassen wirklich so attraktiv sind, wie die Kritiker vermuten, sollte ein realistischer Diskurs geführt werden. Den gesetzlichen Krankenkassen liegen bereits heute alle ambulanten und stationären Diagnosen sowie Informationen über die verordneten Arzneimittel vor – der gegenüber den gesetzlichen Krankenversicherungen gläserne Patient existiert bereits heute. Private Versicherer haben beim Abschluss von Versicherungsverträgen im Versicherungsvertragsrecht geregelte Auskunftsrechte über in der Vergangenheit liegende Erkrankungen und Behandlungen. Aus der Debatte um das Gendiagnostikgesetz weiß ich, dass hierbei den rechtlichen Grenzen nicht immer Rechnung getragen wird. Es kommt immer wieder vor, dass Ärztinnen und Ärzte nicht den Fragebogen der Versicherung ausfüllen, sondern die ganze Patientenakte kopieren und weitergeben. Das sind klare Verstöße gegen den Datenschutz, die dazu führten, dass via Gendiagnostikgesetz privaten Versicherern verboten wurde, „zufällig“ erlangte Informationen zu genetischen Erkrankungen zu verwenden. Es gibt einiges zu tun, um im Gesundheitswesen dem Datenschutz und dem informationellen Selbstbestimmungsrecht der Versicherten Genüge zu tun. Erst auf unsere grüne Intervention hin wird sich der Gesundheitsausschuss in der nächsten Sitzung mit datenschutzrechtlichen Aspekten des Versorgungsstrukturgesetzes befassen. Zu klären ist etwa, ob die vorgeschlagene Änderung der §§ 303 a bis f SGB V, mit der ein sehr breiter Personenkreis Zugang zu den im Risikostrukturausgleich genutzten Gesundheitsdaten von Versicherten bekommt, dem Datenschutz umfassend Rechnung trägt oder ob hier nachgebessert werden muss. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist das somit auch beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs – Drucksache 17/7196 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt. Karin Maag (CDU/CSU): Der Antrag ist bereits in der Darstellung des Sachverhalts falsch. Der Konsum illegaler Drogen ist weder eine Alltagserscheinung, noch wird er es jemals sein. Tatsächlich lag der Anteil der Personen mit Cannabisabhängigkeit unter den 18- bis 59-Jährigen bei 1,3 Prozent im Jahr 2009. 4,8 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren geben an, in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben. Von einer „Alltagserscheinung“ zu sprechen, ist bereits bar jeder Realität. Sie wollen angeblich eine progressive Drogenpolitik. Der Vorschlag zur Legalisierung des Besitzes von Cannabis und zur Legalisierung des Anbaus, insbesondere für Dritte, ist keine progressive Drogenpolitik, sondern führt zu gesetzlich zugelassenen Drogendealern. Eine sinnvolle Suchtpolitik stellt den Menschen in den Mittelpunkt, mit seinen spezifischen, meist suchtstoffübergreifenden Problemen. Es geht um die Fragen der Entstehung von Sucht, der meist ein komplexes Geflecht aus Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, Störungen im emotionalen Gleichgewicht oder Misshandlung zugrunde liegt. Wir stellen mit unserem Verständnis von Drogen und Suchtpolitik deshalb Prävention, Therapie, Hilfe zum Ausstieg und die Bekämpfung der Drogenkriminalität in den Mittelpunkt. Unser christliches Menschenbild geht vor allem vom freien, unabhängigen Menschen aus. Denn wer abhängig ist, kann nicht frei über sein Leben entscheiden. Genau deshalb stehen wir zuerst für Prävention und im zweiten Schritt für Hilfe zum Ausstieg. Staatliche Strafverfolgung ist und bleibt notwendig, um den Schutz der Gesundheit Dritter, aber vor allem auch von Kindern und Jugendlichen zu sichern. Der Bund fördert mit diesem Verständnis von Sucht zahlreiche Initiativen und Projekte, die sich insbesondere an jugendliche Konsumenten wenden. Ich verweise hier zum Beispiel auf das Internetangebot der BZgA „drugcom.de“. Wir wollen die Menschen mit riskantem Cannabiskonsum so früh wie möglich mit unterschiedlichsten Angeboten erreichen, um so den Ausstieg zu ermöglichen oder zumindest den Konsum reduzieren. Das ist für mich der richtige Weg. Konkret zu Ihrem Antrag stelle ich fest: Illegale Drogen wie Cannabis stellen nachgewiesenermaßen und entgegen Ihrer Darstellung für die Gesundheit der Menschen eine erhebliche Gefahr dar. Während in anderen europäischen Staaten, allen voran den Niederlanden, der Konsum von Cannabis, Haschisch, Marihuana, immer weiter eingeschränkt wird, wollen Sie mit Ihrem Antrag „Cannabis-Clubs“ in Deutschland künftig erlauben. Damit befinden Sie sich auf einer drogenpolitischen Geisterfahrt! Wir reden heute konkret von 600 000 Personen, die Cannabismissbrauch betreiben oder von Cannabis abhängig sind. Es ist uns deshalb ein wichtiges Anliegen, den Missbrauch von Cannabis zu verhindern; denn Cannabis ist eine berauschende Substanz, deren Konsum gesundheitsgefährdend ist. Nicht zuletzt gehen wir sehr differenziert vor: Mit der Fünfundzwanzigsten Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften haben wir neben anderen wichtigen Regelungen zur Verbesserung der betäubungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen auf dem Gebiet der Palliativmedizin auch die betäubungsmittelrechtlichen Voraussetzungen für die Zulassungs- und Verschreibungsfähigkeit cannabishaltiger Fertigarzneimittel geschaffen. Eine allgemeine Legalisierung des Cannabiskonsums lehnen wir ab. Die von mehr als 180 Staaten unterzeichneten Suchtstoffkonventionen der Vereinten Nationen verpflichten die Bundesrepublik Deutschland überdies, die Verwendung von Cannabis und anderen Suchtstoffen auf ausschließlich medizinische oder wissenschaftliche Zwecke zu beschränken sowie den Besitz, Kauf und Anbau für den persönlichen Verbrauch mit Strafe zu bewehren. Deshalb ist in Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten, die allesamt Vertragsstaaten der Suchtstoffkonventionen sind, der Verkehr mit Cannabis – dazu zählen insbesondere Anbau, Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe, Veräußerung, Erwerb und Besitz von Pflanzen oder Pflanzenteilen – nach dem BtMG grundsätzlich strafbar. Hiervon umfasst ist auch der „Eigen-“ Anbau. Auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits früh in seiner bekannten „Cannabis-Entscheidung“ vom 9. März 1994 die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Cannabisverbote anerkannt. Mit seinen Beschlüssen vom 29. Juni 2004 und 30. Juni 2005 hat das Bundesverfassungsgericht seine früheren Entscheidungen zur Strafbarkeit in aller Deutlichkeit bestätigt und unsere Haltung ausdrücklich gestärkt. Das Gericht hat lediglich die Strafverfolgungsorgane aufgefordert, von der Verfolgung der in § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes – einer damals noch sehr jungen Vorschrift – bezeichneten Straftaten unter den dort genannten Voraussetzungen nach dem Übermaßverbot abzusehen bzw. die Strafverfahren einzustellen. Die Länder wurden aufgefordert, für eine einheitliche Einstellungspraxis bei Strafverfahren wegen Cannabisbesitz, zum Beispiel hinsichtlich der „geringen Menge“, zu sorgen. Dieser Verpflichtung sind die Länder im Wesentlichen nachgekommen. In der Regel fand eine Verurteilung wegen des Besitzes kleiner Mengen Cannabis – bis zu 6 Gramm – unter den übrigen Voraussetzungen nicht statt. Wenn Sie überdies die Gewerkschaft der Polizei zu Kronzeugen Ihrer Forderung machen wollen, mit dem Hinweis, dass man auch dort zu neuen Wegen in der Drogenpolitik rät, ist dies vorsichtig ausgedrückt unredlich. Denn dort wird betont, dass es eben gerade nicht um die Freigabe illegaler Drogen gehe, sondern um die effektive Nutzung polizeilicher Ressourcen in der Polizeiarbeit. Bezüglich des Anbaus, Handels und Besitzes von Cannabis ist die Rechtslage unverändert. Dies ist auch richtig! Denn die grundsätzliche Strafbarkeit beruht auf der Gefahr der Weitergabe an Dritte und dem Ziel des Gesundheitsschutzes des Einzelnen und der Bevölkerung. Auch neuere Studien haben Cannabis nicht als unbedenklich bewertet; vielmehr wird auf eine Reihe akuter und langfristiger Risiken des Cannabiskonsums hingewiesen. Die Gefährlichkeit des Cannabiskonsums wird in den letzten Jahren sogar eher höher eingeschätzt als früher, zumal eine stetige Steigerung des THC-Gehalts bei Cannabisprodukten zu beobachten ist. Die Gesundheitsgefahren des Cannabismissbrauchs gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sind medizinisch erwiesen. Ich bin auch dankbar, dass sich in jüngster Zeit grundsätzlich ein Rückgang im Konsum und in der Verbreitung von Cannabis zeigt. Dies zeigt doch vor allem, dass unsere zahlreichen Initiativen und Projekte Wirkung zeigen. Dies gilt es fortzusetzen. Dafür stehen dem Bund im Jahr 2012 rund 12,6 Millionen Euro und insbesondere rund 7 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung. Abschließend bleibt festzuhalten: Mit dem Willen unserer Fraktion werden auch künftig der Handel und die Verwendung von Cannabis zu Rauschzwecken verboten bleiben. Durch die präventive Wirkung der Strafdrohung soll die Verfügbarkeit und Verbreitung der Substanz weiterhin eingeschränkt bleiben. Wir werden kein „Modellprojekt“ unterstützen, das die Grenzen zur Illegalität weit überschreitet. Insbesondere lehne ich alle Maßnahmen mit dem Potenzial zur unmittelbaren und aktiven Förderung des Konsums von Drogen ab. Ein „Cannabis-Club“ könnte von Jugendlichen als Aufmunterung zum Drogenkonsum verstanden werden. Ebenso suggeriert ein solcher Club eine vermeintliche Sicherheit. Bei den Jugendlichen kann somit der falsche Eindruck entstehen, dass es sich bei Cannabis um ein „unbedenkliches“ Produkt handelt. Für eine wirksame Drogenprävention werden mit einem solchen Club kontraproduktive Botschaften transportiert. Angesichts der nachgewiesenen gesundheitlichen Folgen und Nebenwirkungen von Drogenkonsum ist die Legalisierung von Cannabiskonsum und -besitz der deutlich falsche Weg. Der effektivste Schutz vor illegalen Substanzen besteht vielmehr darin, den Konsum dieser Substanzen konsequent zu unterlassen. Das erfordert unsere Anstrengungen in der Prävention und vor allem auch dahin gehend, die Lebensbedingungen für junge Menschen in Deutschland so zu gestalten, dass eine Flucht aus der Realität in die Sucht erst gar nicht als Ausweg in Betracht gezogen wird. Genau in diesem Bereich ist die christlich-liberale Koalition mit ihren Anstrengungen zum Beispiel für Arbeitsplatzsicherheit und daraus resultierend zum Beispiel einer der besten Quoten für Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf dem richtigen Weg. Die Bundesregierung wird überdies in Kürze die Nationale Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik vorstellen. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die Situation im Zusammenhang mit dem Cannabisgebrauch in Deutschland ist immer noch besorgniserregend. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht Cannabis nicht als harmlose Droge an. Der Cannabiskonsum bei jungen Menschen ist zwar leicht rückläufig, doch immer noch auf einem relativ hohen Niveau. Der Wert für die jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren, die mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert haben, lag im Jahre 2010 immer noch bei 35 Prozent. Das zeigt der aktuelle Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung. Junge Männer kommen auf Werte von 41 Prozent, junge Frauen auf 28,8 Prozent. Und sogar 12- bis 15-Jährige haben bereits eine nennenswerte Konsumerfahrung. Man sieht an den Zahlen, dass gerade junge Menschen mit der sogenannten weichen Droge Cannabis Erfahrungen machen. Daher müssen wir hier ganz genau hinschauen. Die Linksfraktion fordert in ihrem Antrag, sowohl den strafrechtlich relevanten Wert für den Eigengebrauch stark zu erhöhen, als auch Cannabis-Clubs einzuführen. Wir sollten dies vor dem Hintergrund ihres Parteitagsbeschlusses am vergangenen Wochenende, sämtliche Drogen, sowohl weiche als auch harte, zu legalisieren, betrachten. Wegen der hohen Suchtgefahr, die harte Drogen mit sich bringen, halte ich es für gefährlich, die Verfügbarkeit dieser Drogen erleichtern zu wollen. Es steht für mich außer Frage, dass eine Legalisierung eine deutliche Ausweitung der Zahl der Erstkonsumenten und damit der Süchtigen zur Folge hätte. Auch diejenigen, die einen Gang zum Dealer scheuen oder gar keinen kennen, könnten problemlos harte Drogen erhalten. Wer den Weg der Legalisierung harter Drogen gehen will, muss die Konsequenzen bedenken. Wenn harte Drogen auf eine Ebene mit Alkohol und Tabak gehoben werden sollen, warum sollen dann Crystal, Heroin, Kokain und Ecstasy nicht offiziell in Clubs oder Kneipen oder am Kiosk erhältlich sein? Wer legalisieren will, kann nicht nur ein „bisschen“ legalisieren. Sollen Cannabis-Clubs ein erster Schritt für diese Komplettlegalisierung nach dem Wunsch der Linksfraktion sein? Welchen Geist atmet dieser Antrag, frage ich mich angesichts der jüngsten Beschlüsse dieser Partei? Wo werden Grenzen gezogen? Eine Grenze, die des Eigenbedarfs, soll schon in Ihrem Antrag ordentlich angehoben werden. Die eigentlich „geringe Menge“ soll in Ihrem Antrag jetzt schon auf 30 Gramm angehoben werden – ein Wert, der damit sämtliche Eigenbedarfsgrenzen in den Ländern kräftig übertrifft. Die Alternative zur Legalisierung von harten Drogen ist die Entkriminalisierung der Süchtigen. Diese müssen wir insbesondere bei der weichen Droge Cannabis in der Tat vorantreiben. Entkriminalisierung ist aber etwas anderes als Legalisierung. Ich fordere die Linksfraktion auf, den heutigen Antrag zum Anlass zu nehmen, auch Grenzen zu definieren und nicht allein dem Pseudotrend und Wettbewerb hinterherzurennen, die „spaßfreundlichste“ Partei zu sein - zumal die gesundheitlichen Folgen von Drogensucht alles andere als spaßig sind. An der FDP können Sie sehen, wie schief das mit dem Spaß gehen kann, wenn es zur realen Politik kommt. Die Reputation der gesamten Politik gerät dabei leider auch immer in Gefahr. Ausgehend von der grundsätzlichen Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis befürworte ich deshalb eine einheitliche Regelung zur Festlegung der Kriterien für die Einstellungspraxis nach § 31 a BtMG. Ich möchte betonen, dass die damalige SPD-geführte Bundesregierung als Reaktion auf die sogenannte Haschisch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bei den zuständigen Landesjustizministerien insbesondere die Festlegung einer „geringen Menge“ für den Eigenkonsum anregte. Auf diese Regelung beziehen Sie sich in Ihrem Antrag. Vor allem die starre Haltung der unionsgeführten Bundesländer, die bis heute leider immer noch eine destruktive Rolle bei einer Vereinheitlichung der „Geringe-Mengen-Regelung“ spielen, führt dazu, dass wir immer wieder unterschiedliche Gerichtsurteile in den einzelnen Gerichtsbezirken zur Kenntnis nehmen müssen. Nichtsdestotrotz gibt es heute in Deutschland zur Verfahrenseinstellung nach § 31 a BtMG eine im Wesentlichen einheitliche strafrechtliche Praxis und Rechtsprechung inklusive einer Festlegung für eine „geringe Menge“ für den Eigenkonsum in den Ländern. Ohne den Anstoß der damaligen SPD-geführten Bundesregierung würden wir noch heute darauf warten. Und mit Anträgen, die die Cannabislobby offenbar für die Linksfraktion schreibt, werden wir weiter auf bundeseinheitliche Regelungen warten, da die schwarz-gelbe Regierungskoalition diese Thematik fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Wissenschaftlich nachvollziehbare THC-Grenzwerte für den Straßenverkehr sind absolut wünschenswert. Eine grundsätzlich unterschiedliche Behandlung zwischen Cannabiskonsumenten und Alkoholkonsumenten ist im Grunde nicht hinzunehmen. Auch die SPD-Bundestagsfraktion will helfen, Parameter zu entwickeln, mit deren Hilfe zuverlässige Rückschlüsse auf die Fahrtüchtigkeit von Cannabiskonsumenten im Straßenverkehr gezogen werden können. In der Antwort der Bundesregierung vom 26. Januar 2011 auf meine Anfrage wird bezüglich dieser Frage festgestellt, dass die gesetzliche Einführung eines THC-Grenzwertes für den Straßenverkehr analog zu Alkohol auf absehbare Zeit nicht möglich sei, weil immer noch unter anderem die „Dosis-Konzentrations-Wirkungsbeziehungen weitgehend unbekannt sind“, so die Bundesregierung. Bei Drogen wie Cannabis handele es sich um eine Vielzahl von Mitteln und Substanzen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Fahrleistungen. Diese Auswirkungen würden von einer Vielzahl von Faktoren, wie zum Beispiel Konsumgewohnheiten und Konsumform, beeinflusst und hingen nicht allein von der festgestellten Substanzmenge im Körper ab. Wir müssen daher immer noch auf wissenschaftlich valide Parameter warten, die für die Polizeibehörden auch im Alltag praktikabel umsetzbar sind. Daher ist die Forderung in Ihrem Antrag, eine Höchstgrenze für den THC-Gehalt im Blut für den Straßenverkehr einzufordern, unrealistisch und erscheint mir schlichtweg zu einfach. Es gibt, wie gesagt, gute Gründe für eine Entkriminalisierung von Cannabis. Doch zu einem erhöhten Schutz im Straßenverkehr und zu einer Abnahme des Konsums insgesamt würden Ihre vorgeschlagenen Maßnahmen sicherlich kaum beitragen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist weiterhin dafür, die Problematik sowohl beim Cannabis-Eigengebrauch als auch bezüglich der Abgabe von Cannabis sorgfältig abzuwägen. Schnellschüsse und ungeprüfte Vorschläge ins Blaue hinein wie die im vorliegenden Antrag der Linksfraktion oder in Ihrem Parteitagsbeschluss zur Legalisierung aller Drogen – ob hart oder weich - sind leider dabei nicht hilfreich. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Die Legalisierung von Cannabis ist ein drogenpolitischer Dauerbrenner, der in regelmäßigen Abständen immer wieder auf der Tagesordnung erscheint. Auch die FDP-Bundestagsfraktion hat sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Nach Abwägung aller Argumente sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir eine grundsätzliche Legalisierung von Cannabis ablehnen. Was wir befürworten und mittlerweile auch umgesetzt haben, ist die Freigabe von Cannabis als Arzneimittel. Das ist richtig und wichtig und hilft insbesondere Schmerzpatienten. Eine Freigabe von Cannabis als Konsumgut lehnen wir jedoch ab. Denn die in der Öffentlichkeit oft geäußerte völlige Unbedenklichkeit des Hanfkonsums entspricht nicht den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Experten warnen insbesondere, dass Cannabis immer stärker und immer giftiger wird. Der THC-Gehalt ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen. Beispielsweise weisen Experten auf die Gefahr von schizophrenen Psychosen hin. Allerdings halte ich den Weg, den Gelegenheitskonsumenten zu entkriminalisieren, für richtig. Meiner Meinung nach muss angemessen und verhältnismäßig auf die Tatsache reagiert werden, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints ein gesellschaftliches Phänomen ist. Das muss nicht repressiv und mit aller Staatsmacht angegangen werden. Hier sollte nach praktikablen Lösungen gesucht werden, die auch die Behörden und Gerichte so wenig wie möglich belasten. Die derzeitige Rechtslage hinsichtlich der Strafverfolgung bei Eigenbedarfsmengen bietet hierfür einen ausreichenden Rahmen. Interessant ist aber, wie die Linke mit dem Thema Drogenpolitik grundsätzlich umgeht. In ihrem ersten Parteiprogramm setzt sich die Linke für die Legalisierung aller Drogen ein – egal, ob harte oder weiche. Auch Ihr Versuch, den Beschluss ein wenig zu relativieren, kann über Ihre drogenpolitische Irrfahrt nicht hinwegtäuschen. Denn es ist bemerkenswert, dass Ihre Argumentation nicht schlüssig ist. In Ihrem Antrag zum Thema „Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs“ behaupten Sie: „Cannabis durch ein Verbot gesetzlich auf eine Ebene mit harten Drogen wie Heroin zu stellen, wird seinem Gefährdungspotenzial nicht gerecht.“ Sie wollen also eine Klassifizierung in harte und weiche Drogen. Sie erkennen also an, dass es sehr wohl einen Unterscheid zwischen Cannabis und Heroin gibt, ganz besonders hinsichtlich des offenkundigen Gefährdungspotenzials. In Ihrem Parlamentsantrag ist dies noch einigermaßen nachvollziehbar hergeleitet. In Ihrem neuen Programm heißt es dann jedoch: „Die Unterscheidung in legale und illegalisierte Substanzen ist willkürlich.“ Fest steht aber: Es ist absolut gerechtfertigt, dass Suchtmittel oder Produkte mit Suchtpotenzial unterschiedlich bewertet, klassifiziert und entsprechend als legal oder illegal eingestuft werden. Und die tatsächliche Unterscheidung ist alles andere als willkürlich. Cannabis bewerte ich als Einstiegsdroge. Denn es gibt Studien, die nachweisen, dass der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol, THC, der in Cannabis enthalten ist, das Gehirn viel anfälliger für Opiate macht. Der Weg zum Heroin ist dann leider oft sehr kurz. Sicherlich, der übermäßige Konsum legaler Produkte mit Suchtpotenzial wie alkoholhaltige Getränke ist auch schädlich. Doch die überwiegende Mehrheit der Menschen genießt Bier, Wein etc. in verantwortungsvoller Weise und ohne abhängig zu werden. Deshalb sind diese Produkte auch legal. Bei den nach aktueller Rechtslage illegalen Substanzen kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass deren Konsum dauerhaft verantwortungsvoll und unschädlich bleibt. Der Zeitraum vom ersten Gebrauch bis zur Abhängigkeit ist bei illegalen Stoffen um ein Viel-faches kürzer als beispielsweise bei alkoholhaltigen Getränken. Cannabiskonsum bewirkt eine deutliche chemische Veränderung des Belohnungssystems im Gehirn. THC-Konsum hinterlässt Spuren. Das Belohnungssystem braucht wegen seiner veränderten Chemie deutlich mehr Drogen, bis es einen Zustand von Zufriedenheit vermitteln kann. Das ist die Suchtspirale, die zu immer kürzeren Konsumintervallen und immer stärkeren Dosierungen führt. Das wollen wir nicht legalisieren. Deshalb halte ich die Unterscheidung in legale und illegale Substanzen für gerechtfertigt, und deshalb halte ich es für richtig, dass Cannabis nicht legalisiert wird. Die FDP-Bundestagsfraktion hat eine klare Linie und wird den vorliegenden Antrag ablehnen. Frank Tempel (DIE LINKE): Mit dem Antrag zur Einführung von Cannabis-Clubs möchten wir als LINKE dazu beitragen, dass die Kriminalisierung des Cannabiskonsums beendet wird. Zwar ist der Konsum nicht verboten, die Beschaffung und der Besitz hingegen schon. Als Kriminaloberkommissar habe ich selbst in der Drogen-Strafverfolgung gearbeitet und ich bin zu dem Ergebniss gekommen, dass die bisherige Praxis der Strafverfolgung den Konsum von Cannabis nicht verringert, dafür aber die Konsumierenden kriminalisiert. Die Bundesregierung verweist in ihrer Beantwortung von Kleinen Anfragen zu diesem Thema immer wieder darauf hin, dass die aktuelle Verbotspraxis dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung dienen soll. Ich bin hingegen zur Einschätzung gekommen, dass die aktuelle Verbotspraxis einen funktionierenden Gesundheitsschutz verhindert. Während der Verbraucherschutz dafür Sorge trägt, dass in einer Flasche Bier auch nur das enthalten ist, was auf dem Etikett steht, werden 4 Millionen Cannabiskonsumenten – von denen nur ein relativ kleiner Teil ein problematisches Konsumverhalten aufweist – der Gefahr ausgesetzt, durch Streckmittel schwere gesundheitliche Folgen zu erleiden. Das Wort Streckmittel klingt erst einmal harmlos, ich möchte ihnen daher aufzählen, was bisher in Cannabis an Streckmitteln gefunden wurde: Brix – eine Mischung aus Zucker, Hormonen und flüssigem Kunststoff –, Sand, Talkum, Zucker, Haarspray, Glas, Gewürze, Blei, Phospor/Kaliumdünger sowie Schimmel. Wahrscheinlich gibt es noch andere Arten von Streckungen, aber das sind diejenigen, die vom Deutschen Hanfverband, DHV, dokumentiert wurden. Nach Informationen des DHV haben sich seit Mai 2009 fast 3 000 Konsumierende an den DHV gewendet, nachdem diese Streckmittel in Cannabis festgestellt hatten. Von Streckmitteln geht eine erheblich größere Gefahr für die Gesundheit der Konsumierenden aus als vom Cannabiskonsum an sich. So müssen Betroffene einer Bleivergiftung teilweise noch jahrelang Medikamente zu sich nehmen, um das Blei, das sich in den Knochen festsetzt hat, abzubauen. Wir müssen uns an dieser Stelle nichts vormachen: Durch die bestehende Illegalität helfen wir dem Dealern, riesige Gewinnen zu erzielen. Unter diesen gibt es natürlich auch Fälle, in denen versucht wird, mit der Beimischung von anderen Substanzen das Gewicht und damit den Preis der Ware zu manipulieren. Eine Legalisierung nach unserem Modell würde denen aber die komplette Handelsgrundlage entziehen. 1994 war der strafrechtliche Umgang mit Cannabisprodukten Gegenstand eines Vorlagebeschlusses des Landgerichts Lübeck. Dort wurde die Strafverfolgung bei Besitz von geringen Mengen Cannabis als Eigenverbrauch als unverhältnismäßig beurteilt. Die Folge daraus war leider ein Flickenteppich von 16 verschiedenen gesetzlichen Regelungen in Deutschland, was die Strafverfolgung von Cannabiskonsumierenden angeht. Während in Berlin ein Strafverfahren aufgrund des Besitzes von bis zu 15 Gramm Cannabis von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden kann, ist das in Bayern nur bis 6 Gramm möglich. Dieser Unsinn muss dringend beendet werden. Wenn Sie diesem Antrag schon nicht zustimmen, dann sorgen Sie doch wenigstens für eine einheitliche Rechtspraxis, in dem Sie eine geringe Menge im Betäubungsmittelgesetz festlegen! Mittlerweile hat sich die Verfolgung von Cannabiskonsumierenden vom Strafrecht auf das Straßenverkehrsrecht verlagert. Deshalb benötigen wir endlich einen wissenschaftlich fundierten Grenzwert von Cannabisleitsubstanzen, der die tatsächliche Beeinflussung der Fahrtüchtigkeit widerspiegelt. Klar ist, ein Verkehrsteilnehmender unter Cannabiseinfluss muss rechtlich sanktioniert werden. Aber es ist nicht nachvollziehbar, warum bei gelegentlichem Cannabiskonsum der Führerschein entzogen werden kann, wenn Spuren von Cannabiskonsum im Blut nachweisbar sind, obwohl eine Rauschwirkung zum Zeitpunkt der Kontrolle längst nicht mehr vorliegt. Mit unserem Vorschlag zur Einführung von Cannabis-Clubs wollen wir zudem auf ein Modell zurückgreifen, zu dem es in der Europäischen Union bereits gute Erfahrung gibt. In Spanien wurden die Cannabis Social Clubs im Jahr 2005 ermöglicht. Der Cannabisanbau in diesen Clubs unterliegt Qualitätskontrollen. Das angebaute Cannabis dient zudem nur dem Eigenverbrauch und darf nicht verkauft werden. Damit haben wir den Handel mit Cannabis verhindert und ermöglichen gleichzeitig, dass sich interessierte Konsumentinnen und Konsumenten zusammen-finden können, um gemeinsam Cannabis anzubauen und Erfahrungen auszutauschen. Werbung dafür bleibt verboten, so wie es im Übrigen auch ein generelles Werbeverbot für andere legale Drogen wie Alkohol und Nikotin geben sollte. Denn eine liberale Drogenpolitik besteht aus progressiven, aber auch repressiven Instrumenten. Ein weiterer wichtiger Punkt, der mit Einführung von Cannabis-Clubs Unterstützung finden würde, ist die Prävention vor Drogenmissbrauch. Umso stärker sich offen mit Drogen auseinandergesetzt wird und die jeweiligen Gefahren und Wirkungsweisen verstanden werden, umso erfolgreicher funktioniert die Prävention. So hat beispielsweise die Liberalisierung der Drogenpolitik in Portugal gezeigt, dass dadurch nicht mehr Drogen konsumiert wurden, dafür aber der Missbrauch und damit auch die Zahl der Abhängigen zurückgegangen ist. Nutzen Sie diese Gelegenheit und diskutieren Sie mit uns über neue Wege in der Drogenpolitik. Ich freue mich auf die Diskussionen dazu im Ausschuss und hoffe, dass wir die Debatte darüber sachlich führen können. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach dem drogenpolitisch turbulenten Wochenende bei den Linken liegen nun Ihre konkreten Vorschläge auf dem Tisch. Es gibt die berechtigte Fragestellung, die in ihrem Antrag aufgeworfen wird, ob die derzeitige repressive Drogenpolitik überhaupt die gewünschten Wirkungen entfaltet. Diese Frage wird durch die Realität nicht nur bei uns in Deutschland tagtäglich beantwortet: Der Konsum bestimmter Drogen wird durch ihr strafrechtliches Verbot nicht nennenswert verhindert. Schon allein deswegen ist ein solches Verbot mindestens verzichtbar. Aber ich finde andere Fragen in diesem Zusammenhang noch wesentlich wichtiger: Welche negativen Folgen hat eigentlich die repressive Drogenpolitik, wie wir sie hier in Deutschland praktizieren? Welche Folgen hat sie für die Anbauländer, welche für die Transitländer und vor allem: Welche Folgen hat sie für die Konsumentinnen und Konsumenten dieser Drogen? In welcher Weise behindert das Verbot etwa eine zielgerichtete Prävention riskanter Konsumformen? Welche Auswirkungen hat der durch das Verbot geschaffene Schwarzmarkt für die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten? Wenn man sich diese Fragen stellt, wird recht schnell klar, warum dieser Antrag nicht konsequent genug ist: Die Legalisierung von Cannabis durch sogenannte Social Clubs, so wie die Linken dies vorschlagen, ist gerade nicht eingebunden in ein sinnvolles Konzept aus Prävention, Schadensminderung und Therapie. Die Zahlen zum Cannabiskonsum zeigen deutlich, dass es nur wenige Menschen gibt, die Cannabis in riskanter Form gebrauchen. Die übergroße Mehrheit betreibt offensichtlich einen selbstverantwortlichen Konsum. Aber gerade wegen dieser Wenigen muss eine wie auch immer geartete Abgabe von Cannabis oder anderer weicher Drogen eingebunden werden in ein Präventionskonzept. Dazu gehört schon etwas mehr als ein bisschen Lebensertüchtigung in Schulen und ein Werbeverbot für die Clubs. Wir haben bereits in der vergangenen Wahlperiode in unserem Antrag deutlich gemacht, wie aus unserer Sicht eine Entkriminalisierung von weichen Drogen wie Cannabis so umgesetzt werden könnte, dass dabei die Prävention im Vordergrund steht. Ich habe darüber hinaus erhebliche Zweifel, ob das unter anderem in Spanien praktizierte Modell der Cannabis Social Clubs ohne Weiteres auf Deutschland übertragbar ist. Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit diesem eher romantisierenden Ansatz wirklich weiterkommen. Was geschieht zum Beispiel mit Konsumentinnen und Konsumenten, die es ablehnen, sich in einem solchen Verein namentlich registrieren zu müssen? Was machen Konsumentinnen und Konsumenten, die keinen Eigenanbau betreiben können oder wollen? Für sie ändert sich gar nichts. Sie müssen ihr Cannabis weiter illegal auf dem Schwarzmarkt erwerben. Wer nicht nur die Entkriminalisierung von Cannabis, sondern sogar die Legalisierung von Cannabis fordert, der muss sich auch Gedanken darüber machen, wie dann dem Umstand Rechnung getragen wird, dass internationale Übereinkommen diesem Legalisierungsanliegen entgegenstehen. Hier vermisse ich in Ihrem Antrag wenigstens einen Hinweis, wie Sie mit diesem Problem umzugehen gedenken. Darüber hinaus wirft der Antrag der Linken weitere Fragen auf. Sie fordern beispielsweise, für den Straßenverkehr eine wissenschaftlich begründete THC-Höchstgrenze im Blut einzuführen. Damit werden sie das Problem aber nur teilweise lösen. Denn unabhängig davon, wie hoch der Grenzwert ist und ob bei Cannabiskonsumenten der Nachweis von THC mit einem akuten Rausch gleichgesetzt werden kann, kann regelmäßigen Cannabiskonsumentinnen und konsumenten heute der Führerschein entzogen werden, auch dann, wenn sie gar nicht unter Einfluss von Cannabis Auto fahren. Nach meiner Auffassung ist hier auch eine Änderung der Führerscheinverordnung notwendig. Damit lassen sich dann auch die häufig willkürlichen MPUs vermeiden. Nun will ich nicht behaupten, dass wir Grünen drogenpolitisch gesehen die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Zu einer verantwortlichen Drogenpolitik gehört es für mich aber auch, sich dafür zu interessieren, welche Wirkungen eine bestimmte Politik in der Praxis hat. Deswegen haben wir in der vergangenen Wahlperiode in unserem Antrag ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt vorgesehen, mit welchem die Wirkungen einer kontrollierten Abgabe beispielsweise in lizenzierten Abgabestellen überprüft wird. Eine solche Regelung fehlt leider ebenfalls in Ihrem Antrag. Wir Grünen sind klar für eine grundlegende Reform der Drogenpolitik. Dazu gehört auch eine Entkriminalisierung von Cannabis und anderen weichen Drogen. Wir sehen diesen Antrag daher vor allem als Chance, die derzeitige Drogenpolitik und deren negative Folgen auf den Prüfstand zu stellen und notwendige Alternativen zu thematisieren. Denn anders als etwa im angelsächsischen Raum wird in Deutschland viel zu wenig die Frage nach dem Preis gestellt, den unsere Gesellschaft, aber auch andere Gesellschaften für die repressiv ausgerichtete Drogenpolitik zahlt. Ich würde mich freuen, wenn wir dieser Frage auch in den Ausschussberatungen und in einer Anhörung nachgehen können. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7196 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist auch das so beschlossen. Sie werden es nicht glauben, meine Kolleginnen und Kollegen: Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 28. Oktober dieses Jahres, 9 Uhr, ein. Es sind alle herzlich eingeladen, auch morgen früh schon da zu sein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 21.44 Uhr ) Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Barnett, Doris SPD 27.10.2011 Bülow, Marco SPD 27.10.2011 Caesar, Cajus CDU/CSU 27.10.2011 Dörflinger, Thomas CDU/CSU 27.10.2011 Gloser, Günter SPD 27.10.2011 Gohlke, Nicole DIE LINKE 27.10.2011 Heil, (Peine) Hubertus SPD 27.10.2011 Dr. Hoyer, Werner FDP 27.10.2011 von Klaeden, Eckart CDU/CSU 27.10.2011 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 27.10.2011 Kunert, Katrin DIE LINKE 27.10.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 27.10.2011 Ludwig, Daniela CDU/CSU 27.10.2011 Merkel (Berlin), Petra SPD 27.10.2011 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 27.10.2011 Philipp, Beatrix CDU/CSU 27.10.2011 Dr. Ruppert, Stefan FDP 27.10.2011 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.10.2011 Seiler, Till BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 27.10.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 27.10.2011 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 27.10.2011 Weinberg, Harald DIE LINKE 27.10.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 27.10.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 27.10.2011 Zapf, Uta SPD 27.10.2011 Zöller, Wolfgang CDU/CSU 27.10.2011 Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen (Tagesordnungspunkt 12 a) Otto Fricke (FDP): Der Gesetzentwurf, nach dem der Bund ansteigend und ab 2014 dauerhaft 100 Prozent der Nettoausgaben des Vorvorjahres für die Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte für die Kommunen übernimmt, bürdet dem Bundeshaushalt dauerhaft Mehrbelastungen auf, für die es faktisch keine Gegenfinanzierung gibt. Damit wird vom Bund eine zusätzliche Belastung übernommen. Ich halte dies aufgrund der noch immer schwierigen finanziellen Lage des Bundes für nicht gerechtfertigt und den gefundenen Kompromiss für systemwidrig. Zudem belastet er die Verpflichtung des Bundes aus der Schuldenbremse der Verfassung erheblich. Im Besonderen halte ich dies für falsch, weil letztlich eine Finanzierung über ehedem für die Bundesagentur für Arbeit vorgesehene Umsatzsteuermittel vorgenommen wird. Nach meiner Auffassung wird hierdurch mal wieder ein Finanzierungsweg beschritten, der eine Entwicklung befördert, durch die die Ausgabenstruktur des Bundeshaushalts, aber auch anderer Haushalte zunehmend vernebelt wird. Der Anteil am Bundeshaushalt, der originär bundeseigenen Zuständigkeiten zugeschrieben werden kann, wird zunehmend geringer. Dieses mindert die Klarheit und systematische Stringenz des Haushalts, was dazu führt, dass in einem gewissen Umfang die korrekte Kontrolle über Ausgaben verloren geht. Zudem kann der Bürger immer weniger erkennen, mit welcher Steuer er welche Ebene und welche Ausgabe finanziert. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Tatsache problematisch, dass Länder und Kommunen seit Jahren insgesamt weit mehr Steuereinnahmen haben als der Bund. Gerade weil auch ich erkenne, dass die Kommunen mit ihrer aktuellen Finanzausstattung nicht zurechtkommen können, halte ich es für wichtig, diesen einen eigenen Weg der Finanzierung zu ermöglichen, indem sie einen höheren Anteil an der Mehrwertsteuer sowie ein eigenes Hebesatzrecht bei der Lohn- und Einkommensteuer unter Wegfall der Gewerbesteuer erhalten. Hierdurch würde zum einen Verlässlichkeit geschaffen, indem die Kommunen sich darauf unabhängig von verwobenen Konstruktionen verlassen könnten. Zum anderen würde der Bundeshaushalt freigehalten von weiteren komplizierten Umverteilungen, die gar keine Bundeszuständigkeiten betreffen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass nunmehr die Gefahr droht, dass die den Kommunen mit diesem Gesetz zugewiesenen Mittel von den Ländern zum Anlass genommen werden, für eine Umverteilung der Finanzmittel auch an anderer Stelle zu sorgen. Entsprechende Gesetzesvorhaben in NRW lassen dies schon erkennen. Da es sich bei dieser Entscheidung für mich jedoch nicht um eine Gewissensentscheidung handelt, werde ich den Beschlussvorschlag meiner Fraktion und damit der Koalition mittragen. Gisela Piltz (FDP): Der heute verabschiedete Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen ist geeignet, den Städten und Gemeinden dringend benötigte finanzielle Handlungsspielräume zurückzugeben. Doch auch wenn die in dem Gesetz getroffenen Regelungen ein probates Mittel zur punktuellen Konsolidierung der kommunalen Haushalte darstellen, können diese nicht die dringend benötigte große Lösung bei der Reform der Gemeindefinanzen ersetzen. Vorzugswürdig und dem Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung mehr Rechnung tragend wäre in diesem Zusammenhang ein Konzept zur eigenverantwortlichen Ausgestaltung der kommunalen Haushalte durch die Städte und Gemeinden gewesen. Mittels der Ersetzung der Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer sowie einen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatzrecht könnte den Kommunen über punktuelle Lösungen hinaus eine verlässliche und vor allem planbare Grundlage zur Eigenfinanzierung an die Hand gegeben werden. Die nur noch schwer nachvollziehbaren Umverteilungskonstruktionen des bestehenden Systems gehörten dann der Vergangenheit an. Das Scheitern der entsprechenden Verhandlungen innerhalb der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen bedaure ich insoweit ausdrücklich. Damit die heute verabschiedete Hilfe jedoch tatsächlich auch den Adressaten erreicht, müssen die zur Verfügung gestellten Mittel auf direktem Wege den Adressaten, das heißt allen Kommunen, ohne Einschränkungen zugeleitet werden. Tendenzen in einigen Bundesländern, so etwa in Nordrhein-Westfalen, wonach zweckgebundene Mittel des Bundes nach eigenem Gutdünken der Landesregierungen umgewidmet werden sollen, sind deshalb nicht akzeptabel. Entscheidendes Kriterium für eine Beteiligung des Bundes an Aufwendungen in den Kommunen muss deshalb das Kostenerstattungsprinzip bleiben. Eine Umwidmung der zur Verfügung gestellten Mittel, zum Beispiel zur Gesundung einzelner kommunaler Kassen, stünde den Haushaltsgrundsätzen von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, die in den jeweiligen Gemeindeordnungen festgelegt sind, ersichtlich entgegen und wäre nach einheitlicher Bewertung schlechterdings rechtswidrig. Durch die Landesregierungen intendierte Einbußen auf der Einnahmeseite für finanziell gut aufgestellte Kommunen sind vor dem Hintergrund des Gesetzes damit nicht legitimierbar, die rechtmäßige Haushaltswirtschaft darf nicht durch Steuerung von dritter Seite konterkariert werden. Infolge der positiven Auswirkungen, die das Gesetz bei rechtskonformer Umsetzung durch die Länder haben wird, stimme ich für die Beschlussempfehlung der Koalitionsfraktionen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Evaluierung befristeter Sicherheitsgesetze – Evaluierung von Sicherheitsgesetzen – Kriterien einheitlich regeln, Unabhängigkeit wahren (Tagesordnungspunkt 14 a und b) Clemens Binninger (CDU/CSU): Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes leisten wir einen wichtigen Beitrag zur inneren Sicherheit in Deutschland. Wir stellen damit sicher, dass die bewährten Instrumente aus dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz nicht Anfang 2012 auslaufen, sondern weiterhin von den Sicherheitsbehörden in unserem Land angewandt werden können. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt uns, dass es eine ganze Reihe von sicherheitsrelevanten Vorkommnissen, von bekannt gewordenen Anschlagsplänen und verhinderten Anschlägen gab. Beispielhaft genannt sei hier nur die Düsseldorfer Zelle, die einen Anschlag vorbereitet und geplant hatte und deren Festnahme nur möglich war, weil die Sicherheitsbehörden unter anderem auf diese Instrumente zurückgreifen konnten, über die wir heute sprechen. Der Gesetzentwurf ist dadurch geprägt, dass wir erstens alle bewährten Instrumente für die Nachrichtendienste erhalten und auch über Januar 2012 hinaus bereitstellen. Zweitens streichen wir Befugnisse, die nie angewandt wurden und auf die daher offensichtlich verzichtet werden kann. Drittens sind im Gesetzentwurf auch weiterhin eine Befristung und eine Evaluation vorgesehen. Und darüber hinaus werden viertens Änderungen bei den Mitteilungspflichten vorgenommen. Ganz besonders die Auskunftsbefugnisse im Bereich der Telekommunikation, der Flugbuchungen und des Geldverkehrs sind für die Nachrichtendienste von besonderer Bedeutung. Wenn wir die Bekämpfung des Terrorismus ernst nehmen, müssen wir den Sicherheitsbehörden Instrumente an die Hand geben, um Informationen über Terrorverdächtige zu erhalten, über ihr Kommunikationsverhalten, ihre Reisebewegungen und ihre Finanztransaktionen. Gerade in einer Szene, die sich abschottet und sehr konspirativ agiert, sind diese Befugnisse oftmals der einzige Ansatz für die Sicherheitsbehörden, um Terrornetzwerke oder auch Einzel-täter zu entdecken. Es ist deshalb gut und richtig, dass wir diese Befugnisse beibehalten. Betroffen von diesen Maßnahmen sind lediglich Terrorverdächtige, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte und Tatsachen für diesen Verdacht vorliegen. Wer etwas anderes behauptet und den Eindruck erweckt, 80 Millionen Menschen in unserem Land seien von dem Gesetz betroffen, sagt schlicht die Unwahrheit. Wer es schwarz auf weiß nachlesen möchte, dem empfehle ich den Bericht zu den Maßnahmen nach dem Terrorismusbekämpfungsgesetz, der dazu detailliert Auskunft gibt und für jeden als Bundestagsdrucksache 17/4277 zugänglich ist. Wir haben im Vorfeld intensive Diskussionen darüber geführt, wie der Gesetzentwurf ausgestaltet werden soll. Die in der Sachverständigenanhörung in der vergangenen Woche gewonnenen Erkenntnisse haben wir ebenfalls diskutiert und zu einem nicht unerheblichen Teil berücksichtigt. Gegenüber der ersten Lesung haben wir den Gesetzentwurf noch einmal angepasst. Dabei geht es insbesondere um die Erhebung von Vertragsdaten bei Telediensten im Zusammenhang mit einem Terrorverdacht. Anders als bisher wird nun auch für diese Befugnis der Sicherheitsbehörden eine Mitteilungspflicht an den Betroffenen eingeführt. Wir haben uns dabei von der Überzeugung leiten lassen, dass Informationen, die in Zusammenhang mit einem konkreten Terrorverdacht von einem Nachrichtendienst erhoben werden, dem Betroffenen mitgeteilt werden sollen, sobald dies ohne Gefährdung der Maßnahme möglich ist. Dies gilt mit der vorliegenden Änderung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz unabhängig vom Medium der gewonnenen Daten. Entscheidend ist aber, und das will ich noch einmal betonen, dass wir die Datenerhebung bei den Telediensten deshalb ausnahmsweise in diese Mitteilungspflicht mit aufgenommen haben, weil sie aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte für einen Terrorverdacht durch einen Nachrichtendienst erfolgt. In vergleichbaren Bestimmungen im Bereich der Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung ist diese Mitteilung auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gefordert. Es handelt sich hier also um einen besonderen Fall. Wir stärken auch die Rolle der G-10-Kommission, die als unabhängige Instanz diese Maßnahmen kontrolliert. In der Begründung des Änderungsantrags haben wir deshalb zum Ausdruck gebracht, dass es unser gemeinsames Ziel sein muss, die G-10-Kommission personell und organisatorisch auch entsprechend auszustatten, damit sie ihre Aufgaben erfüllen kann. Ich denke, wir sollten uns angesichts der wachsenden Aufgabenvielfalt und des Aufgabenspektrums der Kommission auch insgesamt einmal Gedanken darüber machen, ob die Bezeichnung G-10-Kommission noch zutreffend ist, handelt es sich doch um eine Begrifflichkeit, die noch aus einer Zeit stammt, in der Telekommunikation fast ausschließlich mit dem Wählscheibentelefon stattfand und die Kommission über Briefe und abgehörte Analogtelefonie zu befinden hatte. Heute dagegen hat Kommunikation eine ganz andere Dimension. Ich denke an Mobiltelefonie, mobile Internetdienste auf dem Smartphone, E-Mails, Voice over IP, verschlüsselte Telefonie, die Kommunikation im Chat, in Foren usw. Diesem technischen Fortschritt, der ja auch die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden immer wieder vor neue Herausforderungen stellt, müssen wir aus meiner Sicht mittelfristig auch dadurch Rechnung tragen, dass wir über Anpassungen des Aufgabenkatalogs der G-10-Kommission sprechen. Es ist ein deutliches und gutes Zeichen, dass wir heute ein Gesetz verabschieden, das nicht nur von den Regierungsfraktionen mitgetragen wird, sondern auch die Zustimmung der SPD findet, zeigt es doch, dass die Sicherheitsgesetzgebung in diesem Bereich über die letzten zehn Jahre von allen Fraktionen, außer der Linken, wechselweise mitgetragen wurde. Dass die SPD sich hier zu ihrer Verantwortung bekennt, begrüße ich ausdrücklich. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen. Dass die Grünen zu diesem Schritt nicht in der Lage sind und sich nur dann als Bürgerrechtspartei gerieren, wenn sie in der Opposition sind, ist für mich Heldentum nach Ladenschluss. Unter Rot-Grün haben die Grünen dem TBG, also genau dem Gesetz zugestimmt, das die Grundlage für den heute vorliegenden Gesetzentwurf ist. Es ist unbestritten, dass wir in Deutschland seit Jahren eine hohe abstrakte Bedrohung durch den Terrorismus haben. Die Vergangenheit hat aber auch immer wieder gezeigt, dass die abstrakte Bedrohung sehr schnell konkret werden kann. Deshalb müssen wir unsere Sicherheitsbehörden so aufstellen und ausstatten, dass sie in der Lage sind, Sicherheit zu gewährleisten – sei es in der Strafverfolgung, bei der Gefahrenabwehr oder im Rahmen der nachrichtendienstlichen Arbeit im Vorfeld. Genau dazu leisten wir mit dem vorliegenden Gesetz einen wesentlichen Beitrag. Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Wir sprechen heute über die Verlängerung von einem Bündel an Sicherheitsgesetzen, für das fast alle Fraktionen im Bundestag Verantwortung tragen. Die SPD hat es zusammen mit den Grünen auf den Weg gebracht und mit der Union verlängert. Nun ist Schwarz-Gelb zuständig. Ich kann mich noch genau an die Wochen erinnern, als wir im Deutschen Bundestag im Jahr 2001 erstmals über die neuen Sicherheitsgesetze diskutiert haben. Wir standen unter dem Eindruck eines der schlimmsten Anschläge der neueren Geschichte. Wir standen in der Pflicht, eine Antwort zu finden auf eine neue Form terroristischer Bedrohung. Wir waren fest entschlossen und tief getroffen. Es wäre naiv zu glauben, dass sich in dieser Zeit das so wichtige Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit nicht verschoben hat. Einiges davon kann man zu Recht kritisieren. Aber ich glaube, alles in allem haben die beteiligten Fraktionen im deutschen Bundestag Augenmaß gehalten. Bei uns gab und gibt es keinen Patriot Act. Die flächendeckende Videoüberwachung hat sich in Deutschland – anders als in Großbritannien – nicht durchgesetzt. Und das ist auch gut so. Weil die Regierungskoalition diesen maßgeblich von der SPD mitbestimmten Kurs fortsetzt und es keine Verschiebung des Koordinatensystems von Freiheit und Sicherheit zulasten der Freiheit gibt, stimmen wir heute Ihrem Gesetzentwurf zu. In der Sachverständigenanhörung des Innenausschusses hat sich gezeigt, dass die Instrumente in der Sicherheitspolitik verfassungsgemäß ausgelegt und angewandt wurden. Das heißt aber nicht, dass man sie alle auch weiter fortsetzen muss. Vor zehn Jahren glaubten wir noch, dass den Polizeibehörden der Eingriff in den Postverkehr wichtige Erkenntnisse bringen würde. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass sie überhaupt nicht benötigt wird. Im Sinne einer effizienten Sicherheitspolitik ist es klug, diese Grundrechtseingriffe in Zukunft nicht mehr zu erlauben. Der technische Fortschritt hat das Kommunikationsverhalten komplett verändert. Dem müssen wir in unseren Entscheidungen Rechnung tragen, sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung. In der Innen- und Rechtspolitik stehen wir völlig neuen Bedrohungen gegenüber. Gleichzeitig verändert sich das tägliche Leben der Menschen so sehr, dass wir mit den herkömmlichen Ermittlungsmethoden alleine nicht mehr weiterkommen. Unsere Aufgabe ist es, einen Kompromiss zu finden zwischen der Kriminalitätsbekämpfung und dem Recht der Bürger an den eigenen Daten. Hier ist kein Platz für Extremisten. Die Ausgewogenheit muss Maßgabe jedes innenpolitischen Handelns sein. Das ist in der Koalition nicht der Fall. Es ist gleichermaßen unverantwortlich, wenn einerseits die FDP die Vorratsdatenspeicherung blockiert und Teile der Union die rechtswidrige Nutzung von Staatstrojanern öffentlich verteidigen. Politik aus einem Guss sieht anders aus. Ich bitte beide Seiten: Kommen Sie hier zur Vernunft. Zur Ausgewogenheit gehört aber auch die Transparenz polizeilichen Handelns gegenüber der Politik, aber auch gegenüber jedem Bürger. Wenn ein wichtiges Grundrecht durch den Staat heimlich verletzt wird, muss der betroffene Bürger davon erfahren – solche Dinge dürfen nicht im Dunkeln bleiben. Hier gab und gibt es immer noch Defizite im Allgemeinen. Bei diesem Gesetz ist aber zu begrüßen, dass die Koalition die Benachrichtigungspflichten bürger- und grundrechtsfreundlicher gestaltet hat. Auch die wichtige Evaluation der Sicherheitsgesetze fasse ich unter den Punkt der Transparenz. Bedauerlich ist es, dass diese nur gegenüber uns Abgeordneten und nicht der gesamten Öffentlichkeit gilt. Wie Sie alle wissen, sind die Unterlagen, die wir bekommen, „nur für den Dienstgebrauch“ bestimmt. Hier hätte ich vor allem vom Kollegen Uhl etwas mehr Engagement erwartet. „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“, sagt er immer – eine Maxime, die sich staatliche Behörden zu eigen machen sollten. Der Bürger dagegen hat ein Recht auf Privatheit, nicht nur dem Nachbarn, sondern gerade auch dem Staat gegenüber. Meine Damen und Herren von der Koalition, auch wenn Sie mit Ihrem Antrag im Prinzip die richtige Richtung eingeschlagen haben: Einige Dinge gibt es dennoch zu kritisieren. Erstens. Die Evaluierung ist nicht im Sinne des Gesetzes verlaufen. Sie ist nur für das Jahr 2009 gemacht worden. Es ist aber eindeutig vorgeschrieben, dass der gesamte Auswertungszeitraum betrachtet werden muss. Wissenschaftliche Sachverständige wurden nur für die Überprüfung der Methoden, nicht der Inhalte eingesetzt. Das entspricht in keiner Weise der Gesetzeslage. Dafür ist der Innenminister massiv zu kritisieren. Ein Behördenleiter, der sich in solchem Maße einer von ihm erlassenen Verordnung widersetzen würde, wäre seinen Job innerhalb weniger Tage los. Zweitens. Sie haben die G-10-Kommission mit neuen Aufgaben überfrachtet. Hier ist möglicherweise sogar ein neues Gesetz notwendig. Das haben Sie vernachlässigt. Hier muss nachgebessert werden. Und Drittens. Sie verschenken mit der Gründung Ihrer Regierungskommission die Chance, einmal grundsätzlich über unsere Arbeit hier im Deutschen Bundestag zu diskutieren. Doch statt hierfür ein Gremium zu schaffen, das mit Sachverstand auf die wichtigen innenpolitischen Fragen unserer Gegenwart blickt, verlagern Sie lediglich Ihren immerwährenden Streit in einen von der Öffentlichkeit abgeschotteten Raum. Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Herr Friedrich schicken ihre Gesandten, damit die weiter in ihrem Namen streiten dürfen. Dabei täte uns allen hier ein unabhängiger und ausführlicher Blick auf unsere Arbeit gut. Der Fokus hat sich komplett verschoben. Das merkt man allein an der Wortwahl. In den 70er- und 80er-Jahren waren die Schlagwörter in der Kriminalpolitik „Repression“ und „Prävention“. Es ging gleichermaßen um die Strafverfolgung und die Frage, wie man Kriminalität mit Gesellschaftspolitik verhindern und vorbeugen kann. Diesen Dualismus würde ich mir heute auch wünschen. Aber Prävention und Prophylaxe als Überschriften auf der Suche nach gesellschaftlichen Ursachen von Terrorismus sind out. Strafverfolgung und Gefahrenabwehr werden mit einem ausschließlich repressiven Charakter ausgefüllt. Wir schauen zu stark auf die Sicherheit. Wie es Professor Gusy einmal richtig formuliert hat, ist in Deutschland eine neue Form der Gewaltenteilung entstanden: Der Gesetzgeber kümmert sich um die Sicherheit, das Bundesverfassungsgericht kümmert sich um die Freiheit. Das darf nicht zur Gewohnheit werden. Wir müssen die Prävention in der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung wieder stärker in den Vordergrund stellen. Nicht alles geht mit Polizei- und Sicherheitspolitik, manches geht nur über die Gesellschaftspolitik. Hier wünsche ich mir einen offenen Dialog, gerne auch in einer Kommission. Ergebnisse, die uns weiterbringen, erwarte ich von der Regierungskommission nicht. Die Kommission ist vor allem ein Alibi für Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nur ihr genehme Gesetze beschließen zu müssen. Dazu reicht der Innenminister mit diesem Gesetz unverständlicherweise die Hand. Gisela Piltz (FDP): „Freiheit ist für die Gesellschaft das, was die Gesundheit für den einzelnen ist. Ohne Freiheit kann es kein Glück für die Gesellschaft geben.“ Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts sagte das der britische Philosoph, Aufklärer und Staatsmann St. John Bolingbroke. Es ist immer noch aktuell. Auch wenn man dementsprechend vermuten könnte, das vorliegende Gesetz stamme aus der Feder des liberalen Gesundheitsministers, gleichsam als Therapie für eine grundrechtsschonende Innenpolitik, gebührt an dieser Stelle die Anerkennung dem Bundesinnenminister. Schon der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthielt zahlreiche Verbesserungen und eine deutliche Stärkung rechtsstaatlicher Hürden für Eingriffsbefugnisse der Nachrichtendienste. In den parlamentarischen Beratungen konnte nun sogar noch mehr erreicht werden. So haben die Koalitionsfraktionen mit ihrem Änderungsantrag eine weitere Stärkung von Grundrechten Betroffener ins Gesetz geschrieben. Es ist in unserem Rechtsstaat unabdingbar, dass staatliches Handeln überprüfbar ist, insbesondere dann, wenn es sich um Grundrechtseingriffe handelt. Bei nachrichtendienstlichen, also heimlichen Maßnahmen setzt dies zwingend voraus, dass die Betroffenen informiert werden. Die Mitteilungspflicht ist – so auch in ständiger Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht – die Voraussetzung für die grundgesetzlich garantierte Rechtsweggarantie. Deshalb ist es eine zentrale Verbesserung, dass nunmehr die Mitteilungspflicht erweitert und durch die Einbindung der G-10-Kommission untermauert wurde. Die Einbeziehung der Abfrage von Bestandsdaten bei Telediensten in die Mitteilungspflicht dient ebenso der Stärkung des Grundrechtsschutzes wie die Einbeziehung der G-10-Kommission in Fällen, in denen eine Mitteilung beispielsweise seitens des Nachrichtendienstes aufgeschoben wurde. Das Verfahren, das bislang nur bei der Telekommunikationsüberwachung einschlägig war, bei dem nämlich eine unabhängige Kommission objektiv die Verhältnismäßigkeit der weiteren Geheimhaltung prüft und darüber entscheidet, gilt künftig auch für Abfragen von Bank- oder Fluggastdaten sowie von Teledienste-Bestandsdaten. Die Kur, die die schwarz-gelbe Koalition dem ehemaligen Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz – nicht nur sprachlich ein Monstrum – verpasst hat, ist also nicht nur „weiße Salbe“. Im Gegenteil war die breit geführte öffentliche Debatte durchaus heilsam. Die gründliche Evaluierung und die konstruktive Auseinandersetzung zwischen Bundesinnenminister und Bundesjustizministerin haben dazu geführt, dass wir heute über ein Gesetz entscheiden können, bei dem ein paar offene Wunden des Rechtsstaats geheilt werden. Die deutlich angehobenen rechtsstaatlichen Hürden für Eingriffsbefugnisse, die Abschaffung nicht benötigter und damit unverhältnismäßiger Maßnahmen wie des Lauschangriffs zur Eigensicherung sowie die verbesserte Transparenz und Überprüfbarkeit der Maßnahmen oder auch das grundrechtsfreundlichere Verfahren bei Sicherheitsüberprüfungen – all dies ist klares Zeugnis einer erfolgreichen Therapie. Die Veränderungen, die bei der Abfrage von Fluggastdaten und Bankkontostammdaten eingeführt wurden, sind – auch wenn das von Teilen der Opposition versucht wird anders darzustellen – keine Verschärfungen. Vielmehr werden die Befugnisse effizienter ausgestaltet. Statt die personenbezogenen Daten von Terrorverdächtigen x-mal bei verschiedenen Fluggesellschaften abzufragen, wird nun eine Abfrage im Flugbuchungssystem gemacht, um dann gezielter zu ermitteln. Das ist im Grunde sogar grundrechtsschonender. Die technischen Details der Abfragen an Flugbuchungssysteme wie Amadeus werden noch in einer Verordnung des Bundesinnenministeriums geregelt werden. Den Koalitionsfraktionen war und ist es in diesem Zusammenhang wichtig, zu betonen, dass sich dabei die gesetzlichen Vorschriften an den technischen Systemen, die von den Flugbuchungssystemen verwendet werden, orientieren müssen – und nicht umgekehrt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie in der Verordnung berücksichtigt, dass für die Unternehmen, die diese Systeme betreiben, keine unverhältnismäßigen Kosten entstehen, dass eine Kostenerstattung vorgesehen wird und dass – auch im Sinne gezielter und auf eine konkrete Reise begrenzter Abfragen – immer mindestens ein weiteres Suchkriterium zusätzlich zum Namen der Person angegeben werden muss. Was es nicht gegeben hat, sind hingegen Wiederbelebungsversuche für Ideen, die verfassungsrechtlich fragwürdig waren. So gibt es keine Sanktionsbewehrung für Anfragen der Nachrichtendienste. Das ist gelebtes Trennungsgebot: Es passt nicht in unseren Rechtsstaat, dass Nachrichtendienste solche repressiven Mittel an die Hand bekommen. Zugleich wurde mit dem Beschluss des Kabinetts zur Einrichtung einer Kommission zur Evaluierung der Sicherheitsgesetze eine langfristig wirksame Maßnahme beschlossen. In der Innenpolitik galt leider viel zu lange das Motto „viel hilft viel“. Wir wollen das jetzt auf den Prüfstand stellen. Die Gesamtschau, die nun erarbeitet wird, ist notwendige Voraussetzung, um insgesamt die Balance von Freiheit und Sicherheit wiederherzustellen. Das ist wirklich neu in der Innenpolitik. Ich sage es deshalb noch einmal ganz deutlich: Das neue Gesetz, welches dann ab Mitte Januar das bisherige Recht ablösen wird, ist ein Erfolg für Freiheit und Sicherheit zugleich. Die Nachrichtendienste können ihre erfolgreiche Arbeit gegen den internationalen Terrorismus fortsetzen. Aber die Grundrechte werden mehr geachtet als vorher. Das ist ein Erfolg. Petra Pau (DIE LINKE): Vor kurzem haben sich die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA zum zehnten Mal gejährt. Damals wurden auch im Deutschen Bundestag zahlreiche Sicherheitsgesetze beschlossen. In Anlehnung an Bundesinnenminister Schily hießen sie „Otto-Pakete“. Dazu gehörten auch weitgehende Befugnisse für den Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz. Ich hatte dies damals schon abgelehnt; denn sie bedeuteten praktisch immer Eingriffe in verbriefte Bürgerrechte. Alle anderen Fraktionen, CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne waren bzw. sind an diesen Gesetzen beteiligt. Das gehört zur Geschichte und zum Umfeld der aktuellen Aussprache. Denn auch heute geht es um Befugnisse für geheime Dienste. Sie sollen fortgeschrieben und erweitert werden. Die Linke wird erneut mit Nein stimmen. Wir sind in der Sache dagegen, ebenso ob des eingeschlagenen Verfahrens. Denn bevor überhaupt über eine Verlängerung und Erweiterung geheimdienstlicher Befugnisse gesprochen wird, sollten die bislang geltenden Gesetze evaluiert werden. Das ist praktisch nie passiert, jedenfalls nicht durch unabhängige Gutachter. Mit den Terroranschlägen vor zehn Jahren wurde ein Ausnahmezustand begründet. Mit dem vorliegenden Gesetz versucht die Bundesregierung, diese Ausnahme zur Regel zu machen, und das mit Zustimmung der FDP. In das selbst beanspruchte Bild einer Freiheitsstatue Deutschlands passt das nicht – im Gegenteil. Jetzt gab es eine Expertenanhörung im Innenausschuss. Ich lasse einmal die Gutachter weg, die irgendwie mit dem Bundesinnenministerium oder den betroffenen Diensten verbandelt sind. Alle anderen bemängelten, dass Bürgerrechte überhaupt keine Rolle gespielt haben und dass die Kontrolle der Geheimdienste mit ihren Befugnissen nicht Schritt hält. Nun habe ich zur Möglichkeit, Geheimdienste überhaupt kontrollieren zu können, ohnehin eine andere Auffassung als viele hier. Aber das will ich jetzt gar nicht vertiefen. Ich finde nur: Geheim arbeitende Dienste, die sich nur schwer oder gar nicht in die Karten gucken lassen, darf eine Demokratie nicht mit immer mehr Befugnissen ausstatten. Die umstrittenen Gesetze waren mit einer Frist versehen. Sie läuft zum 31. Dezember 2011 ab. Die zugesagte unabhängige Evaluierung fand nicht statt. Es gibt also keinen sachlichen Grund, die Laufzeit der Gesetze erneut zu verlängern und sie auch noch anzureichern. Es gibt hingegen gute politische Gründe, genau das abzulehnen. Die Linke tut es. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorweg sei gesagt: Das Gesetz, das wir hier debattieren, firmiert unter einer Tarnbezeichnung; denn es sind neben dem Verfassungsschutz auch die anderen Nachrichtendienste betroffen. „Friedrich-Katalog“ wäre ehrlicher; denn es handelt sich um die zweite Erweiterung und Verlängerung des „Otto-Katalogs“, des Terrorismusbekämpfungsgesetzes. Die Große Koalition hatte dieses Gesetz 2006 pro forma selbst evaluiert und entsprechend alle Maßnahmen verlängert. Dabei wurden die Hürden für ihre Anwendung erheblich gesenkt und der Anwendungsbereich über den Bereich des Terrorismus hinaus beinahe auf die gesamte Palette der nachrichtendienstlichen Betätigung ausgeweitet. Da war es ehrlich, das Gesetz „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ zu nennen, auch wenn „Ergänzung“ freundlicher klingt, als das Gesetz war. Immerhin: Diese Ehrlichkeit hat die Große Koalition damals gehabt. Das neue Gesetz müsste „Verlängerungs- und Erweiterungsgesetz“ im Namen haben; denn das ist es, was hier passiert. Die bestehenden Befugnisse der Sicherheitsbehörden werden fast in vollem Umfang verlängert und eben noch um den direkten Zugriff auf die zentralen Kontostammdaten und die elektronischen Buchungssysteme für Flüge erweitert. Die FDP behauptet nun, dass der Zugriff auf die zentralen Datenbanken die Grundrechte der Betroffenen schont; denn es müsse ja nur einmal gefragt werden und nicht auf Verdacht hin bei mehreren Banken und Airlines. Das Gegenteil ist der Fall: Das hatte auch die Bundesjustizministerin erkannt. Sie schrieb im Mai, dass der Zugriff auf Buchungssysteme „nicht akzeptabel“ und eine „neue Qualität des Grundrechtseingriffs“ sei. Recht hatte sie, aber sie hat nicht das Recht durchgesetzt. Das gilt auch für die Bankdatenabfrage. Die war vor wenigen Monaten noch „klar abzulehnen“, sogar in alter Fassung, und wird nun in Turbofassung Gesetz. Die Gründe für die Ablehnung dieser Befugnisse sind dabei klar: Der Zugriff auf Buchungssysteme und zentrale Bankdaten beim Finanzministerium ermöglicht die Bildung umfassender Persönlichkeitsprofile. Gerade dies verbietet unsere Verfassung. Es wird auch nirgendwo überzeugend dargelegt, dass die Grundrechtebeschränkungen dieses Gesetzes wirklich erforderlich sind. Die vorgesehene Evaluierung hätte darüber Auskunft geben können. Sie wurde aber eindeutig nach den Interessen der Sicherheitsbehörden selbst ausgerichtet. Bei der ersten Verlängerung hatte die Regierung selbst evaluiert und naturgemäß alle Kompetenzen für nötig erachtet und verlängert. Eine grundrechtliche Prüfung fand nicht statt. Deshalb wurde für die Evaluierung im letzten Jahr per Gesetz „wissenschaftlicher Sachverstand“ vorgeschrieben. Den hat sich die Bundesregierung aber nur in Form einer methodischen Beratung, nicht aber einer grundrechtlichen ins Haus geholt. Das nachträgliche Gutachten eines Staatsrechtlers und die Sachverständigenanhörungen vor ein paar Wochen haben aber gezeigt: Das wäre dringend nötig gewesen! Wir fordern für die Zukunft die Evaluierung durch ein vom Bundestag, dem Gesetzgeber, dauerhaft bestelltes Expertengremium, und zwar nach den Maßstäben der Grundrechte, nicht einfach nur nach praktischen Erwägungen. Das ist der richtige Weg, nicht die unsinnige, von der FDP in letzter Zeit immer favorisierte unabhängige Regierungskommission. Denn die wäre nur von einem unabhängig: vom demokratisch gewählten Parlament. Schließlich wirft das Gesetz einige sehr grundlegende Fragen auf. Zwar gibt es einzelne Verbesserungen bezüglich der Kontrolle der Anwendung der neuen Instrumente durch die G-10-Kommission. Aber auch das ist zweischneidig: Nicht nur sprengt dies den Rahmen, den Titel und die gesetzliche Zweckzuschreibung dieses bisher nur für die Post- und Fernmeldekontrolle zuständigen Gremiums; hier ist eine umfassende Reform des zugrunde liegenden G-10-Gesetzes dringend nachzuholen. Die Kompetenzerweiterung kann auch dazu führen, dass die Kontrolle durch den Bundesdatenschutzbeauftragten entfällt, da man ihm in Zukunft im Hinblick auf die G-10-Kommission die Überprüfungskompetenz abstreitet. Auch dies muss gesetzlich geklärt werden. Noch schwerer wiegt aber die Durchbrechung des Trennungsgebotes. Banken und Fluglinien sollen in Zukunft die Pflicht haben, Auskunft zu geben. Das heißt auch: Die auskunftsuchende Behörde kann sie zwingen. Irgendwo in der Begründung ihres Änderungsantrages steht zwar, dass man das nicht wolle. Aber das muss man dann im Gesetz entsprechend regeln. Denn sonst bekommen die Geheimdienste das, was sie niemals haben dürfen und was nur den Polizeibehörden zusteht: die Befugnis zur exekutiven Durchsetzung. Hier wird ein Verfassungsgrundsatz durch die Hintertür ausgehebelt und ein Grundpfeiler unserer Sicherheitsarchitektur zum Sperrmüll gegeben. Dieses Gesetz zeigt: Auch einer Regierung unter Beteiligung – oder sollte man sagen: Anwesenheit? – der FDP fällt nichts Besseres ein, als bei der Sicherheit nach dem Motto „Viel hilft viel“ immer neue Datensammelkompetenzen einzuführen. Aus der Perspektive der Bürgerrechte ist es schlicht eine Zumutung. Wir lehnen es deshalb ab. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Manchmal ändert sich die Welt schneller, als wir uns das vorgestellt haben. Dann gilt es, neue Antworten auf neue Fragen zu finden und schnell zu handeln: So geht es uns gerade in der Euro-Krise, und so ging es uns auch nach dem 11. September 2001. Die Bedrohungslage wurde damals eine andere. Seit den gescheiterten Kofferbombenanschlägen 2006 und den Anschlagsplänen der Sauerlandgruppe 2007 ist leider klar, dass Deutschland nicht nur als Vorbereitungs- oder Rückzugsort für Terroristen genutzt wird. Schließlich wurde zu Beginn dieses Jahres am Frankfurter Flughafen erstmals ein Anschlag auf deutschem Boden verübt. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus hat sich in Deutschland damit seit 2001 eher verschärft als entspannt. Das rechtfertigt im Umkehrschluss natürlich keinen blinden Aktionismus. Dass aber bei einer so gravierenden Bedrohungslage auch rechtspolitische Konsequenzen notwendig waren und sind, steht außer Frage. Wir haben als Konsequenz bereits 2001 unter anderem das Terrorismusbekämpfungsgesetz verabschiedet. Schon damals war es befristet und mit einem Evaluierungsauftrag versehen und 2007 haben wir dies erneut so gemacht. Ich halte das für ein sinnvolles Verfahren: zum einen aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Wir müssen uns regelmäßig genau fragen, ob unsere Maßnahmen im Kampf gegen den Terror noch zielgenau sind. Zum anderen müssen wir auch sehen, dass zum Beispiel die Auskunftserteilung mit Aufwand für die betreffenden Unternehmen und einem Eingriff in die Rechte des betroffenen Bürgers verbunden ist und wir deshalb auch abwägen sollten, ob die Sicherheitsbehörden diese Auskünfte wirklich benötigen. Eine solche Befristung und Evaluierung ist also sinnvoll, und deshalb wird sie auch in diesem Gesetz wieder festgeschrieben. Daneben beinhaltet dieser Gesetzentwurf natürlich die Evaluierungsergebnisse der bisherigen gesetzlichen Regelungen. Ein Großteil der Regelungen wird beibehalten. Das gilt beispielsweise für die Möglichkeit zur Einholung von Auskünften von Finanzdienstleistern: Dadurch kann unter anderem der Verfassungsschutz auf die Finanzierungsquellen terroristischer Organisationen zielen. Neu eingeführt werden außerdem für die Nachrichtendienste des Bundes die Möglichkeit der zentralen Datenabfrage bei Computerreservierungen für Flüge sowie die Kontostammdatenauskunft. Das halte ich auch für verhältnismäßig. Jede Kommune kann bei einem Antrag auf Wohngeld oder Sozialhilfe routinemäßig zentrale Kontostammdaten abrufen. Auch im Rahmen der Reform des Zwangsvollstreckungsrechts ist ab 2013 vorgesehen, dass von jedem privaten Gläubiger bereits bei einem Betrag von 500 Euro Kontostammdaten abgefragt werden können. Dann sollte dieses doch zur Abwehr einer terroristischen Gefahr auch möglich sein. Regelungen dagegen, die im Evaluierungszeitraum nicht genutzt worden sind, werden ersatzlos gestrichen. Das gilt beispielsweise für Auskünfte zu Umständen des Postverkehrs. Ein ausdrückliches Verbot wird außerdem eingeführt, Betroffene allein aufgrund eines Auskunftsersuchens zu benachteiligen, zum Beispiel durch Kündigung der Bankverbindung nach einem Auskunftsersuchen an eine Bank. Jetzt kann man natürlich immer sagen, eine Evaluation sei nicht ausreichend. Genau dies wird von der Opposition ja auch getan. Dies ist aber weder quantitativ noch qualitativ haltbar: Zum einen wurden noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik in einem solchen Umfang Sicherheitsgesetze und Sicherheitsstrukturen auf den Prüfstand gestellt wie in dieser Wahlperiode. Zum anderen wurde, anders als behauptet, externer Sachverstand eingeholt, der über den im Gesetz vorgesehenen hinausging. Davon abgesehen entbinden uns Experten nicht von unserer Verantwortung: Denn die Entscheidung, was im Kampf gegen den Terrorismus verhältnismäßig ist, kann nur der Bundestag treffen. Das kann uns keiner abnehmen – auch nicht die Sachverständigen. Wir alle wollen unsere freiheitliche und offene Gesellschaft schützen. Doch diese Gesellschaftsordnung, diese Form zu leben, ist auch unsere Achillesferse, unser wunder Punkt, jedenfalls in den Augen der Terroristen, die genau diese Freiräume für ihre Aktionen nutzen. Unsere Freiräume sind ihre moralische Begründung und gleichzeitig ihre Chance, Freiheit durch Terror zu delegitimieren. Die Frage ist, wie viel Chance wir ihnen dafür geben. Wie können wir die freiheitliche Ordnung erhalten und sie gleichzeitig verteidigen? Darauf müssen wir als Abgeordnete eine Antwort finden und dabei das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit immer wieder austarieren. Dass der heutige Gesetzentwurf eine so breite Unterstützung hier im Haus erfährt, zeigt doch, dass das hier gut gelungen ist. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten (Tagesordnungspunkt 15) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe, möchte ich die doch sehr düstere Betrachtungsweise hervorheben, die Sie als Perspektive für Ihren Antrag gewählt haben. Diese Betrachtungsweise der Dinge teile ich grundsätzlich nicht, auch wenn derzeit die finanz- und währungspolitischen Diskussionen und die Rettung des Euro die europapolitische Debatte insgesamt prägen und die GSVP deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund rücken lassen. Zu den Einzelheiten Ihres Antrags: Der Lissabonner Vertrag hat in der Tat wichtige Fortschritte im Bereich der GASP gebracht, unter anderem die durch Sie erwähnte Solidaritätsklausel. Ich glaube allerdings, dass Sie in Ihrer Gleichsetzung dieser Klausel mit dem Art. 5 des Nordatlantischen Vertrags zu weit gehen. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sprechen es selbst an: Aufgrund der unterschiedlichen strategischen Interessen der europäischen Staaten hat eine wesentliche Anzahl unserer Partnerstaaten ganz bewusst einen abgestuften Verpflichtungscharakter gewählt. Es geht diesen Staaten also eben nicht um eine qualitativ gleichwertige Verpflichtung zum Art. 5 der NATO. Insofern rate ich Ihnen, eine sorgfältige Auswertung der ersten Erfahrungen auf Grundlage des Lissabonner Vertrags abzuwarten. Eine wesentliche strukturelle Innovation im Feld der GASP wird bei Ihnen kaum erwähnt: die Gründung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, der die Kohärenz des außenpolitischen Handelns der Europäischen Union stärken soll. Hierzu wird nach der ersten Phase seiner Existenz im Dezember 2011 ein Evaluierungsbericht veröffentlicht, der Empfehlungen zur Weiterentwicklung seiner Strukturen beinhalten wird. Diese Empfehlungen werden sich vor allem auf die Führungsstruktur des EAD beziehen und damit dessen Fähigkeit politischer Priorisierung stärken. Auch die Gründungsgeschichte des EAD macht deutlich, wie komplex die Interaktionen der europäischen Staaten untereinander sind, wenn es um außen- und sicherheitspolitische Zusammenhänge geht. Was verbindet diese verschiedenen Aspekte? Wir sind in einer wichtigen Umbruchphase Europas, in der jahrzehntealte Gewissheiten, Grundausrichtungen und Politiken auf dem Prüfstand stehen. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, neue gemeinsame Initiativen zu entwickeln, um darüber sowohl der GASP als auch der GSVP neue Impulse zu geben. Der Schlüssel dazu sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen der europäischen Partner untereinander – und nur so strahlt Deutschland die für diese politischen Initiativen nötige Verlässlichkeit aus. Dieser Dreiklang aus Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit kennzeichnet aber unser Land in den Augen unserer Partner bis heute. Und ich füge klar hinzu: Das ist nicht nur das Verdienst der derzeitigen Bundesregierung, sondern auch das ihrer Vorgängerinnen. Insofern aber ist Ihr Vorwurf, diese Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP würde die GSVP schleifen lassen, absurd. Ein konkretes Beispiel: Deutschland gehört zu den europäischen Nationen, die beim Thema „Pooling und Sharing“ zu den Vorreitern zählen. Das Beispiel des Europäischen Lufttransportkommandos führen Sie in Ihrem Antrag ja auch selbst an. Künftig wird es darum gehen, im Rahmen der Gent-Initiative von der Konzeptphase in die praktische Umsetzung zu gehen. Die Prüfarbeiten zu circa 100 Initiativen laufen derzeit – auch hier ist die Bundesregierung dabei, konkrete Fortschritte zu erarbeiten. Jedenfalls kommt es nicht nur auf die großen Leuchtturmprojekte an, auf die Sie abheben: Jahrzehnte der europäischen Rüstungskooperation haben gezeigt, wie schwierig gerade solche Großprojekte in der Umsetzung sind. Insofern muss als Motto gelten: Konkrete Fortschritte in 10 Initiativen sind sinnvoller als ein Steckenbleiben in 100 Initiativen. Die unterschiedlichen Interessenkonstellationen der europäischen Staaten drücken sich in einer Reihe von konkreten Einzelproblemen aus. Ich nenne hier nur die Rolle der Türkei und Griechenlands im Zypern-Konflikt. Diese Probleme lassen sich aber eben nicht mit spektakulären Vorstößen lösen, wie Sie sie von der Bundesregierung fordern, sondern diese verlangen nach einem langen Atem. Sie erlauben mir die Ergänzung: Das dürften Sie aus Ihrer eigenen Regierungszeit auch noch kennen. Entscheidend wird hierbei sein, wie wir die Türkei näher an die GASP heranführen können. Hier sehe ich für das von Ihnen auch angesprochene Weimarer Dreieck eine wichtige Rolle. Aber auch das derzeitige enge bilaterale Vorgehen Frankreichs und Großbritanniens ist eines der politischen Themen, die für die Zukunft der GSVP von entscheidender Bedeutung sein werden. Deutschland hat sich zu einer zurückhaltenden außen- und sicherheitspolitischen Kultur entschlossen – das sollten Sie in diesem Kontext beachten. Insofern würde ich auch hier um Fortschritte im Konkreten werben: Warum sollte Deutschland – auch vor dem Hintergrund der Finanzkrise – die Initiative von Gent nicht noch stärker nutzen, um über gemeinsame Fähigkeitsentwicklung auch gemeinsame Streitkräftestrukturen mit ausgewählten Partnern anzugehen? Diese Rolle als Anlehnungspartner für kleinere europäische Nationen könnte eine sinnvolle Ergänzung zum französisch-britischen Vorgehen darstellen, wenn beide Dimensionen miteinander verbunden bzw. aufeinander orientiert werden. Hier ist auch die Rückkoppelung zur Entwicklung einer außen- und sicherheitspolitischen Strategie Deutschlands deutlich. Wie bereits im Juni dieses Jahres angesprochen, müssen die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (2011), das Weißbuch (2006) und der gegenwärtige Aktionsplan zivile Krisenprävention als Grundlage dienen. Jedenfalls greift Ihre Kritik an den VPR zu kurz, da deren Zielsetzung in der Ausrichtung nicht die Überarbeitung der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 gewesen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die in Ihrem Antrag ausgedrückte Sorge um die Zukunft der GSVP eint uns. Allerdings ist derzeit nicht die Zeit alarmistischer Vorgehensweisen, sondern der verlässlichen Entwicklung konkreter Initiativen. Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Oppositionspolitik kann einfach sein, weil man Forderungen stellen kann, ohne in Regierungsverantwortung zu stehen, und damit der eigenen Pflicht zu deren Verwirklichung ledig ist. Es sei denn, dass man eigentlich dasselbe will wie die Regierung und diese Tatsache mit parteipolitischer Rhetorik bemänteln muss. Genau das ist der Fall bei dem Antrag der SPD zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Soweit ich das überblicke, gibt es ja keine verantwortungsbewusste Fraktion in diesem Haus, die die europäische Integration im Verteidigungsbereich nicht vorantreiben wollte. Die Linke nehme ich von dieser Unterstellung eines Verantwortungsbewusstseins ausdrücklich aus. Allen anderen ist natürlich klar, dass es kaum Alternativen zur Fortentwicklung der Integration gibt. Der SPD-Antrag beschreibt ja auch durchaus korrekt, dass die Notwendigkeit dazu angesichts wachsenden finanziellen Drucks in allen EU-Mitgliedstaaten eher noch zunimmt, gerade angesichts der europäischen Schuldenkrise. Es gibt bereits Staaten, die nicht mehr die gesamte Bandbreite militärischer Fähigkeiten in ihren nationalen Streitkräften abbilden können. Ich nenne als Beispiel die Niederlande, die kürzlich quasi die Abschaffung ihrer Panzertruppe beschlossen haben. Auch die Briten prüfen momentan sehr eindringlich, ob sie sich noch alle bisherigen Fähigkeiten leisten können. Wir selbst haben es mit der Bundeswehrreform gerade geschafft, gemäß dem von Verteidigungsminister Thomas de Maizière vertretenen Grundsatz „Breite vor Tiefe“ das Fähigkeitsprofil der deutschen Streitkräfte weitgehend zu erhalten. Das ändert aber nichts daran, dass auch wir uns künftig bei Einsätzen noch stärker auf die Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten in EU und NATO abstützen müssen. Ja, es wäre wünschenswert, dass dieser Prozess der Integration schneller voranschreitet. Damit kommen wir zu der parteipolitischen Rhetorik, mit der die Sozialdemokraten in ihrem Antrag sagen: „… und es ist die Schuld der Bundesregierung, dass es nicht schneller geht.“ Nun warten unsere europäischen Partner ja nicht mit angehaltenem Atem darauf, dass die deutsche Regierung kommt und ihnen zeigt, wo es langgeht. Sie haben vielmehr ihre eigenen Vorstellungen, was sie zu diesem Integrationsprozess beitragen oder auch nicht beitragen wollen. Denn die Verfügung über Streitkräfte ist immer noch ein Kernbereich nationaler Souveränität, den man nicht leicht aufgibt. Gerade deshalb ist die GSVP nach wie vor im zwischenstaatlichen und nicht im supranationalen Bereich der Gemeinschaftspolitik. Und die Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten bleibt schwierig, obwohl Deutschland hier durchaus sein Gewicht einbringt, übrigens gerade im Rahmen des Weimarer Dreiecks, das im Antrag ja ausdrücklich angesprochen wird. Und mit der Gent-Initiative hat die Bundesregierung gemeinsam mit Schweden einen Anstoß gegeben, der insbesondere das Pooling und Sharing betrifft, was mittlerweile erhebliche Kreise gezogen hat, sodass 25 EU-Mitglieder insgesamt 300 Projekte zur gemeinsamen Nutzung von Fähigkeiten und Ressourcen gemeldet haben. Deutschland hat dazu sechs eigene Vorschläge beigesteuert, die etwa gemeinsame Hauptquartiere, grenzüberschreitende Ausbildung, die Zusammenarbeit in der ABC-Abwehr und die gemeinsame Nutzung von Schiffen und Flugzeugen betreffen. Hier ist natürlich festzustellen, dass es sich vor allem um Führungs- und Unterstützungsfähigkeiten handelt und weniger um einen Schritt zu gemeinsamen Verbänden, die zusammen in den Einsatz gehen, wie es als Ziel im vorliegenden Antrag formuliert ist. Das liegt allerdings an einem Umstand, der auch das Gewicht Deutschlands als Führungskraft in diesem Integrationsprozess insgesamt beeinträchtigt und für den Sie, meine Damen und Herren von der SPD, leider keine Lösung anbieten, sondern bei dem Sie vielmehr in das eingangs erwähnte andere Oppositionsverhalten verfallen: Forderungen zu stellen, ohne den Beweis der Realisierbarkeit antreten zu müssen. Ich spreche hier von den parlamentarischen Beteiligungsrechten beim Einsatz deutscher Truppen, deren Einhaltung Sie betonen, während Sie gleichzeitig anstreben, dass die Teilnahme integrierter europäischer Verbände mit deutscher Beteiligung an UN-mandatierten Missionen zur Regel werden sollte. Sie kennen natürlich das damit verbundene Problem, weil es seit längerem diskutiert wird: Wenn es dann zum Einsatz kommt, müssen diese Verbände warten, während sich der Deutsche Bundestag mit dem erforderlichen Mandat für die Bundeswehrsoldaten darin befasst, ein Problem, dass sich umso schärfer stellt, je größer der Grad der multinationalen Integration wird. Denn in dem Moment, in dem deutsche Soldaten unverzichtbare Fähigkeiten für den Einsatz stellen, legt der parlamentarische Entscheidungsprozess in Deutschland den ganzen Verband lahm. Dabei rede ich gar nicht einmal so sehr von der zeitlichen Verzögerung. In den meisten Fällen besteht ja bei UN-mandatierten Missionen eine ausreichende Vorbereitungszeit. Schlimmstenfalls kann die deutsche Entscheidung parallel zum UN-Mandatierungsprozess erfolgen. Und der Bundestag hat etwa während der Finanzkrise in der letzten Legislaturperiode bereits bewiesen, dass er in dringenden Situationen auch innerhalb weniger Tage Entscheidungen treffen kann. Ganz ausschließen lässt sich eine solche für Deutschland und seine europäischen Partner blamable Lage aber nicht. Denn der Sinn schneller Eingreifkräfte ist offensichtlich verfehlt, wenn sie aufgrund politischer Entscheidungsprozesse nicht schnell eingreifen können. Viel problematischer ist aber, dass unsere Partner mit fortschreitender Integration die Entscheidung über den Einsatz auch ihrer eigenen Truppen praktisch in deutsche Hände legen würden, dass also der Deutsche Bundestag bestimmt, ob französische oder niederländische oder dänische Soldaten in diesen Verbänden zum Einsatz kommen dürfen. Das wäre selbst dann viel verlangt, wenn unsere Partner sich darauf verlassen könnten, dass wir hier im Haus immer zustimmen. Aber einfach immer Ja zu sagen, ist nun wiederum nicht der Zweck parlamentarischer Befassung. Das alles macht Deutschland, ganz hart gesagt, zu einem unsicheren Partner bei der europäischen Integration im Verteidigungsbereich. Und das beeinträchtigt eben die Führungsrolle, die wir dabei spielen sollten. Das Problem ist also nicht fehlendes Engagement der Bundesregierung nach außen. Das Problem ist, hier bei uns die Grundlagen zu schaffen, damit Deutschland in Europa als verlässlicher Partner auftreten kann, und das selbstverständlich innerhalb der Vorgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht in diesem Bereich gemacht hat. Ich will Ihnen nun nicht meinerseits vorwerfen, daran schuld zu sein, liebe Kollegen von der SPD. Ich weiß, dass Sie sich innerhalb dieser Fraktion ebenfalls sehr ernsthaft mit dieser Problematik befassen. Gerade deswegen sage ich: Kommen Sie auf die Koalition zu, lassen Sie uns gemeinsam nach einer Lösung suchen! Damit Deutschland auch in der GSVP seine Rolle als ein wichtiger Motor der europäischen Integration ausfüllen kann. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): In Deutschland kann man über das Ziel einer europäischen Armee eigentlich nicht mehr streiten. In derselben Woche, in der der SPD-Parteivorstand die Vision einer europäischen Armee in den Entwurf für das neue Grundsatzprogramm der SPD aufnahm, erklärte 2008 die Vorsitzende der CDU, Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, über die Bild-Zeitung – ich zitiere –: In der EU selbst müssen wir einer gemeinsamen europäischen Armee näher kommen. Damit eignet sich das Thema nicht mehr für nationale Kontroversen. Wir sind uns einig: Die europäische Armee muss nicht morgen oder übermorgen eingekleidet, durchgeimpft und angetreten sein, aber sie muss kommen. Die EU-Armee der Zukunft muss heute schon die regulative Idee sein für die Transformation unserer eigenen, nationalen Streitkräfte. Wie gesagt: Europäisch antreten ist nicht die Aufgabe des heutigen Tages, aber im Sinne von Jürgen Habermas die regulative Idee, die uns einen Kompass gibt für alle heute nötigen Tagesentscheidungen. Die ständige Grundsatzfrage lautet: Renationalisierung oder Europäisierung? Braucht jeder immer alles selbst oder kann man Aufgaben teilen, kann man Beschaffungen teilen, kann man Kosten teilen? Das heißt: Geld sparen! Dieses Denken müssen wir nicht neu erfinden. Wir fangen in Europa nicht ganz bei null an. Wir marschieren schon – und meist schon gemeinsam und in die richtige Richtung. Drei Meilensteine sind zu nennen: Erstens das gemeinsame Marinehauptquartier Bel-giens und Hollands in Den Helder, zweitens das niederländische Beispiel beim Lufttransport: Statt eigene Militär-Airbusse zu kaufen, beteiligt sich das Land an den Kosten der deutschen Airbus-Flotte und bekommt eine Garantie über entsprechende Transportkapazitäten, und drittens die deutsch-französische Brigade als Beispiel für transnationale stehende Verbände im Bereich der Landstreitkräfte. Trotzdem ist mir klar: Jede kühne Vision provoziert erst einmal jede Menge Bedenken. Unsere erste Reaktion auf alles Neue heißt immer erst einmal: Aber! Aber das ist nicht schlimm. Das ist unsere europäische Art. Das „Aber“-Sagen verbindet uns. Mit der von dem damaligen Minister zu Guttenberg angefangenen und jetzt von Minister de Maizière zu Ende gebrachten erneuten Bundeswehrreform wurde leider eine Chance vertan, sich heute schon europäisch auf eine gewisse Arbeitsteilung und Schwerpunktsetzung, auf Pooling und Sharing, zu verständigen. Alle unsere Verbündeten haben die gleichen Probleme wie wir: zum Teil veraltete Strukturen, die gleichen internationalen Dauereinsätze und zu wenig Geld. Lassen Sie uns deshalb nächstes Mal von Anfang an europäischer denken. Dr. Rainer Stinner (FDP): Selten ist einem guten und wichtigen Anliegen ein derartiger Bärendienst erwiesen worden wie der Stärkung der GSVP durch den vorliegenden Antrag der SPD. Leider konnte die SPD dem Oppositionsreflex nicht widerstehen. Deshalb steht im Mittelpunkt des Antrages die ständig wiederholte Kritik an der Bundesregierung. Selten sind ausnahmslos alle grundlegenden Probleme eines Politikfeldes so konsequent ausgeblendet worden wie bei diesem Antrag. Ich glaube, wir sind uns alle hier in diesem Hause einig, dass die sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene dringend verbessert werden muss. Die Gründe liegen auf der Hand: Alle Länder müssen sparen, jedes einzelne europäische Land ist international gesehen zu klein, um wirklich irgend etwas bewegen zu können. Wenn Europa in der Welt noch eine Bedeutung behalten will, dann müssen wir gemeinsam handeln. Schon der von der SPD angezettelte Streit um die Federführung für diesen Antrag macht die große Schwäche dieses Antrages deutlich. Nach Willen der SPD soll dieser Antrag federführend im Verteidigungsausschuss behandelt werden. Die GSVP ist aber das Kernstück der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben daher den Irrweg der Kollegen der SPD korrigiert. Die GSVP ist mehr als die Aneinanderreihung von Instrumenten der militärischen Kooperation. Sie kann nur gelingen, wenn wir uns über die Grundbedingungen eines gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Handelns Gedanken machen. Eine große Schwäche dieses Antrages ist, dass er sich ausschließlich bunt gewürfelt mit militärischen Instrumenten beschäftigt. Da sind Sie in der SPD hinter die aktuelle Diskussion zurückgefallen. Die Mehrheit des Bundestages ist da weiter. Wir wissen, dass gemeinsame Sicherheit durch ein Bündel von außen- und sicherheitspolitischen Instrumenten hergestellt werden kann. Dazu gehört auch die zivile Krisenprävention. Der dafür eingerichtete Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses leistet hier parteiübergreifend beispielhafte Arbeit. Ich empfehle den Verfassern dieses Antrages, sich einmal durch ihre Kollegen in diesem Ausschuss auf den neuesten Stand der Diskussion bringen zu lassen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die sehr weitgehende französisch-britische Kooperation, die außerhalb der GSVP stattfindet, jede EU-weite Integration erschwert. Und in Ihrem Oppositionsreflex machen sie dafür die Bundesregierung verantwortlich. Ich kann nur sagen: Blödsinn! Wir müssen uns doch Gedanken machen, warum diese intensive Zusammenarbeit erfolgt. Die sehr enge französisch-britische Kooperation im Verteidigungsbereich begann vor Jahren, als beide Länder in enger Abstimmung ihre Sicherheitsstrategien formuliert haben. Ich weiß nicht, ob das dem damaligen SPD-Außenminister überhaupt aufgefallen ist. Die Verfasser dieses Antrages können es jedenfalls nicht gewusst haben. Wir müssen konstatieren, dass Frankreich und Großbritannien sich in Hinsicht Ihrer strategischen Positionierung ähnlich sind: Vetomächte im Sicherheitsrat, Atommächte, ehemalige Kolonialmächte mit immer noch globalem Anspruch, ähnliche historische Erfahrungen in zwei Weltkriegen, und ein ähnliches Verständnis darüber, wie und mit welchen Mitteln man außenpolitische Überzeugungen in die Welt hinausträgt. Hier sieht die Situation in Deutschland natürlich völlig anders aus, und so sind eben auch die Einstellungen der Gesellschaften zur Anwendung militärischer Gewalt nicht deckungsgleich. Ich will gar nicht endgültig bewerten, welche besser oder schlechter ist, sie sind jedenfalls unterschiedlich. Wir alle wünschen uns Fortschritte in der GSVP. Aber es muss doch geklärt werden, auf welcher Grundlage das gemeinsame Handeln beruhen soll. Soll Deutschland die französischen Ansichten, wann und wie militärische Interventionen in Afrika notwendig sind, eins zu eins übernehmen? Oder wissen Sie vielleicht einen Weg, wie Frankreich zu den deutschen Ansichten bekehrt werden kann? In Ihrem Antrag ist davon nichts zu lesen. Und das ist genau die Krux, der Fehler und auch die Unredlichkeit Ihres Antrags: Sie blenden alle grundlegenden außenpolitischen Voraussetzungen völlig aus. An vorhandenen unterschiedlichen Einstellungen scheitert bisher aber die engere Kooperation. Nein, wir müssen sehen, dass es bei den jetzt vor uns stehenden Aufgaben in Sachen europäischer Integration ans Eingemachte der Nationalstaaten geht, an den Kern von nationaler Souveränität. Wir sehen das beim Euro, und bei der GSVP ist es nicht anders. Es ist nun einmal leichter, Kompromissen bei Glühbirnen zuzustimmen, als bei der Frage, wann eigene Staatsbürger in lebensgefährliche Einsätze geschickt werden. Von daher geht es bei den von uns allen gewünschten Fortschritten bei der GSVP nicht nur um die Optimierung von militärischen Instrumenten, sondern darum, in der EU eine gemeinsame Vision der Welt von morgen und der Rolle Europas in dieser Welt zu erarbeiten. Daraus sind dann konkrete Ziele abzuleiten, die wiederum in Strategien, Maßnahmen und Instrumenten zur Erreichung dieser Ziele münden. Wir wollen diesen Prozess nicht nur den Regierungen überlassen. Wir sind der Meinung, dass dieser Prozess auf europäischer Ebene auch parlamentarisch begleitet werden muss. Daher schlagen wir die Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung der GSVP vor, in der Vertreter der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlamentes diesen Prozess aktiv begleiten und Impulse für die jeweiligen Regierungen entwickeln. Der Vertrag von Lissabon eröffnet neue Möglichkeiten und Aufgaben für die Gestaltung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das ist eine Aufgabe der Bundesregierung, die diese mit Nachdruck wahrnimmt. Das ist aber auch eine Aufgabe des Bundestages. Wenn wir diesen Prozess ohne Scheuklappen beginnen, werden wir sicherlich demnächst über einen fundierteren Antrag zu diesem wichtigen Thema befinden können. Den vorliegenden Antrag der SPD lehnen wir mit der Note „ungenügend“ ab. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Erst gestern nötigten die Kollegen der SPD-Fraktion gemeinsam mit den Grünen und der Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP die Menschen in Deutschland, die Haftung für einen „gehebelten“ Bankenrettungsschirm zu übernehmen. Heute wirbt die SPD für einen Rettungsschirm für die Kriegstreiber und Rüstungsexportbarone in Deutschland. Nachdem die deutsche Lohndumping- und Export-überschusspolitik maßgeblich die Krise in Europa verursacht hat, verschrieben die Kollegen von der SPD nun auch die deutsche Europapolitik als Panaceum zur Rettung des außen- und verteidigungspolitischen Versagens der EU. Doch auch die politisch und praktisch gescheiterte Militärpolitik der EU kann am deutschen Wesen nicht genesen. Es ist schlicht unfassbar, wie heute, trotz der verheerenden Folgen der Finanzkrise, die weltweit mit unvergleichlichem Elend, Armut und Sozialabbau einhergeht, die SPD-Fraktion ohne jegliche Skrupel und Hemmungen, einen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringt, der – wie sie selbst schreibt – die „Krise der Staatsfinanzen in vielen EU-Mitgliedsländern als Chance nutzen“ will, um „den Zerfall der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ zu verhindern. Wer schon immer wissen wollte, was „schöpferische Zerstörung“ bedeutet, der findet in dem SPD-Rezept tatsächlich einen Leitfaden, wie die vorsätzliche Zerstörung gesellschaftlicher Substanz als Beschleuniger einer militärischen Kernschmelze missbraucht werden kann. Die SPD braucht offensichtlich eine solche Kettenreaktion von kapitalistischen Verwerfungen, um der „europäischen Gründungsnation“, für die sie unverhohlen wirbt, zur globalen Verwirklichung ihres politischen Willens zu verhelfen. Vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung, die Deutschland für seine Militarismuspolitik auf seinen Schultern trägt, klingt der triumphale Ton, der Duktus und der Ruf der SPD nach „globaler Mitverantwortung“ wie eine Drohung. Eine Drohung gegen die am meisten von der Bankenkrise betroffenen Staaten und Menschen, die dagegen derzeit weltweit aufbegehren. Hinter ihren Krokodilstränen über die europäische Krise, die die SPD-Fraktion in ihrem Antrag ja selbst als „Krise der europäischen Einigung“ beschreibt, steckt die gleiche Schadenfreude und die gleiche heuchlerische Europapolitik wie hinter ihrer angeblichen Sorge um die Stabilität und Sicherheit der Europäischen Union und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ihnen geht es nicht um Stabilität oder Sicherheit, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Vielmehr haben Sie erkannt, dass für eine durchsetzungsfähige Außen- und Sicherheitspolitik die bloße Feststellung, dass Deutschland die „größte Volkswirtschaft Europas“ sei, eben keine garantiert ausfallsichere Kapitalanlage darstellt. Ihre eigentliche Sorge, die im Übrigen von den Kollegen der CDU, CSU und FDP und der Grünen geteilt wird – das wurde ja in der zu Protokoll gegebenen Plenardebatte zur Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur GASP/GSVP der EU im Beitrag des Kollegen Kiesewetter deutlich, gilt vielmehr der Furcht, als zu spät Kommender von der Geschichte bestraft zu werden. Und in der Tat wurde nach dem Verteidigungsabkommen zwischen Frankreich und Großbritannien vom November 2010 deutlich, dass Deutschland offensichtlich einen untergeordneten Ansprechpartner für Sicherheitspolitik in Europa darstellt. Aus der Sicht der USA aber auch in NATO-Kreisen setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Deutschland in Bündnisfragen kein herausragendes Gewicht mehr zukommt. Das scheint in der gegenwärtigen Krise das einzige zu sein, was Sie als schmerzhaft empfinden. Und es nützt gar nichts, dass Sie in Ihrem Antrag gerade um die Unterstützung des Nachbarstaates Polen für ihren deutschen Sonderweg buhlen. Aus friedensorientierter Perspektive ist vielmehr entscheidend, dass in beiden Fällen an einer Militarisierung der Sicherheitspolitik genauso festgehalten wird. Aus Sicht der Friedenspolitik stellen beide Projekte keine Alternative dar und Die Linke lehnt beide vehement ab. Sie von der SPD werben um einen neuen Burgfrieden mit der Bundesregierung. Ihr Ziel ist, dass trotz der Finanzkrise die militärischen Fähigkeiten der EU, Rüstungsexporte und eine europäische Armee unter der „gestalterischen Kraft“ Deutschlands für die EU verbindlich festgezurrt werden. Sie schlagen für Europa einen nationalen und klar militaristischen Sonderweg vor, den der „politische Wille“ Deutschlands verwirklichen soll. Das ist eine Sackgassenpolitik deutschen Dominanzstrebens in sicherheitspolitischen Fragen, die Die Linke entschieden ablehnt. Nicht zuletzt auch angesichts der gegenwärtigen Krise zeugen diese Vorschläge von einer völligen Fehleinschätzung der tatsächlichen globalen Probleme. Die Linke findet das inakzeptabel und wird sich mit aller Kraft einer weiteren Versicherheitlichung und Militarisierung der sozialen Probleme innerhalb der GASP und GSVP wiedersetzten. Während in diesen Tagen weltweit Tausende von Menschen auf die Straße gehen und öffentliche Plätze in Madrid, Rom, New York oder Berlin besetzen, muss die deutsche Politik endlich Konsequenzen aus der gescheiterten europäischen Militärpolitik ziehen. Die Linke stellt sich allen Versuchen in den Weg, um, wie dies die SPD-Fraktion in ihrem Antrag fordert, „wirksame Antworten auf die Herausforderungen an den Rändern Europas“ in militärischen und polizeilichen Werkzeugkästen der GSVP zu suchen. Deutschland trägt durch seine verfehlte Handelspolitik maßgeblich Verantwortung für die „Krisen und Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft“ der Europäischen Union. Die von den Sozialdemokraten bislang gehätschelten Banken und Zockerbuden, die Profiteure der Euro-Krise, müssen endlich zur Kasse gebeten werden. Der berechtigte Protest gegen sie darf nicht militärisch oder sicherheitspolitisch eingehegt werden. Dafür setzt sich Die Linke ein. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorliegende Antrag der SPD bringt ein Politikfeld auf die Tagesordnung des Bundestages, um das man sich ernsthaft Sorgen machen muss. Während der letzte Verteidigungsminister immerhin mit der Gent-Initiative und dem Brief des Weimarer Dreiecks bereit war, Impulse zu geben, herrscht inzwischen nur noch Stillstand und Agonie. Das ist umso bedauerlicher, als derzeit nicht nur in Deutschland die Bundeswehr reformiert und der Verteidigungshaushalt verkleinert werden soll, auch in unseren europäischen Nachbarländern wird erheblich gespart und neu strukturiert. Das wäre die Gelegenheit für eine systematische Erfassung und Priorisierung militärischer Fähigkeiten, um langfristig Doppelstrukturen zu vermeiden und Überkapazitäten abzubauen. Es geht nämlich nicht nur um die Schließung von Fähigkeitslücken: Es geht auch darum, dass Europa es sich nicht mehr leisten kann, 27 nationale Armeen mit vollem Fähigkeitsspektrum vorzuhalten. Bei einem entsprechenden politischen Willen bestünde jetzt die Chance auf eine weitreichende Abrüstung in Europa unter Beibehaltung der militärischen Kernfähigkeiten. Nun ist es leider so, dass Bundesverteidigungsminister de Maizière sich bisher nicht als EU-Enthusiast präsentiert hat, eher im Gegenteil: Es ist deutlich spürbar, dass er der europäischen Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen eher skeptisch gegenübersteht. Daher sind von seinem Ministerium wohl auch keine Impulse in die Richtung einer vertieften Zusammenarbeit zu erwarten. Der Antrag der SPD legt daher den Finger in eine offene Wunde und liefert anregenden Diskussionsstoff für die kommenden Beratungen im Verteidigungsausschuss: Wir teilen den Ansatz, die Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern zu verstärken, wo es möglich ist. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit anderen EU-Staaten, die auch in der Integration weitergehen wollen. Hierfür bietet nicht zuletzt die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ einen tragfähigen Rahmen. Wir setzen uns auch für ein verstärktes „Pooling and Sharing“ ein, also die Bündelung und Aufteilung militärischer Fähigkeiten. Die Idee, das Konzept der Battlegroups weiter zu entwickeln, greift ebenfalls einen wichtigen Veränderungsbedarf auf. Auch die Anpassung der Europäischen Sicherheitsstrategie an die aktuellen Gegebenheiten halten wir für notwendig. Leider orientiert sich die SPD in ihrem Antrag allzu sehr an der militärischen Dimension der GSVP. Nur dreimal kommt das Wort „zivil“ überhaupt in ihrem Antrag vor. Wir verstehen die Europäische Union weiterhin in erster Linie als Zivil- und Friedensmacht. Gerade im Hinblick auf die NATO sollten vor allem die Fähigkeiten im Bereich der zivilen Krisenprävention und Krisenbegleitung in den Vordergrund gestellt werden. Hier gibt es weiterhin große Defizite auf EU-Ebene. Wir haben bereits letzten Dezember einen Antrag eingebracht, in dem wir fordern, die Bereiche Krisenprävention und Friedensförderung im Europäischen Auswärtigen Dienst angemessen zu verankern. Leider müssen wir feststellen, dass in dieser Hinsicht kaum etwas erreicht wurde. Ebenso bedauerlich ist, dass es weiterhin eine große Lücke zwischen den von den EU-Staaten gemeldeten zivilen Kräften und tatsächlich zur Verfügung stehenden Kräften gibt, die bei zivilen EU-Missionen, wie beispielsweise EULEX im Kosovo, eingesetzt werden können. Hier bedarf es weiterer Anstrengungen, etwa in Richtung eines europäischen Pools für zivile Krisenmissionen. Es ist daher sehr bedauerlich, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, den zivilen Aspekt der GSVP als Nebenprodukt, das man zwar erwähnen muss, das aber eher zu vernachlässigen ist, behandeln. Ich weiß ja, dass es nicht von allen so gesehen wird, wie es der Antrag leider erscheinen lässt. Richtig und wichtig ist Ihre Forderung nach einer europäischen Rüstungsexportpolitik. Einheitlich hohe Standards und Kontrolle an den EU-Außengrenzen sind gerade im Hinblick auf den künftig freien Verkehr von Rüstungsgütern innerhalb der EU unerlässlich. Zu kurz kommt mir in Ihrem Antrag allerdings die parlamentarische Kontrolle der GSVP. Zwar sprechen Sie sich für die „Einhaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte“ aus. Aber kein Wort zur Rolle des Europäischen Parlaments. Kein Wort zur Neustrukturierung der Zusammenarbeit zwischen europäischer Ebene und den nationalen Parlamenten. Hier möchte ich an die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen appellieren: Lassen Sie uns einen erneuten Versuch unternehmen, in dieser Frage zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Nachdem die Konferenz der Parlamentspräsidenten der EU-Staaten im April ohne weitere Verhandlungspläne gescheitert ist, bedarf es eines starken Signals, um neue Bewegung in die Bemühungen um eine interparlamentarische Zusammenarbeit zu bringen. Ein möglichst geschlossenes Auftreten des Deutschen Bundestages könnte da einen wichtigen Impuls setzen. In Zeiten der größten Krise, die die Europäische Union seit ihrem Bestehen erlebt, sollten wir Abgeordnete zwei wichtige Zeichen setzen: Erstens, dass wir auch im Sicherheits- und Verteidigungsbereich weitere Integrationsschritte wollen, die, gerade wenn wir den Weg des Pooling and Sharing weiter verfolgen, dazu führen, dass eine verbesserte militärische Zusammenarbeit und neue Abrüstungsschritte Hand in Hand gehen. Zweitens, dass wir diese Integration mit mehr Transparenz und einer weiteren Parlamentarisierung und damit größerer demokratischer Legitimation verbinden wollen. Das verlangen auch die Bürgerinnen und Bürger von uns. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems (Tagesordnungspunkt 18) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Mit der heutigen abschließenden Plenarbefassung und Abstimmung zum Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems verabschieden wir ein weiteres wichtiges Finanzmarktgesetz. Konkret nehmen wir damit Anpassungen an einigen deutschen Aufsichtsgesetzen – darunter unter anderem das Kreditwesengesetz, KWG, und das Wertpapierhandelsgesetz, WpHG – vor, um unsere nationalen Aufsichtsstrukturen mit den neuen europäischen Finanzaufsichtsstrukturen zu verbinden und zu synchronisieren. Viel Gestaltungsspielraum blieb uns dabei nicht, da es sich im Wesentlichen um die Umsetzung von zwingenden EU-Vorgaben in nationales Recht handelt. Im Januar dieses Jahres wurde das neue Europäische Finanzaufsichtssystem, bestehend aus dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken, den drei Europäischen Finanzaufsichtsbehörden EBA, ESMA und EIOPA sowie dem Gemeinsamen Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden, errichtet. Eine wesentliche Aufgabe dieses neuen Systems ist es, insbesondere die Zusammenarbeit und Koordination zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden und den europäischen Instanzen zu verbessern. Das ist deshalb wichtig, weil speziell die großen, international tätigen Banken ein internationales Aufsichtssystem brauchen. Nationale Aufsichtsbehörden, die nur isoliert auf ihre eigenen Zuständigkeitsbereiche schauen, entsprechen nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Deswegen wurden auf EU-Ebene die Zusammenarbeit und die Kompetenzen der nationalen und europäischen Aufsichtsinstitutionen in einer sogenannten Omnibusrichtlinie festgeschrieben. Insoweit es durch die mit der Omnibusrichtlinie vorgenommenen Änderungen einer Klarstellung oder Änderung der deutschen Aufsichtsgesetze bedurfte, wurden diese mit dem vorliegenden Gesetz umgesetzt. Zugegeben – das Gesetz erscheint zunächst wenig spannend und nimmt im Grunde genommen auch lediglich technische Anpassungen vor, die sich streng an den europäischen Vorgaben orientieren. Lassen Sie mich dennoch noch einmal kurz schildern, was wir konkret mit dem Gesetz erreichen werden. Zunächst einmal wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, in das Europäische Finanzaufsichtssystem mit eingebunden. Das heißt, dass die BaFin mit den europäischen Instanzen intensiver und verpflichtender zusammenarbeiten wird. Dabei wird auch die Deutsche Bundesbank beteiligt, was ich für sehr begrüßenswert halte; denn auch die Bundesbank ist in die laufende Überwachung der Kreditinstitute eingebunden. Des Weiteren werden sämtliche Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten, die die BaFin gegenüber der jeweiligen europäischen Behörde hat, konkretisiert. Die BaFin ist dann verpflichtet, diese Informationen, die die europäischen Behörden zur Ausübung ihrer Tätigkeiten benötigen, wie beispielsweise die Erlaubniserteilung oder -entziehung einer bestimmten Bank oder die Kenntnis über eine Krisensituation eines Instituts, zur Verfügung zu stellen. Damit einher gehen auch die Anpassungen der Verschwiegenheitsverpflichtungen, die für die Beschäftigten der Bundesanstalt und vergleichbarer Personengruppen gelten. Zudem werden die Verfahren zur Einbeziehung der Europäischen Aufsichtsbehörden im Falle von Meinungsverschiedenheiten bzw. bei ungenügender Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden festgelegt. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sich die Europäischen Aufsichtsbehörden in die tägliche Arbeit der Behörden der Mitgliedstaaten einklinken und Entscheidungen für sie treffen können. Es bedeutet aber, dass sie Differenzen zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden verbindlich schlichten könnten, sollten die nationalen Aufseher keine Einigung finden können. Diese Schlichtungsbefugnis gilt aber nur für Bereiche, die in den Richtlinien im Finanzsektor im Einzelnen definiert sind, wie beispielsweise bei Fragen zur Anerkennung interner Modelle oder bei Risikobewertung auf Gruppenebene. Dies nur vorab – nun aber zur Einschätzung des Gesetzes: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass viele von Ihnen befürchten, mit den neuen Europäischen Aufsichtsbehörden und dem Gesetz könnte nun wieder eine Verlagerung von nationalen Kompetenzen auf die europäische Ebene erfolgen. Wir sind uns sehr wohl darüber im Klaren, dass insbesondere die kleinen und mittelständischen Finanzinstitute diese Entwicklung mit Sorge betrachten. Diese Sorge ist aufgrund der in der Vergangenheit bereits erfolgten Kompetenzverlagerungen auch nicht ganz ungerechtfertigt. Andererseits sehe ich diesbezüglich aber auch keine wirkliche Alternative. Die Finanzwelt ist mittlerweile so stark global vernetzt, dass eine isolierte nationale Aufsicht keinen Sinn macht. Wir müssen daher unbedingt dafür Sorge tragen, dass eine geordnete und systematische internationale Zusammenarbeit zwischen den Aufsehern erfolgt. Finanz- und Kapitalmarktregulierung muss auf ein europäisches Fundament gestellt werden. Im Prinzip wäre es sogar wünschenswert, eine wirklich internationale Regelung – zum Beispiel auf G-20-Ebene – herzustellen. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass es falsch ist, immer wieder dafür zu kämpfen, möglichst viele Kompetenzen in Deutschland zu behalten. Das ist eine Auseinandersetzung, die weder zeitgemäß ist, noch zu brauchbaren Ergebnissen führt. Wir sollten uns deswegen vielmehr dafür einsetzen, die europäischen Institutionen besser und demokratischer zu machen. Unsere Aufgabe als nationales Parlament muss sein, wichtige Fragestellungen und Entscheidungen auf Augenhöhe mit dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament zu diskutieren. Unser Ziel muss sein, dadurch ein besseres, bürger- und wirtschaftsnäheres Europa auf den Weg zu bringen. Darüber hinaus gibt es aber noch einen weiteren Punkt, den wir im parlamentarischen Verfahren noch mit diesem Gesetz auf den Weg bringen wollen: die Anpassung der Vergütungsstrukturen des BaFin-Exekutivdirektoriums. Vorgesehen ist, dass die Mitglieder dieses Direktoriums künftig nicht mehr als Beamte, sondern in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis ihren Beruf ausüben können. Wie Sie wissen, wird der derzeitige BaFin-Chef noch in diesem Herbst in Rente gehen. Eine Nachfolge muss entsprechend frühzeitig geregelt werden. Sie wissen auch, dass die marktüblichen Vergütungen für Kandidaten, welche diesem Amt gewachsen sind und die die entsprechenden Qualifikationen mit sich bringen, über die derzeitige für dieses Amt vorgesehene Beamtenbesoldungsstufe hinausgehen. Nun kann man sich natürlich fragen, warum diese Regelung dem Gesetz zur Stärkung der nationalen Finanzaufsicht, welches für Anfang nächsten Jahres vorgesehen ist, vorgezogen werden sollte. Im Grunde genommen hätten wir das auch nicht gemacht. Allerdings ist für die Nachbesetzung des BaFin-Postens Eile geboten. Für eine Nachbesetzung zum 1. Januar 2012 bedarf es schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht einer Rechtsgrundlage für die Zahlung eines von der Beamtenvergütung abweichenden Gehalts. Im Übrigen schaffen wir damit keinesfalls einen Präzedenzfall; denn ähnliche Regelungen wurden bereits bei der Bundesnetzagentur und der Bundesagentur für Arbeit getroffen. Wir sind der Meinung, ein gutes Gesetz geschaffen zu haben, was uns wieder ein Stück im Bereich Finanz- und Kapitalmarkregulierung weiterbringt und daher möchte ich Sie auch bitten, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Peter Aumer (CDU/CSU): Die Finanzkrise hat uns erhebliche Schwächen in der EU-Finanzaufsicht aufgezeigt. Nachteilige Entwicklungen auf den Finanzmärkten wurden nicht vorhergesehen und die Häufung unvertretbar hoher Risiken nicht unterbunden. Ferner war die Zuständigkeit für die makroprudenzielle Aufsicht unklar und wurde von mehreren Behörden auf unterschiedlicher Ebene wahrgenommen. Es bestand kein System, welches Risiken auf Makroebene erkannte und konkrete Warnungen und Weisungen herausgab. Aufgrund dieser Schwächen schlug die durch die Europäische Kommission eingesetzte Expertengruppe um Jaques de Larosière in ihrem im Februar 2009 erschienenen Bericht die Neustrukturierung der Aufsicht sowie die Schaffung eines Europäischen Systems der Finanzaufsicht, ESFS, vor. Diese Anregungen setzte die Kommission in ihrem darauf folgendem Gesetzgebungsvorschlag nahezu vollständig um. Nach erfolgreicher Abstimmung im Rat und im Europäischen Parlament nahm das neue Aufsichtssystem seine Arbeit planmäßig am 1. Januar 2011 auf. Das neue Finanzaufsichtssystem umfasst demnach zwei Bereiche: Zum einen wurde ein Europäischer Ausschuss für Systemrisiken gegründet, welcher für die Aufsicht auf makroprudenzieller Ebene verantwortlich ist. Die Hauptaufgabe dieser Einrichtung besteht in der Überwachung und Bewertung von systemischen Risiken in der EU. Zum anderen wurden drei neue Aufsichtsbehörden zur mikroprudenziellen Überwachung, nämlich die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, EBA, die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, und die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, EIOPA, gegründet. Darüber hinaus wurde auch ein behördenübergreifender gemeinsamer Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden, ein Joint Committee, ein Teil dieses Systems. Die Umsetzung des zugrunde liegenden EU-Rechtssetzungspakets erfolgte durch fünf EU-Verordnungen zur Errichtung der genannten EU-Behörden und Ausschüsse sowie durch die sogenannte Omnibusrichtlinie I. Mit der Omnibusrichtlinie I wurden elf bestehende EU-Richtlinien im Finanzmarktbereich an die neuen EU-Finanzaufsichtsstrukturen angepasst. Dabei waren die Änderungen der EU-Richtlinien erforderlich, um die Einbindung der neuen Strukturen in die gegebenen EU-Finanzmarktregelungen sicherzustellen und ein reibungslos funktionierendes Europäisches Finanzaufsichtssystem zu gewährleisten. Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet Anpassungen der deutschen Finanzaufsichtsgesetze, die zur Umsetzung der Omnibus-I-Richtlinie notwendig sind. Die EU-Aufsichtsstrukturen gelten bereits seit Inkrafttreten der Verordnungen. Die jetzige Anpassung der deutschen Aufsichtsgesetze erfolgt lediglich aus Gründen der Klarstellung oder insoweit, als dass die nationalen Gesetze den EU-Verordnungen entgegenstehen. Wesentliche Regelungen aus deutscher Sicht sind dabei die Einbindung der BaFin in das Europäische Finanzaufsichtssystem, die Konkretisierung der Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten der BaFin gegenüber den europäischen Aufsichtsbehörden und die Konkretisierung des Verfahrens zur Einbeziehung der europäischen Aufsichtsbehörden bei Meinungsverschiedenheiten oder mangelnder Zusammenarbeit zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden. Mit dem neuen europäischen Aufsichtssystem ESFS wird die EU der zunehmenden Verflechtung der internationalen Finanzmärkte gerecht. Vor allem die Einsetzung des ESRB, als einer makroprudenziellen Aufsicht, füllt eine Lücke der bisherigen Aufsichtsstruktur. Auch die neuen Aufsichtsbehörden, als die mikroprudenzielle Aufsicht, stellen eine bedeutende Verbesserung zu den vorherigen Level-3-Ausschüssen dar. Durch dieses neue System wird die Kooperation der nationalen Behörden intensiviert und eine bessere Übersicht über den europäischen Finanzmarkt geschaffen. Die BaFin wird in diesen Prozess mit eingebunden sein und Informationen bereitstellen. Ihr sowie allen anderen nationalen Aufsichtsbehörden, werden verschiedene Mitteilungs- und Aufsichtspflichten gegenüber den neuen Aufsichtsbehörden auferlegt. Diese Neugestaltung der europäischen Aufsichtsstruktur ist ein wichtiger und notwendiger Schritt, um in Zukunft systemische Risiken und negative Entwicklungen auf den europäischen Finanzmärkten schnell zu entdecken. Wir haben mit diesem Gesetz einen wichtigen Schritt in Richtung einer deutlich verbesserten Aufsichtsstruktur in Deutschland und Europa geschaffen. Ich bin davon überzeugt, dass damit Krisen und Verwerfungen auf den Finanzmärkten frühzeitig erkannt und bekämpft werden können. Manfred Zöllmer (SPD): Am 1. Januar dieses Jahres haben die drei neuen europäischen Aufsichtsbehörden für den Finanzsektor ihre Arbeit aufgenommen. Bei ihnen handelt es sich um die in London angesiedelte Europäische Bankaufsichtsbehörde, EBA, die in Frankfurt ansässige Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, EIOPA, und die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, in Paris. Neben den drei neuen Behörden, die Banken, Märkte und Versicherungen überwachen, hat Ende Dezember 2010 bereits der Europäische Ausschuss für Systemrisiken seine Arbeit aufgenommen. Dieser hat die Aufgabe, den gesamten Finanzsektor zu beobachten, um systemische Gefahren frühzeitig festzustellen. Damit haben wir europaweit die Aufsicht neu aufgestellt, um eventuell auflaufende Risiken im Finanzsystem besser aufzudecken, wie diese bereits im Vorfeld der Finanzkrise und auf ihrem Höhepunkt beobachtet wurden. Denn die qualitative und quantitative Verbesserung der Aufsicht der Finanzakteure ist eine der zentralen Lehren, die wir aus der verheerenden Krise ziehen müssen. Banken, Finanzmärkte und Versicherungen agieren grenzüberschreitend; deshalb muss es neben der nationalen auch eine europäische Aufsicht geben. Das Bundesfinanzministerium hat das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems vorgelegt. Damit werden die nationalen Finanzaufsichtsgesetze an die neue europäische Finanzaufsichtsstruktur angepasst. Das Gesetz ermöglicht und konkretisiert dabei insbesondere die Zusammenarbeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mit dem neugestalteten europäischen Aufsichtssystem. Dies ist notwendig, und so werden eine Reihe von nationalen Gesetzen zum Banken- und Finanzaufsichtsrecht geändert, unter anderem das Kreditwesengesetz, KWG, das Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, das Wertpapierhandelsgesetz, WpHG, das Wertpapierprospektgesetz, WpPG, und die Gewerbeordnung GewO. Die Änderungen dieser Gesetze resultieren letztlich aus der Umsetzung der entsprechenden Omnibusrichtlinie. Im Hinblick auf die EU-Verordnungen zur Errichtung der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, sollen in den deutschen Aufsichtsgesetzen Änderungen vorgenommen werden, die der Klarstellung dienen oder die wirken, wenn die bisherigen Regelungen den EU-Verordnungen entgegenstehen. Dazu wird in den deutschen Aufsichtsgesetzen Folgendes neu geregelt: – die Einbindung der BaFin in das Europäische Finanzaufsichtssystem; – die Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten der BaFin gegenüber den europäischen Finanzaufsichtsbehörden; – Anpassungen der Verschwiegenheitspflichten der Beschäftigten der BaFin und vergleichbarer Personengruppen; – die Einbeziehung der europäischen Finanzaufsichtsbehörden bei Meinungsverschiedenheiten oder mangelnder Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden. Bisher hat es die Bundesregierung allerdings noch nicht vermocht, die deutsche Aufsicht zu reformieren. Die vollmundigen Ankündigungen einer umfassenden Reform wurden bereits zurückgenommen. Die Hausaufgaben sind noch nicht erledigt. Die notwendigen Veränderungen müssen deshalb auf der Basis der bestehenden deutschen Aufsichtsstruktur erfolgen. In einer schriftlichen Anhörung, die der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages durchgeführt hat, erklärte die BaFin hierzu, dass sie die Umsetzungsvorschläge begrüßt und vorbehaltlos unterstützt. Auch die Bundesbank spricht in ihrer schriftlichen Stellungnahme von einer sachgerechten Umsetzung. Die Bundesbank wird mit einem – nicht stimmberechtigten – Vertreter an den Sitzungen des Rates der Aufseher bei der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde teilnehmen können. Sie wird auch in die Arbeit der Arbeitsgruppen der EBA einbezogen. Die Form der Beteiligung entspricht nach Aussage der Bundesbank ihrer Funktion, da sie neben ihrer Eigenschaft als Währungsbehörde auch für die laufende Überwachung der Kreditinstitute verantwortlich ist. Die Finanzkrise, die bis heute nachwirkt und zu immer neuen aktuellen Verstrickungen und Belastungen führt, hat erhebliche Aufsichtsdefizite auf der Makroebene offenbart. Es ist daher richtig, wenn wir im Rahmen des neuen Aufsichtssystems die Risiken für die Systemstabilität besser ermitteln und mit einem effizienten Warnsystem verhindern, dass sich Finanzmarktkrisen wie 2008 wiederholen. Die bestehende Aufsicht auf Makroebene war und ist zu stark fragmentiert und musste daher dringend reformiert werden. Die Omnibusrichtlinie I hilft mit, die Aufsichtsstruktur europaweit zu verbessern. Die nationalen Aufsichtsbehörden werden mit den europäischen Finanzaufsichtsbehörden besser zusammenarbeiten und diesen nach Maßgabe der EU-Verordnungen zur Errichtung der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden alle für die Ausführung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen. Hierzu werden die genannten nationalen Gesetze geändert, damit die Verpflichtung der BaFin zur Zusammenarbeit mit den europäischen Finanzaufsichtsbehörden und zur Weitergabe von Informationen auch gesetzlich festgelegt ist. Die Konkretisierung der Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten der nationalen Aufsichtsbehörden gegenüber den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ist eines der Kernelemente der Umsetzung zur Verbesserung einer Finanzaufsichtsstruktur in Europa. Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten, die bisher gegenüber der Europäischen Kommission bestanden, werden nunmehr auf die europäischen Finanzaufsichtsbehörden ausgeweitet bzw. werden durch Mitteilungspflichten gegenüber den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ersetzt. Korrespondierend zu diesen Verpflichtungen der nationalen Aufsichtsbehörden wurden in Art. 35 der EU-Verordnungen zur Errichtung der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden und in Art. 15 der EU-Verordnung zur Errichtung des ESRB den europäischen Finanzaufsichtsbehörden und dem ESRB Informationsansprüche auch gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden eingeräumt. Damit die BaFin diese Informationsansprüche nach Maßgabe der EU-Verordnungen erfüllen kann, müssen ihre Beschäftigten und vergleichbare Personengruppen in den deutschen Aufsichtsgesetzen von ihrer Verschwiegenheitspflicht befreit werden. Aus diesem Grund sollen der ESRB und die europäischen Finanzaufsichtsbehörden in den deutschen Aufsichtsgesetzen in den Katalog der Stellen aufgenommen werden, an die auch geheimhaltungsbedürftige Informationen weitergegeben werden dürfen, soweit diese Informationen zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt werden. Die Zusammenarbeit von nationalen und europäischen Aufsichtsbehörden muss reibungslos funktionieren. Es ist daher richtig, wenn zur Gewährleistung einer effizienten und wirksamen Aufsicht und einer ausgewogenen Berücksichtigung der Positionen der nationalen Aufsichtsbehörden die europäischen Finanzaufsichtsbehörden Differenzen zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden – auch in den Aufsichtskollegien – verbindlich schlichten können, wenn sich die nationalen Aufseher nicht einigen können oder wollen. Der europäische Gesetzgeber hat dabei Bereiche im Blick, in denen die Richtlinien Kooperation, Koordination oder gemeinsame Entscheidungen der nationalen Aufsichtsbehörden vorsehen. Eine erste Festlegung der Bereiche ist in der Omnibusrichtlinie I erfolgt. Maßnahmen, die Gegenstand von Entscheidungen zur Streitbeilegung sein können, sind im Bankenbereich zum Beispiel die Einstufung von Zweigniederlassungen, die Anerkennung interner Modelle und die Risikobewertung auf Gruppenebene. Des Weiteren würden die in der Omnibusrichtlinie I vorgeschriebenen Verfahren in die deutschen Aufsichtsgesetze umgesetzt, nach denen die BaFin handeln muss, wenn sie als konsolidierende Aufsichtsbehörde an einem solchen Streit beteiligt ist. Im Übrigen werden eine Reihe redaktionelle Anpassungen in den deutschen Aufsichtsgesetzen vorgenommen. Die Finanzkrise vom Oktober 2008 hat eine Reihe von Schwachstellen bei der Einzel- und Systemaufsicht offengelegt. Diese wurden insbesondere mithilfe des Larosière-Berichts analysiert, und Handlungsoptionen und Verbesserungen wurden empfohlen. Insgesamt wird die Aufsicht in Europa gestärkt. Die aktuelle Staatsschuldenkrise und die Probleme um eine Rekapitalisierung der Banken zeigen uns aber auch, dass eine verbesserte Aufsicht nur ein – wenn auch wichtiger – Mosaikstein in einer hinreichenden Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte bedeutet. Wir sind damit auf einem guten Weg, die notwendigen aufsichtsrechtlichen Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise zu ziehen. Die neuen Strukturen müssen sich jetzt in der Praxis bewähren. Björn Sänger (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht die christlich-liberale Koalition einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer funktionierenden europäischen Finanzaufsicht. In der Finanzmarktkrise hat sich die Notwendigkeit eines europäischen Finanzaufsichtssystems gezeigt. Die nationalen Aufsichtsbehörden hatten nicht den wünschenswerten Überblick behalten, um grenzüberschreitende Probleme zu erkennen. Neben die nationalen Aufsichtsbehörden treten daher nun der Europäische Ausschuss für Systemrisiken und die Europäischen Aufsichtsbehörden für den Banken-, den Wertpapier- und den Versicherungssektor sowie ein behördenübergreifender Gemeinsamer Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden. Damit das Zusammenspiel dieser Behörden mit den nationalen Aufsehern reibungslos funktioniert, wurden zahlreiche Gesetzesanpassungen nötig, die wir mit dem vorliegenden Gesetz vollziehen: Es werden das Kredit-wesengesetz, das Wertpapierhandelsgesetz, das Investmentgesetz, das Börsengesetz, das Versicherungsaufsichtsgesetz, die Gewerbeordnung, das Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz und das Geldwäschegesetz geändert, um unsere nationale Aufsicht in das neue europäische Finanzaufsichtssystem zu integrieren. So werden Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten seitens der BaFin gegenüber den europäischen Aufsichtsbehörden geregelt, Anpassungen der Verschwiegenheitspflichten, die für die nationalen Aufseher gelten, vorgenommen und die Einbeziehung der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden geregelt, wenn es zwischen nationalen Aufsichtsbehörden Meinungsverschie-denheiten oder mangelnde Zusammenarbeit gibt. All dies ist absolut begrüßenswert, was auch der Beratungsprozess des Gesetzes zeigte. Während uns üblicherweise kontroverseste Stellungnahmen von Sachverständigen erreichen und im Beratungsprozess heftig debattiert wird, gibt es hier fraktionsübergreifende Zustimmung, und die Änderungen werden allseits als richtig und notwendig erachtet. Die seitens der Opposition angeregte Beobachtung des europäischen Finanzaufsichtssystems werden wir selbstverständlich vornehmen, und wir werden gegebenenfalls Nachbesserungen umgehend in die Wege leiten, sollte es in so einem komplexen, neugeborenen Finanzaufsichtssystem an der einen oder anderen Stelle noch nicht optimal laufen. Anfangsschwierigkeiten bei solch einem Neubeginn wären aber wenig überraschend und sind gegebenenfalls auch der noch bei weitem nicht ausreichenden Personaldecke geschuldet. Es erscheint geradezu abenteuerlich, mit wie wenig Personal etwa die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, EBA, europaweite Bankenstresstests durchführt. Hört man seitens der Banken dann lautes Klagen darüber, dass die Zusammenarbeit extrem schwierig verlaufen sei und dass auch die Zusammenarbeit zwischen nationalen Aufsehern und der EBA nicht optimal war, dann habe ich noch die Hoffnung, dass sich all dies im Laufe der Zeit einspielen wird, wenn es auf europäischer Ebene eine adäquate Personaldecke gibt. Um die besten Aufseher zu bekommen, muss man gegebenenfalls aber auch seitens der finanzierenden Bankenverbände entsprechende Mittel zur Verfügung stellen. Bei der ebenfalls in diesem Gesetz geänderten Rechtsstellung des Exekutivdirektoriums unserer nationalen Aufseher, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, hat dies ausnahmsweise einmal geklappt. Doch war dafür auch entsprechender Druck nötig, mit dem zuvor bereitstehenden Mitteln nicht die optimale Besetzung für eine Personalie im Exekutivdirektorium finden zu können. Zu gegebener Zeit sollten wir deswegen einmal grundlegend über die Finanzierung und Mittelausstattung unserer Aufsichtsbehörden nachdenken. In manchen Ländern werden Gehälter gezahlt, die auf Augenhöhe mit jenen sind, die von Finanzinstituten gezahlt werden. Nur so kann eigentlich gewährleistet werden, die besten Mitarbeiter der Finanzbranche zu bekommen und auch einen Austausch zwischen Banken und Aufsichtsbehörden zu fördern, um genug Expertise bei den Aufsichtsbehörden anzusiedeln. Das werden wir uns alles anschauen. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem optimalen europäischen Finanzaufsichtssystem mit funktionierender Zusammenarbeit nationaler Behörden ist mit diesem Gesetz getan. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Es ist unbestritten, dass wir eine bessere Aufsicht gerade für grenzüberschreitend tätige Finanzinstitute brauchen. Somit ist die Einrichtung des neuen europäischen Finanzaufsichtssystems ein Fortschritt. Mit dem vorliegenden Gesetz werden die europäischen Aufsichtsbehörden besser mit den Aufsichtssystemen der EU-Mitgliedstaaten verdrahtet. Es ist dabei ein europäisches Umsetzungsgesetz ohne großen Spielraum für die nationalen Parlamente. Insofern wäre es falsch, jetzt einen großen Streit an der Umsetzung einer Richtlinie zu entzünden; der Beschluss hierfür ist in Brüssel gefallen. Dem vorliegenden Gesetz stimmen wir zu. Mit dem bisher Erreichten sind wir aber nicht zufrieden. Die Aufsicht muss noch beträchtlich gestärkt werden, damit das Finanzsystem wieder integer wird und Krisen möglichst unterbunden werden. Es gibt weiterhin viel zu wenig direkte Eingriffsmöglichkeiten, um gegen Spekulation und Blasenbildung auf den Finanzmärkten vorgehen zu können. Zusätzlich zur europäischen Aufsicht muss auch die nationale Aufsicht gestärkt werden. Für das Schattenfinanzsystem darf es keine Schattenfinanzaufsicht geben; es muss aufgelöst werden. Die neu geschaffenen europäischen Behörden sind unzureichend mit Rechten und Ressourcen ausgestattet. Der Finanzaufsicht fehlen auch Spezialabteilungen oder -behörden. Die USA haben etwa eine eigene Aufsichtsbehörde für Warentermingeschäfte: die CFTC mit knapp 700 Vollzeitmitarbeitern, also dem Zehnfachen der ESMA. Die personelle Ausstattung der Behörden ist auch deswegen unzureichend, weil den Aufsichtsbehörden besondere Kompetenzen zugebilligt werden, um an Verordnungen oder anderen Rechtsakten mitzuwirken und Entwürfe zu erstellen. Das Gesetz berücksichtigt nicht das damit zusammenhängende Problem der unzureichenden Mitwirkung des Bundestages an europäischen Rechtsakten. Es droht ein Durchregieren von europäischen Gremien und Behörden. Für transnationale Banken ist eine europäische Aufsicht mit starken Durchgriffsrechten wünschenswert. Für regional agierende Banken – ich denke hier vor allem an unsere Sparkassen und Genossenschaftsbanken – sehe ich nicht gewährleistet, dass die EBA willens und fähig ist, nationale Eigenheiten immer mitzudenken. Neben den Aufsichtsbehörden für Banken, Versicherungen und Finanzmärkte ist auch die Aufgabe des European Systemic Risk Boards, ESRB, wichtig, nämlich die Überwachung des Finanzsystems aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive. Die Arbeitsweise des ESRB ist jedoch intransparent, und es ist wenig darüber bekannt, wie es die Vorgänge auf den Finanz- und Kapitalmärkten einschätzt. Eine Beurteilung der Arbeit dieses Ausschusses ist kaum möglich. Das vorliegende Gesetz wurde zuletzt noch geändert, um die neu zu besetzende BaFin-Spitze besser bezahlen zu können, als es der Beamtentarif erlaubt. Wer aber behauptet, dass sich nun Aufsicht und Beaufsichtigte auf Augenhöhe begegnen, irrt sich. Die Fantasiegehälter in der Finanzbranche müssen endlich auf ein akzeptables Niveau zurückgebracht werden. Dann muss auch eine BaFin-Präsidentin nicht mehr verdienen als eine Bundeskanzlerin. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem ist ein wichtiger Schritt hin zu einer echten europäischen Finanzaufsicht, die angesichts eines bereits sehr hohen Maßes an integrierten, also europaweit und über Grenzen hinweg agierenden Finanzmärkten und -instituten auch dringend erforderlich ist. Insbesondere das Mandat der neuen Bankenaufsichtsbehörde EBA, für eine einheitliche Entwicklung und Anwendung des EU-Aufsichtsrechts zu sorgen und durchzusetzen, wird hoffentlich dazu beitragen, dass künftig kurzsichtige „Race-to-the-Bottom“-Strategien in der Finanzmarktregulierung zur vermeintlichen Entwicklung des eigenen Finanzplatzes nicht mehr möglich sind: In Irland haben wir gesehen, wie unglaublich teuer und riskant solche Strategien letztlich sind – für Irland, aber auch alle anderen Länder in Europa und ihre Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Auch dass die neue Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA weitreichende Befugnisse hat, zum Beispiel bei der Aufsicht über Ratingagenturen oder um den Handel mit gefährlichen Finanzprodukten auszusetzen, etwa bei ungedeckten Leerverkäufen, ist eine gute Nachricht und ein echter Fortschritt. Insgesamt werden wir daher der Reform zustimmen. Allerdings weist die neue europäische Finanzaufsichtsarchitektur auch viele Schwächen auf, die es gilt in nächster Zeit zu beheben: Dazu gehört, dass die EBA im Fall von ernsten Bankenschieflagen nicht wirklich handlungsfähig ist. Zwar darf sie im Krisenfall – den jedoch nicht sie selbst, sondern der Rat feststellt – nationale Aufsichten und Institute zu bestimmten Krisenmaßnahmen verpflichten und das Krisenmanagement koordinieren, allerdings nur, wenn hierbei nicht in die haushaltspolitische Kompetenz der Mitgliedstaaten eingegriffen wird. Im Zweifel wird damit also doch alles beim Alten bleiben: Statt einer kostenminimierenden Koordination des Krisenmanagements über Ländergrenzen hinweg wird es im Ernstfall weiter wie bisher – wie zum Beispiel im Fall Fortis zu beobachten war – ein unkoordiniertes, an nationalen Grenzen aufgehängtes und so potenziell krisenverschärfendes und damit teurer als nötiges Eingreifen geben. Was wir hier dringend brauchen, sind Vereinbarungen über die Aufteilung von Krisenkosten, am besten gelöst über eine europäische Bankenabgabe und einen europäischen Bankenrettungsfonds. Ziel muss die Weiterentwicklung der EBA zu einem echten und schlagkräftigen Krisenmanger sein. Die überfällige EU-Initiative zur Entwicklung eines Bankenabwicklungsregimes bietet hier Gelegenheit zur institutionellen und rechtlichen Fortentwicklung. Diese Gelegenheit müssen wir nutzen! Zu denken gibt auch die ressourcenmäßige Ausstattung der neuen EU-Aufsichtsbehörden: Wie soll es die ESMA mit einem Personalkörper von gerade einmal 60 Personen schaffen können, all ihren Aufgaben gerecht zu werden? Allein für eine echte Aufsicht über die Ratingagenturen – und das ist nur eine kleine Teilaufgabe der ESMA – wäre nahezu der gesamte Personalbestand nötig. Und die EBA soll sogar mit nur 45 Mitarbeitern auskommen – bei einem Aufgabenkatalog, der nicht kleiner als jener der ESMA ist. Hinsichtlich der Personalausstattungen muss also noch deutlich nachgelegt werden, wenn die neuen Behörden nicht schnell den zweifelhaften Ruf eines zahnlosen Tigers erhalten sollen und die nächste Krise verhindert werden soll. Eine weitere Schwäche betrifft die Zersplitterung der drei neuen Aufsichtsbehörden ESMA, EBA und EIOPA über die drei Standorte Paris, London und Frankfurt am Main. Das ist unlogisch, kurzsichtig und nationalen Eitelkeiten geschuldet: Effizienz- und Reibungsverluste sind hier bereits vorprogrammiert. Mittelfristig wird es darum gehen müssen, die drei Institutionen an einem Standort zusammenzuführen, um eine optimale Zusammenarbeit zu ermöglichen. Zu den Schwächen des neuen EU-Finanzaufsichtssystems gehört ferner, dass wir mit dem European Systemic Risk Board, ESRB, zwar eine neue Einrichtung zur Analyse und Beobachtung sogenannter makroprudenzieller Risiken geschaffen haben, was zweifellos eine richtige Entscheidung und eine wichtige aufsichtliche Ergänzung ist. Allerdings wirft Fragen auf, dass sich Europa derzeit in einer existenziellen Staatsschuldenkrise befindet, der ESRB allerdings noch kein einziges Mal zu diesem Systemrisiko erheblicher Relevanz wirklich vernehmbar Stellung bezogen hat. Das zeigt: Ein wesentlicher Teil des neuen Europäischen Finanzaufsichtssystems ist fast ein Jahr nach dem Startschuss entweder noch nicht arbeitsfähig oder die Governance-Strukturen dieses Gremiums verhindern eine klare Positionierung in dieser Frage. Beides wäre äußerst bedenklich und gibt Anlass zur Sorge. Insgesamt muss es nach meiner Überzeugung in der mittleren Perspektive bei dem EU-Aufsichtssystem darum gehen, die komplette laufende Bankenaufsicht über grenzüberschreitend aktive Institute auf EU-Ebene zu verlagern. Dafür sollten die nationalen Aufsichtsbehörden für national und regional agierende Banken zuständig sein. Denn es gibt ja auch zu Recht Klagen, dass die EBA wenig geneigt sein dürfte, die Besonderheiten regionaler Institute in Deutschland zu beachten. Und in der Tat stellt sich ja die Frage, ob es sinnvoll ist, dass in London Regeln für eine Volksbank wie diejenige in Mannheim-Sandhofen erlassen werden. Für eine sinnvolle Aufsichtsarchitektur in Europa ist also noch einiges zu tun. Das Gleiche gilt übrigens auch in Deutschland: Noch immer sind die großspurigen Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag unerfüllt, die Finanzaufsicht in Deutschland neu aufzustellen. Eine systematische Aufarbeitung der in der Finanzkrise sichtbar gewordenen Schwächen hat bis heute nicht stattgefunden. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Zivilpersonal in Konflikten besser be-treuen (Tagesordnungspunkt 19) Michael Brand (CDU/CSU): Aus eigenen Gesprächen und eigener Erfahrung kann und will ich für mich persönlich und für die gesamte Unionsfraktion zu Beginn etwas bekunden: nämlich hohen Respekt vor dem Engagement und vor dem Beitrag vieler ziviler Akteure aus humanitären und anderen Nichtregierungsorganisationen in Konfliktgebieten. Sowohl in der Prävention als auch während akuter Konflikte wie auch in Postkonfliktphasen sind zivile Ansätze von zivilen Partnern immer wieder wichtige Beiträge zur Beruhigung, Befriedung oder Aussöhnung in schwebenden oder schwelenden Konflikten. Dabei haben die entsendenden Organisationen die große Verantwortung, bei der Auswahl der Personen wie bei der Vorbereitung und auch bei der Nachbereitung von Einsatzzeiten die umfassende Betreuung des Personals zu gewährleisten. Dies gilt umso mehr, wenn im Rahmen auch öffentlicher Hilfestellung die Allgemeinheit diese Einsätze mit unterstützt. Die Unionsfraktion und die Koalition insgesamt unterstützen in diesem Zusammenhang den Schwerpunkt, den die Bundesregierung auf die zivilen Komponenten der Konfliktlösung legt, sehr nachdrücklich. Auch ist bekannt, dass diese Einsätze für das Personal neben dem erfüllenden Gefühl, aktiv bei Konfliktbewältigung helfen zu können, auch Belastungen, im Einzelfall schwere Belastungen, mit sich bringen. Hier ist das professionelle und persönliche Umfeld oftmals sehr gefragt, berufliche und seelische Hilfestellung zu leisten. Soweit die Antragsteller nun das Ansinnen verfolgen, aus den Berichten über solche unstreitig vorhandenen Fällen unmittelbar einen Maßnahmenkatalog mitsamt Evaluierungsauftrag und finanzieller Hilfe beim Berufsumstieg oder Wiedereinstieg in den Beruf in Deutschland und weitere Maßnahmen der Bundesregierung abzuleiten, so kann, bei allem Respekt vor der Leistung der zivilen Helferinnen und Helfer, diesem Ansinnen deshalb nicht entsprochen werden, weil es zunächst in die Verantwortung der für Auswahl und Entsendung verantwortlichen Organisationen wie auch die persönliche Verantwortung der zivilen Personen selbst gelegt werden muss, nach Eignung und Belastungsfähigkeit die Zeit nach der Rückkehr mit in Betracht zu ziehen. Die Bundesregierung hat für die Bundeswehrangehörigen die volle Verantwortung, wenn sie Soldatinnen und Soldaten in teils lebensgefährliche Einsätze schickt. Im Rahmen der hier gegebenen besonderen Fürsorgepflicht und der freien Heilfürsorge für Angehörige der Bundeswehr ist die Nachsorge bis hin zur psychologischen Betreuung logische Folge der Verpflichtung von militärischem Personal zur Prävention oder zur Eindämmung von Konflikten oder zur Stabilisierung in Postkonfliktsituationen. Die im zivilen Einsatz tätigen Personen bedürfen einer zivilen Struktur der Verantwortlichkeit, in der diese Netze ebenfalls eingerichtet sind bzw. noch eingerichtet werden müssen. Das deutsche Sozial- und Gesundheitssystem hält in seiner differenziert aufgefächerten Struktur sehr unterschiedliche Möglichkeiten der persönlichen und institutionellen Betreuung von Menschen mit psychischen Belastungen bereit. Ebenso sind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Wiedereingliederung in das Berufsleben im Bereich der Bundesagentur wie bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern bis hin zu den kirchlichen Diensten stark ausgeformt und weithin institutionalisiert und transparent zugänglich. Darüber hinaus sind die Plattformen und Netzwerke für zivile Kriseneinsätze gerade im Internetzeitalter breit zugänglich und bieten eine gute Möglichkeit zum Austausch und zur weiteren, vertieften Kontaktaufnahme für Rückkehrerinnen und Rückkehrer wie für Personen vor der Reise in die Einsätze. Dieses plurale Angebot freier, privater Anbieter ist in manchen Bereichen sogar dem Angebot der internen Organisation der Bundeswehr in punkto Einzelfall voraus. Kein Mensch kann grundsätzlich dem Ansinnen widersprechen, dass es für Zivilpersonal in Krisengebieten eine intensive Betreuung geben muss. Dies ist sicher auch weiter auszubauen. Ob dies zwingend einer Initiative der Bundesregierung bedarf, ist zweifelhaft und muss als derzeit nicht geboten betrachtet werden. Die Beschlussvorlage heute ist leider nicht zustimmungsfähig. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellt in ihrem Antrag zutreffend fest, dass es einen zunehmenden Bedarf an zivilen Fachkräften zur Bewältigung von Konflikten im Ausland gibt. Allerdings zeichnet der Antrag schon in der Bestandsaufnahme aus zwei Gründen ein schiefes Bild. Erstens ist eine effiziente Betreuung des zivilen Personals durch die Entsendeeinrichtungen wie beispielsweise die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, und das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, ZIF, sehr wohl gewährleistet. Dies schließt auch die Betreuung von Menschen mit psychologischen Problemen in Einzelfällen ein. Zweitens sind nicht, wie der Antrag glauben machen will, psychische Probleme ein neues Massenproblem ziviler Experten, die in Krisenregionen ihren Dienst tun. Lassen Sie mich klarstellen: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Organisationen sind ebenso wie Richterinnen und Richter, Polizistinnen und Polizisten sowie andere zivile Experten ein wichtiger, ja unverzichtbarer Bestandteil europäischer Sicherheitspolitik. Erst in dem engen Zusammenspiel von militärischen und zivilen Kräften können Krisen und Konflikte erfolgreich angegangen werden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf den ressortübergreifenden Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ verweisen. Ziel dieses Aktionsplans ist, Krisenprävention als politische Querschnittsaufgabe auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene zu verankern. Die Bedeutung der zivilen Krisenprävention für die Bundesregierung unterstreicht die Aufstockung der Mittel hierfür: Für 2012 sind circa 78 Millionen Euro vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ist der Bundesregierung stets daran gelegen, qualifiziertes ziviles Personal zu internationalen Friedenseinsätzen der UN, EU und OSZE zu entsenden. Derzeit sind etwa 250 deutsche zivile Experten in Krisen- und Konfliktgebieten aktiv, die zum größten Teil direkt aus Bundesmitteln bezahlt werden. In ihrem Antrag nennt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zutreffend das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze als wichtige Entsendeeinrichtung für zivile Experten. Das ZIF hat zur Aufgabe, aus sehr hohen Bewerberzahlen diejenigen, die am besten qualifiziert und geeignet sind, auszuwählen. Diese zivilen Experten werden dann in einem deutschlandweiten Expertenpool geführt, aus dem sie jederzeit für jegliche Art von Auslands-einsätzen in Krisen und Konfliktregionen in den Dienst der EU, der UN oder der OSZE überstellt werden können. Des Weiteren ist es Aufgabe des ZIF, die zivilen Experten durch mehrwöchige Ausbildungs- und Vorbereitungsseminare zu schulen. Wenn es ein Einsatz aller Wahrscheinlichkeit nach erfordert, werden die zivilen Experten vor ihrer Abreise noch zusätzlich in Kursen geschult, die auch psychologische Kompetenz in akuten Krisensituationen, wie beispielsweise einer Entführung, vermitteln. Auch während ihres Einsatzes in der Krisenregion steht das ZIF den zivilen Experten als Ansprechpartner für jegliche Problemstellung zur Seite. Die Betreuung kann dabei von ganz pragmatischen, alltäglichen Fragen bis hin zur psychologischen Betreuung in persönlichen Notlagen reichen. Auch nach ihrer Rückkehr ist das ZIF weiterhin für die zivilen Experten da und versucht auch, bei der Wiedereingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt behilflich zu sein. Lassen Sie mich der Vollständigkeit halber noch kurz auf die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zu sprechen kommen, die für entwicklungspolitische Projekte auch weltweit deutsche zivile Experten in Konfliktgebiete entsendet. Die GIZ lässt bei der Auswahl und Vorbereitung der zivilen Experten ebenso Sorgfalt walten wie das ZIF. Dabei kann die GIZ auf mittlerweile 50 Jahre Erfahrung zurückgreifen. Abgesehen von der wichtigen Arbeit der Entsendeeinrichtungen was Schulung und Betreuung angeht, möchte ich an dieser Stelle auch auf die spezifischen Qualitäten der zivilen Experten verweisen. Zunächst einmal sprechen hohe Bewerberzahlen für das große Interesse an dieser Tätigkeit. Deutsche zivile Fachkräfte, die in Krisenregionen zum Einsatz kommen, verfügen in der Regel über eine mehrjährige Expertise in ihrem spezifischen Arbeitsfeld. Neben der fachlichen Qualifikation sind auch hohe Anforderungen an Sozialkompetenz und persönliche Eignung Einstellungskriterien. Deutsche zivile Experten zeichnen sich durch beides gleichermaßen aus. Der zivile Experte ist also nicht nur fachlich kompetent, sondern auch hochmotoviert, emotional gefestigt und durch die Entsendeeinrichtung so gut wie möglich auf den Einsatz vorbereitet. Dies schließt natürlich einzelne Fälle psychosozialer Probleme nicht aus. Es ist aber keinesfalls so, dass dies inzwischen ein Massenphänomen unter den zivilen Experten wäre. Im Gegenteil: Im Vergleich zu Soldaten in gefährlichen Einsätzen spielen derartige Probleme bei zivilen Experten nachweislich bislang eine eher geringe Rolle. Dort, wo zivile Experten psychosoziale Probleme haben, stehen ihnen die Entsendeeinrichtungen fachkundig zur Seite. Der Antrag der Grünen geht somit von einer falschen Ausgangslage aus und schießt deshalb weit über das Ziel hinaus. Der Schwerpunkt der Nachbetreuung des zivilen Personals muss in der Hilfestellung für den Wiedereinstieg in den deutschen Arbeitsmarkt liegen. Hierzu müssen allerdings nicht, wie in dem Antrag gefordert, mehr Steuergelder ausgegeben werden. Vielmehr kommt es darauf an, die Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und den Entsendeeinrichtungen, insbesondere dem ZIF, zu fördern. Edelgard Bulmahn (SPD): Konflikte, die drohen, in gewalttätige oder kriegerische Auseinandersetzungen zu münden, können nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden. Militärische Interventionen können im Falle von Bürgerkriegen, Völkermord oder anderen kriegerischen Auseinandersetzungen höchstens einen Waffenstillstand erzwingen oder Bevölkerungsgruppen schützen, um so politische Verhandlungen wieder zu ermöglichen. Zivile Krisenpräventionspolitik ist daher der entscheidende Weg, um Konflikte zu entschärfen und sie einer politischen Lösung zuzuführen. Erfolgreiche Maßnahmen von Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedenskonsolidierung lassen sich nur mit ressortübergreifenden zivilen Instrumenten und Maßnahmen erreichen. Die Debatte um Peacebuilding-Missionen – sei es nun in den Vereinten Nationen, der EU, der OSZE oder anderen Organisationen – dreht sich dabei im Wesentlichen um Fragen des politischen Mandates, des Budgets oder der Logistik. Die Frage des notwendigen und ausreichend qualifizierten Personals für die erforderlichen Aufgaben wird meist nachrangig diskutiert. Doch dies ist falsch, denn motiviertes und besonders gut ausgebildetes Personal ist der Schlüsselfaktor für erfolgreiche Friedensmissionen. Der Personalbedarf internationaler Friedenseinsätze steigt ständig, quantitativ wie auch qualitativ. Ursache dafür ist die Zunahme von personalintensiven und in der Fläche präsenten Missionen, Damit einhergehen immer ein erhöhter Bedarf an zivilem Personal und sich verschärfende Probleme bei der Gewinnung dieses Personals. Alleine im vergangenen Jahr waren weltweit fast 12 000 zivile Fach- und Führungskräfte in Missionen der UN, der EU oder der OSZE in den verschiedenen Krisenregionen der Welt tätig. Dabei erstreckt sich ihr Aufgabenspektrum von der Beratung von Politik und Verwaltung über Grenzkontrollen bis hin zur Unterstützung und Ausbildung im Bereich von Polizei oder Justiz. Neben der Notwendigkeit einer verbesserten Personalgewinnung dürfen wir aber auch nicht aus den Augen verlieren, dass Auslandseinsätze, insbesondere in Krisenregionen, oft mit besonderen physischen und psychischen Belastungen und Risiken verbunden sind. Was für den Einsatz von Soldaten der Bundeswehr zu einem großen Teil bereits berücksichtigt wird, findet mit Blick auf ziviles Personal noch immer zu wenig Anerkennung. Auch zivile Helfer und Fachkräfte sind bei ihrem Einsatz konfrontiert mit brutalster Gewalt, mit Verfolgung und ihren Auswirkungen auf Menschen und ihr Zusammenleben. Sie erleben Hunger und Elend aus nächster Nähe und sind mit der Verarbeitung ihrer Erlebnisse während des Einsatzes und darüber hinaus oftmals allein gelassen. Wenn die zivile Krisenprävention eines der wesentlichsten Kennzeichen deutscher Friedens- und Außenpolitik sein soll, dann müssen wir auch die Menschen, die vor Ort in beeindruckender Art und Weise dafür einstehen, besser betreuen und unterstützen. Mit der Einrichtung des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze, dem ZIF, ist im Rahmen des rot-grünen Aktionsplanes „Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedenskonsolidierung“ hierfür ein wesentlicher Grundstein gelegt worden. Das ZIF hat in den vergangenen fast zehn Jahren seines Bestehens eine wertvolle Aufbauarbeit geleistet und genießt international ein hohes Ansehen. Dafür auch an dieser Stelle einen herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Ludwigkirchplatz hier in Berlin. Aber vor dem Hintergrund seiner finanziellen und personellen Ausstattung ist auch das ZIF nicht in der Lage, eine umfassende und längerfristige soziale und psychosoziale Betreuung der zivilen Fachkräfte vor, während und nach einem Einsatz zu übernehmen. Der finanzielle Aufwuchs bei den Mitteln für das ZIF in Höhe von gut 200 000 Euro ist zwar ein richtiger, aber noch immer ein viel zu kleiner Schritt in diese Richtung. Notwendig ist ein übergreifender und umfassender Ansatz der Bundesregierung für die Betreuung von zivilem deutschem Personal in internationalen Friedensmissionen. Die Diskussionen über die psychosoziale Betreuung von Soldaten der Bundeswehr wird verbessert, was richtig und notwendig ist. Richtig und notwendig ist aber auch die psychosoziale Betreuung des zivilen Personals. Beispielhaft für das mangelnde strategische Bewusstsein ist die finanzielle Ausstattung des Zivilen Friedensdienstes. Die Kürzungen im Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Jahr 20011 werden trotz der positiven Evaluierung des Projektes auch im kommenden Jahr nicht rückgängig gemacht. Da frage ich: Warum wird eine Evaluierung durchgeführt, wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, die vorgeschlagenen Schlüsse daraus zu ziehen? Gerade hier, bei der Entsendung von erfahrenen Friedensfachkräften als zentralem Element des Projektes, kommt es darauf an, Betreuung und Begleitung weiter zu intensivieren. Weitere 20 Millionen Euro wären hier notwendig und insgesamt sehr gut investiert. Deshalb bedaure ich es sehr, dass die Koalitionsfraktionen den Antrag der SPD auf Erhöhung des Titels um 3 Millionen Euro abgelehnt haben. Mit diesen Mitteln hätten wir mit dieser wichtigen Aufgabe zumindest beginnen können. Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen greift dieses vernachlässigte Thema auf und beschreibt zumindest die wesentlichen Handlungsfelder. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Antrag deshalb zustimmen. Joachim Spatz (FDP): Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen greift eine Problematik auf, die wir als Koalitionsfraktionen sehr ernst nehmen. Umso mehr enttäuscht es, dass die Grünen ihren Antrag mit aller Macht im Schnellverfahren behandelt haben wollten. Ein seriöses parlamentarisches Verfahren, das der Bedeutung des Themas auch gerecht wird, sieht jedenfalls anders aus. Wir hätten es im Rahmen der Ausschussberatung gerne gesehen, wenn der Antrag in den fachlich zuständigen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ zur gutachterlichen Stellungnahme überwiesen worden wäre. Ich bin überzeugt davon, dass im Rahmen einer ordentlichen Behandlung des Antrags im Laufe des Verfahrens einige Unklarheiten beseitigt worden wären und man sich gemeinsam auf sinnvolle Maßnahmen hätte verständigen können. Auf diese Art und Weise jedoch werden offensichtlich bewusst Differenzen erzeugt, die in der Zielrichtung zwischen Antragsteller und Koalitionsfraktionen gar nicht existieren. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Bündnis 90/Die Grünen in der Sitzungswoche, in der das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz einstimmig verabschiedet werden wird, wenigstens noch einen Hauch von Differenz zur Koalition aufbauen wollen, um typische Oppositionsreflexe zu bedienen. Schade für das Sachthema! Der Antrag der Grünen argumentiert schlicht unpräzise. Beim Thema Zivilpersonal in Konfliktsituationen ist eine differenzierte Betrachtung jedoch zwingend erforderlich. Das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz, dessen Annahme jüngst vom federführenden Verteidigungsausschuss in großer Einmütigkeit aller Fraktionen einstimmig empfohlen wurde, sichert neben der Absicherung von aus dem Auslandseinsatz in Kriegssituationen geschädigten Soldaten auch die Absicherung von heimkehrenden, verletzten Zivilisten, die vom Bund als ihrem Dienstherren entsandt wurden. Dies gilt für Polizisten, Richter, Staatsanwälte sowie generell alle Beamten des Bundes im Auslandseinsatz. Dieser Fakt wird von den Antragstellern schlicht ignoriert. Zu Recht ist das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz von allen Fraktionen als wichtiges Signal an jene gewertet worden, die im Dienste der Bundesrepublik Deutschland eine beachtenswerte Tätigkeit im Ausland verrichten. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen nehmen ihre Fürsorgepflicht als Gesetzgeber und Exekutive ernst. Nach dem Entwicklungshelfer-Gesetz, zum Beispiel beim Zivilen Friedensdienst, findet die Absicherung nach dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz keine Anwendung. Daher stellt sich die Situation bei Entwicklungshelfern anders dar. Hier hätten wir gerne mit den Antragstellern eine intensive Debatte über Lösungsmöglichkeiten geführt. Die bisherige Regelung hat vor allem umsetzungstechnische Gründe. In dieser Frage werden wir auch weiterhin einen engen Austausch mit der Bundesregierung suchen. Was die Versorgung von Zivilpersonal angeht, das mit anderen privatrechtlichen Arbeitgebern wie NGOs ins Ausland gehen, so obliegt es dem jeweiligen Arbeitgeber, die Versorgung seiner Mitarbeiter auszugestalten und eine entsprechende Vorsorge im Falle einer Schädigung für seine Mitarbeiter zu gewährleisten. Der Bund ist hier nicht der Dienstherr und trägt dementsprechend auch keine Fürsorgepflicht. Dies kann auch vonseiten der Zivilgesellschaft nicht gewünscht werden. Wir sehen das Anliegen des vorliegenden Antrags in der Tendenz richtig. Allerdings lassen die Forderungen der Grünen jegliche Differenzierung vermissen. Der unterschiedliche Status der jeweiligen Zivilisten macht eine solche jedoch zwingend erforderlich. Hier kann es keine pauschale Regelung geben. Darüber hinaus war aufgrund des gewählten Verfahrens eine sinnvolle parlamentarische Behandlung der Problematik leider nicht möglich. Aus den genannten Gründen können wir dem Antrag daher nicht zustimmen. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Zivile Fachkräfte wie Entwicklungshelferinnen und -helfer, Friedensfachkräfte, Menschenrechtsschützerinnen und -schützer, aber auch Verwaltungsangehörige, Juristinnen und Juristen, Polizistinnen und Polizisten leisten im Ausland unschätzbar wichtige Arbeit. Sie helfen bei Katastrophen und schlichten Konflikte; sie versorgen Kranke und Hungernde oder helfen beim Aufbau demokratischer Institutionen. Die Linke tritt für eine Politik ein, die auf Konflikte mit friedlichen Mitteln reagiert, die Gewalt vorbeugt und Friedensprozesse fördert. Gerade dafür brauchen wir gut ausgebildete zivile Fachkräfte. Diese müssen, wenn sie verletzt oder traumatisiert werden, natürlich angemessen versorgt werden. Unsere Fraktion hat das wiederholt gefordert, auch ganz aktuell im Entschließungsantrag der Linken zum Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Die Forderungen der Grünen unterstützen wir. Denn es ist natürlich richtig, den Bedarf zu ermitteln und daraus abgeleitet Maßnahmen zur Unterstützung und Behandlung ziviler Fachkräfte zu ergreifen. Andererseits kann ich Ihnen an dieser Stelle auch nicht ersparen, noch einmal auf die Mitverantwortung der Grünen für die Gefährdung von zivilen Helferinnen und Helfern hinzuweisen, die sich aus ihrer Zustimmung zu fast allen Militäreinsätzen der Bundeswehr ergibt. Es gibt doch eine Reihe von Konflikten, die auch durch das militärische Eingreifen der Bundeswehr verschärft werden, wie etwa in Afghanistan. Viele körperliche und seelische Verletzungen, egal ob bei Angehörigen der Bundeswehr oder zivilen Helferinnen und Helfern könnten durch einen konsequenten Gewaltverzicht vermieden werden. Immer wieder haben Entwicklungs- und Hilfsorganisationen darauf hingewiesen: Wo es weniger Gewalt gibt, ist auch das Risiko für zivile Helfer, verletzt oder traumatisiert zu werden, geringer. Je weniger Militär in der Nähe ist, umso sicherer können die Zivilen arbeiten. Das ist ein Ansatz, der im Rahmen der vielbeschworenen Prävention eine größere Bedeutung verdient hätte. Leider bekommt er die bei der übergroßen Mehrheit in diesem Hause nicht. Als stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses will ich aber noch eine Anmerkung machen. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, jetzt für jede Betroffenengruppe einzeln die Verbesserung der psychosozialen Betreuung zu fordern. Natürlich haben die zivilen Fachkräfte eine bessere Versorgung verdient. Aber was ist mit den Feuerwehrleuten, den traumatisierten Flüchtlingen, den ehemaligen Heimkindern, den Opfern von häuslicher Gewalt und von sexuellen Übergriffen, um nur einige wenige zu nennen? Sollen für alle diese Gruppen eigene Projekte gefordert werden? Wir werden nicht darum herumkommen, insgesamt die psychosoziale Betreuung in Deutschland zu verbessern. Das käme dann allen Menschen zugute, die seelische Verletzungen erlitten haben. Wenn Sie jetzt meinen, dafür fehle das nötige Geld, dann empfehle ich die sofortige Einstellung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr. Mit dem, was die uns derzeit kosten, könnten wir schon sehr große Fortschritte im Sinne der Betroffenen erreichen. Dafür setzt sich die Linke auch weiterhin ein. Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Internationale Konflikte lassen sich häufig weder ohne Weiteres verhüten noch schnell und einfach lösen. Sie haben komplexe Ursachen und sind geprägt von Ungewissheiten. Wenn wir Konflikte verhindern und nachhaltig Frieden schaffen wollen, sind wir in großem Maße auf das Engagement ziviler Fachkräfte angewiesen. Erst durch ihre Arbeit werden die Grundlagen für eine dauerhafte Konfliktbewältigung und einen stabilen Frieden geschaffen. Derzeit setzen sich Tausende Frauen und Männer weltweit mit zivilen Mitteln für den Frieden ein. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen bereit sind, derartige Herausforderungen unter schwierigen Bedingungen anzunehmen. Ohne ihr Engagement könnten wir kaum etwas zur Prävention und Lösung von Konflikten beitragen. Darum gehören den zivilen Fachkräften unsere größte Anerkennung, unser Respekt und unser Dank! Ihr Engagement muss uns Verpflichtung sein, alles zu tun, um gute Rahmenbedingungen für die Bewältigung dieser Aufgaben zu schaffen. Natürlich gehört dazu, die notwendigen Mittel und Ressourcen für die verschiedenen Projekte zur Verfügung zu stellen. Aber hier geht es heute um etwas anderes. Heute geht es um die zivilen Fachkräfte, um die Menschen selbst. Sie stehen nicht nur vor besonderen Herausforderungen, wenn es um die Umsetzung ihres Auftrages geht. Es stellen sich auch ganz persönliche Herausforderungen durch den Aufenthalt in einem anderen Land und unter Umständen durch das Leben in einer Krisen- und Konfliktregion. Die Rückkehr in die Heimatgesellschaft ist ein Schritt, der durchaus Probleme mit sich bringen kann. Die Reintegration in den Alltag in Deutschland und in den Arbeitsmarkt verlaufen nicht immer reibungslos. Unter Umständen sind die Frauen und Männer während ihres Einsatzes aber auch enorm belastenden Situationen ausgesetzt. Gewalt und menschliches Leid mitzuerleben, kann auch langfristige Auswirkungen auf die Menschen und ihre psychische Gesundheit haben – besonders, wenn zivile Kräfte selbst Ziel von Gewalt werden. Durch die Medien gegangen sind jüngst Ereignisse in Afghanistan. Aber auch in vielen anderen Einsatzgebieten erleben zivile Fachkräfte immer wieder Bedrohungs- und Belastungssituationen. Es liegt in unserer Verantwortung, dass zivile Fachkräfte – zumal wenn sie sich im Namen von Deutschland engagieren – mit diesen Herausforderungen und Erfahrungen nicht allein gelassen werden. Im Zusammenhang mit den Einsätzen der Bundeswehr ist inzwischen ins Bewusstsein gerückt, dass eine schlimme Folge der Einsätze auch eine Traumatisierung der Soldatinnen und Soldaten sein kann. Es hat eine Weile gedauert, bis alle diesen Zusammenhang auch akzeptiert haben. Aber das Parlament hat sich mit diesem Thema in den vergangenen zwei Jahren intensiv auseinandergesetzt und Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Prävention zu verbessern und den Betroffenen ein Netz von Betreuung und Beratung anzubieten – auch wenn in diesem Bereich noch nicht alle Probleme gelöst sind. Mit der Verabschiedung des Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzes morgen werden schließlich auch Verbesserungen bei der sozialen Versorgung vorgenommen. Bei der sozialen und psychosozialen Betreuung des Zivilpersonals hat Schwarz-Gelb aber bisher keine wesentlichen Verbesserungen gebracht. Sie lassen die zivilen Kräfte und auch alle Organisationen in diesem Bereich mit der Bewältigung der Folgen eines Einsatzes allein. Wie so oft ignorieren Sie Probleme und verschleppen Lösungen. Wenn wir es mit dem Ziel der zivilen Konfliktprävention und -lösung ernst meinen, müssen wir unser Augenmerk auf die Einsatzsituation der zivilen Kräfte richten. Wir haben eine Verantwortung für diese Menschen. Darum fordern wir von der Bundesregierung, sich verantwortungsbewusst mit den Herausforderungen für die zivilen Fachkräfte auseinanderzusetzen und sie wo immer möglich zu unterstützen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Strategie gegen Lebensmittelverschwendung entwickeln (Tagesordnungspunkt 22) Josef Rief (CDU/CSU): Ich glaube, wir sind uns alle einig: Lebensmittelverschwendung ist zu vermeiden. Lebensmittel sind wertzuschätzen. Sie werden mit viel Mühe, Arbeit und Energie hergestellt und gehören in Teilen der Welt zu den sehr knappen Gütern. Sie gehören nicht in den Müll. Eine sachliche Frage, über die wir nicht diskutieren müssten. Der Antrag der SPD zeigt aber wieder einmal, dass es hier nicht um die Sache geht, sondern ausschließlich um die parteipolitische Auseinandersetzung. Ihr Antrag suggeriert, dass die Bundesregierung, das Bundeslandwirtschaftsministerium mit Frau Ministerin Aigner, Lebensmittelverschwendung verschweigt und das Thema als unproblematisch sieht, sodass der Bundestag in Form eines Oppositionsantrags die Initiative übernehmen müsse. Natürlich möchten Sie nun, da die Medien das Thema aufgegriffen haben, opportunistisch ins gleiche Horn stoßen. Dies lehnen wir ab. Liest man Ihren Antrag genauer, kommen Sie auch nicht umhin, Frau Aigner zu loben und auch anzuerkennen, dass bereits im vergangenen Jahr die Untersuchung des Problems mit einer Studie angegangen wurde. Frau Aigner hat mit ihrer Kampagne „Jedes Mahl wertvoll“ die Bürgerinnen und Bürger informiert und damit zur Sensibilisierung beigetragen. Für uns ist wesentlich, mit einer differenzierten Betrachtung, wie es gerade eine umfangreiche Studie zum Verbraucherverhalten ermöglicht, den Handlungsbedarf abzuklären. Jetzt möchte die SPD nicht bis Anfang des kommenden Jahres auf die Ergebnisse warten und die Bundesregierung zu einem Schnellschuss drängen. Dies wirft schon ein seltsames Licht auf die Opposition und ist schon formal unsinnig. Es nützt wenig, nach neuen Gesetzen und Regelungen zu rufen, wenn wir noch nicht einmal wissen, wie groß der genaue Umfang und Anteil der unnötig weggeworfenen Lebensmittel sind und warum Verbraucher sich beim Einkauf so entscheiden, wie sie es tun. Betrachtet man nur die offensichtlichen Faktoren, wird schnell klar, dass der Verbraucher die große Auswahl schätzt und ebenso die Vielfalt und Frische der Produkte zu jeder Zeit erwartet. Der Handel gewährleistet dies, um seine Kunden zufriedenzustellen, und kalkuliert Verluste durch Aussortierung, Bruch und Verfall ein. Es ist leicht gesagt, dass dann der Einzelhändler nicht mehr aussortieren oder Bruch anbieten soll. Jeder kann sich vorstellen, dass der Verbraucher bei gleichem Preis die optisch ansprechendere Ware kauft. Dieses Beispiel zeigt die Komplexität des Vorgangs. Wenn ich in meinem Wahlkreis Biberach mit Einzelhändlern spreche, wird mir immer gezeigt, dass Produkte, die nahe dem Mindesthaltbarkeitsdatum liegen, gesenkt sind und oftmals sogar in einem gesonderten Regal angeboten werden. Dies ist sicher eine der möglichen Lösungen. Fragt man dann nach dem Anteil des Verlusts, der auf verfallene oder ausgemusterte Produckte entfällt, wird dieser mit fünf bis sieben Prozent beziffert. Hier ist der Handel sicher auf dem richtigen Weg. Selbstverständlich gehört auch eine sinnvolle Balance zwischen Angebot und Nachfrage dazu. Hier sehe ich aber keine gesetzlichen Regelungen und damit mehr Bürokratie als Lösung an. Wir können hier nur an den Verbraucher appellieren. Natürlich müssen wir letztlich auch die gesamte Wertschöpfungskette unter die Lupe nehmen. Wo kann überall die Verschwendung von wertvollen Lebensmitteln vermieden werden? Jeder Landwirt wird schon heute den größtmöglichen Anteil seiner Ackerfrüchte vermarkten und jede andere Nutzungsmöglichkeit und Verwertung begrüßen. Alles andere ist schon aus finanziellen Gründen kein Thema. Denkbar wären noch Möglichkeiten, bei den erneuerbaren Energien nicht vermarktungsfähige Lebensmittel besser zu verwerten. Der Handel muss noch weiter auf den Verbraucher zugehen, mit anderen Packungsgrößen und dem vergünstigten Angebot von Obst und Gemüse, wenn mal die Optik nicht stimmt oder der Frischeeindruck beeinträchtigt ist. Dazu gehört natürlich auch, bei der Werbung den Wert der Lebensmittel zu betonen und nicht nur mit tadelloser Optik zu werben. Auch die Tatsache, dass Lebensmittel nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum noch genießbar sind und weiter verkauft werden dürfen, muss besser kommuniziert werden. Sicher sind alle Akteure gefragt, ihren Beitrag zu leisten. Am Ende wird der Verbraucher mit seinem Kaufverhalten abstimmen. Ich freue mich, dass Frau Bundesministerin Aigner das Problem mit einem umfassenden Konzept zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen angeht. Wir sollten zuerst die Ergebnisse der Studie abwarten, bevor wir im Bundestag Beschlüsse fassen und neue Gesetze erlassen. Der richtige Weg ist eingeschlagen. Den SPD-Antrag lehnen wir daher ab. Carola Stauche (CDU/CSU): Auf Antrag der SPD-Fraktion reden wir heute über ein Thema, das keinem schmeckt: Wir suchen Strategien gegen die Lebensmittelverschwendung. Während Millionen Menschen auf der Welt hungern, werfen wir tonnenweise genießbares Essen weg. Jeder Deutsche schmeißt pro Jahr im Schnitt Lebensmittel im Wert von weit über 300 Euro in den Abfalleimer, schätzt das Bundesverbraucherministerium. Exakte Zahlen über die Art und Menge der Lebensmittel, die verschwendet werden, lässt das Bundesverbraucherministerium in einer nationalen Wegwerfstudie ausrechnen. Ergebnisse liegen Anfang 2012 vor. Ausgegangen wird von bis zu 20 Millionen Tonnen im Jahr. Wären da nicht die Tafeln, wäre es noch viel mehr. Ehrenamtliche fahren von Hamburg bis Halle Supermärkte und Bäckereien ab und laden Lebensmittel ein, um sie an Arme zu verteilen. Viele von Ihnen kennen die Tafeln und haben Einblick in deren Arbeit. Beim Besuch einer Tafel in meinem Wahlkreis vergangene Woche wurde mir versichert, nur uneingeschränkt genießbare Butter und Marmelade würden abgegeben – Gütesiegel verbieten die Lieferung verdorbener Lebensmittel. Seit Jahren arbeitet der Lebensmitteleinzelhandel mit den Tafeln zusammen, um verzehrfähige, aber nicht mehr verkaufsfähige Lebensmittel nicht vernichten zu müssen. 80 bis 90 Prozent aller Lebensmittelgeschäfte arbeiten mit Organisationen wie den Tafeln zusammen, um Lebensmittel nicht in die Tonne kippen zu müssen. Bei der Dimension, über die wir reden, reicht das nicht aus, zumal auch nur ein Bruchteil der Lebensmittelabfälle vom Handel kommt. Die größte Menge vernichtet der Endverbraucher. Egal, ob bei der nationalen Wegwerfstudie 6 oder 20 Millionen Tonnen essbarer Nahrungsmittelmüll herauskommen: So oder so ist es viel zu viel. Dagegen müssen wir etwas tun; da sind wir uns einig. Doch welche Strategie hat die besten Aussichten, den Wegwerfwahnsinn zu stoppen? Das ist die Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. Die SPD und uns trennen bei dem Thema keine Welten. Vieles, was Sie fordern, fordern wir seit geraumer Zeit: Wir wollen die Menschen besser aufklären. Wir treten für mehr Wertschätzung und verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln ein, die schon in Kindergarten und Schule vermittelt werden. Kinder können nicht früh genug lernen, ob Tomaten in den Kühlschrank dürfen und wie lange das Schnitzel hält. Sie müssen wissen, woher das Hackfleisch im Hamburger kommt. Das Bundesverbraucherschutzministerium wirbt in einer Kampagne für bewussteres Einkaufen und gibt auf einer Servicecheckkarte Tipps, wie man vermeiden kann, dass Gurken, Brot und Joghurt im Müll landen. Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz beschäftigen wir uns mit dem Problem. Unnötig ist aber nach unserer Auffassung die Diskussion um Alternativen zum Mindesthaltbarkeitsdatum. Nicht der Begriff führt in die Irre, sondern die Debatte um den Begriff. Uns fehlt der Glaube, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum missverstanden wird. Unter „Mindestlohn“ können sich auch die meisten etwas vorstellen. Werfen wir weniger weg durch einen neuen Ausdruck zum Haltbarkeitshinweis? Ein Lebensmittelkonzern hat bei einer Umfrage ermittelt, Verbraucher wünschen sich kurze, klare Angaben. Wir sind überzeugt, ein neuer Aufdruck bekämpft die Lebensmittelverschwendung nicht. Die Kernfrage ist doch: Wie können diese Unmengen an Müll essbarer Lebensmittel reduziert werden? Wir können an Begriffen herumdoktern, wir können Aufklärung betreiben. Vom Verbraucher über Landwirte und Handel bis zu Verbänden und Organisationen stehen alle in der Pflicht. Am Schluss der Lebensmittelkette jedoch steht der Verbraucher. Es geht nicht darum, ihm die alleinige Schuld in die Schuhe zu schieben. Aber Fakt ist: Von ihm stammt der meiste Lebensmittelabfall. Letzten Endes kann nur er das Problem lösen. Schauen wir in den Spiegel: Kaufen wir den Apfel mit der Druckstelle? Essen wir den Joghurt, der schon ein paar Tage abgelaufen ist? Mögen wir drei Tage altes Brot noch oder kaufen wir lieber ein frisches? Jeder hat seine Gründe, wieso er Lebensmittel wegwirft: Die Augen waren im Supermarkt größer als der Appetit. Er muss kurzfristig verreisen. Er ist sich nicht sicher, ob er die Würstchen noch essen kann, ohne Durchfall zu bekommen. Solche Fragen werden in der nationalen Wegwerfstudie erforscht. Wenn die Ergebnisse auf dem Tisch liegen, können wir konkrete Schritte gegen Lebensmittelvergeudung einleiten. Sind noch mehr Rabatte auf Produkte kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums nötig? Sind die Verpackungen zu groß? Können noch mehr Wohltätigkeitsorganisationen von genießbaren Lebensmitteln profitieren? Muss das Thema Ernährung in den Schulen besser verankert werden? Wir wollen den Verbraucher dazu bringen, weniger Lebensmittel zu verschwenden. Das ist unser Ziel, und wir freuen uns, wenn uns die Opposition auf diesem Weg begleitet. In den Griff bekommen wir das Problem allerdings nur, wenn Verbraucher umdenken. Daran werden wir arbeiten. Wie Sie sehen, sind wir an einigen Stellen nah beieinander; aber es gibt auch enorme Unterschiede, die uns dazu bewegen, Ihren Antrag abzulehnen. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): „Das Brot, das ihr verderben lasst, ist das Brot der Hungernden.“ (Basilius von Caesarea, Bischof, Kirchenlehrer und Asket). Mit über 300 verschiedenen Brotsorten in den Regalen der heimischen Bäckereien und Läden ist Deutschland das reinste Brotparadies. Aber mit dieser Vielfalt geht große Verschwendung einher: Jeden Tag fällt tonnenweise unverkauftes Brot an. Bis zum Ladenschluss wird das komplette Sortiment angeboten – um den Kunden auch um 20 Uhr noch die volle Auswahl bieten zu können. Was übrig bleibt, wird weggeworfen. Und auch in den Haushalten verderben viele Backwaren aufgrund falscher Lagerung und schlecht geplanter Einkäufe. Nach Schätzungen landet in Deutschland jedes fünfte Brot im Müll. Aber es geht nicht nur um Brot, es geht um Obst und Gemüse, um Milchprodukte, um Fertiggerichte, Fleisch, Wurst, Fisch; von allem landen große Mengen im Müll, teilweise noch originalverpackt und frisch. Die Autoren des Buchs „Die Essensvernichter“, Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger, haben erschreckende Statistiken zusammengetragen: Rund ein Drittel der weltweit für den Verzehr gedachten Lebensmittel lande Schätzungen zufolge im Abfall. Ein Viertel des weltweiten Wasserverbrauchs werde für den Anbau von Lebensmitteln verwendet, die später auf den Müll geworfen würden. 500 000 Tonnen Brot würden jedes Jahr in Deutschland weggeworfen. Statistisch gesehen gäbe es mehr als genug Nahrung für alle Bewohner der Erde; aber weil so viel weggeschmissen oder für Tierfutter, Biosprit oder zur Stromerzeugung genutzt wird, müssen immer mehr Menschen hungern. Ein „Umdenken bei den Verbrauchern, aber auch beim Handel“ hat Ministerin Aigner bereits Ende letzten Jahres zum Beispiel in der HNA, Hessisch/Niedersächsische Allgemeine vom 21. Dezember 2010 gefordert. „Lebensmittel müssten in Deutschland wieder einen höheren Stellenwert und mehr Wertschätzung erhalten“, wird sie dort zitiert. Das sind sehr schöne und richtige Worte. Aber es wurde nichts getan! Leider haben wir letzte Woche im Ausschuss dem Bericht der Bundesregierung zum Thema Lebensmittelverschwendung entnehmen müssen, dass es hierzu aus dem Verbraucherministerium nichts wirklich Neues gibt. Zwar wurde von Ministerin Aigner bereits Ende 2010 eine Studie angekündigt, die erstmals konkretes und belastbares Zahlenmaterial über Art und Menge der in Deutschland jährlich weggeworfenen Lebensmittel liefern soll. Das haben wir als wichtigen und richtigen Schritt auch sehr begrüßt. Doch ist es aus unserer Sicht schwer nachvollziehbar, dass nun, fast ein Jahr später, immer noch keine Ergebnisse vorliegen. Wir wüssten gern, welche Gründe das hat. Die Ergebnisse sollen nun erst Anfang 2012 vorliegen. Bis dahin wird die Bundesregierung ihre Untätigkeit wohl mit der noch nicht abgeschlossenen Untersuchung begründen. Wir wollen tätig werden, wir wollen das Problem endlich angehen! Sehr gern machen wir das auch mit Ihnen gemeinsam, werte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, sehr gern auch mit allen im Bundestag vertretenen Fraktionen; denn wir sind uns doch wahrscheinlich in der Zielsetzung hier alle einig. Das wäre – angesichts der großen Bedeutung dieses Themas – ein schönes Signal. Wir wollen das nicht mehr auf die lange Bank schieben; deshalb haben wir hier heute unsere Vorschläge vorgelegt. Wir werden diese gern im Ausschuss mit allen diskutieren; aber am Ende müssen endlich Taten statt Worte stehen. Und dies muss schnell passieren. Wir fordern eine umfassende Strategie gegen Lebensmittelverschwendung. Es geht nicht nur um die Verbraucher: Vom Acker bis zum Teller sind alle an der großen Wegwerforgie beteiligt. Deshalb wollen wir gemeinsam mit den Herstellern, Händlern und Verbrauchern den Gründen nachgehen, warum auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette bis hin zum Privathaushalt genießbare Lebensmittel in großen Mengen weggeworfen werden. Wir fordern eine Untersuchung der Verständlichkeit und der Auswirkungen des Mindesthaltbarkeitsdatums für Verbraucher, Händler und Tafeln. Dabei muss die Verbraucherforschung einbezogen werden. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nur ein Mosaikstein unter vielen. Wir fordern einen runden Tisch gegen Lebensmittelverschwendung, denn die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Bei der Suche nach Lösungen sollten alle Beteiligten einbezogen werden. Wir legen hier heute unsere Vorschläge vor. Bitte unterstützen Sie unseren Antrag, damit das Problem endlich tatkräftig angegangen werden kann. Hans-Michael Goldmann (FDP): Ich bin froh darüber, dass ich in der letzten Woche meinen Vorschlag zum Mindesthaltbarkeitsdatum gemacht habe, einen Vorschlag darüber, den Begriff zu ändern bzw. sich Gedanken über die Ausgestaltung zu machen. Das bisherige Verfahren signalisiert falsche Vorstellungen. An der Diskussion, die daraufhin entfacht ist, sehen wir, wie emotional geladen und verbrauchernah dieses Thema ist, auch zu erkennen an der medialen Berichterstattung. Ich bevorzuge aber eine sachliche und fachliche Debatte. Unstrittig ist natürlich, dass es in jedem Fall ein Datum geben muss. Meine Idee, in Anlehnung an das englische „best before …“, Lebensmittel mit „voller Genuss bis …“ und „essbar bis zum Tag Y …“ zu kennzeichnen, zusätzlich mit einer farblichen Hinterlegung, verteidige ich auch heute. Sicherlich, es ist noch ausgestaltungsfähig und keine endgültige Lösung, aber ein Anfang, sich mit der Problematik der Lebensmittelverschwendung zu befassen. Wir alle kommen Tag für Tag mit Lebensmitteln in Berührung und stehen nicht allzu selten vor der Frage: Kann ich den Joghurt noch essen, auch wenn er schon ein paar Tage über dem Mindesthaltbarkeitsdatum ist? Aber sicherlich kann man den Joghurt noch essen. Wir müssen nur unsere Sinne einschalten und riechen, schmecken und schauen, und schon weiß ich, was noch essbar ist und was nicht. So viel zur Theorie. Nur leider sieht die Praxis anders aus. Viele Konsumenten sind sich unsicher, auch was ihr eigenes Urteilsvermögen betrifft, gehen dann auf Nummer sicher und werfen das Lebensmittel weg. Seinen Kindern will man ja auch nichts Abgelaufenes mitgeben. Natürlich kann die Debatte um die Begrifflichkeit des Mindesthaltbarkeitsdatums nicht allein die Lebensmittelverschwendung und die damit einhergehende Problematik in der Welt entschärfen. Viel zu viele Menschen in der Welt leiden Hunger. Wir haben einen enormen Wasser-, Rohstoff- und landwirtschaftlichen Flächenverbrauch. Leider ist der Luxus, den wir leben, ständig und bis zum Ladenschluss alles verfügbar zu haben, nicht gang und gäbe in der Welt. Vor allem in den ärmeren Regionen sind Lebensmittel knappe Güter und dringend notwendig, um Nahrungssicherheit zu gewährleisten. In diesem globalen Kreislauf können wir Positives beitragen. Fangen wir bei uns selbst an, in unseren Haushalten. Lernen wir, Lebensmittel wieder mehr wertzuschätzen. Werden wir zu strategisch klugen Einkaufsprofis. Und entwickeln wir die Kompetenz und das Bewusstsein, mit Lebensmitteln verantwortungsvoll umzugehen. Damit wir kluge und verantwortungsvolle Konsumenten werden und unser Selbstvertrauen gestärkt wird, sind Aufklärung und Bildung das A und O. Aktionen, die den Wert der Lebensmittel darstellen, und Kampagnen, die die Bedeutung der Haltbarkeit erklären, können und müssen hier unterstützend wirken. Klug ist es jedoch ebenfalls, sich erst die Ergebnisse des Gutachtens zur Lebensmittelverschwendung, welches auch auf mein Drängen vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Auftrag gegeben wurde, abzuwarten und zu analysieren. Diese wichtigen Ergebnisse lassen leider auf sich warten. Denn mit ihnen hätten wir handfeste Wege- und Mengenbilanzen der weggeworfenen Lebensmittel und könnten konsequent jeden Verschwendungsweg in der Lebensmittelkette abarbeiten und effiziente Lösungsmöglichkeiten finden, sei es die Überlegung, die noch bestehenden Handelsnormen für beispielsweise Äpfel zu überdenken. Wir haben schon diverse Vermarktungsnormen außer Kraft gesetzt, die etwa festgelegt hatten, dass Gurken nicht krumm sein dürfen. Oder Anpassungen der Verpackungsgrößen an sich verändernde soziodemografische Strukturen, vermehrt Singlehaushalte. Das geht bis hin zum Recycling von nicht mehr zu verwendbaren Lebensmitteln in Biogasanlagen. Sie sehen, die Möglichkeiten der Akteure sind vielseitig. Vom Hersteller zum Handel bis hin zum Verbraucher sind alle gefragt und sollten sich angesprochen fühlen. Wenn wir eine gesamtgesellschaftliche Veränderung erreichen, unseren generellen Zugang zu Lebensmitteln und die entsprechende Wertschätzung von Nahrung überdenken, sind wir unserem Ziel schon ein großes Stück nähergekommen. Wir werden uns weiterhin intensiv mit den Ursachen der Lebensmittelverschwendung und nachhaltigen Lösungsmöglichkeiten befassen. Wir haben nur eine Welt mit endlichen Ressourcen. Diese gilt es, effizient zu nutzen und sie nicht achtlos auf den Müll zu werfen. Alexander Süßmair (DIE LINKE): Heute geht es um einen Antrag für eine „Strategie gegen Lebensmittelverschwendung“ von der SPD. Zu bemerken ist hier, dass sich die Bundesregierung schon seit Monaten mit der Ausarbeitung einer solchen Strategie herumplagt. Zwei Mal habe ich Sie innerhalb des letzten Jahres mittels meines parlamentarischen Fragerechts danach gefragt. Antwort: Sie arbeiten daran. So langsam würden auch wir von der Linken gerne einmal einen Vorschlag von der Regierung sehen. Die SPD verleiht diesem Wunsch der gesamten Opposition nun mit einem Antrag zusätzlich Nachdruck. Sehen Sie, Wien ist nicht weit. Dort gibt es die Universität für Bodenkultur; in der lehren und forschen Abfallwissenschaftler und Abfallwissenschaftlerinnen. Eine von ihnen, Felicitas Schneider, hat in einer Studie wissenschaftlich aufgezeigt, wie es zu Lebensmittelabfällen kommt und wie sie vermieden werden können. Auf Grundlage dieser Studie hat dann die österreichische Regierung ein Konzept zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen entwickelt. Bei der Mülltrennung war Deutschland einmal Vorreiter. Bei Lebensmittelabfällen sind wir völlig rückständig. Warum kommt es zu großen Mengen an Lebensmittelabfällen? Einige wichtige Gründe hierfür sind, dass Lebensmittelabfälle durch Mängel in der Infrastruktur, bei Lagerung und Transport entstehen, dass Lebensmittelabfälle durch die – vermeintlichen – Ansprüche der Kunden an die Ware entstehen – Lebensmittel werden bereits von den Händlern vernichtet, wenn ihre optische Erscheinung geringfügig beeinträchtigt ist –, dass deswegen mancher Landwirt seine Produkte gar nicht mehr vom Acker nimmt. Schließlich kommt es zu Lebensmittelabfällen, weil rund um die Uhr ein Vollsortiment präsentiert werden muss. Oft also werden Lebensmittel als Abfall vernichtet, die gesundheitlich und geschmacklich noch völlig unbedenklich sind. Abfallvernichtung ist oft auch noch billiger als Abfallvermeidung. Weltweit wird über die Hälfte aller Lebensmittel vernichtet. Was dies, zu Ende gedacht, für die Welternährung bedeutet, sollte uns allen klar sein. Da wird es plötzlich sehr absurd, wenn wir aktuell bei der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik der EU, von zum Beispiel CDU, CSU, FDP oder dem Bauernverband hören, dass es im Interesse der Welternährung keine 7 Prozent ökologische Vorrangflächen in der Landwirtschaft Europas geben darf. Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, wenn weltweit über die Hälfte der Lebensmittel weggeworfen werden, besteht das Problem bestimmt nicht in 7 Prozent ökologische Vorrangflächen in Europa. Lebensmittelabfälle wird es immer geben. Es ist aber die Frage, wie viele und was mit ihnen geschehen soll. Von der Kompostierung bis zur Energieerzeugung ist hier vieles möglich; vieles wird hier auch schon praktiziert. Das ist sinnvoll. Noch sinnvoller ist allerdings die Vermeidung von Lebensmittelabfällen. Schließlich werden Lebensmittel vernichtet, die zuvor unter dem Einsatz von Ressourcen – Wasser, Dünger, Treibstoff, Arbeitskraft – produziert worden sind. Diese Ressourcen hätte man besser nutzen können. Hier geht es um Ethik, soziale Gerechtigkeit und ökologisch nachhaltige Produktion, ja um volkswirtschaftliche Vernunft. Doch mit jeder vernichteten Semmel steigt das Bruttoinlandsprodukt. Solange also die Bundesregierung in geradezu religiöser Inbrunst einem Wachstumsbegriff anhängt, der Wirtschaftswachstum auch aus dem Vernichten von Lebensmitteln ableitet, so lange kann ich die Bundesregierung nicht ernst nehmen, wenn sie von Nachhaltigkeit redet. Der Fehler liegt im System, darin, dass mit jedem produzierten Lebensmittel Profite erwirtschaftet werden sollen. Wir sind daher gespannt auf die Strategie der Bundesregierung, wenn sie denn irgendwann einmal fertig sein wird. Wir sind überzeugt, dass durch strukturelle Veränderungen viel erreicht werden kann. Wir sind auch überzeugt davon, dass nachhaltiges Wirtschaften nicht möglich ist wenn man sich ignorant zum Dogma des grenzenlosen Wirtschaftswachstums bekennt. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht zuletzt der Film Taste the Waste hat in den letzten Wochen und Monaten zu einer breiten Debatte über die immense Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland und weltweit geführt. Nach Schätzungen der Welthungerhilfe landen bei uns Jahr für Jahr über 20 Millionen Tonnen Lebensmittel im Wert von ungefähr 25 Milliarden Euro auf dem Müll. Mit eingerechnet sind dabei noch nicht einmal die Ausschüsse, die bereits auf dem Feld anfallen – etwa weil die Kartoffeln oder Gurken nicht den zum Teil völlig unsinnigen Schönheitsidealen des Handels und vieler Verbraucherinnen und Verbraucher entsprechen. Deshalb ist es gut und richtig, diese Debatte jetzt breit in der Gesellschaft zu führen. Auch die von Bundesministerin Aigner lange angekündigte Studie ist an sich zu begrüßen; denn exakte Daten zum Ausmaß der Lebensmittelabfälle auf den unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette liegen für Deutschland noch nicht vor. Hier hat es Frau Aigner mal wieder verschlafen, sich rechtzeitig um diese so entscheidende Problematik zu kümmern. Andere Länder wie Österreich oder Großbritannien sind uns bereits weit voraus. Daten wurden dort schon lange erhoben, und es wurden konkrete Lösungsansätze zur Eindämmung der Verschwendung in Angriff genommen. Davon ist Ministerin Aigner noch weit entfernt. Darüber, wie und mit welchen Maßnahmen die Lebensmittelabfälle verhindert oder zumindest verringert werden sollen, hüllt sich Frau Aigner in Schweigen und kann selbst auf Nachfrage keine Antwort geben. Konkrete Schritte sind aber bereits heute notwendig. Die einzig bisher sichtbare Leistung Frau Aigners ist das Einrichten des Internetseite „Jedes Mahl wertvoll“, auf der man „wertvolle Haushaltstipps“ bekommt. Das ist ganz schön schwach und legt überdies den Verdacht nahe, dass Frau Aigner die Verantwortung mal wieder gänzlich den Verbrauchern zuschieben und sich aus ihrer politischen Verantwortung stehlen will. Gezielte Verbraucheraufklärung ist wichtig und auch im Bereich der Lebensmittelverschwendung unabdingbar, aber hier macht es sich Frau Aigner zu einfach. Auch die Politik von Schwarz-Gelb ist in erheblichem Ausmaß Mitschuld an unserem Umgang mit Lebensmitteln. Vor allem bei der Fleischproduktion, aber auch in anderen Bereichen, setzt die Bundesregierung noch immer auf Masse statt Klasse und auf billige Massenproduktion. Die Überproduktion von Lebensmitteln hat System und das Wegwerfen von Lebensmitteln ist eingeplant. Davon müssen wir weg. Frau Aigners Appell für eine höhere Wertschätzung von Lebensmitteln verpufft, wenn sie nicht selbst politische Konsequenzen zieht. Was wir brauchen ist eine stärkere Förderung der nachhaltigen Lebensmittelerzeugung, eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und des Biolandbaus. Dazu gehört auch eine ehrliche Preisstruktur. Die hoch subventionierte industrialisierte Lebensmittelerzeugung hat massive negative Auswirkungen auf unsere Umwelt und die Gesundheit von Menschen und Tieren. Viele Produkte werden eher weggeworfen, weil sich aussortieren oder eine Prozessoptimierung bei den geringen Preisen nicht lohnt. Deshalb brauchen wir Preise, die die Wahrheit sagen. Die negativen Auswirkungen müssen sich im Preis widerspiegeln und so einen Anreiz bieten für den Kauf nachhaltiger Produkte und die Vermeidung von Verschwendung. Dadurch wird auch die Wertschätzung von Lebensmitteln wieder gestärkt. Auch im Bereich der Handels- und Qualitätsnormen ist Frau Aigner gefragt. Viele Produkte, die rein äußerlich nicht den Idealvorstellungen von Handel oder Verbrauchern entsprechen, werden weggeworfen. Dabei sind sie qualitativ einwandfrei und für alternative Vermarktungszwecke – wie zum Beispiel zu kleine Karotten oder Äpfel als Kindersnacks – ideal geeignet. Hier fordere ich Frau Aigner auf, einen Innovationswettbewerb auszurufen, um die unnötigen Abfälle bei der Lebensmittelerzeugung kreativ zu verringern. Das zeigt, die Debatte darf sich nicht nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum beschränken. Hier gibt es erheblichen Aufklärungsbedarf darüber, was der Begriff meint, aber auch darüber, wie lange die Produkte tatsächlich haltbar und verwendbar sind. Die Verbraucherforschung und Aufklärung muss deutlich gestärkt werden. Gute Ernährungsbildung fängt bereits in der Schulzeit an und muss in die Lehrpläne integriert werden. NRW geht unter grüner Regierungsbeteiligung mit gutem Beispiel voran. So hat NRW bereits einen Runden Tisch einberufen, um gemeinsam mit Lebensmittelerzeugern, Verarbeitung, Handel, Wissenschaft und Verbrauchern Maßnahmen zur Verhinderung der Lebensmittelverschwendung zu entwickeln. Daran muss sich die Bundesregierung ein Beispiel nehmen. Nur Daten zu ermitteln ist nicht genug. Um die immense Verschwendung von Lebensmitteln auf allen Stufen der Wertschöpfungskette in den Griff zu bekommen, brauchen wir ein integratives Konzept. Das muss Frau Aigner vorlegen – und zwar schnellstmöglich. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) (Tagesordnungspunkt 23) Olav Gutting (CDU/CSU): Im Umsetzungsgesetz zur Beitreibungsrichtlinie transformieren wir nicht nur die EU-Richtlinie über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen in unser nationales Recht, sondern setzen auch gleichzeitig notwendigen und unaufschiebbaren steuerlichen Änderungsbedarf in einigen Bereichen des Steuerrechts um. Der erste Halbsatz im Namen dieses Gesetzes mag täuschen, aber wir setzen mit diesem Gesetz im steuerlichen Bereich nicht nur technische Änderungen, sondern auch bedeutsame steuervereinfachende und deshalb für jeden Bürger spürbare Regelungen um. Ein Beispiel hierfür ist ELStAM. Mit der Einführung der elektronischen Lohnsteuermerkmale können die jährlich circa 40 Millionen Papierlohnsteuerkarten endgültig entfallen. Bereits seit diesem Jahr stellen die Gemeinden keine Lohnsteuerkarten mehr aus, sodass die letzten, derzeit noch gültigen, Papierlohnsteuerkarten aus dem Jahr 2010 stammen. Eins ist klar: Der Wegfall der Lohnsteuerkarte und die elektronische Übermittlung der Lohnsteuerabzugsmerkmale und deren Änderungen zwischen Finanzverwaltung und Arbeitgebern führen zu einer deutlichen Bürokratieentlastung aller Beteiligten. Medienbrüche durch die Übertragung elektronisch gespeicherter Daten auf die Papierlohnsteuerkarte und die damit verbundene Fehlerquelle gehören damit der Vergangenheit an. Der von uns eingeschlagene Weg zur Vereinfachung und Entbürokratisierung unseres Steuerrechts wird mit den ELStAM-Regelungen konsequent fortgesetzt. Auch die Erhebung der Kirchensteuer auf die der Abgeltungsteuer unterliegenden Kapitalerträge wird enorm vereinfacht und automatisiert. Den besonderen datenschutzrechtlichen Gegebenheiten hinsichtlich der Religionszugehörigkeit haben wir im Gesetzgebungsverfahren besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Auch wenn die Kreditinstitute zukünftig einmal im Jahr elektronisch beim Bundeszentralamt für Steuern den Kirchensteuersatz des Steuerpflichtigen abfragen können, so muss kein Steuerbürger befürchten, seine Religionszugehörigkeit gegenüber den Banken und Versicherungen offenlegen zu müssen. Wir haben sichergestellt, dass jeder Bürger den Abruf der Daten zur Religionszugehörigkeit durch einen Sperrvermerk beim Bundeszentralamt für Steuern widersprechen kann. Die Institute bekommen dann nur eine nicht verwertbare Nullmeldung. Man kann also festhalten, dass mit dem nunmehr gefundenen Verfahren alle Beteiligten zufrieden sind: die kirchensteuerabführenden Banken und Versicherungen, die Kirchen und nicht zuletzt der Datenschutzbeauftragte. Nachbesserungen waren auch bei der Riester-Rente notwendig. Zukünftig wird es Rückerstattungsansprüche der Zulagenstelle gegenüber dem mittelbar zulageberechtigten Ehegatten – wie in der jüngsten Vergangenheit aufgrund eines Wechsels des Zulagestatus geschehen – nicht geben, da wir für diesen einen eigenen Mindestbeitrag in Höhe von 60 Euro jährlich festschreiben. Wir wollten jedoch auch für die bisherigen Rückforderungsfälle eine sachgerechte und vor allem aber einfache Lösung. Wir haben daher die Möglichkeit der Nachzahlung von Altersvorsorgebeiträgen geschaffen. Die Zulagenstelle soll insoweit möglichst bis zum 31. Januar 2012 die Nachzahlungsfälle ermitteln und diese den jeweiligen Anbietern der Altersvorsorgeverträge übermitteln, damit diese ihre Kunden über die Nachzahlungsmöglichkeit informieren können. Die Beratungen haben gezeigt, dass ein solches Verfahren unnötigen administrativen Aufwand vermeidet und im Sinne aller Verfahrensbeteiligten zu einer einfachen Abwicklung der Nachzahlung führt. Wiederum ein Beitrag, unser schon komplexes und schwieriges Steuersystem nicht noch weiter zu verkomplizieren. Nachzahlungsberechtigt ist nur derjenige Personenkreis, welcher annahm, mittelbar zulagenberechtigt zu sein, obwohl diese Personen unmittelbar zulagenberechtigt waren. Mit dem vorliegenden Gesetz hat die Regierungskoalition zudem die Möglichkeit genutzt, sich zur Absetzbarkeit von Ausbildungskosten zu positionieren und die bisherige, vom Gesetzgeber gewollte Rechtslage im Anschluss an eine BFH-Rechtsprechung klarzustellen. Wir wollen weiterhin, dass Berufsausbildungskosten für eine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, welches zugleich eine Erstausbildung vermittelt, vom Betriebsausgabenabzug ausgeschlossen sind. Bei dieser Entscheidung haben wir uns vor allem von einem zu vermeidenden erheblichen administrativen Verwaltungsaufwand und den nicht zu verantwortenden Steuerausfällen von über 1 Milliarde Euro leiten lassen. Von Bedeutung ist aber auch, dass die vielen Tausend Studierenden, die ihr Studium durch Nebentätigkeiten selbst finanzieren müssen, von der BFH-Rechtsprechung regelmäßig sowieso nicht profitiert hätten, weil deren Ausbildungskosten jährlich mit den Einnahmen aus den Nebentätigkeiten verrechnet werden, ohne dass sich ein besonderer steuerlicher Vorteil ergibt. Festzuhalten ist, dass das vorliegende Gesetz in wesentlichen Punkten Erleichterungen und Vereinfachungen für die Steuerbürger und Verwaltung bringt und alleine deshalb zu begrüßen ist. Abschließend bedanke ich mich bei den Berichterstattern in der Koalition und auch Opposition für die umfangreiche, aber letztendlich immer gute, faire und zielorientierte Zusammenarbeit. Antje Tillmann (CDU/CSU): Das „Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften“ ist nach dem Steuervereinfachungsgesetz das zweite große Steuergesetz in diesem Jahr, mit dem wir das Steuerrecht sowohl für die Steuerpflichtigen als auch für die Verwaltung vereinfachen. Insbesondere kommt das digitale Zeitalter sukzessive in allen Teilen des Steuerrechts an. Auch das Abstimmungsverhalten der Oppositionsfraktionen im Finanzausschuss zeigt, dass es an diesem Gesetzentwurf nicht viel zu kritisieren gibt. Denn in diesem federführenden Ausschuss hat sich die Opposition gestern enthalten. A. Kindergeld Bundesfreiwilligendienst Zum 1. Juli hat der Bundesfreiwilligendienst den als Alternative zum bisherigen Wehrdienst bestehenden Zivildienst abgelöst. Bisher steht allerdings noch keine Regelung im Bundesgesetzblatt, die die Frage des Kindergeldbezugs aufgreift. Wir werden nun eine Regelung in Kraft setzen, mit der das Problem der fehlenden Kindergeldberechtigung von jungen Menschen bis 25 Jahre, die den neuen Dienst ableisten, beseitigt wird. Damit wird der Bundesfreiwilligendienst künftig gleichberechtigt neben dem Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Freiwilligen Ökologischen Jahr sowie den Internationalen Jugendfreiwilligendiensten, für die wir die Kindergeldberechtigung rückwirkend zum 1. Januar einführen, stehen. Bei der Frage des Zugangs zum Familienleistungsausgleich kommt es nun also nicht mehr darauf an, welchen Freiwilligendienst der oder die Jugendliche ableistet. Selbstverständlich hätte ich mir eine sehr viel schnellere Lösung an diesem Punkt gewünscht, um so für alle seit Jahresmitte angetretenen Freiwilligen unmittelbar von Beginn an Rechtssicherheit zu gewährleisten. Eine Regelung bereits im Steuervereinfachungsgesetz war im damaligen Verfahren nicht möglich. Aufgrund des erst vor einem Monat abgeschlossenen Vermittlungsverfahrens stünde die Regelung zum Kindergeld aber ohnehin noch gar nicht im Gesetzblatt. Das Steuervereinfachungsgesetz ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht verkündet worden. Die Regelung zum Kindergeldbezug beim Bundesfreiwilligendienst wird nun aber rückwirkend zum Beginn des Bundesfreiwilligendienstes in Kraft treten. Damit können wir sicherstellen, dass alle in Betracht kommenden Anspruchsberechtigten, die bereits seit Juli im Bundesfreiwilligendienst tätig sind, auch tatsächlich in den Familienleistungsausgleich einbezogen werden. Die seit Juli bestehende Regelungslücke beim Kindergeld konnte das Bundesfinanzministerium durch eine Verwaltungsanweisung an die Familienkassen ausfüllen und damit zumindest Planungssicherheit schaffen. Die Familienkassen haben Kindergeldanträge von Freiwilligendienstleistenden seitdem von der Bearbeitung zurückgestellt und werden diese erst dann wieder aufnehmen, wenn die rückwirkende Neuregelung im Bundesgesetzblatt steht. Damit haben wir verhindert, dass Kindergeldanträge nur deshalb abgelehnt werden müssen, weil noch keine Rechtsgrundlage für die Zahlung des Kindergelds existiert. Sobald die Neuregelung in Kraft tritt, können die aufgelaufenen Anträge bearbeitet und das Kindergeld an die Anspruchsberechtigten ausgezahlt werden. Damit wird sich auch die oft in Zweifel gezogene Anzahl von Bewerbern für den Bundesfreiwilligendienst weiter erhöhen, was nur zu begrüßen ist. B. Kirchensteuer Wir vereinfachen das Verfahren des Kirchensteuerabzugs bei Kapitalerträgen, indem wir ab dem Jahr 2013 ein automatisiertes Kirchensteuerabzugsverfahren einführen. Wir entschlacken das Verfahren von Bürokratie. Hierdurch verbessert sich die Situation für alle Beteiligten enorm. Es geht darum, Banken, Kirchen und Steuerpflichtige von einem äußerst bürokratischen Übergangsverfahren nach Einführung der Abgeltungsteuer zu befreien, das gleichzeitig den Erfordernissen des Datenschutzes Rechnung trägt. Das Kreditinstitut fragt künftig beim Bundeszentralamt für Steuern den Kirchensteuersatz des Steuerpflichtigen ab und führt die Kirchensteuer zusammen mit der Abgeltungsteuer an das Finanzamt ab. Die Kirchen erhalten die Kirchensteuer schneller und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von einer größeren Anzahl an Kirchensteuerpflichtigen. Denn der Steuerpflichtige muss nicht mehr selbst aktiv werden und einen Antrag bei seiner Bank stellen oder später seine Kapitalerträge in der Steuererklärung angeben, um Kirchensteuer zahlen zu dürfen. Kirchensteuer wird vielmehr grundsätzlich automatisch abgeführt. Dazu fragt die Bank den jeweils für den Kunden maßgebenden Kirchensteuersatz beim Bundeszentralamt für Steuern ab. Es werden also grundsätzlich auch diejenigen erfasst, die heute bei ihrer Bank keinen Kirchensteuereinbehalt beantragen und auch keinen Antrag auf Veranlagung stellen; eine große Verbesserung zum heutigen Zustand. Hier beginnen aber auch die Vorteile für den Steuerpflichtigen. Er muss nicht mehr aktiv den Kirchensteuerabzug bei seiner Bank beantragen. Möchte der Kirchensteuerpflichtige allerdings verhindern, dass seine Bank über die Höhe der abzuführenden Kirchensteuer auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft schließen kann, hat er die Möglichkeit, beim Bundeszentralamt für Steuern einen Sperrvermerk setzen zu lassen. Dann führt nicht die Bank die Kirchensteuer ab. Vielmehr ist der Steuerpflichtige verpflichtet, sich über die Höhe der abgeltend abgeführten Kapitalertragsteuer zur Kirchensteuer veranlagen zu lassen. Es bleibt ihm selbstverständlich unbenommen, sich über die Günstigerprüfung einkunftsartenübergreifend zur Kirchensteuer veranlagen zu lassen. C. Istbesteuerung Der Bundesrat hatte zudem beantragt, die umsatzsteuerliche Istbesteuerung für kleine und mittlere Unternehmen bis zu 500 000 Euro Umsatz um ein Jahr über 2011 hinaus zu verlängern. Diese Erleichterung war mittelständischen Unternehmen als Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise bundesweit gewährt worden und leistet einen signifikanten Beitrag zur Liquiditätssicherung. Mit der Istbesteuerung haben Unternehmen die Möglichkeit, die Umsatzsteuer erst nach Begleichung der Rechnung durch den Leistungsempfänger ans Finanzamt abzuführen. Würde die jetzige Regelung zum Ende des Jahres auslaufen, fiele die Grenze bundesweit von 500 000 Euro auf 250 000 Euro zurück. Bei der dann geltenden Sollbesteuerung erhält das Finanzamt die Steuer bereits bei Leistungserbringung. Der Unternehmer muss also in Vorleistung treten und riskiert dabei seine gerade bei kleinen Unternehmen oft lebenswichtige Liquidität. Ein kleines Unternehmen, das zunächst Material und Umsatzsteuer vorfinanzieren muss, und dies möglicherweise auf Kredit, wird sich sehr genau überlegen, ob es sich „leisten“ kann, einen Großauftrag anzunehmen. Dem Anliegen des Bundesrats sind wir noch schneller und weitergehend nachgekommen, als dieser es beantragt hat. Der Bundestag hat der dauerhaften Entfristung der Regelung zur Istbesteuerung in der vergangenen Woche einstimmig zugestimmt. Die Möglichkeit der Istbesteuerung hätte ohne diesen Beschluss ab 2012 vielen mittelständischen Unternehmen nicht mehr zur Verfügung gestanden. Der Vorschlag des Bundesrats, die Regelung erneut lediglich um ein Jahr zu verlängern, hätte aber nur dann Sinn gemacht, wenn die Situation sich innerhalb eines Jahres so verändern würde, dass eine nochmalige Verlängerung der Regelung nicht mehr ratsam wäre. Ich sehe aber nicht, was in Zeiten zurückgehender Wachstumsraten dann genau dafür sprechen sollte. Deshalb haben sich auch alle Sachverständigen in der Anhörung und sämtliche Fraktionen des Bundestags für die dauerhafte Verlängerung der Istbesteuerung ausgesprochen. Ohne die jetzt gefundene Lösung wäre auch die 2007 erfolgte Anhebung der Grenze der Buchführungspflicht auf einen Umsatz von mehr als 500 000 Euro Makulatur. Die dadurch erreichten Einsparungen an Bürokratiekosten in den Unternehmen würden in ihr Gegenteil verkehrt, wenn die Unternehmen wegen einer Absenkung der Istbesteuerungsgrenze bei der Umsatzsteuer doch gezwungen wären, eine Buchführung zu installieren. Aufgrund der Einigung auf ein verkürztes Verfahren wird der Bundesrat nun bereits Anfang November über die Vorlage zur Istbesteuerung entscheiden. Damit ermöglichen wir unseren mittelständischen Unternehmen frühzeitig Rechts- und Planungssicherheit. D. Zerlegungmaßstab Gewerbesteuer Der Bundesrat hat vorgeschlagen, den besonderen Zerlegungsmaßstab in der Gewerbesteuer, der bislang nur für Windkraftanlagen gilt, auch auf Photovoltaikanlagen auszudehnen. Damit soll erreicht werden, dass nicht nur die Sitzkommune des Unternehmens von der Gewerbesteuer profitiert, sondern auch die Gemeinde, in der sich die Anlagen befinden. Die Anzahl und das Tempo von Baugenehmigungen könnte hierdurch erhöht werden. Die energiepolitische Notwendigkeit hält das Bundesumweltministerium allerdings für fraglich. Im Jahr 2009 hatten wir einen Zubau von 3 800 Megawatt zu verzeichnen, 2010 sogar von 7 400 Megawatt. Das liegt deutlich über dem vom Erneuerbare-Energien-Gesetz angestrebten Ausbauziel von 3 500 Megawatt. Wir wollen die Anregungen des Bundesrats daher in einem der nächsten Gesetzgebungsverfahren zuerst prüfen. Dabei sollten wir uns allerdings nicht nur auf Photovoltaikanlagen beschränken, sondern die Regelung zum gewerbesteuerlichen Zerlegungsmaßstab in ihrer Gesamtheit einer Prüfung unterziehen. Denn es wäre wenig sinnvoll, wenn der dann noch weiter fortschreitende Zubau an Photovoltaikanlagen zu einer noch schnelleren und erheblicheren Reduzierung der Einspeisevergütung führt. Bei einer einseitigen Konzentration auf die Photovoltaik müssten wir den Bürgern wie auch den Unternehmen zudem erklären, weshalb beispielsweise Biogasanlagen oder auch Flughäfen, die eine ähnliche oder sogar größere Lärmbelästigung für die Anwohner bedeuten als Windkraftanlagen, nicht in den besonderen Zerlegungsmaßstab einbezogen werden sollen. E. Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen Ich bin auch froh, dass bei den Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich der Sonderlasten durch die strukturelle Arbeitslosigkeit eine einvernehmliche Regelung getroffen werden konnte. Diese Zuweisungen wurden mit den Arbeitsmarktreformen von 2003 eingeführt. Mit der Reform sollten die Kommunen bundesweit um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Der Bund finanziert seitdem das Arbeitslosengeld II. Die Kommunen werden dadurch von den Sozialhilfeausgaben der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger entlastet. Die Kommunen finanzieren im Gegenzug die Kosten der Unterkunft der Hartz-IV-Empfänger, wobei sich der Bund quotal an der Finanzierung beteiligt. Da die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den neuen Ländern aufgrund der ostdeutschen Erwerbsbiografien verhältnismäßig gering war, war eine weitere finanzielle Unterstützung der ostdeutschen Kommunen erforderlich, um die zugesagte Entlastung zu erreichen. Deshalb erhalten die ostdeutschen Länder seitdem die sogenannten Hartz-IV-Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen. Die Höhe wurde im Ergebnis einer Bilanzbetrachtung der Be- und Entlastungswirkungen der Hartz-IV-Reform für die Kommunen in den einzelnen Ländern ermittelt. Sie wurde zunächst auf 1 Milliarde Euro festgelegt und wird alle drei Jahre überprüft. Glücklicherweise sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland mittlerweile nicht mehr so immens, sodass die Höhe von 1 Milliarde Euro in der neuen Berechnung nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Zur Berechnung der Mittel hat sich eine Arbeitsgruppe der Finanzministerkonferenz nun auf das sogenannte Relations-Modell verständigt. Demnach ergibt sich für die Jahre 2011, 2012 und 2013 ein jährlicher Anspruch in Höhe von 807 Millionen Euro. Für das Jahr 2011 wurde eine Überzahlung von 193 Millionen Euro ermittelt, die in den Jahren 2012 und 2013 zu gleichen Teilen verrechnet werden soll. Das heißt, in den Jahren 2012 und 2013 werden nur jeweils 710,5 Millionen Euro gezahlt. Damit haben wir im Ergebnis einen tragfähigen Kompromiss zwischen den Interessen der westdeutschen und der ostdeutschen Länder. Die Verständigung auf eine objektive Prüfmethode gibt den neuen Ländern hinsichtlich der Hartz-IV-Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen Planungssicherheit bis zum Auslaufen des Finanzausgleichsgesetzes im Jahr 2020. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie und zur Änderung steuerlicher Vorschriften. Der Titel des Regierungsentwurfs verschleiert etwas; dass wir genau genommen eigentlich zwei Gesetze debattieren, die inhaltlich auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben – auf den zweiten übrigens auch nicht. Das Umsetzungsgesetz zur Anpassung der bestehenden Regelungen zur Amtshilfe zwischen Finanzverwaltungsbehörden innerhalb der EU bei Fragen der Beitreibung von Steuern und Abgaben umfasst Art. 1 des Gesetzentwurfs; der Rest von Art. 2 bis Art. 22 ist quasi ein Jahressteuergesetz 2011 in Verkleidung, das zahlreiche Änderungen in unterschiedlichen Bereichen des Steuerrechts zusammenfasst und dabei auf europarechtliche und innerstaatliche Entwicklungen, Entscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit oder Anregungen aus der Finanzverwaltung von Bund und Ländern eingeht und Anpassungen an sich ändernde Rechtslagen vornimmt. Die Bundesregierung verpackt eine Vielzahl unterschiedlicher, isolierter Rechtsänderungen in einem einzigen Gesetz, wie sie das in ähnlicher Weise schon beim sogenannten Steuervereinfachungsgesetz getan hat. Vielleicht wollte sie sich und uns Parlamentariern damit die umfangreichen Beratungen eines eigenen Jahressteuergesetzes ersparen. Man kann es dem Kollegen Gutting sicher nicht verdenken, wenn er das Gesetz in den parlamentarischen Beratungen versehentlich als Jahressteuergesetz bezeichnet hat. Vielleicht wollte die Regierungskoalition – was ich eher vermute – die an und für sich schon im Bundesrat zustimmungspflichtige Umsetzung der europäischen Beitreibungsrichtlinie einfach um einen ganzen Strauß zustimmungspflichtiger Vorhaben anreichern und dadurch ein weiteres aufwendiges Verständigungsverfahren mit den Bundesländern vermeiden. Jedenfalls sorgt die Regierung damit für eine deutliche Zunahme an Komplexität und Umfang des Gesetzes. Gleichzeitig haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen allerdings den Zeitraum, den wir für eine seriöse Beschäftigung mit dem Gesetz benötigen, auf den letzten Metern stark „eingedampft“. Die späte Vorlage von Änderungsanträgen der Koalitionsfraktionen und die schwierige koalitionsinterne Abstimmung zwischen der CDU, der CSU und der FDP haben unsere Arbeit ebenfalls nicht leichter gemacht. Ich danke deshalb an dieser Stelle den Fachbeamten des Bundesfinanzministeriums, die in zwei Fachgesprächen mit den zuständigen Berichterstattern der Fraktionen dem hohen Beratungs- und Aufklärungsbedarf gerecht zu werden versuchten, sowie den Sachverständigen für ihre schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen zur Anhörung. Eigentlich müsste ich eine ausreichende Beratungszeit nicht ausdrücklich erwähnen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Angesichts unserer schlechten Erfahrungen mit vielen Gesetzentwürfen, die in der Vergangenheit von Schwarz-Gelb unter hohem Zeitdruck und in eigentlich in fast unverantwortlicher, unseriöser Art und Weise verkürzten Beratungsfristen durch das gesetzgeberische Verfahren gepresst wurden, scheint mir dieser Hinweis leider erforderlich. Ich erinnere in diesem Zusammenhang etwa an die finanziellen Rettungsmaßnahmen für Mitgliedstaaten der Euro-Zone oder die Kehrtwende der Bundeskanzlerin in Sachen Energiepolitik. Hier wurden Beschlüsse des Bundestages gefasst, deren politische, soziale, wirtschaftliche Bedeutung fast schon umgekehrt proportional zur Dauer und Tiefe der Beschäftigung des Gesetzgebers damit war. Es wäre für die öffentliche Wahrnehmung der Koalition und ihres Verständnisses der Einbindung aller Fraktionen in die gesetzgeberische Arbeit ein schlechtes Zeichen, wenn der hektische Umgang mit Verfahrensregeln und eine gezielte, schleichende Überlastung der Ausschussberatungen – mehr Arbeit, weniger Zeit – zum dauerhaften Makel schwarz-gelber Parlamentsarbeit würde. Mit Blick auf diese Entwicklungen befürchte ich, dass die zahlreichen Mahnungen von Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert an die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen wenig dazu beitragen konnten, das Bewusstsein für die zeitlichen, materiellen, organisatorischen Voraussetzungen guter gesetzgeberischer Arbeit wieder stärker zu achten. Man kann daher fast schon froh sein, dass die Bundesregierung auf ihr ursprüngliches Vorhaben verzichtet, das Umwandlungssteuerrecht im „Schnelldurchlauf“ an die EU-Vorgaben zur Entflechtung vertikal integrierter Energieversorger anzupassen – eine wichtige Weichenstellung für den steuerlichen Handlungsrahmen deutscher Energieversorgungsunternehmen. Diese Regelung war schon in das – mittlerweile im Bundesrat gescheiterte – Fördergesetz für die energetischen Gebäudesanierung „hineingemogelt“ worden, ohne dass hierfür eine sachliche Rechtfertigung bestanden hätte, geschweige denn ausreichender Beratungsbedarf eingeräumt worden wäre. Die vorgesehene Einführung einer steuerlichen Teilbetriebsfiktion als Voraussetzung für eine steuerneutrale Übertragung von Wirtschaftsgütern im Zuge der Entflechtung von Netz und Betrieb ist allerdings ein komplexes, folgenreiches Unterfangen. Wir können im parlamentarischen Verfahren daher auf ausreichende Beratung und Diskussion nicht verzichten. Es ist erfreulich, wenn die Koalitionsfraktionen ihren Fehler nicht wiederholt und die Anpassung im Zuge einer umfassenden Neuregelung des Unternehmensteuerrechts – wo sie hingehört – ankündigt. Wir dürfen auf die Einbindung aller Bundestagsfraktionen in diese Beratungen gespannt sein. Zurück zum heute abschließend zu beratenden Gesetzentwurf. Die SPD-Bundestagsfraktion enthält sich bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Stimme, auch wenn wir wichtige Zielsetzungen des Gesetzes unterstützen, etwa die Verbesserung der grenz-überschreitenden Amtshilfe bei der Beitreibung von Steuern und Abgaben und die „Heilung“ der Schutzlücke für mittelbar zulageberechtigte Personen im Rahmen der steuerlich geförderten Altersvorsorge, Riester-Rente, durch einen Mindestbeitrag von 60 Euro pro Jahr und die Einrichtung einer Nachzahlungsmöglichkeit. Wir haben auch den von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Änderungsanträgen zugestimmt, die viele Anregungen des Bundesrats aufgegriffen haben. Manche dieser Änderungen greifen Verbesserungsvorschläge auf, die wir während der parlamentarischen Beratungen mit eigenen Anträgen dokumentiert haben. Dabei denke ich etwa an die Schließung von Gestaltungsmöglichkeiten bei der Schenkungsteuer, die zulasten der Einnahmen der Bundesländer gingen. Ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen. Für eine Zustimmung zum Gesetzentwurf hatten wir allerdings auf ein Entgegenkommen von CDU, CSU und FDP an einer Stelle gehofft, die uns sehr wichtig ist. Leider hat die koalitionsinterne Uneinigkeit hier einen Kompromiss verhindert. Wir haben eine Anregung des Bundesrats aufgegriffen und eine Regelung zur gewerbesteuerlichen Zerlegung bei Photovoltaikanlagen vorgeschlagen. Die bisherige Rechtslage bedarf aus umwelt- und energiepolitischen Gründen dringend der Verbesserung. Der Zerlegungsmaßstab „Arbeitslöhne“, § 29 Gewerbesteuergesetz, benachteiligt die Standortgemeinden, in denen Photovoltaikanlagen betrieben werden. Sie erhalten in der Regel keinen Zerlegungsanteil aus den Gewerbesteuereinnahmen, da dort keine Arbeitnehmer des Unternehmens beschäftigt sind. Die Einnahmen fließen meist in die Gemeinden, in der das Unternehmen seinen Geschäftssitz hat. Wir beobachten, dass diese strukturelle Nichtberücksichtigung der Standortgemeinden ihre Bereitschaft bremst, Flächen für Photovoltaikanlagen auszuweisen, aber auch die mit dem Bau und Betrieb entsprechender Anlagen einhergehenden Beeinträchtigungen zu tragen. Mit unserem Vorschlag zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes wollen wir daher die Standortgemeinden stärker an den Einnahmen beteiligen. In Anlehnung an den Zerlegungsmaßstab für Windkraftanlagen sollte der Gewerbesteuermessbetrag bei Photovoltaikanlagen zu drei Zehnteln nach dem Verhältnis der Arbeitslöhne und zu sieben Zehnteln nach dem Verhältnis fertiggestellter Sachanlageinvestitionen – ohne Betriebs- und Geschäftsausstattung – aufgeteilt werden. Bedauerlicherweise hat Schwarz-Gelb die Gelegenheit verpasst, sich unserem Vorschlag zum Abbau steuerlicher Hürden anzuschließen und damit die weitverbreiteten – und offensichtlich begründeten – Zweifel an ihrem Bekenntnis zur Förderung umweltfreundlicher Energieerzeugung zu zerstreuen. Stattdessen konnte sich die Regierung lediglich dazu durchringen, eine Prüfung des Vorschlags in Aussicht zu stellen. Man beabsichtige dabei, nicht einzelne Energieformen zu nennen, sondern eine abstrakte Regelung für alle Energieformen zu finden. Mir ist allerdings nicht ganz klar, wo genau weiterer Prüfbedarf besteht; das Ziel „ressourcenschonende, umweltfreundliche Energieerzeugung“ ist klar, die steuerlichen Instrumente liegen auf dem Tisch. Worauf wartet die Regierung? Ich habe den Eindruck, die vollmundig angekündigte „Energiewende“ ist ein eher lauwarmes Zugeständnis an die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung als ein echtes, ernstzunehmendes Bekenntnis für mehr Energieeffizienz und Umweltschutz. Auch die Beseitigung von Gestaltungsmöglichkeiten bei der Schenkungsteuer in sogenannten Konzernfällen ist den Koalitionsfraktionen leider nur halbherzig gelungen. Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf auf Lücken im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht hingewiesen, durch die die Steuerpflicht von Zuwendungen zwischen einander nahestehenden Personen innerhalb einer Kapitalgesellschaft, sogenannte Einlagefälle, oder zwischen Kapitalgesellschaften innerhalb eines Konzerns, sogenannte Konzernfälle, umgangen werden kann. Im Ergebnis gehen den Bundesländern damit wichtige Steuereinnahmen verloren, und die rechtliche Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen leidet. Der Änderungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion sah daher vor, diese Schlupflöcher zu schließen und freigebige, disquotale Einlagen und bestimmte verdeckte Gewinnausschüttungen zwischen Kapitalgesellschaften künftig der Schenkungsteuer zu unterwerfen, soweit es dadurch zu einer Vermögensverschiebung zwischen den Beteiligten an der Gesellschaft kommt. Diese Regelung erfasst beispielsweise Einlagekon-stellationen, in denen ein Vater eine Einlage in eine Kapitalgesellschaft einbringt, an der sein Sohn – mittel- oder unmittelbar – beteiligt ist. Bislang stellt der Vermögensvorteil, der dem Sohn durch die damit verbundene Wertsteigerung seines Gesellschaftsanteils entstand, keine freigebige Zuwendung dar und unterlag somit nicht der Steuerpflicht. Eine direkte Schenkung zwischen Vater und Sohn ist hingegen steuerpflichtig. Im Ergebnis ist die „Umleitung“ einer beabsichtigten Schenkung über eine Kapitalgesellschaft bislang ein gern genutztes „Hintertürchen“ zur Umgehung der Steuerpflicht. Von diesem Gestaltungsmotiv müssen wir auch deshalb ausgehen, da unter fremden Dritten überproportionale Einlagen in der Regel mit gesellschaftsvertraglichen Zusatzklauseln versehen werden, die für den einlegenden Gesellschafter gewährleisten, dass seine überproportionale Einlage nicht zu einer endgültigen Vermögensverschiebung zugunsten der Mitgesellschafter führt. Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion folgt für Konzernfälle der Zielsetzung, zum einen Steuerumgehung wirksam zu unterbinden, gleichzeitig aber ungerechtfertigte Belastungen für „echte“, nicht steuergestalterisch eingesetzte Vermögensübertragungen im Zuge verdeckter Gewinnausschüttungen zwischen Konzerngesellschaften zu vermeiden. Unser Vorschlag ist dabei umfassender und präziser als die von der Koalition getroffene Regelung und erweist sich dabei als weniger gestaltungsanfällig und interpretationsbedürftig. Für Konzernfälle, das heißt Vermögensverschiebungen zwischen Kapitalgesellschaften innerhalb einer Konzernstruktur, sahen unsere Überlegungen vor, diese als freigebige – und damit steuerpflichtige – Zuwendungen einzustufen, soweit sie nicht betrieblich veranlasst sind und soweit an den Gesellschaften nicht unmittelbar oder mittelbar dieselben Gesellschafter zu gleichen Anteilen beteiligt sind. Wenn also beispielsweise eine Konzernmutter ihrer Tochtergesellschaft ein Grundstück überträgt und dies aus betriebswirtschaftlicher Blickrichtung sinnvoll und nachvollziehbar ist – etwa für die Errichtung von Werkshallen –, unterliegt dieser Vorgang nicht der Schenkungsteuer. Die Koalitionsfraktionen haben allerdings einen anderen Weg gewählt und eine gestaltungsanfälligere Regelung beschlossen. Nach den Vorstellungen von Union und FDP sollen verdeckte Gewinnausschüttungen der Steuerpflicht unterliegen, „soweit sie in der Absicht getätigt werden, Gesellschafter zu bereichern und soweit an diesen Gesellschaften nicht unmittelbar oder mittelbar dieselben Gesellschafter zu gleichen Anteilen beteiligt sind“. Es geht hier also nicht – wie in unserem Antrag – um das objektive Kriterium der betrieblichen Veranlassung, sondern um eine Beurteilung der subjektiven Absicht des Schenkenden zur Bereicherung anderer Gesellschafter. Ich befürchte, diese schwammigen, streitanfälligen Regelungen werden in der Praxis der Rechtsanwendung und -auslegung dazu führen, dass die steuerliche Erfassung vieler Vermögensübertragungen letztlich vor Gericht entschieden werden müssen. Es fällt mir schwer, nachzuvollziehen, warum die Koalition zwar einerseits Gestaltungen zu vermeiden ankündigt, die entsprechenden Regelungen allerdings so „brüchig“ ausgestaltet, dass der Praxistest wenig Gutes in puncto Rechtssicherheit, Praktikabilität und Gleichbehandlung erwarten lässt. Es freut mich hingegen, dass sich die Koalitionsfraktionen nach einigem Zögern unserem Vorschlag angeschlossen haben, Härten bei einer Zuwendung einer Kapitalgesellschaft an eine einem Gesellschafter nahestehende Person auszuräumen. Wir denken dabei etwa an Konstellationen, in denen der Geschäftsführer einer Gesellschaft seinem angestellten Sohn ein überhöhtes Gehalt quasi als Vorauszahlung auf das künftige Erbe zahlt. Die Regelung sieht vor, dass für die Besteuerung das persönliche Verhältnis zwischen dem Gesellschafter – hier dem Vater –, der die verdeckte Gewinnaussschüttung veranlasst hat, und dem Begünstigten – hier dem Sohn – maßgebend ist. Die Zuwendung unterliegt damit nicht der Steuerklasse III, sondern der günstigeren Steuerklasse I. Es können somit niedrigere Steuersätze und höhere Freibeträge angewandt werden. Das aufschlussreiche Berichterstattergespräch mit den Fachleuten des Bundesfinanzministeriums hat das Urteil des Bundesfinanzhofs, BFH, zur steuerlichen Anerkennung von Ausbildungskosten wieder ins rechte Licht gerückt. Es wurde deutlich, dass die Mehrzahl der Sachverständigen – darunter auch ein amtierender sowie ein ehemaliger BFH-Richter – dem Umschwung in der BFH-Rechtsprechung nicht folgt. Wir haben uns – auch mit Blick auf die drohenden Steuerausfälle in Höhe von über 1 Milliarde Euro und den hohen zusätzlichen Verwaltungsaufwand – daher dem Antrag der Koalitionsfraktionen angeschlossen, die bisherige Rechtslage zu bestätigen; das bedeutet, dass die Kosten für eine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium weiterhin vom Betriebsausgaben- sowie Werbungskostenabzug ausgeschlossen sind. Der als Sonderausgaben abziehbare Höchstbetrag wird dabei von 4 000 Euro auf 6 000 Euro angehoben. Es ist allerdings nicht wirklich ersichtlich, wie Union und FDP diese Anhebung begründen. Anscheinend wird von einem Kostenanstieg bei Ausbildung und Studium von 50 Prozent seit 2004 ausgegangen, was allerdings nicht nachvollziehbar ist. Aber gelegentliche irrationale Ausbrüche in der Steuerpolitik können uns gerade bei der FDP ja wirklich nicht mehr überraschen. Dr. Daniel Volk (FDP): Das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften unterstreicht wieder einmal die Bereitschaft der Regierungskoalition, wichtige steuerpolitische Regelungen nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern zu lösen. Das Gesetz wurde intensiv beraten, um ein Gesamtpaket zu schnüren, welches auch in Absprache mit der Opposition zu zufriedenstellenden Lösungen führt. Steuerliche Detailregelungen sind nicht immer spannend, aber trotzdem darf man die Wichtigkeit dieser Maßnahmen nicht unterschätzen. Mit diesem Gesetz wird einerseits die Richtlinie des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen – Richtlinie 2010/24/EU – in nationales Recht umgesetzt. Die Richtlinienumsetzung betrifft vor allem die Erweiterung des Geltungsbereiches der Amtshilfe, die Verbesserung des Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten, die Vereinfachung des Zustellungsverfahrens und die Schaffung eines wirksameren Beitreibungs- und Sicherungsverfahrens in Europa. Andererseits werden weitere steuerrechtliche Änderungen vorgenommen. Diese Änderungen betreffen unter anderem die Änderung und Neufassung der Regelungen des Lohnsteuerabzugsverfahrens und dabei insbesondere Neuerungen im Bereich der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale. Ebenso wird durch die Einführung einer Steuerfreiheit für Sozialversicherungsrenten an Empfänger, die als Verfolgte nach § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt sind, für mehr Gerechtigkeit gesorgt. Durch die Einführung eines Mindestbeitrags von 60 Euro pro Jahr für die im Rahmen der steuerlich geförderten Altersvorsorge – § 10 a und Abschnitt XI EStG – mittelbar zulageberechtigten Personen stellen wir Klarheit her. Wir erweitern den Katalog der Freiwilligendienste um den Internationalen Jugendfreiwilligendienst zur Ermöglichung einer Berücksichtigung als Kind im Rahmen des Familienleistungsausgleichs, vergleiche § 32 EStG, §§ 2 und 20 des Bundeskindergeldgesetzes, BKGG. Durch die Einführung eines automatisierten Verfahrens für den Kirchensteuerabzug bei abgeltend besteuerten Kapitalerträgen vereinfachen wir das bisherige Verfahren. Wir verhindern Missbrauchsfälle unter anderem im Bereich der Arbeitnehmer-Sparzulage und des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes. Besonders hervorzuheben sind die Klarstellungen im Bereich von Schenkungen im Zusammenhang mit Beteiligungen an Kapitalgesellschaften. Dabei greifen wir die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auf und entwickeln sie in Richtung einer gleichmäßigen Besteuerung von Schenkungen fort. Ein weiterer wesentlicher Punkt in diesem Gesetz ist die Anpassung der Regelungen für die steuerliche Absetzbarkeit von Erstausbildungskosten. So sorgen wir mit den Anpassungen in diesem Gesetz dafür, dass Lehrlinge und Studenten in Zukunft mehr Kosten ihrer Ausbildung von der Steuer absetzen können. Damit tragen wir dem Urteil des Bundesfinanzhofs Rechnung. Wir sorgen einerseits für eine gesetzliche Klarstellung, und andererseits sorgen wir mit der Erhöhung des maximalen Sonderausgabenabzugs von 4 000 auf 6 000 Euro dafür, dass sich der Staat an den Ausbildungskosten indirekt stärker beteiligt. Ein Abzug der Erstausbildungskosten als Werbungskosten ist im Rahmen eines Fachgespräches im Finanzausschuss bei Steuerexperten auf massive Bedenken gestoßen. Dieser einhelligen Meinung haben wir uns angeschlossen und haben so eine Lösung gefunden, die praktikabel und gerecht ist. Das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften ist neben dem Jahressteuergesetz 2010 und dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 ein weiterer Schritt zu einem gerechteren Steuersystem. Wir sorgen für mehr Klarheit im Steuerrecht und schließen wirksam Steuerschlupflöcher. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll die EU-Richtlinie 2010/24/EU vom 16. März 2010 bis spätestens Ende 2012 in nationales Recht umgesetzt werden und das EG-Beitreibungsgesetz vom 13.12.2007 ablösen. Allerdings ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ein weiterer und nicht unwesentlicher Teil dieses Gesetzes beinhaltet zahlreiche Änderungen in vielen anderen Bereichen wie im Einkommensteuergesetz, im Körperschaftsteuergesetz, im Bewertungsgesetz und auch im Erbschaftsteuer- und Schenkungsgesetz. Damit packen Sie der Umsetzung der EU-Richtlinie einfach ein kleines Jahressteuergesetz bei, und das kritisieren wir. Zwar begrüßen wir grundsätzlich den vorliegenden Gesetzentwurf, aber eine Vermischung einer EU-Richtlinie und eines Jahressteuergesetzes führt zu erhöhter Intransparenz für die Bürgerinnen und Bürger wie auch für diejenigen, die am Ende die Änderungen umzusetzen haben, nämlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Finanzämtern. Neben zahlreichen Änderungen, die wir begrüßen, bleiben leider einige Kritikpunkte zurück. Daher wird sich die Linke bei diesem Gesetzentwurf enthalten. Ein zentraler Kritikpunkt ist: Die vorhandene Personalausstattung in der Finanzverwaltung reicht schon jetzt nicht aus, um die Flut der bereits vorhandenen Regelungen vernünftig umzusetzen. Dieser Gesetzentwurf, der zu einer neuen Flut von Informationen führen wird, sieht leider keine Stellenaufstockung in der Finanzverwaltung vor. Dabei legen auch die Rechnungshöfe in Bund und Ländern in ihren zahlreichen Stellungnahmen seit Jahren dar, dass nicht genügend Personal in der Finanzverwaltung vorhanden ist, um die Aufgaben gut zu erledigen. Nach Schätzung der Deutschen Steuergewerkschaft fehlen bundesweit rund 10 000 Beschäftigte in der Finanzverwaltung. Wird hier nicht endlich nachgebessert, können wichtige und sinnvolle Maßnahmen, auch die aus dem Gesetzentwurf, nur mangelhaft umgesetzt werden. Das geht dann zulasten aller, der Bürgerinnen und Bürger wie auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Finanzverwaltung. Wir haben doch heute schon genügend Probleme bei der Umsetzung bestehender Regelungen. Die Finanzverwaltung hat bereits heute Schwierigkeiten, die aus der EU-Zinsrichtlinie zufließenden automatischen Informationen zeitnah weiterzuleiten. Oder denken wir an die Verzögerungen bei der Einführung des vollelektronischen Lohnsteuerverfahrens. Das wird beispielsweise bei der Intensivierung im Hinblick auf die elektronischen Lohnsteuermerkmale nicht besser werden. Im Gegenteil. Das sind alles Warnsignale, die Sie ernst nehmen sollten. Durch das Beitreibungsgesetz wird die Informationsflut noch zunehmen. Erklären Sie doch mal den Menschen in der Finanzverwaltung, wie sie ihre Aufgaben noch vernünftig erledigen sollen. Klar ist: Hier muss etwas passieren, denn ohne eine Personalaufstockung der Finanzverwaltung wird eine vernünftige Umsetzung der in diesem Gesetzentwurf geplanten Regelungen kaum erfolgen können, erst recht nicht, wenn noch Ansprüche wie Datenschutz und Auskunftsrechte der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden müssen. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Thema Abgel-tungsteuer, eine Never-ending Story. Ursprünglich mal als Maßnahme zur Reduzierung der Bürokratie verkauft, hat sie sich in das Gegenteil verkehrt. Denn auch jetzt müssen Sie wieder im Rahmen von Änderungen bei der Kirchensteuer Anpassungen bei der Abgeltungsteuer vornehmen. Wahr ist: Die Abgeltungsteuer ist ein Fremdkörper im deutschen Steuerrecht, sie verkompliziert, und obendrein bevorzugt sie Kapitaleinkommen gegenüber Arbeitseinkommen. – Es gibt also genügend Gründe, sie abzuschaffen. Das wäre dann eine wirkliche Steuervereinfachungsmaßnahme. Ebenso ist es bei der Sanierungsklausel, die wir nicht generell ablehnen. Kritisiert hatten wir lediglich die Ausgestaltung. Nun soll sie angesichts des laufenden Verfahrens der EU-Kommission suspendiert, sozusagen beurlaubt werden, da Sie gegen die Entscheidung der EU-Kommission klagen. Damit bleibt die Streitanfälligkeit erhalten. Als letzten Punkt möchte ich die jüngsten Urteile des Bundesfinanzhofes zur Absetzbarkeit von Ausbildungskosten ansprechen. Nach den Urteilen haben sich wohl viele Studentinnen und Studenten gefreut. Aber wohl zu früh, denn die jetzige Regelung, wonach nur die Höchstgrenze für den Sonderausgabenabzug von 4 000 Euro auf 6 000 Euro angehoben werden soll, wird der großen Mehrheit nichts nützen. Davon wären nach dem Bundesfinanzministerium nicht einmal 10 000 Fälle betroffen, die den Höchstwert von derzeit 4 000 Euro ausnutzen. Angesichts von derzeit rund 2,2 Millionen immatrikulierten Studentinnen und Studenten ist diese Lösung also kein großer Wurf. Die geplante Lösung wird ungefähr 8 Millionen Euro kosten. Eine Lösung, wie vom Bundesfinanzhof gefordert, würde hingegen rund 1,1 Milliarden Euro kosten. Aber für eine Klärung des Sachverhalts sorgen Sie damit nicht. Notwendig wäre vielmehr, Studiengebühren abzuschaffen und das BAföG zu erhöhen. Außerdem sollte grundsätzlich dafür gesorgt werden, dass der Zugang zu Ausbildung und Studium kostenfrei ist. Abschließend noch einmal die dringende Empfehlung – in unser aller Interesse –: Hängen Sie nicht eine Vielzahl von eher steuertechnischen Änderungen an ein Gesetz dran, das damit nichts zu tun hat, sondern verabschieden Sie, wie früher, jährlich ein Jahressteuergesetz. Das ist transparenter und erleichtert den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Finanzverwaltung ihre Arbeit. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hinter dem Namen Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz versteckt sich eigentlich das Jahressteuergesetz 2011. Es ist sehr bedauerlich, dass die Regierungskoalition die Dinge hier nicht beim Namen nennt. Unter dem Deckmantel einer EU-Richtlinienumsetzung werden heute viele wichtige Änderungen im Einkommensteuer- und Körperschaftsteuerbereich beschlossen. Kollege Olav Gutting meinte im Finanzausschuss, der Information der Öffentlichkeit sei damit Rechnung getragen, dass es im offiziellen Titel des Gesetzesvorhaben heiße: „… zur Änderung steuerlicher Vorschriften“; das müsse genügen. Das zeigt nur die Ignoranz, die die Koalitionsabgeordneten im Hinblick auf eine am Kunden orientierte Öffentlichkeitsarbeit haben. Das ist kein Ausweis einer transparenten Arbeitsweise des Gesetzgebers. Entlarvend für die Regierungsfraktionen war bei diesem Gesetzgebungsverfahren auch, welche Prioritäten Schwarz-Gelb im Steuerbereich setzt. So mahnte der Bundesrat in seiner Stellungnahme an, eine Besteuerungslücke im Bereich der Schenkungsteuer zu schließen. Der Bundesrat führt in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf aus: „Die bisherige Besteue-rungslücke ist in der Steuersparbranche bekannt und wird auf Fachveranstaltungen regelmäßig als Gestaltungstipp vorgetragen.“ Obwohl also gut bekannt, wurde noch zehn Tage vor der abschließenden Beratung des Gesetzes von einem Mitglied der Regierungskoalition formuliert, man wolle hier keine Änderung mit heißer Nadel stricken. Erst nachdem Bündnis 90/Die Grünen und dann die SPD entsprechende Änderungsanträge vorgelegt hatten, reagierten die Regierungsfraktionen: Einen Tag vor der endgültigen Beratung im Finanzausschuss wurde nun die Forderung des Bundesrates nach Stopfen des Steuerschlupfloches aufgegriffen. Diese Verzögerung ist ein eklatanter Verstoß gegen die Aufgabe des Parlamentes, für eine gleichmäßige Besteuerung zu sorgen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier wieder einmal versucht wurde, die Klientel zu schützen, anstatt den Auftrag eines Parlamentariers nach Vertretung aller Bürgerinnen und Bürger nachzukommen. Oder das Nichthandeln wurde durch die Haltung bewirkt: „Warum sollen wir im Bund etwas für die Länder tun!“ Denn die Erbschaft- und die Schenkungsteuer kommen allein den Länderhaushalten zugute. Beide Erklärungsmöglichkeiten werfen ein denkbar schlechtes Bild auf die Regierungskoalition. Halten wir aber fest: Mit dieser Änderung wird endlich ein großes Einfalltor für Missbrauch im Zusammenhang mit verdeckten Gewinnausschüttungen und verdeckten Einlagen zwischen verbundenen Körperschaften geschlossen. Das Gesetz enthält weitere sinnvolle Steueränderungen, von denen ich hier einige explizit nennen möchte. So begrüßen wir die Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie. Die Vereinheitlichung der Amtshilfe auf europäischer Ebene ist gut, ebenso wie die Ausweitung des Katalogs der Steuerarten. Die Neufassung des Lohnsteuerabzugsverfahrens, das über eine elektronische Datenbank erfolgt, ist ebenso zu begrüßen, denn es baut Bürokratie ab. Auch viele vorgesehene Änderungen im Einkommensteuerbereich sind richtig, obwohl wir an der einen oder anderen Stelle noch weiter gehende Regelungen für angemessen erachtet hätten. So ist die Einführung eines Mindestbeitrags von 60 Euro pro Jahr bei der Riester-Rente richtig, jedoch bleiben bei dem Thema noch viele Verbraucherschutzfragen offen. Kommen wir zu den Teilen des Gesetzes, die eine Zustimmung zu diesem Gesetz nicht zulassen: Thema Sanierungsklausel. Mit der Sanierungsklausel sollten nach Willen des Gesetzgebers die klaren und richtigen Vorschriften zur Begrenzung des Verlustübertrages im Falle der Sanierung von Unternehmen aufgehoben werden. Diese Zielsetzung ist nicht verkehrt. Nun hat aber die EU die Sanierungsklausel als eine unerlaubte Beihilfe bewertet und eine Aufhebung verlangt; die Bundesregierung hat dagegen geklagt. Seit mehr als einem Jahr haben die Unternehmen keine Rechtssicherheit. Zudem ist die Sanierungsklausel in der heutigen Form nicht wirklich zielgerichtet, denn sie weist wesentliche Mängel auf: Sie lässt den Fall der Sanierung innovativer, junger Unternehmen unberücksichtigt und fokussiert nicht ausreichend auf das Ziel des Erhalts von Arbeitsplätzen. Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht zu warten, sondern eine alternative Gesetzgebung vorzubereiten, die die genannten Ziele im Blickfeld hat und gleichermaßen europarechtskonform ist. Das Warten auf eine Entscheidung des Gerichtes und eine Ausrichtung an dem zu erwartenden Urteil beweist nur, dass die Koalitionsfraktionen hier keinen wirklichen Fokus auf die Sanierung richten. Sonst würde man nicht locker eine Zeit von zwei oder sogar drei Jahren in Kauf nehmen, bis eine entsprechende Klausel greift. Denn die erfolgreiche Sanierung von Unternehmen ist gerade jetzt, in einer schwierigen Zeit, ein wichtiges Ziel. Auch hier gilt: Nicht warten, sondern handeln! Deshalb sind wir dafür, die Klausel nicht nur zu suspendieren, sondern sie, wie im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehen, schlicht aufzuheben. Thema Ausbildungskosten. Es ist richtig, als Reaktion auf das entsprechende Urteil des BFH die geltende Rechtslage klarzustellen, also keine steuerliche Abziehbarkeit der Ausbildungskosten im Rahmen eines Erststudiums als Werbungskosten vorzusehen, wenn es in Zusammenhang mit der späteren Berufsfähigkeit steht. Alles andere wäre schlicht unsozial gewesen. Die Studierenden, die nebenher arbeiten müssen, um ihr Studium zu finanzieren, hätten nichts von der Umsetzung des Urteils gehabt. Zudem wären über 1 Milliarde Euro Steuermindereinnahmen sowie ein Chaos in den Finanzverwaltungen wegen Abgrenzungsfragen entstanden. Aber: Die Anhebung des Höchstbetrags bei den Sonderausgaben von 4 000 auf 6 000 Euro lehnen wir ab. Das ist schlicht ein kleines, aber elegantes Klientelgeschenk; eine Steuerentlastung von geschätzten 8 Millionen Euro würde an wenige Zehntausend Studierende oder ihre Ehepartner verteilt. Durch die gemeinsame Veranlagung bei Ehepaaren könnte etwa ein Anwalt mit ordentlichem Einkommen die teuren Studiengebühren seiner Frau für das Designstudium an einer Privatuni von der Steuer absetzen, bis zu 6 000 Euro pro Jahr. Ansonsten profitieren höchstens noch Studierende, die neben ihrem Erststudium bereits ein stattliches Einkommen beziehen und dann auch noch an einer Uni studieren, bei der durch hohe Studiengebühren jährlich 6 000 Euro an Ausbildungskosten zusammenkommen. Thema Umsatzsteuer. Wir sind nicht überzeugt, dass die von den Koalitionsfraktionen angestrebten Änderungen bei der Umsatzsteuer bei Messedienstleistungen in Drittstaaten in der vorliegenden Form die passende Antwort auf das Problem sind. Um einen ganz kleinen Fall zu lösen – nämlich dass Fördermittel des Bundes in einem bestimmten Förderprogramm der Umsatzsteuer unterworfen würden –, wird eine neue Sonderregelung in das Umsatzsteuergesetz eingefügt, die dieses erheblich weiter verkompliziert. Außerdem gibt es natürlich Mindereinnahmen, wenn die Besteuerung von Deutschland in einen Drittstaat ausgelagert wird. Da scheint uns eine Änderung in der Tat mit heißer Nadel gestrickt, wo eine sorgfältigere Betrachtung und Lösungsfindung angebracht gewesen wäre. Thema Gewerbesteuerzerlegung bei Photovoltaikanlagen. Schließlich ist das vorliegende Gesetz „zur Änderung steuerlicher Vorschriften“ auch daran zu messen, was es nicht enthält: Die Koalitionsfraktionen wollen die von uns Grünen und auch von der SPD bereits mehrfach und jetzt vom Bundesrat erneut geforderte Gewerbesteuerzerlegung bei Photovoltaikanlagen nicht anpacken. Richtig ist: Wir müssen auch andere erneuerbare Energien in die Überlegungen einbeziehen. Aber im Falle der Photovoltaik sind die Forderungen klar; der Bundesrat hat einen konkreten Vorschlag gemacht. Die Bundesregierung signalisiert hier, dass die Energiewende Zeit hat; das ist ein fatales Signal. Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung jetzt umgehend mit dem Thema Gewerbesteuerzerlegung bei Photovoltaikanlagen, aber auch bei anderen Formen der erneuerbaren Energien, auseinandersetzt. Das Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie enthält viele vernünftige Regelungen. Die Änderungen steuerlicher Vorschriften sind teilweise unzureichend und lückenhaft. Deshalb wird sich unsere Fraktion bei dieser Gesetzesvorlage enthalten. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen (Tagesordnungspunkt 32) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mit Ihrem Antrag „Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichstellen“ knüpfen Sie wieder einmal an die für uns alle altbekannten Forderungen an, wie einer Sozialversicherungspflicht für abhängige Beschäftigungen ab dem ersten Euro Entgelt, den Ausbau sozialer Dienstleistungen zur Schaffung regulärer Beschäftigung, der Erarbeitung eines Gleichstellungsgesetzes und der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Fest steht doch, dass die Arbeitswelt in Bewegung geraten ist und die meisten Menschen abhängig von der Ausgestaltung ihrer Anstellung, der Kindererziehung oder Weiterbildungen arbeiten möchten. Hierbei spielen flexible Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, Zeit-arbeit und vor allem auch Minijobs eine wichtige Rolle. Was Sie jedoch machen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ist die Diffamierung flexibler Beschäftigung als prekäre Arbeit. Dabei schaffen gerade diese Angebote zum einen die Möglichkeit für den Einstieg oder die Rückkehr in Vollzeitbeschäftigung – besonders für Menschen, die ansonsten nur geringe Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten. Und zum anderen bieten sie Unternehmen die benötigte Flexibilität, um marktgerecht auf Nachfragespitzen oder Auftragsflauten reagieren können. Die geringfügige Beschäftigung als flexibles Instrument der Arbeitsmarktpolitik dämmt zudem illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit ein. Hinzu kommt, dass viele Minijobs lediglich als zusätzliche Hinzuverdienstmöglichkeit genutzt werden, zur Steigerung der Lebensqualität oder zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. So sind beispielsweise viele Rentner nicht auf einen Minijob angewiesen, und eine volle Versicherungspflicht brächte im Einzelfall mehr Nachteile, da eine zusätzliche Arbeitslosen- oder Krankenversicherung, in die eingezahlt werden müsste, nicht benötigt wird. Ähnlich gelagert ist die Situation bei vielen Schülern und Studenten. Minijobber haben die gleichen Rechte wie alle anderen Beschäftigten auch, und es gelten branchenspezi-fische Mindestlöhne. Des Weiteren haben gerade die Angebote der flexiblen Beschäftigung dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland drastisch zurückgegangen ist. Natürlich dürfen wir uns auch nicht der Tatsache verschließen, dass diejenigen, die nur auf einen Minijob angewiesen sind, der Altersarmut ausgesetzt sind. Sie können sich sicher sein, dass wir in diesem Bereich sehr genau hinschauen und ganz genau prüfen, wie sich die Situation entwickelt, um dann konkret handeln zu können. So wollen wir beispielsweise 2013 gemeinsam mit unserer Arbeitsministerin Dr. von der Leyen eine sogenannte Zuschussrente einführen, sodass auch jemand, der die Zugangsvoraussetzungen erfüllt, unabhängig von den eigenen Rentenansprüchen 850 Euro erhält. Seien Sie versichert, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf uns verlassen können. Frank Heinrich (CDU/CSU): Sie sehen hier dieses Glas Wasser in meiner Hand. Es ist ohne Frage ein Gefäß, ein Instrument mit einer Bestimmung. In diesem Fall soll es helfen, meinen Durst zu löschen. Dieses Instrument eignet sich vielleicht auch noch für die eine oder andere Sache, aber ganz sicher nicht, um damit feste Nahrung zu sich zu nehmen oder gar den Euro zu retten. Und hier sind wir bei der Deutung meiner Metapher. In der politischen Diskussion geht es heute um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das ebenfalls für einen konkreten Nutzen eingeführt wurde – den sogenannten Minijob. Minijobs sind geringfügige Beschäftigungen, bei denen die monatliche Verdienstgrenze bis zu 400 Euro beträgt. Der heute zur Beratung stehende Antrag der Fraktion Die Linke fordert eine Änderung bei diesem Instrument der geringfügigen Beschäftigung, die meiner Überzeugung nach einer Abschaffung dieses Werkzeugs und damit dieses Nutzens nahekommt. Minijobs sind ein wichtiges Ventil für den Arbeitsmarkt, für viele Arbeitnehmer die einzige legale Möglichkeit, ihr Haushaltseinkommen aufzubessern und ein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Schwarzarbeit. Die geringfügige Beschäftigung trägt neben anderen Instrumenten zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bei. Insbesondere in privaten Haushalten sind Minijobs wichtig geworden – Stichwort Schwarzarbeit. So entstehen ehrliche Zahlen. Denn viele Menschen haben auch vor der Einführung der Minijobs in den Haushalten gearbeitet. Jetzt wird daraus eine offizielle Beschäftigung. Die Gründe für die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung sind vielfältig. Für viele Menschen, die nur ein überschaubares Stundenbudget zur Verfügung haben, wie zum Beispiel Hausfrauen, Rentner, Schüler oder Studenten, schaffen gerade die Minijobs eine wichtige und unbürokratische Hinzuverdienstmöglichkeit. Heute Morgen sprach ich mit einer Mutter aus Chemnitz, die sehr froh ist über diese Möglichkeit des geringen Zuverdienstes. Ja, sie weiß auch, dass es hin und wieder schwierig mit dem Arbeitgeber sein kann, mag aber gar nicht darüber nachdenken, deswegen eine solche Chance zu verpassen. Sie selber sieht es als eine tolle Möglichkeit, in einem geringen Umfang weiterhin arbeiten zu können und dadurch später den Einstieg ins Arbeitsleben zu erleichtern. Auswertungen aus dem Mikrozensus 2008 zeigen, dass nur 17,4 Prozent der Minijobber nach einer anderen oder nach einer weiteren Tätigkeit suchen, also den Umfang ihrer Beschäftigung erweitern möchten – so die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD zur Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland. Sie, liebe Kollegen von den Linken, erwecken in ihrem Antrag einen ganz anderen Eindruck. Minijobs ermöglichen unbürokratische Anstellungen für kurzfristigen und geringfügigen Arbeitskräftebedarf. Dieses Instrument wird insbesondere von Arbeitgebern genutzt, die kein großes Unternehmen leiten. Denn die Abwicklung des Melde- und Beitragsverfahrens bei der Minijob-Zentrale ist viel einfacher im Vergleich zu anderen Beschäftigungsformen. Es wird häufig angemerkt, dass bei Minijobs geringere Entgelte gezahlt werden. Es muss aber beachtet werden, dass viele Minijobs Tätigkeiten sind, für die keine besondere Qualifikation erforderlich ist, wie zum Beispiel bei Kellnern, Callcenter-Mitarbeitern und Hilfskräften im Reinigungsbereich. Ein Student aus meinem Umfeld in Chemnitz hat mir vorgestern bestätigt, wie gern die Minijobs angenommen werden, vor allem aus dem Grund, dass Minijobber selber keine Steuern und Abgaben zahlen müssen. Zugleich ist uns jedoch bewusst, dass diese Beschäftigungsverhältnisse nicht unproblematisch sind. Missbrauch ist hier nicht ausgeschlossen. Daher hat es mich persönlich gefreut, zu hören, dass Sozialpolitiker der CDA ein Gesetz gegen eben diesen Missbrauch von Minijobs gefordert haben; daran beteilige ich mich gerne. In Wirklichkeit wird oft wesentlich mehr gearbeitet und wesentlich mehr an Arbeitsleistung erbracht, als durch diesen 400-Euro-Job abgedeckt ist. Es ist ein Problem, dass es Minijobber gibt, für die es das einzige Einkommen ist und die deswegen ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen. Dieses Werkzeug – der Minijob – war natürlich nicht dazu gedacht, dass dann generell ergänzende staatliche Leistung beansprucht wird. Die ursprüngliche Idee dieses Instruments war unter anderem, den geringfügig Beschäftigten die Möglichkeit einzuräumen, auf diese Weise einen Übergang in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu schaffen. Denn eine Vermittlung in Minijobs kann im Einzelfall die erwerbsfähigen Menschen an den Arbeitsmarkt heranführen. Es sollte zum Beispiel Müttern den Wiedereinstieg in das Arbeitsleben nach einer Babypause erleichtern. Eine soziale Absicherung wäre in diesen Fällen nicht nötig, da dieser Personenkreis in der Regel anderweitig sozial abgesichert ist. Das gleiche gilt auch für geringfügig beschäftigte Studenten, Rentner und Beamte. Geringfügige Beschäftigung darf nicht reguläre Arbeitsplätze vernichten. Auch dem von der Partei Die Linke in ihrem Antrag aufgeführten Argument, dass Arbeitgeber reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse durch Minijobs ersetzen, um ihre Kosten zu senken, kann nicht so ohne Weiteres zugestimmt werden. Nach Auffassung der Bundesregierung gibt es keine eindeutigen und belastbaren Belege für Substitutions- oder Verdrängungseffekte Sozialversicherungspflichtiger durch geringfügige Beschäftigung. Nach einem Anstieg um rund 0,4 Millionen von Juni 2003 bis Juni 2004 hat sich die Anzahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten seitdem um nur etwa 0,1 Millionen auf rund 4,9 Millionen Beschäftigte im Juni 2010 erhöht, so die Bundesregierung. Im Zeitraum von 2004 bis 2010 sind jedoch 1,2 Millionen zusätzliche reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Mit jahresdurchschnittlich über 27,7 Millionen war hier 2010 der höchste Stand seit 2002 zu verzeichnen. Was die Gleichstellung von geringfügiger und regulärer Beschäftigung angeht, will ich vor allem bemerken, dass geringfügig Beschäftigte und Vollzeitbeschäftigte dieselben arbeitsrechtlichen Schutzansprüche haben. Sie haben die gleiche Möglichkeit, ihre Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Für Minijobber gelten ebenso die gesetzlichen Vorschriften bezüglich Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und an Feiertagen. Auch § 4 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes verbietet eine Ungleichbehandlung von geringfügig Beschäftigten gegenüber anderen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten. Viele Minijobber wissen jedoch von ihren Rechten nichts oder nur wenig. Daher werden in der Praxis Ansprüche von Arbeitgebern nicht gewährt und von Beschäftigten nicht eingefordert. Diese Vorenthaltung von Arbeitnehmerrechten wird auch seitens der Bundesregierung missbilligt. Das will ich hier noch einmal ganz deutlich machen. Wir missbilligen diesen Missbrauch vonseiten der Arbeitgeber und weisen auf die rechtlichen Möglichkeiten der betroffenen Arbeitnehmer hin. Minijobs sollen nicht eine billige Option für Arbeitgeber sein. Aus der Höhe der zu leistenden Abgaben und Beiträge beim Minijob ergibt sich für die Arbeitgeber kein Kostenvorteil. Minijobs sind zwar sozialversicherungsfrei, die Sozialversicherungsfreiheit bedeutet jedoch nicht zugleich Beitragsfreiheit, in diesem Fall aber ausschließlich durch den Arbeitgeber. Zum Schluss möchte ich auf das Bild zurückkommen, das ich am Anfang meiner Rede benutzt habe. Das Glas Wasser ist ein Werkzeug zum Stillen des Durstes. Auch die Minijobs sind ein Instrument mit einer konkreten Bestimmung. Dieses Werkzeug gilt es, nach seinem Zweck und Ziel zu nutzen und gegen Missbrauch zu schützen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Fast 7,5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten ohne eigenständige Krankenversicherung und Rentenanspruch als Minijobber. Lohnfortzahlung bei Krankheit oder bezahlter Urlaub wird ihnen in der Regel verwehrt. Sie verdienen, obwohl die meisten von ihnen eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, durchschnittlich etwa fünf Euro pro Stunde, genau 297 Euro im Monat. Der Übergang in existenzsichernde Beschäftigung gelingt nur selten. Zwei Drittel der Minijobber sind Frauen. Von ihnen hat jedoch nur weniger als die Hälfte einen Partner, der selbst in einem regulären Arbeitsverhältnis steht und sie versorgen könnte. Da der Minijob zur Existenzsicherung nicht ausreicht, muss häufig eine aufstockende Sozialleistung in Anspruch genommen werden. Es sind also keine selbstgewählten Hausfrauen, die sich ein bisschen dazu verdienen wollen, wie die CDU/CSU gerne behauptet. Besonders dramatisch ist, dass zunehmend sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in geringfügige zerlegt und so reguläre Arbeitsplätze verdrängt werden. Im Gastgewerbe hat es zum Beispiel zwischen 2004 und 2010 eine Zunahme der Vollzeitstellen von fünf Prozent gegeben, die Minijobs sind jedoch im selben Zeitraum um 26 Prozent angestiegen. Im Einzelhandel und in der Gebäudereinigung ist der gleiche Trend zu beobachten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bleibt oft mangels besserer Angebote keine andere Wahl als der Minijob. Miese Arbeitsbedingungen und Minilöhne – das ist eine aufwachsende Realität vor allem für Frauen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. In keinem anderen europäischen Mitgliedstaat gibt es eine ähnlich arbeitnehmerfeindliche Entwicklung. Die Ausweitung von prekärer Beschäftigung entwertet nicht nur Arbeit, sie schadet auch der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes. Auf der einen Seite werden gut ausgebildete Beschäftigte mitten im Arbeitsleben in prekäre Beschäftigung abgedrängt. Auf der anderen Seite bahnt sich ein gigantischer Fachkräftemangel aufgrund des demografischen Wandels an. Das passt nicht zusammen. Warum gibt es überhaupt Minijobs? Werfen wir einen Blick zurück: Diese Beschäftigungsform wurde in den 90er-Jahren manifestiert, um Menschen, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr oder nur eingeschränkt zur Verfügung standen, einen abgabenfreien Zuverdienst zu ermöglichen. Die damalige Zielgruppe waren vor allem hinzuverdienende Hausfrauen. Die Nachfrage war in Westdeutschland aufgrund des damaligen Rollenverständnisses und mangelnder Kinderbetreuungsstrukturen hoch. Familie und Beruf ließen sich nur schwer unter einen Hut bringen. Die Hoffnung war auch, ihnen den Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern und ihnen eine Perspektive auf ein normales Arbeitsverhältnis zu eröffnen. Unter rot-grüner Regierung wurde 1999 die Geringfügigkeitsgrenze auf 325 Euro festgesetzt und eine pauschale Sozialversicherungsabgabe durch die Arbeitgeber von 22 Prozent eingeführt. 2003 wurde dann nach einem Vermittlungsverfahren auf Druck der CDU/CSU-regierten Länder die Grenze für Minijobs auf 400 Euro angehoben, die Sozialversicherungsabgabe auf 25 Prozent heraufgesetzt und die bisherige Begrenzung von maximal 15 Wochenstunden abgeschafft. Außerdem wurde die Sozialversicherungsfreiheit für Jobs bis zu 400 Euro neben dem eigentlichen Arbeitsverhältnis eingeführt. Damit war das Tor für Minijobs und für prekäre Beschäftigung weit aufgestoßen. 2006 haben wir durch eine Heraufsetzung der Sozialversicherungsbeiträge für die Minijobs auf 30 Prozent versucht, diese Beschäftigungsform für Arbeitgeber wieder unattraktiver zu machen. Leider hatten wir damit keinen Erfolg. Die Arbeitgeber haben ihre Mehrkosten einfach auf die Minijobber umgelegt. Die prekäre Beschäftigung boomt weiter. Damals war die Arbeitsmarktsituation allerdings eine andere als heute. Die Arbeitslosigkeit hatte mit fünf Millionen einen alarmierenden Höchststand erreicht. Heute haben wir deutlich unter drei Millionen arbeitslose Menschen und einen sich unaufhaltsam anbahnenden Fachkräftemangel. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir also dringend für eine nachhaltige Attraktivitätssteigerung auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Wie könnte das besser funktionieren als mit guter Arbeit und fairen Löhnen? Leider ist in dieser Richtung keinerlei Bewegung von der schwarz-gelben Bundesregierung zu verzeichnen. In den Antworten der Bundesregierung auf unserer Kleine Anfrage „Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland“ wurde das Aufwachsen von Minijobs und prekärer Beschäftigung zwar deutlich beschrieben. Darüber aber, was die Bundesregierung dagegen zu tun gedenkt, wurde nichts gesagt. Es gibt weder Initiativen für einen dringend notwendigen gesetzlichen Mindestlohn noch Bestrebungen, prekäre Beschäftigung in anderer Weise zu bekämpfen. Das ist fahrlässig und höchst gefährlich. Ich komme zum Antrag der Linken: Schauen wir in diesen Forderungskatalog. Finden wir da etwas, was uns weiterhilft? Ja! Wir finden die Forderung nach einem Mindestlohn. Die SPD fordert seit Jahren einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde. Damit wäre vielen schon geholfen. Wir finden die Forderung nach einem Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Klasse! Das wollen wir auch. Leider haben Sie sich bei unserem Antrag „Mit gesetzlichen Regelungen die Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben umgehend durchsetzen“ im letzten Jahr enthalten. Wir finden die Forderung nach Initiativen, Minijobber besser über ihre Rechte zu informieren. Das ist dringend notwendig: Ihre Rechtsansprüche müssen endlich durchgesetzt werden. Dafür brauchen wir bessere Information und wirksame Sanktionsmöglichkeiten. Und wir finden, das haben wir auch nicht anders erwartet, die Forderung nach einer Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro. Das würde bedeuten, es gäbe keine – gar keine – Möglichkeit mehr, Personen in geringem zeitlichem Umfang ohne Sozialversicherungspflicht zu beschäftigen. Auch nicht den Babysitter, den Zeitungsausträger und auch nicht die studentische Hilfskraft in den Semesterferien. Diese Tätigkeiten würden sich nicht mehr lohnen. Problematisch ist auch der radikale Schnitt, den Sie vorschlagen, für die anderen Minijobs. 7,5 Millionen Menschen würden von einem Tag auf den anderen vor dem Problem stehen, zunächst einmal noch weniger in den Tasche zu haben als ihre durchschnittlich 297 Euro. Damit würden sie immer noch keine Ansprüche erwerben, die in irgendeiner Form existenzsichernd wären: weder im Fall von Arbeitslosigkeit noch für die Rente. Die Krankenkassen würden vor einem großen Problem stehen. Wie soll man jemanden einigermaßen kostendeckend versichern, der nicht einmal 400 Euro verdient? Was wir brauchen sind reguläre, ordentlich entlohnte Beschäftigungsverhältnisse. Mit ihrem Vorschlag schießt die Linke zu schnell. Klar ist: Reformbedarf ist da, und wir brauchen bei den Minijobs so schnell wie möglich Verbesserungen. Wir müssen die wöchentliche Arbeitszeit bei den Minijobs wieder begrenzen. Für maximal 400 Euro im Monat soll niemand mehr als zwölf Stunden wöchentlich arbeiten müssen. Dringend müssen wir den gesetzlichen Mindestlohn einführen, um Lohndumping zu unterbinden. Niemand soll unfreiwillig Teilzeit arbeiten müssen: Wir brauchen mehr ganztägige Kinderbetreuung und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das betrifft Eltern und Pflegende. Wir müssen Anreize setzen – sowohl in Richtung Arbeitnehmer als auch in Richtung Arbeitgeber –, gute Arbeit wieder als Leitbild in unserer Arbeitswelt zu etablieren. Dafür müssen wir auch die geringfügige Beschäftigung reformieren – keine Frage! Aber bitte wohl überlegt. Nicht, dass die Menschen, die von einem Minijob versuchen zu leben, vom Regen in die Traufe kommen. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, ich frage mich, wie man eigentlich ein Gedankensystem nennt, das sämtliche Erscheinungen auf einen einzigen Grund reduziert. Ich glaube, dass nennt man ideologisch. Und ich frage mich, wie sie es immer wieder schaffen, in allen, aber wirklich in allen ihren arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Anträgen die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns zu fordern. Da könnte man fast denken, bei Ihnen würde die Vorstellung herrschen, die Abwesenheit eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns sei an allem schuld. Böse Zungen würden da leichtfertig den Ideologievorwurf erheben. Für mich hingegen stellt ihre diesbezügliche Beharrlichkeit in guter Kollegialität natürlich erst einmal nur ein Rätsel dar. Ich freue mich daher auf weitere Gespräche in der Sache. Deswegen bin ich aber auch nicht vom Hocker gefallen, als ich Ihren Antrag zu Minijobs las. Was auch immer man mit den Minijobs macht, es gibt eine Sache, die nicht fehlen darf. Richtig: der Mindestlohn. Klassisch Linkspartei sozusagen. Abgesehen davon ist Ihr Antrag aber auch noch in anderer Hinsicht ein Klassiker, vielleicht sogar ein ideologischer; denn zur Ideologie gehört ja schließlich auch, dass die Wirklichkeit nur wahlweise ins Blickfeld gerät. Beispielsweise brauchen sie keine zehn Zeilen, um zur Behauptung zu kommen, die Menschen hätten „zumeist unfreiwillig“ nur einen Minijob. „Zumeist“ heißt wohl mehrheitlich. Allerdings ist es noch kein halbes Jahr her, seit das Institut für Demoskopie Allensbach eine Umfrage gemacht hat, in der nach der Zufriedenheit mit Minijobs gefragt wurde. Und mehr als die Hälfte der Befragten hat mit Ja geantwortet; ja, sie seien damit zufrieden, „nur“ einen Minijob zu haben. Typischer Fall von falschem Bewusstsein? Unfreiwillig aber trotzdem zufrieden, seltsam. Oder es stimmt einfach nicht, dass Minijobber „zumeist unfreiwillig“ nur einen Minijob haben. Übrigens gab in der Umfrage knapp ein Viertel aller Minijobinhaber an, dass sie anstelle des Minijobs lieber einen sozialversicherungspflichtigen Teilzeit- oder Vollzeitjob hätten. Immerhin, und ich denke, den Wunsch dieser Menschen muss man ernst nehmen. Ob man ihnen aber dadurch einen Gefallen tut, dass man sie in Bundestagsanträgen fälschlicherweise zur Mehrheit der Minijobinhaber macht, da habe ich so meine Zweifel. Sie hätten auch Recht gehabt, wenn Sie hier nur auf die spezielle Situation von Frauen verwiesen hätten; denn wir wissen ja aus IAB-Untersuchungen, dass zwei Drittel aller Frauen, die nur einen Minijob haben, gerne mehr arbeiten würden. Ich zitiere da aus einem IAB-Kurzbericht von Frau Susanne Wanger. Ich glaube, Sie kennen den Kurzbericht auch; denn in Ihrem Antrag gibt es einen prima Zahlendreher. In der Antragsbegründung behaupten Sie, dass „der Anteil der geringfügigen Beschäftigung (Minijobs) an allen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen … von 2 Prozent im Jahr 1991 auf 47 Prozent im Jahr 2010 gestiegen“ sei. In Frau Wangers Kurzbericht liest man hingegen Folgendes: „Deshalb ist der Anteil der geringfügig Beschäftigten an allen Teilzeitbeschäftigten von 1991 bis 2010 nur um 2 Prozentpunkte auf 47 Prozent gestiegen.“ Haben wir jetzt eine Steigerung um 2 oder um 45 Prozentpunkte? Verzeihen Sie mir, aber ich glaube lieber dem IAB. Und dann hätten wir da natürlich noch ein Drittes, das bei einer ideologischen Betrachtung auf keinen Fall fehlen darf, nämlich das gute alte Non sequitur, also einen logischen Fehlschluss. „Nur ein Drittel der geringfügig Beschäftigten erlangen ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis“, schreiben Sie und folgern daraus, dass Minijobs „keine Brücke in reguläre Beschäftigung“ darstellen würden. Stimmt das? Nein, das stimmt nicht. Sie müssten schon Zahlen produzieren, aus denen hervorgehen würde, welcher Anteil derjenigen Minijobber, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anstreben, dabei scheitert und warum daran ausgerechnet die Minijobs schuld sein sollen. Aber trotz Ihrem Fehlschluss müssten Sie ja eigentlich zu der Auffassung gelangen, dass es sich sehr wohl um eine Brücke handelt, nur eine, die zu schmal ist. Das würde aber doch immer noch – zumindest in den Augen von erfahrenen Brückenbenutzern – einen entschiedenen Vorteil gegenüber der völligen Abwesenheit einer Brücke bedeuten, oder? Auch einen weiteren Ihrer Dauerbrenner, das ökonomietheoretische Nullsummenspiel, haben Sie natürlich wieder untergebracht. „Nicht zuletzt höhlen Minijobs die sozialen Sicherungssysteme aus, da die abgeführten Beiträge niedriger als bei einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sind“, schreiben Sie. Übersetzt: Nähmen wir mehr ein, hätten wir mehr Einnahmen. Es gibt halt die Wertschöpfung, und davon kann man sich über Sozialversicherungsbeiträge entweder viel oder wenig nehmen. Die Wertschöpfung als solche bleibt davon natürlich unberührt. Dass viele Minijobs überhaupt erst dadurch entstehen, dass sie nicht vollsozialversicherungspflichtig sind, das scheint ihre Vorstellungskraft zu übersteigen. Der Wirtschaftskuchen ist immer gleich groß, die Politik müsste sich nur einmal dazu durchringen, größere Stücke abzuschneiden. Wissen Sie was? Irgendwie stimmt mich ihre Überlegung skeptisch. Zum Schluss noch ein paar allgemeine Informationen zu Minijobs – allesamt direkt aus der Minijob-Zentrale der DRV Knappschaft-Bahn-See: Minijobs haben punktuell zugenommen, es gibt keinesfalls immer mehr Minijobs. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten bewegt sich im Dezember 2010 auf einem annähernd gleichen Niveau wie bereits im Dezember 2004. In diesen sechs Jahren hatten wir ein Wachstum an Minijobs um 107 000, von rund 6,94 Millionen auf rund 7,05 Millionen. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 26,38 Millionen im Dezember 2004 auf fast 28,05 Millionen im Dezember 2010, also um 6,3 Prozent, während die geringfügige Beschäftigung nur um 1,5 Prozent in diesem Zeitraum zunahm. Ihre berüchtigte Verdrängungsthese sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, also noch einmal näher betrachten. Rund 1,4 Millionen der insgesamt rund 1,8 Millionen Minijobarbeitgeber beschäftigen aktuell höchstens drei Minijobber. Und jetzt frage ich Sie: Glauben Sie eigentlich ernsthaft, dass diese rund 80 Prozent aller Arbeitgeber mal eben so die Ressourcen haben, auf die von Ihnen beabsichtigte Preiserhöhung zu reagieren? Also wirklich, mal ernsthaft, und auch nur unter uns. Glauben Sie wirklich, dass das gar keine Effekte auf Beschäftigungsniveau und Schwarzarbeit hätte? Ich freue mich also auf die Diskussion im Ausschuss und hoffe, dass Sie Ihre Position noch einmal verändern. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Niedriglöhne, unsichere Beschäftigung und Benachteiligungen im Arbeitsalltag – das ist die Realität von Millionen Minijobberinnen und Minijobber in diesem Land. Minijobs haben massiv reguläre Arbeitsplätze verdrängt oder sind statt dieser entstanden, vor allem im Bereich der Dienstleistungen etwa der Gastronomie, dem Einzelhandel oder der Reinigung. Betroffen sind vor allem Frauen, die mehrheitlich Minijobs besetzen. Sie werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, ihre Chancen beschnitten. Minijobs sind aber ein gesamtgesellschaftliches Problem; denn unser Arbeitsmarkt gerät in eine Schieflage. Arbeitgeber werden auf Kosten der Gemeinschaft subventioniert. Veränderungen sind mehr als überfällig. Unser Antrag soll dazu ein Anstoß sein. Ich hoffe, die späte Beratung heute ist keine Hiobsbotschaft für den künftigen Umgang mit dem Thema. Was ist eigentlich mit Minijob gemeint? Grob gesagt, handelt es sich um Arbeitsverhältnisse mit einem Monatsverdienst bis 400 Euro, für die – das ist wichtig – verringerte Sozialabgaben gezahlt werden. Dieser Sonderstatus, gepaart mit der geringen Wochenarbeitszeit, hat dazu geführt, dass hier Arbeitsverhältnisse zweiter Klasse entstanden sind, und zwar in einem atemberaubenden Tempo. In Deutschland gibt es derzeit etwa 7,5 Millionen „geringfügig Beschäftigte“, wie die Minijobs im Fachjargon genannt werden. Das sind 3,3 Millionen oder 80 Prozent mehr als zu Beginn des Jahres 2003. In diesem Jahr wurden durch die Hartz-Gesetze mehr oder weniger alle Auflagen für die Minijobs abgeschafft. Vor allem die Zahl der Beschäftigten, die einen Minijobs als Zweitjob ausüben, ist gestiegen. Oft reicht der eine Job nicht zum leben. Das ist ein Armutszeugnis für die Politik. Die zentralen Probleme der Minijobs sind belegt: Minijobs bedeuten Minilöhne. Laut Statistischem Bundesamt bekommen vier von fünf Minijobberinnen und Minijobbern Stundenlöhne unterhalb der Niedriglohn-schwelle von 9,85 Euro in der Stunde. Keine andere Beschäftigungsform ist so stark armutsgefährdet wie die geringfügige. Minijobberinnen und Minijobber werden im Arbeitsalltag benachteiligt. Sie erhalten häufig keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder keinen bezahlten Urlaub. Sie werden auch nur in geringem Umfang in Weiterbildungsmaßnahmen einbezogen. All dies ist eigentlich arbeitsrechtlich verboten, findet aber trotzdem statt. Weil Minijobs nicht der vollen Sozialversicherungspflicht unterliegen, sind sie nicht oder kaum sozial abgesichert. Das ist schlecht für den Beschäftigten und die Allgemeinheit. Die Beschäftigten erwerben keine nennenswerten Rentenansprüche, Altersarmut ist so vorprogrammiert. Der Allgemeinheit gehen Beitragszahlungen in Milliardenhöhe verloren. Ein derartiger Sonderstatus, das heißt, eine bestimmte Beschäftigungsform von der vollen Sozialversicherungspflicht zu befreien, ist abgesehen von Österreich einzigartig in Europa. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum das so bleiben sollte. Wer profitiert von dieser subventionierten Beschäftigungsform? Einzig und allein die Unternehmen, die verstärkt auf Minijobs setzen. Im Postsektor versuchen zum Beispiel private Konkurrenten der Deutschen Post, mit dem massiven Einsatz dieser Billigjobs einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. So wird in vielen Branchen ein Wettlauf nach unten in Gang gesetzt. Arbeitgeber verschaffen sich immense Kostenvorteile zulasten der Beschäftigten und der Allgemeinheit. Denn die gesenkten Sozialabgaben, die de facto Bestandteil des Lohnes sind, werden nicht an die Beschäftigten weitergegeben – im Gegenteil. Ein Beispiel ist dafür ist der Textildiscounter KIK. Die Einzelhandelskette beschäftigt Tausende Minijobber. Sie wurde 2009 wegen der Zahlung sittenwidriger Löhne verurteilt. Zwei KIK-Beschäftigte hatten geklagt. Das Unternehmen musste ihnen Löhne im Wert von 10 500 Euro und 8 900 Euro nachzahlen. Die Gewerkschaft Verdi hat errechnet, dass KIK durch den hohen Anteil geringfügig Beschäftigter jährlich zweistellige Millionenbeträge spart und den Sozialkassen dadurch Hundertausende Beitragsgelder vorenthalten werden. Arbeitgebersubventionen auf Kosten der Beschäftigten und Allgemeinheit, damit muss Schluss sein! Es ist nicht zu akzeptieren, was Union und FDP in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben. Sie wollen – ich zitiere – „die Arbeitsanreize auch für gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse verbessern“ und die angebliche „Brückenfunktion von Minijobs“ in „voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse“ stärken. Aber gibt es tatsächlich diese Brückenfunktion? Nach aktuellen Zahlen der Minijobzentrale erlangt lediglich ein Drittel der geringfügig Beschäftigten ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Die große Mehrheit bleibt in der prekären Beschäftigung gefangen. Minijobs sind keine Zwischenbeschäftigung. Sechs von zehn Minijobs dauern länger als ein Jahr, vier von zehn sogar länger als zwei Jahre. Die Linke streitet für einen Kurswechsel! Wir sagen: Es ist Zeit, die Fehlentwicklung bei den Minijobs zurückzudrängen, der mit den Hartz-Gesetzen die Tür geöffnet wurde. In dem vorliegenden Antrag machen wir konkrete Vorschläge, wie Minijobs in reguläre Beschäftigungsverhältnisse überführt, Niedriglöhne bekämpft, gleiche Bezahlung von Frauen und Männern erreicht und mehr gute Arbeit geschaffen werden kann. Zentral ist, Arbeit ab dem ersten Euro voll sozialversicherungspflichtig zu machen und endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Eine solche Initiative wird auf den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber stoßen insbesondere aus dem Minijobbranchen. Das sind die Erfahrungen der gescheiterten Reform von 1998/99. Nach dem grandiosen Wahlsieg der rot-grünen Koalition kündigte der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine an, eines der ersten Amtshandlungen der Regierung werde es sein, die Minijobs neu zu regeln. Er sagte: „Wenn wir eine solche Fehlentwicklung des Arbeitsmarktes weiterhin zuließen, wäre ein zentraler Programmpunkt unserer Partei beschädigt, nämlich für die Gleichberechtigung der Frauen in Beruf und Gesellschaft einzutreten.“ Aber die Lobbyisten der Minijobbranchen arbeiteten schon damals gut. Bundeskanzler Gerhard Schröder erteilte einer wirklichen Reform ein Absage und brach ein zentrales Wahlkampfversprechen der SPD. Einige Jahre später wurde mit den Hartz-„Reformen“ die Minijobbeschäftigung vollkommen freigegeben. Welche Schlussfolgerungen sind daraus für heute zu ziehen? Wir brauchen eine breite Allianz, um aufzuklären und gesellschaftlichen Druck zu entfalten. Nur so ist den Wirtschaftslobbyisten Paroli zu bieten. Minijobs in reguläre Beschäftigung umzuwandeln, das fordern inzwischen viele, nicht nur die Gewerkschaften. Der Deutsche Frauenrat, dessen Mitgliedsorganisationen ein sehr breites Spektrum umfassen, hat dazu im letzten Jahr einen einstimmigen Beschluss gefasst. Gleiches gilt für den Deutschen Juristentag, der fordert, die geringfügige in reguläre Beschäftigung zu überführen. Selbst die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands, CDA, hat im Sommer dieses Jahres einen Beschluss gefasst, die „Prekarisierung der Arbeitswelt“ einzudämmen, und beklagt, dass unter anderem durch Minijobs „die Beteiligungs-, Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der arbeitenden Menschen“ unterhöhlt werden. Diese verschiedenen Kräfte zusammen können ein breites Bündnis ergeben, um auf die bestehende schwarz-gelbe Regierung Druck auszuüben. Mut macht dabei die Bewegung bei unserem europäischen Nachbarn Slowenien. Dort haben sich im April 2011 in einer Volksabstimmung 80 Prozent der Beteiligten gegen eine Einführung von Minijobs ausgesprochen. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir auch in Deutschland vorwärtskommen. Es ist dringend notwendig. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Entwicklung bei den Minijobs ist ein Problem. Es kann nicht „gewollt“ oder „erwünscht“ sein – wie das Bundesarbeitsministerium es behauptet –, dass jeder fünfte Job ein Minijob ist, in vielen Teilen Westdeutschlands sogar jeder vierte. Fakt ist, dass seit der Neuregelung der Minijobs die Beschäftigung insgesamt um 4 Prozent, die Minijobs aber um satte 31 Prozent zugenommen haben. Auch sonst sprechen die Fakten eine deutliche Sprache: Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ist im Gast-gewerbe seit 2004 um etwas mehr als 30 000 auf 639 000 gewachsen. Im selben Zeitraum hat die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in der Branche um fast das Sechsfache auf knapp 835 000 zugenommen. Wer angesichts solcher Zahlen bestreitet, dass Minijobs reguläre Beschäftigung ersetzen, der will den Missstand nicht sehen und der will auch nicht sehen, dass inzwischen gesamte Branchen ein Geschäftsmodell auf Basis von Minijobs betreiben. Mit diesem Zuwachs und dieser Entwicklung verbunden sind zahlreiche Risiken und Nebenwirkungen, und darum wächst die Phalanx gegen die Minijobs. Ich zähle hier nur einige auf: Der Deutsche Frauenrat, der Sachverständigenrat, die Bertelsmann-Stiftung, der DGB, der Deutsche Juristentag, der Sachverständigenrat zur Erstellung des Ersten Gleichstellungsberichtes, das IAB, das IZA, das IAQ – von überall dort sind gewichtige Einwände gegen die Minijobs zu hören, verbunden mit der Forderung, hieran etwas zu ändern. Es ist doch absurd: Hier in Deutschland wird mit viel Geld ein Beschäftigungssegment unterstützt und privilegiert, das maßgeblich zur Ausweitung des Niedriglohnsektors beiträgt, das für Arbeitslose keine Brückenfunktion in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung besitzt, das keine existenzsichernden Einkommen und keine eigenständige soziale Sicherung bietet und das die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt verhindert. Eine Ballung so vieler Nachteile sucht ihresgleichen, und da könnte man doch meinen, dass auch die Arbeitsministerin den Handlungsdruck sieht. Aber nichts dergleichen. Da wird trotz der versammelten Expertise verharmlost und abgewiegelt. Das Höchste, zu dem sich Frau von der Leyen bisher hat hinreißen lassen, ist die Aussage, dass sie von dem Plan Abstand genommen hat, die Verdienstgrenzen für 400-Euro-Jobs zu erhöhen. Niemand außer vielleicht der FDP diskutiert noch über eine Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung. Aber immer mehr sehen die Notwendigkeit, umzusteuern: weg von den Minijobs und hin zu sozialversicherungspflichtiger und existenzsichernder Arbeit. Frau von der Leyen, würden Sie nur einen Bruchteil des Engagements, das Sie auf die Forderung nach einer festen Frauenquote in der Privatwirtschaft verwenden – ein Vorhaben das ich ausdrücklich unterstütze –, auf die Minijobs richten, dann könnten Sie erkennen, dass in Ihrem originären Zuständigkeitsbereich ein Thema brachliegt, das, richtig bearbeitet, vor allem für Frauen echte Verbesserungen bringen würde. Zwei Drittel aller Minijobs werden von Frauen ausgeübt. Sie sind für die meisten dieser Frauen eine Niedrig-lohnfalle. Durch sie wird der Zuverdienerinnenstatus in Partnerschaften zementiert, und sie tragen maßgeblich dazu bei, dass das Fachkräftepotenzial vieler Frauen ungenutzt bleibt. Das alles widerspricht zumindest unseren grünen Zielen in der Arbeitsmarkt-, aber auch in der Frauenpolitik. Wir sehen wie viele andere Handlungsbedarf bei den Minijobs. Wir sehen natürlich auch die Widerstände, die von denen kommen werden, die offensichtlich oder auch nur vermeintlich von der bisherigen Regelung profitieren. Das ist aber kein Grund, in einen Totstellreflex zu verfallen. Es ist unsere Aufgabe, Probleme und Lösungswege offensiv zu diskutieren und Alternativen zu ent-wickeln. Das wird nicht einfach, aber wir stehen dazu zur Verfügung. Ich bin gespannt auf die Ausschussberatung und rege an, dass wir für dieses Thema schon einmal eine Anhörung einplanen. 1Anlage 2 2Anlage 3 3Anlage 4 4Anlage 9 5Anlage 5 6Anlage 6 7Anlage 7 8Anlage 8 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 16152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16153 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 16118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 136. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 27. Oktober 2011 16119