Plenarprotokoll 17/146 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 146. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2011 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber Wahl des Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff als ordentliches Mitglied in den Verwaltungsrat des Deutsch-Französischen Jugendwerks Wahl der Abgeordneten Caren Marks als stellvertretendes Mitglied in den Verwaltungsrat des Deutsch-Französischen Jugendwerks Wahl des Abgeordneten Michael Groß als ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur Wahl des Abgeordneten Lars Lindemann als ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der "Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum" Wahl des Abgeordneten Patrick Döring als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat der "Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum" Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Nachträgliche Ausschussüberweisung Begrüßung des Präsidenten des Parlaments der Republik Kosovo, Herr Dr. Jakup Krasniqi Tagesordnungspunkt 3: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG) (Drucksachen 17/6906, 17/7274) - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (Drucksache 17/8005) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/8006) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte (Drucksachen 17/3215, 17/7190, 17/7460, 17/8005) Heinz Lanfermann (FDP) Elke Ferner (SPD) Wolfgang Zöller (CDU/CSU) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Daniel Bahr, Bundesminister BMG Dr. Karl Lauterbach (SPD) Dr. Erwin Lotter (FDP) Jens Spahn (CDU/CSU) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Maria Michalk (CDU/CSU) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Lothar Riebsamen (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen (Drucksache 17/7942) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des Ausweises (Drucksache 17/6586) c) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Behindern ist heilbar - Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft (Drucksache 17/7872) d) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Teilhabesicherungsgesetz vorlegen (Drucksache 17/7889) e) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neuntes Buch Sozialgesetzbuch im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit Behinderung weiterentwickeln (Drucksache 17/7951) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB unterstützen (Drucksache 17/7827) Elke Ferner (SPD) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMAS Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Gabriele Molitor (FDP) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Maria Michalk (CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Heinz Golombeck (FDP) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) Marlene Mortler (CDU/CSU) Anette Kramme (SPD) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Otto Fricke (FDP) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 39: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die geodätischen Referenzsysteme, -netze und geotopographischen Referenzdaten des Bundes (Bundesgeoreferenzdatengesetz - BGeoRG) (Drucksache 17/7375) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches (Drucksache 17/7744) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Mai 2011 zur Änderung des Abkommens vom 3. Mai 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/7917) d) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Herbert Behrens, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Ergebnisse öffentlicher Forschung für alle zugänglich machen - Open Access in der Wissenschaft unterstützen (Drucksache 17/7864) e) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt (Drucksache 17/7937) f) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung eines offenen Umgangs mit Homosexualität im Sport (Drucksache 17/7955) g) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus Teersanden bei der Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigen (Drucksache 17/7956) Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, Stephan Kühn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bedarfsfestlegung des Baus oder Ausbaus von Bundesfernstraßen (Drucksache 17/7885) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung einer aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsregelung (Drucksache 17/7933) c) Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klassische Schweinepest zeitgemäß bekämpfen - Impfen statt Töten (Drucksache 17/7958) d) Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abitur sichern (Drucksache 17/7957) Tagesordnungspunkt 40: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/7632) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (Drucksache 17/7984) c) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses: zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/11 (Drucksache 17/7986) d) - k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 346, 347, 348, 349, 350, 351, 352 und 353 zu Petitionen (Drucksachen 17/7876, 17/7877, 17/7878, 17/7879, 17/7880, 17/7881, 17/7882, 17/7883) Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz und zur Änderung der Richtlinie 2004/ 35/EG (KOM [2006] 232 endg.; Ratsdok. 1388/06) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Bodenschutz europaweit stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EU-Bodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen (Drucksachen 17/7024, 17/3855, 17/7503) Tagesordnungspunkt 17: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klimakonferenz Durban: 10 Punkte für ein besseres Klima (Drucksache 17/7828) b) Antrag der Abgeordneten Andreas Jung (Konstanz), Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Die UN-Klimakonferenz in Durban - Vertrauen schaffen, konkrete Ergebnisse erzielen (Drucksache 17/7936) c) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Klimakonferenz in Durban zum Erfolg führen - Kyoto-Protokoll verlängern, Klimaschutz finanzieren und Cancún-Beschlüsse umsetzen (Drucksache 17/7938) d) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nur konsequenter Klimaschutz führt aus der Sackgasse der UN-Klimaverhandlungen (Drucksache 17/7939) Tagesordnungspunkt 5: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der "Bundesstiftung Magnus Hirschfeld" (Drucksache 17/7935) Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weltklimakonferenz in Durban - Klimapolitik am Scheideweg Frank Schwabe (SPD) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Kauch (FDP) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) Dirk Becker (SPD) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Josef Göppel (CDU/CSU) Dr. Matthias Miersch (SPD) Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU Ulrich Kelber (SPD) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: - Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Drucksachen 17/7743, 17/7995) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/8002) Joachim Spatz (FDP) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) Robert Hochbaum (CDU/CSU) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Tagesordnungspunkt 7: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990 (Drucksachen 17/5303, 17/7161) Petra Pau (DIE LINKE) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI Gabriele Fograscher (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Helmut Brandt (CDU/CSU) Sönke Rix (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Tagesordnungspunkt 8: - Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/ 437/GASP des Rates der Europäischen Union vom 30. Juli 2010 und dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der Europäischen Union vom 7. Dezember 2010 (Drucksachen 17/7742, 17/7996) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/8004) Joachim Spatz (FDP) Karin Evers-Meyer (SPD) Florian Hahn (CDU/CSU) Jan van Aken (DIE LINKE) Torsten Staffeldt (FDP) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Private Sicherheitsfirmen umfassend regulieren und zertifizieren (Drucksache 17/7640) b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Regulierung privater Militär- und Sicherheitsfirmen (Drucksachen 17/4573, 17/6780) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren (Drucksachen 17/4198, 17/7998) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der "Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern" der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Drucksachen 17/4663, 17/5799) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Dr. Rolf Mützenich (SPD) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) Robert Hochbaum (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: - Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation "ALTHEA" zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolutionen (Drucksachen 17/7577, 17/7997) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/7999) Dr. Rainer Stinner (FDP) Michael Groschek (SPD) Philipp Mißfelder (CDU/CSU) Annette Groth (DIE LINKE) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Peter Beyer (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele Fograscher, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Rechtsextremismus vorbeugen - Unsere Demokratie braucht gute politische Bildung und eine starke Bundeszentrale für politische Bildung (Drucksache 17/7943) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI Agnes Alpers (DIE LINKE) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Agnes Alpers (DIE LINKE) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Frieser (CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks (SPD) Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 45 a Absatz 2 des Grundgesetzes (Drucksache 17/7400) Michael Brand (CDU/CSU) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Michael Brand (CDU/CSU) Rainer Arnold (SPD) Joachim Spatz (FDP) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) Heike Hänsel (DIE LINKE) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) Florian Hahn (CDU/CSU) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Florian Hahn (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Doris Barnett, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die OSZE ausbauen und stärken (Drucksache 17/7824) Uta Zapf (SPD) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen (Drucksache 17/6644) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen (Drucksache 17/776) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen in Kommunikationsnetzen (Drucksache 17/646) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze (Drucksache 17/772) - Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (Drucksache 17/8001) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden (Drucksachen 17/4427, 17/8001) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ Lars Klingbeil (SPD) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Jörn Wunderlich (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Richard Pitterle, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Deutsch-französische Initiative zur Bekämpfung der Euro-Krise und zur Regulierung der Finanzmärkte starten (Drucksache 17/7884) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Manfred Zöllmer (SPD) Dr. Volker Wissing (FDP) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Volker Wissing (FDP) Tagesordnungspunkt 19: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Drucksache 17/6643) - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (Drucksache 17/7994) Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Moratorium jetzt - Dringliche Klärung von Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts (Drucksachen 17/6321, 17/7934) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Montenegro zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Drucksachen 17/7768, 17/7809, 17/7769, 17/8012) Tagesordnungspunkt 16: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention (Drucksache 17/6804) - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (Drucksachen 17/7950, 17/8043) Peter Aumer (CDU/CSU) Ingo Egloff (SPD) Björn Sänger (FDP) Richard Pitterle (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine Normalisierung der Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba (Drucksachen 17/3188, 17/4273) b) Antrag der Abgeordneten Ulrich Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freilassung der "Miami Five" (Drucksache 17/7416) Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Klaus Barthel (SPD) Marina Schuster (FDP) Heike Hänsel (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung der Sonderzahlung (Drucksache 17/7631) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (Drucksache 17/8007) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/8011) Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Stephan Kühn, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Elberaum entwickeln - Nachhaltig, zukunftsfähig und naturverträglich (Drucksachen 17/4554, 17/7681) Ulrich Petzold (CDU/CSU) Dr. Matthias Miersch (SPD) Horst Meierhofer (FDP) Sabine Stüber (DIE LINKE) Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusatztagesordnungspunkt 5: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 17/6764) - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (Drucksache 17/7991) - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/8003) Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bahnpreiserhöhung stoppen (Drucksache 17/7940) Ulrich Lange (CDU/CSU) Thomas Jarzombek (CDU/CSU) Martin Burkert (SPD) Patrick Döring (FDP) Sabine Leidig (DIE LINKE) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (KOM [2011] 635 endg.; Ratsdok. 15429/11) hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2 zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit) (Drucksachen 17/7713 Nr. A.5, 17/8000) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Marco Buschmann (FDP) Raju Sharma (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Dr. Petra Sitte, Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen (Drucksache 17/7372) Anette Hübinger (CDU/CSU) Eberhard Gienger (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Niema Movassat (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014-2020 - Ein strategischer Rahmen für nachhaltige und verantwortungsvolle Haushaltspolitik mit europäischem Mehrwert - zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Für einen progressiven europäischen Haushalt - Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014-2020 (Drucksachen 17/7767, 17/7808, 17/8013) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein starker Haushalt für ein ökologisches und solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 (Drucksache 17/7952) Bettina Kudla (CDU/CSU) Alois Karl (CDU/CSU) Peer Steinbrück (SPD) Michael Link (Heilbronn) (FDP) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 29: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes und des Seeaufgabengesetzes (Drucksache 17/6332) - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Drucksache 17/7992) Gitta Connemann (CDU/CSU) Holger Ortel (SPD) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 31: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" (Hilfetelefongesetz - HilfetelefonG) (Drucksache 17/7238) - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Drucksache 17/8008) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Sibylle Laurischk (FDP) Cornelia Möhring (DIE LINKE) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Altmaier, Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein, Burkhardt Müller-Sönksen, Gabriele Molitor, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte (Drucksache 17/7709) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) Dorothee Bär (CDU/CSU) Angelika Krüger-Leißner (SPD) Dr. Claudia Winterstein (FDP) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Berichtigung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Mündliche Frage 98 Harald Weinberg (DIE LINKE) Wiederherstellung der Fusionskontrolle der Krankenkassen Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMWT Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Norbert Schindler (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention (Tagesordnungspunkt 16) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Die OSZE ausbauen und stärken (Tagesordnungspunkt 13) Manfred Grund (CDU/CSU) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: - Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Montenegro zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 14) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) Peter Beyer (CDU/CSU) Josip Juratovic (SPD) Oliver Luksic (FDP) Thomas Nord (DIE LINKE) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Tagesordnungspunkt 19) Reinhard Grindel (CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung der Sonderzahlung (Tagesordnungspunkt 21) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Petra Pau (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Zusatztagesordnungspunkt 5) Max Straubinger (CDU/CSU) Ottmar Schreiner (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 146. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2011 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. (Zurufe von der SPD: Guten Morgen, Herr Präsident!) - Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass Sie heute offenkundig besonders gut gelaunt zur 146. Sitzung des Deutschen Bundestages erschienen sind, zu der ich Sie alle herzlich begrüße. Um gleich mit einem Höhepunkt unserer heutigen Befassung anzufangen: Der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber feiert heute seinen 76. Geburtstag. (Beifall) Herzliche Gratulation! Alle guten Wünsche des ganzen Hauses begleiten ihn in das neue Lebensjahr. Meine Damen und Herren, wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Reihe von Wahlen durchführen. Für die neue Amtsperiode des Verwaltungsrats des Deutsch-Französischen Jugendwerks schlägt die Fraktion der CDU/CSU als ordentliches Mitglied den Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff und die SPD-Fraktion als stellvertretendes Mitglied die Kollegin Caren Marks vor. Können Sie diesem Vorschlag zustimmen? - Das ist so. Dann sind die Kollegen in den Verwaltungsrat des Jugendwerks gewählt. Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege Michael Groß für den Kollegen Sören Bartol neues ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der Bundesstiftung Baukultur werden soll. Können Sie auch diesem Vorschlag etwas abgewinnen? - Das ist so. Dann ist der Kollege Groß in den Stiftungsrat gewählt. Schließlich hat die FDP-Fraktion mitgeteilt, dass der Kollege Lars Lindemann für den Kollegen Patrick Döring neues ordentliches Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Berliner Schloss - Humboldtforum und der Kollege Döring für den Kollegen Lindemann neues stellvertretendes Mitglied werden soll. Darf ich auch für diese gewaltige Rochade Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist im Ergebnis offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen in ihren neuen Funktionen in den Stiftungsrat gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 23 und 40 b abzusetzen, die Tagesordnungspunkte 4 und 20 zusammen zu beraten, den Tagesordnungspunkt 17 zusammen mit Tagesordnungspunkt 40 und Zusatzpunkt 3 aufzurufen und die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Standort Deutschland sichern - Stuttgart 21 zügig umsetzen und geplante Mehrbelastung für den Mittelstand durch grüne Steuerpolitik verhindern (siehe 145. Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 39 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, Stephan Kühn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bedarfsfestlegung des Baus oder Ausbaus von Bundesfernstraßen - Drucksache 17/7885 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung einer aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsregelung - Drucksache 17/7933 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klassische Schweinepest zeitgemäß bekämpfen - Impfen statt Töten - Drucksache 17/7958 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abitur sichern - Drucksache 17/7957 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache Ergänzung zu TOP 40 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz und zur Änderung der Richtlinie 2004/35/ EG (KOM (2006) 232 endg.; Ratsdok 1388/ 06) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Bodenschutz europaweit stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EU-Bodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen - Drucksachen 17/7024, 17/3855, 17/7503 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Ute Vogt Judith Skudelny Eva Bulling-Schröter Dorothea Steiner ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weltklimakonferenz in Durban - Klimapolitik am Scheideweg ZP 5 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 17/6764 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) - Drucksache 17/7991 - Berichterstattung: Abgeordneter Markus Kurth - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/8003 - Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz (Herborn) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein starker Haushalt für ein ökologisches und solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 - Drucksache 17/7952 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 7 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 9. Dezember 2011 in Brüssel ZP 8 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Auswirkungen der deutlich gestiegenen deutschen Rüstungsexporte auf die internationalen Beziehungen Wie üblich soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Zusammenhang mit der Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 10. November 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) und zur Änderung weiterer Gesetze - Drucksache 17/7576 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat der Präsident des Parlaments der Republik Kosovo, Herr Dr. Jakup Krasniqi, mit seiner Delegation Platz genommen, den ich herzlich begrüße. (Beifall) Ich bin zuversichtlich, dass die ebenso freundschaftlichen wie offenen Gespräche, die Sie in diesen Tagen in Berlin mit vielen Mitgliedern des Deutschen Bundestages und anderen Repräsentanten unseres Landes führen, einen Beitrag leisten zur weiteren Entwicklung Ihres Landes für demokratische Strukturen und zur Festigung rechtsstaatlicher Entwicklungen. Alle guten Wünsche! Ich rufe nun die Tagesordnungspunkt 3 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG) - Drucksachen 17/6906, 17/7274 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) - Drucksache 17/8005 - Berichterstattung: Abgeordnete Jens Spahn Dr. Marlies Volkmer Heinz Lanfermann Dr. Martina Bunge Dr. Harald Terpe - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/8006 - Berichterstattung: Abgeordnete Alois Karl Ewald Schurer Otto Fricke Michael Leutert Katja Dörner b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Kathrin Vogler, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte - Drucksachen 17/3215, 17/7190, 17/7460, 17/8005 - Berichterstattung: Abgeordnete Jens Spahn Dr. Marlies Volkmer Heinz Lanfermann Dr. Martina Bunge Dr. Harald Terpe Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Niemand wehrt sich. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heinz Lanfermann (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein wichtiger Tag für das deutsche Gesundheitswesen, für alle Patienten, Versicherten, die darauf warten, dass die Politik aktiv wird, um gegen die Entwicklungen vorzugehen, die es vor allem aufgrund des demografischen Wandels, aber auch aufgrund vieler - ja, man muss es so nennen - Fehlsteuerungen, Verkrustungen und Bürokratisierungen in den letzten Jahren in unserem Gesundheitssystem gegeben hat. Unser Gesundheitssystem ist nach wie vor gut; es könnte aber noch besser sein. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr richtig!) In wichtigen Punkten nehmen wir nun einen behutsamen, aber ebenso konsequenten Umbau vor. Wir haben das in den ersten zwei erfolgreichen Jahren der christlich-liberalen Gesundheitspolitik schon bewiesen. Wir hatten ein Defizit in Höhe von 11 Milliarden Euro geerbt; dies haben wir in ein Plus verwandelt. (Elke Ferner [SPD]: Das war kein Defizit!) - Lesen Sie die Zeitung, und quaken Sie nicht immer dazwischen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der SPD - Beifall des Abg. Rainer Brüderle [FDP]) Wir haben mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz faire Bedingungen geschaffen und das Preisdiktat abgeschafft. Jahrzehntelang wurden in Deutschland Preise verlangt, ohne dass über diese verhandelt wurde. Damit haben wir Schluss gemacht und nicht etwa Vorgängerregierungen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben neue Hygienestandards gesetzt. Krankenhauskeime haben es jetzt wesentlich schwerer in Deutschland. Wir haben die Selbstverwaltung gestärkt, und wir haben in den Bereichen des Gesundheitswesens, in denen es sinnvoll und richtig ist, mehr Wettbewerb eingeführt, und zwar zum Vorteil der Patienten. Wir bringen jetzt mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz eine ganze Reihe von Regelungen auf den Weg, die sich als sehr segensreich erweisen werden. Wir tun etwas gegen den drohenden Ärztemangel insbesondere im ländlichen Raum, und zwar über Anreize und nicht mit Zwang, nicht mit Planwirtschaft und nicht mit Bürokratie, wie es die Vorschläge der Opposition vorsehen. (Zuruf von der LINKEN) Wir wollen junge Ärzte gewinnen. Sie sollen nicht ins Ausland gehen, sondern hier studieren und dann hier vor Ort für die Bevölkerung da sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn?) Wir ermöglichen eine zielgenauere Bedarfsplanung, flexiblere Ansätze und eine stärkere Selbstverwaltung. Wir heben die Residenzpflicht auf - und zwar, ohne dass die Notfallversorgung gefährdet wird -, damit Ärzte hinsichtlich ihrer Arbeit und ihrer Familie flexibler sein können. Familie ist ein gutes Stichwort: Wir verbessern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in ganz entscheidenden Punkten. Wir fördern den Ausbau moderner und innovativer Versorgungskonzepte. Wir wollen - dazu stehen wir - Leistungen von Ärzten, die in strukturschwachen Gebieten tätig sind, grundsätzlich von der Abstaffelung bei der Vergütung ausnehmen. Es gibt eine ganze Reihe von guten Punkten in diesem Gesetz - man kann sie gar nicht alle aufzählen -: Wir tun zum Beispiel etwas für Patienten mit Grauem Star, die bisher, wenn sie sich einer entsprechenden Operation unterziehen mussten, damit konfrontiert waren, dass sie, wenn sie eine bessere, für sie verträglichere Linse haben wollten, nichts mehr von der Krankenkasse ersetzt bekommen haben, sondern die Kosten komplett selber tragen mussten. Das haben wir jetzt geändert. Die betroffenen Patienten zahlen jetzt das, was es mehr kostet - daher der Name "Mehrkostenregelung" -, aber das, was die Kasse ohnehin zahlen müsste, zahlt weiterhin die Kasse. Es hat viele Jahre gedauert, um dieses liberale Ansinnen durchzusetzen. (Beifall bei der FDP - Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Mehr Zuzahlungen!) Wir tun etwas gegen die Bürokratie, indem wir die ambulanten Kodierrichtlinien, die allen Ärzten drohten, gestoppt haben. Wir haben dafür gesorgt, dass in überversorgten Gebieten in Zukunft Arztsitze durch die Kassenärztliche Vereinigung aufgekauft, sozusagen vom Markt genommen werden können. Im Bereich der Richtgrößen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen erfolgen mehr Flexibilisierungen. Wir schaffen mit der spezialfachärztlichen Versorgung ein neues Element zur besseren Zusammenarbeit zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. Dazu gehört natürlich auch eine Verbesserung des Entlassungsmanagements. Ich habe nur fünf Minuten Redezeit; sonst würde ich Ihnen noch viel mehr Wohltaten vortragen. (Beifall der Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] und Rainer Brüderle [FDP] - Zurufe von der SPD: Oh!) Schauen Sie in den Entschließungsantrag der Koalition. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, schauen Sie nicht so verbissen, wenn so viel Gutes auf Sie zukommt. (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) Man sah es auch gestern im Ausschuss, dass verkniffene Lippen es nicht schaffen, dieses Gesetz zu loben. Sie sollten es aber tun. Es lohnt sich wirklich. Schließen Sie sich uns an - das soll mein letzter Gedanke sein - in dem Appell an die Länder, dass sie - das ist ihr Zuständigkeitsbereich, in den wir uns nicht einmischen wollen, abgesehen davon, dass wir ab und zu Geld gegeben haben - mehr Studienplätze schaffen. Jede Behebung des Ärztemangels fängt mit mehr Studienplätzen an. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Länder sollten zur Verbesserung der Ausbildung das tun, was sie tun können. Sie müssen auch da mitarbeiten. Es sind noch mehr Menschen, die gefragt sind, auch auf der kommunalen Ebene, wo viele sehr bemüht sind. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Heinz Lanfermann (FDP): Auch die Ärzteschaft und die Krankenkassen sind natürlich aufgerufen: Arbeiten Sie mit uns gemeinsam an der Verbesserung der Situation, zugunsten der Patienten, der Bürger in Deutschland. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Elke Ferner guckt so fröhlich, wie der Kollege Lanfermann das ausdrücklich eingefordert hat, (Heiterkeit) und bekommt jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Elke Ferner (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wissen Sie, Herr Lanfermann, gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Zu diesem Gesetz muss man sagen: Es mag zwar gut gemeint gewesen sein, aber es ist einfach schlecht gemacht, und gute Absichten ersetzen eben keine gute Politik. (Beifall bei der SPD) Es gibt in unserem Gesundheitswesen gute und sehr gute Elemente. Vor allen Dingen verdanken wir das den hochmotivierten Frauen und Männern in den Praxen, in den Krankenhäusern, in den Heimen, bei den Pflegediensten. Das verdient, denke ich, unseren Respekt. Aber es gibt trotzdem Probleme, die auf dem Tisch liegen. Wir haben Unterversorgungen in den Flächenländern, in den ländlichen Regionen, aber auch in städtischen Bereichen wie beispielsweise hier in Berlin in Neukölln, und wir haben Überversorgungen in Freiburg, in München und beispielsweise auch in Berlin-Zehlendorf. Das wissen mittlerweile alle. Deshalb brauchen wir funktionierende Lösungen. Das Gesetz gibt darauf keine Antworten. Der Kollege Spahn hatte ja zum Ende letzten Jahres die Weihnachtspause genutzt, um alle möglichen Heilsversprechungen zu verkünden, wovon nicht wirklich etwas umgesetzt worden ist. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Alles!) Schauen wir uns einmal an, wie Sie die Unterversorgung bekämpfen wollen. Es ist zwar richtig, dass Sie ein größeres Honorarvolumen für Ärzte in unterversorgten Bereichen zur Verfügung stellen, aber Sie tun überhaupt nichts, um die Überversorgung abzubauen. Das eine kann aber nur mit dem anderen zusammen funktionieren, liebe Kollegen und Kolleginnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie haben das Thema der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf für junge Ärztinnen, aber auch für junge Ärzte angesprochen. Ich kann nicht verstehen, warum Sie die Bedingungen ausgerechnet für die Organisationsformen, in denen viele jüngere Ärzte und Ärztinnen lieber arbeiten möchten als in den bisherigen niedergelassenen Praxen, verschlechtern. Sie nehmen hier im Prinzip Einschränkungen vor. Sie monopolisieren die MVZ. Zusätzlich schaffen Sie das Problem, dass diejenigen, die schon ein MVZ gegründet haben, zumindest dann, wenn es um Erweiterungen geht, unter das neue Regime fallen und sich damit nicht weiter verbessern können. Das alles, was Sie da vorgelegt haben, ist nicht wirklich ausgegoren. Vor allen Dingen führt dies - um es noch einmal am Beispiel der MVZ deutlich zu machen - zu dem Ergebnis: Das, was jetzt im Gesetz steht, ist im Prinzip das glatte Gegenteil von dem, was Sie zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens wollten. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielleicht sollten Sie es mal lesen!) - Im Gegensatz zu Ihnen habe ich es gelesen, Frau Kollegin. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Merkt man aber nicht!) Das ist typisch das, was Schwarz-Gelb die ganze Zeit macht: Sie versprechen etwas. Sie versuchen nicht, den Menschen die Augen zu öffnen, sondern Sie versuchen, ihnen Sand in die Augen zu streuen. Im Ergebnis kommt dann etwas ganz anderes heraus als das, was Sie versprechen. Sie werden damit keinen Erfolg haben. Wir werden nach 2013, nach der Bundestagswahl, ein Versorgungsgesetz vorlegen, das diesen Namen auch wirklich verdient und das die Probleme, die wir haben, auch wirklich angeht. (Beifall bei der SPD) Sie machen auch nichts, um die strukturellen Probleme unseres Gesundheitswesens zu beseitigen. Es gibt beispielsweise Fehlanreize bei der Finanzierung der Krankenhäuser. Wir haben in der Großen Koalition schon einmal den Versuch unternommen, hier etwas zu verändern - das ist am Widerstand der Länder gescheitert -, aber Sie haben noch nicht einmal einen Versuch unternommen. Sie tun keinen einzigen Schritt, um die überholte Trennung von GKV und PKV aufzuheben. Auch das ist eines der Probleme, das wir in unserem Gesundheitswesen haben. Warum müssen denn so viele gesetzlich versicherte Patienten und Patientinnen auf Termine beim Facharzt oder bei der Fachärztin warten? Das liegt nicht daran, dass es zu wenige Fachärzte gibt - in den überversorgten Gebieten kann man besichtigen, dass es genügend gibt -, sondern schlicht und ergreifend daran, dass für PKV-Versicherte bei gleicher Leistung deutlich höhere Honorare als für gesetzlich Versicherte gezahlt werden. Daran müssten Sie eigentlich arbeiten, anstatt dieses Reförmchen zu machen, das Sie heute auf den Weg bringen wollen. (Beifall bei der SPD) Darüber hinaus kostet das Ganze auch ein bisschen Geld. Auch da gehen die Meinungen auseinander: Der Finanzminister hat schon deutlich gemacht, dass er die Schätzungen des Gesundheitsministers nicht teilt. Er hat gesagt: Wenn das so ist, dann schieben wir das Ganze auf den Sozialausgleich. Indem wir weniger für den Sozialausgleich tun, finanzieren wir die Mehrkosten, die durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz möglicherweise entstehen. - Das ist schon ein bisschen verrückt. Vor allen Dingen: Die gesetzlichen Krankenversicherungen sagen voraus, dass die entstehenden Mehrkosten durchaus im Milliardenbereich liegen könnten. Wir werden sehen, was dann passiert. Herr Lanfermann, noch einmal: Sie mögen das noch so oft wiederholen; Lügen werden durch Wiederholungen nicht wahrer. (Rainer Brüderle [FDP]: Was? Lügen? - Heinz Lanfermann [FDP]: Na, na, na!) Sie haben einen Überschuss übernommen, als Sie an die Regierung gekommen sind. (Lachen bei der FDP) Im darauffolgenden Jahr sind Sie auf ein Defizit zugesteuert und haben erst einmal ein Dreivierteljahr die Hände in den Schoß gelegt und nichts unternommen, um dem Defizit, das vorauszusehen war, zu begegnen. (Beifall bei der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Ach was! Das war jetzt gerade eine Lebenslüge!) Durch die Ausweitung der kollektivvertraglichen Regelungen und die Einengung der einzelvertraglichen bzw. selektivvertraglichen Regelungen beschränken Sie die Möglichkeiten der Hausärzte. Sie schwächen also - vielleicht wollen Sie das ja - wieder einmal die Hausärzte. Beispielsweise haben Sie keine Regelung getroffen, um die hausarztzentrierte Versorgung zu stärken. Die Entwicklung geht vielmehr in die Gegenrichtung. Ein bisschen merkwürdig ist, dass ausgerechnet diejenigen, die mit ihren Planungen bisher nicht dafür sorgen konnten, dass Überversorgung abgebaut und Unterversorgung vermieden wird, durch dieses Gesetz jetzt auch noch gestärkt werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Das Gesetz, das Sie hier und heute mit Ihrer Mehrheit auf den Weg bringen, wird nicht zu dem führen, was Sie angekündigt haben. Es wird nicht zu einer besseren Versorgung auf dem Land führen. Es wird nicht zu einem nennenswerten Abbau der Überversorgung führen. Es wird vielleicht dazu führen, dass sich ein paar mehr Ärzte und Ärztinnen in unterversorgten Gebieten niederlassen werden. Aber mehr Versorgungsangebote im ländlichen Raum werden nicht entstehen, auch nicht dort, wo MVZ wirklich Sinn machen würden. Insofern werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen und nach der Regierungsübernahme 2013 (Zurufe von der FDP: Oh! Oh!) ganz schnell alle erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten, um die Situation zu verbessern. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Traumtänzerin!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wolfgang Zöller ist der nächste Redner für die Fraktion CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Ferner, Ihre Äußerungen zu unserem Gesetzentwurf waren nicht fern, sie waren ferner. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Oh! Er kann auch Wortspiele!) Im Gesetzentwurf steht nämlich etwas anderes als das, was Sie hier verkündet haben. (Jörg van Essen [FDP]: Ja! Aber wenn man nicht im Ausschuss ist, kann man das schlecht wissen!) Ich war in den letzten Jahren auf zig Veranstaltungen zu Themen wie "Ein Land ohne Ärzte", "Zu lange Wartezeiten" oder "Was passiert nach der Entlassung aus dem Krankenhaus?". Ich muss sagen: Die meisten Briefe, die mich zurzeit erreichen, sind ebenfalls einer dieser Kategorien zuzuordnen. Wie ist es dazu gekommen? Sie alle wissen: Die Zahl chronischer Erkrankungen und die Multimorbidität nehmen zu; dies führt zu einem steigenden Bedarf an medizinischen Leistungen. Gleichzeitig sinkt das Nachwuchspotenzial in medizinischen und pflegerischen Berufen. Was waren bisher die Antworten der Politik? Wenn wir ehrlich sind, ging es nie um die Qualität unseres Gesundheitswesens, sondern bei allen Reformen ging es meistens um das Ziel, die Stabilisierung des Beitragssatzes zu gewährleisten - mit den Nebenwirkungen: Einschränkungen der Leistungen und Erhöhung der Zuzahlungen. Fest im Blick waren dabei immer die vorhandenen Strukturen und die Frage, wie man sie erhalten und finanzieren kann. Theoretisch hieß es immer, die Reform stelle den Patienten in den Mittelpunkt. Nach der Reform hatte man aber den Eindruck, dass der Patient allen im Wege stand. Die bürgerlich-liberale Koalition hat mit der Gesundheitsreform 2011 das Gesundheitssystem dauerhaft auf ein solides finanzielles Fundament gestellt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und damit auch Planungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen. Nur auf dieser Basis sind wir in die Lage versetzt worden, einen Gesetzentwurf zu verabschieden, der die Bedürfnisse der Patienten in den Mittelpunkt stellt. Ab Januar werden endlich die Strukturen an die Bedürfnisse der Menschen angepasst und nicht umgekehrt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Oh, ab Januar gibt es keine Unterversorgung mehr!) Mit dem Versorgungsstrukturgesetz sind wir auf dem richtigen Weg, eine flächendeckende, wohnortnahe medizinische Versorgung sicherzustellen. Auch hierüber sollten wir offen diskutieren: Es wird keinen Königsweg geben können. Mit den vielen Einzelmaßnahmen werden wir den regionalen Besonderheiten aber am ehesten gerecht. Ein ganz wesentlicher Punkt wird hier zum Beispiel die flexible Ausgestaltung der Bedarfsplanung sein. Planungsbereiche müssen künftig nicht mehr, wie bisher, den Stadt- und Landkreisen entsprechen. Wer wie ich aus einem Flächenlandkreis kommt, weiß, dass aufgrund der Landkreisgrenzen oft Regionen entstehen können, in denen man zum Beispiel den nächsten Augenarzt 40 Kilometer und mehr entfernt findet. Dies werden wir ändern. Von den Versicherten wird auch immer wieder beklagt, dass es insbesondere beim Übergang von der haus- zur fachärztlichen Versorgung zu längeren Wartezeiten kommt. Mit den Maßnahmen in diesem Gesetz werden sich die Wartezeiten besonders auch bei der fachärztlichen Versorgung verkürzen, und die Versorgungsrealität der Patienten wird nachhaltig verbessert. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn?) Der sogenannte Landarzt kann, wenn die neuen vielfältigen Möglichkeiten genutzt werden, wieder zu einem Beruf werden, der mehr Freude macht. Auch der Tatsache, dass immer mehr Frauen den Arztberuf ergreifen, wird durch frauen- und familienfreundlichere Regelungen Rechnung getragen. Insbesondere wird die Anerkennung von Praxisbesonderheiten vereinheitlicht und erleichtert. Vertragsärzte sollen die medizinisch notwendigen Leistungen verordnen können, ohne befürchten zu müssen, hierfür in Regress genommen zu werden. Die Sicherstellung des Notdienstes wird erleichtert, zum Beispiel durch Kooperationen mit Krankenhäusern oder durch Notfallpraxen an den Krankenhäusern. Mobile Versorgungskonzepte werden gefördert. Mit der Lockerung der Zweigpraxenregelung und der Aufhebung der bislang geltenden Residenzpflicht haben Ärzte zudem die Möglichkeit, eine Praxis im ländlichen Raum auch von einem Wohnort in der Stadt aus zu betreiben oder zum Beispiel mehr als eine Praxis zu unterhalten, um den Wegeaufwand für alle Beteiligten zu reduzieren. Weiterhin wird die Möglichkeit zum Betrieb von Eigeneinrichtungen durch kommunale Träger geschaffen. Das heißt, die Kommunen können sich auch an dieser Daseinsvorsorge beteiligen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten die Möglichkeit, aus den Mitteln einzurichtender Strukturfonds die Neuniederlassung von Ärzten in Gebieten, in denen eine Unterversorgung oder ein lokaler Versorgungsbedarf besteht, gezielt zu unterstützen. Die Delegation ärztlicher Leistungen und die Telemedizin werden gefördert. Eine langjährige Forderung der Betroffenen wird umgesetzt: die ambulante spezialfachärztliche Versorgung. Damit erhalten Menschen mit schweren Erkrankungen wie Aids, Krebs und Multiple Sklerose oder mit besonders seltenen Erkrankungen eine reibungslose, ineinandergreifende stationäre und ambulante Behandlung. Das Entlassungsmanagement nach einem Krankenhausaufenthalt wird wesentlich verbessert und wird eine verbindliche Leistung der Krankenkassen. Daneben werden noch andere Dinge geregelt. Zum Beispiel dürfen Kliniken nicht mehr überhöhte Entgelte - gerade bei Beihilfeempfängern - verlangen. So mancher Patient hat hier in der Vergangenheit beim Öffnen der Rechnung eine Überraschung erlebt. (Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD]) Wir werden eine bundeseinheitliche Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst, die 116 117, einrichten. Für Menschen mit Behinderung wird die zahnmedizinische Versorgung wesentlich erleichtert und verbessert. Die elektronische Patientenquittung wird patientenfreundlich gestaltet. Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit schaffen wir endlich die dringend benötigten gesetzlichen Grundlagen für eine gute, wohnortnahe und flächendeckende Versorgung der Menschen mit medizinischen Leistungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich bin lange genug im Gesundheitswesen, in diesem Haifischbecken, tätig. So weiß ich auch, dass sich nun garantiert viele sogenannte Berater auf den Weg machen werden, um aus diesem Gesetz den größten Nutzen - sprich: viele Euros - herauszuschlagen, sei es für Kassen, Krankenhäuser, bestimmte Arztgruppen usw. All jene, die aus Gewohnheit dieses Gesetz wieder so auslegen, dass Patienten nur als Mittel zum Zweck im Gesundheitssystem degradiert werden, möchte ich warnen: Bei der Umsetzung dieses Gesetzes werden wir sehr genau hinschauen, damit bei demjenigen, für den all diese Regelungen geschaffen wurden, die Verbesserungen auch ankommen - beim Patienten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen eine wirklich konsequente Orientierung am Patienten. Nach der Gesundheitsreform 2011 zur nachhaltigen Finanzierung, nach dem AMNOG mit seiner Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel, nach der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland für bessere Informationen, nach dem Krankenhaushygienegesetz zum Schutz vor Infektionen folgt jetzt das Versorgungsstrukturgesetz, das den Patienten und die von ihm benötigten Strukturen in den Mittelpunkt stellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf diesen Satz werden Sie bestimmt warten: Danach wird natürlich konsequenterweise das Patientenrechtegesetz vorgelegt, (Elke Ferner [SPD]: War das nicht schon im Sommer vorgesehen?) welches Patientenrechte weiterentwickelt, verständlich zusammenfasst und dadurch auch einen Beitrag dazu leistet, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu stärken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Gesetze sind Ausdruck einer erfolgreichen bürgerlichen Gesundheitspolitik, die den Patienten stärkt und ihn damit zum Partner und nicht zum Bittsteller in diesem Gesundheitssystem macht. Heute ist ein guter Tag für die Patienten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun wollen Sie es verabschieden, Ihr sogenanntes Versorgungsstrukturgesetz. (Heinz Lanfermann [FDP]: Werden wir!) Dringender Handlungsbedarf besteht, um die gesundheitliche Versorgung überall, in Stadt und Land, für jede und jeden, die oder der Hilfe braucht, wirklich flächendeckend zu sichern. Doch was folgt aus dem heutigen Gesetz, beispielsweise für den ländlichen Raum, (Karin Maag [CDU/CSU]: Nur Gutes!) wo sich Omi und Opi fragen: Mein Arzt geht in Rente; wohin gehe ich? Ebenso schaut die junge Lehrerin, die mit Mann und den Lütten ein Bauernhaus am Rande des Dorfes ausbauen will, darauf, ob Kindergarten, Schule und Arztpraxis vorhanden sind. Was kommt für die Erkrankten heraus, die derzeit im Ruhrgebiet 17 Wochen und in Mecklenburg-Vorpommern gar 18 Wochen auf ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten warten? Was kommt heraus für Menschen mit Behinderungen, beispielsweise die junge Frau mit geistiger Behinderung, die ohnehin vor Männern in weißen Kitteln einen Horror hat und nun noch beim Zahnarzt den Mund aufmachen soll? Leider kommt dabei wenig zur Lösung dieser Probleme heraus. Der vorliegende Gesetzentwurf ist alles andere als ein großer Wurf. Das Gesetz beinhaltet erste klägliche Schritte eines notwendigen Marathons. Kein Grund, sich zu rühmen! (Beifall bei der LINKEN) Sie rühmen sich damit, wie es eingangs Herr Lanfermann wieder getan hat, erstmalig kein Kostendämpfungsgesetz gemacht zu haben. Ja, Ihr Gesetz bringt Mehrkosten in noch unkalkulierbarer Höhe mit sich. Diese nehmen Sie einfach hin. Warum? Sie nehmen diese Mehrkosten hin, nachdem Sie mit Zusatzbeiträgen, der Kopfpauschale durch die Hintertür, dafür gesorgt haben, dass alle Ausgabensteigerungen allein von den Versicherten getragen werden müssen: Arbeitgeber und Staat sind von den Zahlungsverpflichtungen ausgenommen. Da lassen sich leicht Regelungen für Zuwächse beim Honorar der Ärzte und Zahnärzte machen. Schlimm dabei ist, dass Ihr Honorarplus nicht einmal die Ärztinnen und Ärzte erreicht, die es wirklich brauchen. Das alles hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Kommen wir zurück zu den Regelungen. Viele Berufsgruppen scheinen diese Bundesregierung gar nicht zu interessieren. Sie scheinen gar nichts mit gesundheitlicher Versorgung zu tun zu haben. Kein Wunder, dass wir haufenweise Briefe von Physio-, Ergo- und Psychotherapeuten erhalten. Kein Wunder, dass sich die Pflegeverbände fragen, ob denn die Pflege neuerdings nicht mehr zur Versorgungsstruktur zählt. Aber auch die ärztliche und psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung wird sich mit diesem Versorgungsgesetz nicht ausreichend verbessern. Sie wird damit auch nicht zukunftssicherer. Nach wie vor wissen wir nicht, wie viele Ärztinnen und Ärzte, wie viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wir eigentlich brauchen. Es hätte Mut erfordert, die Bedarfsplanung endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Aber Mut hat diese Bundesregierung nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Zuruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) Wir haben mit unserem Antrag gezeigt, worum es geht: Alle Gesundheitsberufe müssen in die Bedarfsplanung einbezogen werden, auch die Pflegeberufe, auch die Heilberufe, auch die Hebammen. Gesundheitsversorgung ist mehr als ärztliche Versorgung. Fehlanzeige bei Ihnen! Die Ermittlung des gesundheitlichen Bedarfs muss auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden, statt bei den Ärzten Zufallszahlen aus dem Jahre 1993 und total unterdeckte Zahlen bei den Psychotherapeuten aus dem Jahre 1999 einfach fortzuschreiben. Fehlanzeige bei Ihnen! Es muss endlich sektorenübergreifend geplant und versorgt werden. Was nützt eine gut durchgeführte Operation im Krankenhaus, wenn die Nachsorge im Wohnumfeld nicht gesichert ist? Fehlanzeige bei Ihnen! (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Quatsch! Was haben Sie denn gelesen?) Wir müssen endlich dafür sorgen, dass das Geld dahin fließt, wo der Bedarf am größten ist, und nicht dorthin, wo die meisten Ärzte sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nur so könnte es gelingen, bei der Attraktivität strukturschwachen Regionen einen Schub zu geben und eine einheitliche Entwicklung in unserem Land zu befördern. Thema Barrierefreiheit. Auch bei der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen herrscht trotz der eingefügten Miniregelung letztendlich Fehlanzeige. Es lagen gute Vorschläge vor, endlich die zum Teil beschwerliche ärztliche und schlechte zahnärztliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. In der UN-Behindertenrechtskonvention wird gefordert, hier etwas zu tun. Beschämend, dass Deutschland mit dieser Bundesregierung nicht schneller vom Fleck kommt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich kann nur wiederholen, was wir seitens der Opposition schon bei der Verabschiedung des letzten Gesetzes gesagt haben - (Heinz Lanfermann [FDP]: Weil Sie zu jedem Gesetz dasselbe sagen!) das bekommen wir auch allabendlich bei Gesundheitsveranstaltungen immer wieder zu hören -: Das Beste an dem Gesetz ist, dass es keinen dauerhaften Schaden verursacht. Gut, dass es ab 2013 die Chance gibt, die Versorgung ordentlich zu regeln. Wenn dann für eine optimale gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung und für gute Arbeitsbedingungen aller im Gesundheitssystem Beschäftigten wirklich mehr Geld erforderlich sein sollte, wäre durch Einführung einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung finanzieller Spielraum vorhanden, und zwar gerecht von allen getragen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Harald Terpe für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tagtäglich leisten Tausende von Pflegern und Pflegerinnen, von Ärzten und Ärztinnen, von Arzthelferinnen und Arzthelfern, von Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und Angehörige vieler anderer Berufsgruppen ihre Arbeit. Zitat des Bundesgesundheitsministers aus der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs. - Richtig. Wir alle haben Grund, uns bei den vielen für die geleistete Arbeit zu bedanken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Ich zitiere weiter: Für die Leistung, die in den Gesundheitsberufen tagtäglich erbracht wird, braucht es Motivation, Vertrauen und Anerkennung. Genau das ist das Ziel des Versorgungsstrukturgesetzes. Wo bitte findet sich die Anerkennung der Pflegeberufe außer im Kontext ärztlicher Entlastung, ganz zu schweigen von Regelungen zur Beseitigung des Pflegenotstands in den Kliniken? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Stattdessen werden vorrangig Partikularinteressen bedient. Bei mir zu Hause würde man sagen: Da will uns einer ein X für ein U vormachen. Aber vielleicht ist das nur im Überschwang des Eigenlobs herausgerutscht. Im Problemaufriss des Gesetzentwurfs wird die nachhaltige und sozial ausgewogene Finanzierung der GKV gepriesen, um sich dann weiter hinten im Gesetzentwurf zugunsten von ärztlichen und zahnärztlichen Honorarsteigerungen notfalls unter Preisgabe des Sozialausgleichs der sozialen Tarnung völlig zu entledigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich empfinde das als Vorsatz für die zweite dreiste Umverteilung zulasten der finanziell Schwächeren. Es wird uns von dieser Regierung immer wieder ein X für ein U vorgemacht. Irreführendes politisches Marketing und schillernde Ankündigungen einerseits, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist bei der Bürgerversicherung so!) aber keine oder minderwertige Lieferung andererseits: Das ist das Markenzeichen der Koalition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 17 Punkte habe ich genannt!) Ich muss an dieser Stelle auch mit dem Selbstlob im Gesetzentwurf aufräumen, es gäbe keinen Sparzwang. Ich schicke vorweg: Ich finde einen verantwortlichen Umgang mit finanziellen Ressourcen generell richtig. Aber wer die Beitragssätze in so klarer Weise erhöht und Zusatzbeiträge eingeführt hat und damit im Grunde genommen die Krankenkassen unter Spardruck setzt und ihnen die Möglichkeit nimmt, innovative Ansätze zu fördern oder in diese zu investieren, schafft nichts weiter als einen Sparzwang durch die Hintertür. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweifelsohne steht unser Gesundheitswesen vor großen Herausforderungen. Eine älter werdende Bevölkerung und die damit einhergehende Zunahme von chronischen und Mehrfacherkrankungen verlangen grundlegende strukturelle Veränderungen in der gesundheitlichen Versorgung, und das umso mehr, je weniger und später wir die Gesundheitsförderung und Prävention vorantreiben. Diagnostik und Heilung von Krankheiten wird zunehmend von kontinuierlicher Betreuung und Begleitung zur Sicherung der Lebensqualität der Betroffenen flankiert. Dieser Wandel der Morbidität führt zwangsläufig zu einem häufigeren Wechsel der Patientinnen und Patienten zwischen den Sektoren des Gesundheitssystems und zieht auch schon aktuell eine multiprofessionelle Behandlung nach sich. Umso bedauerlicher ist, dass der Gesetzentwurf nach den vielen Anregungen und Diskussionen im parlamentarischen Prozess die strukturellen Erfordernisse so wenig verfolgt. Der Koalition ist es nicht gelungen, ihre arzt- und sektorenzentrierte Sichtweise zu relativieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) In ihrer Gesundheitspolitik geht die Bedienung der Partikularinteressen in der Ärzteschaft, zum Beispiel durch die Stärkung der Leistungserbringer im G-BA oder die kostentreibende Honorarreform, mit einer Schwächung der Kassen und letztendlich der Patienteninteressen einher. Wir werden das nicht widerstandslos akzeptieren. Mit unserem Antrag "Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen" setzen wir eine klare Botschaft, wohin die Reise mit den Bündnisgrünen in Sachen Strukturreform geht. Unser Ziel ist eine sektorenübergreifende und professionenübergreifende Versorgung. Dabei soll die Primärversorgung deutlich aufgewertet werden. Sie ist für uns mehr als eine hausärztliche bzw. hausarztzentrierte Versorgung. Es bedeutet nämlich eine teamorientierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gesundheitsprofessionen mit neugestalteter Aufgabenverteilung. Ärztinnen und Ärzte als verantwortungsvolle Teamplayer sind nicht nur eine schöne Vision, sondern es gibt sie auch schon heute - trotz der Fehlanreize und berufsständischen Zementierungen, durch die ihre Arbeit immer wieder erschwert wird. Sucht man in Ihrem Gesetzentwurf nach Regelungen zu nichtärztlichen Gesundheitsberufen, so stößt man auf die in § 28 vorgesehene Regelung, nach der delegationsfähige Leistungen zur Entlastung der Ärztinnen und Ärzte festgelegt werden sollen. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Gerade die, die es mit Enthusiasmus machen, bekommen das Geld nicht!) Aber das hat nichts mit dem notwendigen strukturellen Wandel infolge der Veränderung der Morbiditätsstruktur zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dort geht es um die notwendige Stärkung eigenständiger nichtärztlicher Kompetenz - ein völlig anderer Horizont als Ihrer. Lassen Sie mich kurz die wenigen Ansatzpunkte einer sektorenübergreifenden Versorgung bewerten. Zunächst die spezialfachärztliche Versorgung: Sie wurde als eigenständiger Sektor und mit eigenständigen Vergütungstatbeständen konzipiert. Das ist - entgegen meiner Hoffnung in der ersten Lesung - kein Start in die sektorenübergreifende Versorgung, weil nunmehr die Einengung der im Leistungskatalog vorgesehenen Maßnahmen zwar die Kostenexplosion bremst, aber natürlich innovative Ansätze ebenfalls ausbremst. Es wäre besser gewesen, klare Regelungen zu Organisation und Umfang der Versorgung ins Gesetz zu schreiben. Ich glaube, dass dadurch jetzt eher eine Konkurrenzveranstaltung zweier Sektoren organisiert wird, wenn auch mit Kooperationsgebot und vermutlich der Entstehung zusätzlicher Versorgungskapazitäten für seltene und besondere Erkrankungen - das sei Ihnen zugestanden; das ist eine Verbesserung. Aber ich glaube, Chancen und Risiken der Regelung dürften relativ dicht beieinander liegen, auch deshalb, weil dadurch ein Run zulasten anderer Facharztgruppen droht. Besonders auffällig an Ihrem Gesetzentwurf ist die völlige Ausblendung des Krankenhaussektors, so, als ob zukunftsweisende sektorenübergreifende Strukturveränderungen ohne Krankenhäuser denkbar wären. Das ist für mich auch ein fatales Signal, besonders an die kleinen Krankenhäuser in strukturschwachen Regionen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Lassen Sie mich noch auf zwei von der Koalition gesetzte zentrale Botschaften eingehen. Erstens zur Novellierung der Bedarfsplanung: Hier findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nach unserer Auffassung keine nachhaltige Reform der Bedarfsplanung, um zum Beispiel auf der Grundlage verbindlicher Analysen den künftigen Versorgungsbedarf besser ermitteln und planen zu können. Obwohl die Möglichkeit eines gemeinsamen Landesgremiums geschaffen wird und im G-BA den Ländern Mitspracherechte bei den Bedarfsplanungsrichtlinien eingeräumt werden, fehlt es an der Durchsetzung einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung, die insbesondere auch in strukturschwachen Regionen zusätzliche Versorgungskapazitäten, beispielsweise aus dem Krankenhausbereich, mobilisieren könnte. Die zweite Botschaft war die Schaffung eines Landarztgesetzes. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Schon ganz vergessen!) Unter diesem Deckmantel bringen Sie eine erneute Reform der vertragsärztlichen Vergütung auf den Weg. Angeblich sollen die regionalen Verantwortlichkeiten gestärkt werden. In der Praxis wird Ihre Reform aber eher dazu führen, dass wieder diejenigen bei der Honorarverteilung das Rennen machen, deren Einfluss am weitesten reicht. - Willkommen in der Vergangenheit! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das ist gewiss nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten, sondern es ist der Abschied vom Bekenntnis zur schrittweisen Konvergenz mit dem Ziel, vergleichbare Leistungen auch gleich zu honorieren. Das ist in der Diskussion im Ausschuss ja auch klar geworden. Das Problem der Unterversorgung und der Niederlassungsunwilligkeit ist unserer Überzeugung nach allein mit der Zahlung eines Sicherstellungszuschlags und des vermeintlichen Wegfalls von Mengenbegrenzungen nicht zu lösen, zumal es bei den Hausärzten auf dem Land eine Begrenzung im relevanten Umfang gar nicht gegeben hat und von der Neuregelung jetzt Fachärzte in Regionen profitieren, die gar keine Unterversorgung haben. (Zuruf von der LINKEN: So ist das!) Insbesondere auch deshalb wird dieses Problem dadurch nicht gelöst, weil in gut versorgten Metropolregionen infolge einer größeren Zahl an und höheren Vergütung durch Privatpatienten ohnehin bessere Honorarsituationen bestehen. Sie verweigern eine Honorarreform, die die PKV letztendlich einbezieht. Das ist ganz klar zu kritisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Bei der Abstimmung über Ihren Entschließungsantrag - er enthält Forderungen an die Länder, die wir durchaus teilen - werden wir uns enthalten müssen, da Sie es sich im Feststellungsteil nicht verkneifen konnten, Ihr Versorgungsstrukturgesetz zu beweihräuchern. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Die Forderungen sind aber sehr halbherzig!) Ich komme zu dem Schluss, dass dieser Gesetzentwurf nicht geeignet ist, die notwendigen strukturellen Reformen, die sich aus der veränderten Morbiditätsstruktur und dem demografischen Wandel ergeben, einzuleiten. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf deshalb als unzureichend ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Bundesgesundheitsminister. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist Welt-Aids-Tag. Wir tragen aus Solidarität mit Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, heute diese Aidsschleife. Dabei haben wir in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern seit Jahren durch unsere Arbeit die niedrigste Neuinfektionsrate der Welt. Gegenüber 2006, als wir 3 400 Aids-/HIV-Neuinfizierte hatten, ist es uns gelungen, diese Zahl 2011 nochmals zu senken: auf 2 700. Das ist ein großer Erfolg der gemeinsamen Präventionsarbeit im Kampf gegen HIV und Aids, die wir in Deutschland seit vielen Jahren leisten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Es zeigt uns auch, dass die Versorgung von HIV-Infizierten mittlerweile immer besser geworden ist, dass HIV-Infizierte mit dieser nicht heilbaren Krankheit dennoch so behandelt werden können, dass sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Warum erzähle ich das ganz bewusst am Anfang meiner Rede? Weil auch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz Antworten auf die Sorgen und Nöte dieser Menschen bietet, nämlich eine gute medizinische Versorgung im Alltag zu erleben. Das Versorgungsstrukturgesetz schafft für Krankheiten mit besonders schwerem Verlauf wie HIV/Aids, wie Multiple Sklerose und wie andere seltene Erkrankungen extra eine spezialfachärztliche ambulante Versorgung. Damit erreichen wir, dass endlich die starren Sektoren zwischen dem Krankenhausbereich und den niedergelassenen Ärzten überwunden werden, dass die Behandlung der Patienten bestmöglich - in der Regel in Kooperation zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Fachärzten - gelingt. Das ist eine deutliche Verbesserung für die Versorgung der Menschen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gerade derer, die aufgrund einer Krankheit mit besonders schwerem Verlauf oder einer seltenen Erkrankung darauf angewiesen sind, dass sie die bestmögliche Versorgung von Spezialisten bekommen. Wir, die CDU/CSU-FDP-Koalition, haben die Prioritäten in der Gesundheitspolitik in Deutschland verändert. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt wohl!) Während lange Jahre in Deutschland mehr Geld für Arzneimittel als für die ambulante Versorgung ausgegeben wurde, können wir nun feststellen, dass in Deutschland wieder mehr Geld für die ambulante Versorgung als für die Arzneimittel ausgegeben wird. Das ist ein Erfolg unserer Politik, unserer Gesetze; denn wir haben mit dem Arzneimittelgesetz Einsparungen vollzogen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Menschen wissen, dass sie sich in Deutschland auf ein Gesundheitswesen verlassen können, das seinesgleichen sucht. Die Herausforderung ist, dieses Gesundheitssystem so zu erhalten, wie die Menschen es zu schätzen wissen. Wir gewährleisten, dass im Krankheitsfall jede Bürgerin und jeder Bürger unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht, Herkunft oder Vorerkrankung die medizinische Behandlung und Betreuung erhält, die notwendig ist. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Mit Praxisgebühr und Zuzahlungen!) Dazu zählt eben auch, dass sich die Menschen auf das verlassen können, was andere Länder so nicht kennen: freie Arztwahl, freie Krankenhauswahl, freie Krankenversicherungswahl und Therapiefreiheit. Das sind Freiheiten, die Menschen in anderen Ländern, insbesondere mit staatlichen Gesundheitssystemen, von denen Sie uns immer so gerne erzählen und die Sie uns hier empfehlen wollen, nicht erleben. Dort erleben sie Mangelverwaltung, die längsten Wartezeiten und die schärfsten Unterschiede aufgrund einer Zweiklassenmedizin. Wir in Deutschland können stolz darauf sein, dass unser Gesundheitssystem so leistungsfähig ist. Zu dessen Erhaltung wollen wir mit diesem Gesetz beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Mechthild Rawert [SPD]: Sie regieren zum Glück noch nicht so lange! - Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD]) - Liebe Frau Ferner, liebe Frau Rawert, Sie krakeelen ja schon wieder herum. Herr Lanfermann hat allerdings recht: Das Dazwischenrufen macht es nicht besser. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Er ist heute sehr ruhig! Normalerweise ist er derjenige!) Es scheint ja wehzutun, was ich gesagt habe. Ihr Entschließungsantrag zeigt die Ideologie, die Ihre Gesundheitspolitik prägt. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Jawohl!) Sie versuchen die Interessen derjenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind, die Belange der Leistungserbringer, gegen die Interessen der Patienten zu stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hören Sie endlich damit auf, zu glauben, dass der Patient besonders gut bedient ist, wenn der Arzt demotiviert ist. Nein, wir brauchen Anreize, damit der Leistungserbringer motiviert ist, damit er Spaß an der Arbeit hat! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wie soll denn ein Patient besser versorgt werden, wenn der Arzt mit Bürokratie überlastet ist, wenn er das Gefühl hat, er bekomme keine leistungsgerechte Vergütung? Meinen Sie, dadurch werde eine bessere Versorgung für den Patienten gewährleistet? Das liegt doch im gemeinsamen Interesse; der Patient profitiert doch davon, wenn auch der Arzt ein Interesse daran hat, die bestmögliche Versorgung für den Patienten zu erbringen. Ich kann dieses Gegeneinanderstellen nicht mehr verstehen. Deswegen sorgen wir mit den richtigen Anreizen und eben nicht mit Zwang dafür, dass die wohnortnahe Versorgung für die Menschen gerade in der Fläche gewährleistet ist. Wenn es etwas gebracht hat, dass die FDP im Bundesgesundheitsministerium ist und Sie in der Opposition sind, dann ist es offensichtlich eines: dass wir heute über einen drohenden Ärztemangel reden und endlich Schritte diskutieren, wie dieser drohende Ärztemangel angegangen wird. (Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD]) Sie haben noch vor zwei Jahren, als wir die Regierung übernommen haben, geleugnet, dass uns in Deutschland ein Ärztemangel droht. (Elke Ferner [SPD]: Herr Bahr, Sie lügen, ohne rot zu werden!) Sie haben gesagt: Wir haben genügend Ärzte; die müssen nur zwangsweise aufs Land verteilt werden. Mit Zwang werden Sie aber keine jungen Mediziner motivieren, in der Fläche tätig zu sein. Wir setzen die richtigen Anreize. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jetzt reden Sie immer von Unterversorgung und Überversorgung. Selbstverständlich gibt es auch Überversorgung in Deutschland. Es gibt Über-, Unter- und Fehlversorgung in Deutschland. Wir gehen das mit einer flexiblen Bedarfsplanung an. Die Bedarfsplanung, die wir heute haben, entspricht doch gar nicht dem Bedarf. Sie ist auf den Stand Anfang der 90er-Jahre aufgesetzt, als man einfach alle vorhandenen Ärzte gezählt hat. Diesen Bestand hat man dann festgeschrieben und ihn als Bedarfsplan bezeichnet. (Zurufe von der LINKEN) Wir ändern das, weil wir endlich dafür sorgen, dass in den Regionen, in den Landkreisen genau geschaut wird, wo Bedarf besteht, wo ein zusätzlicher Psychologe, ein zusätzlicher Neurologe, ein zusätzlicher Dermatologe gebraucht wird. Das heißt, wir geben die Flexibilität, um genau zu schauen: Wo besteht Bedarf? Wo besteht vielleicht eine Überversorgung, die abgebaut werden muss? Auch das ist nämlich bei uns enthalten: Die Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten die Möglichkeit, dort, wo unbegründet eine Überversorgung besteht, wo die Versorgung nicht dem Bedarf entspricht, frei werdende Arztsitze aufzukaufen. Das - und nicht das, was Sie fordern - ist ein nachhaltiger Abbau der Überversorgung. Das, was Sie fordern, ist doch nichts anderes als modernes Robin-Hood-Gehabe. Sie sagen, Überversorgung werde abgebaut, wenn man jene Ärztinnen und Ärzte bestraft, die sich vor 10 oder 20 Jahren entschieden haben, in einem Ballungsraum eine Arztpraxis mit viel Geld aufzubauen. Glauben Sie, dass irgendein Arzt aus Hamburg seine Praxis schließt und eine neue Praxis an der Schlei eröffnet, nur weil Sie ihm Honorarkürzungen von 5 Prozent oder 10 Prozent verordnen? (Zurufe von der SPD) Diese Regelung stand jahrelang im Gesetz, und Sie haben sie unter Ihrer Führung nicht angewandt. Das zeigt uns doch, dass dieses Instrument dem Abbau der Überversorgung nicht gerecht wird, sondern nur einen Verteilungskampf in die Ärzteschaft hineinträgt. Damit verbessern wir die Versorgung der Menschen in den Ballungsräumen und in der Fläche keineswegs. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Interessant ist, dass die Ländergesundheitsminister dort, wo Sie - Linke, Grüne, SPD - Verantwortung tragen, sagen, der Bund müsse etwas für den Abbau der Überversorgung tun. Landtagsfraktionen von Union und FDP haben einmal vor Ort nachgefragt. Plötzlich stellen wir fest, dass diese Ländergesundheitsminister, wie zum Beispiel die Gesundheitssenatorin in Hamburg, leugnen, dass es bei ihnen eine Überversorgung gibt. (Zurufe von der SPD) Dann kritisieren Sie die langen Wartezeiten, und wir fragen: Wie sähe es denn aus, wenn in Hamburg Arztpraxen geschlossen würden, wenn Überversorgung abgebaut werden würde? Was würde das für die Wartezeiten bedeuten? Und schon wieder stellen wir Unlogisches fest. Schon wieder stellen wir fest, dass Sie offensichtlich nur bei Allgemeinplätzen verharren und die Probleme und Sorgen der Menschen nicht lösen. Wir machen das. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe von der SPD) Viele junge Mediziner haben Sorge, dass sie, wenn sie sich in der Fläche niederlassen, doppelt bestraft werden; nämlich mit immer mehr Patienten. Deswegen sorgen wir dafür, dass die Mengenabstaffelung in der Fläche abgeschafft wird, dass es Zuschläge geben kann, damit die jungen Mediziner, die in die Fläche gehen, auch die Perspektive haben, dass sie dort eine leistungsgerechte Vergütung bekommen. Wir schaffen die Residenzpflicht ab. Wir lockern die Regelungen zu Zweitpraxen. Wir geben die Möglichkeit einer Eigeneinrichtung dort, wo sich kein Arzt findet, und wir bauen die Sorgen vor Regressforderungen ab, damit der Arzt, der viele Patienten zu betreuen hat, keine Angst haben muss, für zu viele Arzneimittelverschreibungen in Haftung genommen zu werden. Auch das ist ein wichtiger Bereich. Außerdem sorgen wir dafür, dass der gesellschaftliche Wandel im Gesundheitswesen ankommt; denn wir wissen, dass die Medizin immer weiblicher wird und dass junge Männer wie Frauen heute eine andere Einstellung zum Beruf haben. Auch auf diesen gesellschaftlichen Wandel müssen wir Antworten finden. Die Vereinbarkeit von Familie und Gesundheitsberuf ist uns ein ganz wichtiges Anliegen in diesem Gesetzentwurf, (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Schöne Worte!) weil der Arztberuf leider noch auf einem alten Gesellschaftsbild in den Strukturen von Krankenhäusern und Kassenärztlichen Vereinigungen aufbaut. Insofern: Dies ist ein gutes Gesetz, und damit werden endlich die Probleme der Menschen vor Ort angepackt, die sich sorgen: Habe ich morgen noch eine wohnortnahe Versorgung? Kann ich mich darauf verlassen, dass es in der Fläche noch Ärzte gibt? Wir sorgen dafür, dass die Menschen den Landarzt nicht nur aus einer idyllischen Vorabendserie kennen, sondern ihn auch weiterhin real erleben. Wir sorgen dafür, dass sie sich auf das bestmögliche Gesundheitswesen in Deutschland verlassen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, ich saß vor einigen Jahren mit einem Ihrer Vorgänger in der Businessclass. (Zurufe von der FDP: Oh! - Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie hätten in der Economyclass sitzen sollen!) Wir hatten damals über Gesundheitsreformen verhandelt. Damals habe ich mich bitter beschwert, dass die Reform wieder einmal an der FDP gescheitert ist. Da seufzte der Kollege und meinte: Im Gesundheitsbereich - das gebe ich zu - sitzen bei uns die falschen Leute. Zu viel Lobbyismus war damals unser Thema: zu viel Lobbyismus, zu wenig Wettbewerb. Wissen Sie, was die Rede des Kollegen Bahr gerade gezeigt hat? Bis heute sitzen im Gesundheitsbereich bei Ihnen die falschen Leute. Der Lobbyismus ist Ihnen wichtiger als der Wettbewerb, Herr Kollege Brüderle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich will versuchen, das darzustellen. Womit haben wir es jetzt zu tun? Das Gesetz ist ein Versorgungsgesetz. Aber um welche Versorgung geht es denn? Es geht doch nicht um die Versorgung der Patienten oder der Versicherten. Es geht um die Ärzteversorgung. Das Gesetz müsste korrekterweise Ärzteversorgungsgesetz heißen oder noch präziser: Gesetz zur Stärkung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Das entspricht doch dem, was beschlossen wurde. Sie haben von allen Maßnahmen, die die Versorgung der Patienten verbessert hätten, Abstand genommen, beispielsweise von der ungleichen Honorierung durch gesetzlich Versicherte und Privatpatienten. Dies ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb die Ärzte auf dem Land für wenig Geld lange arbeiten müssen und in den Großstädten zum Teil mit wenig Patienten gut verdienen. (Beifall bei der SPD) Dieses Problem haben Sie überhaupt nicht anzugehen gewagt. Die FDP steht dafür, dass die gleiche medizinische Leistung vom Privatpatienten teurer bezahlt werden muss. Was ist denn das für ein Wettbewerb, Herr Brüderle? Das ist doch ein Witz. In Wirklichkeit ist es so: Der Hauptgrund für die Fehlverteilung der Ärzte wird nicht beseitigt. Der zweite Punkt. Auch hier werden allein die Vorstellungen der Kassenärztlichen Vereinigungen berücksichtigt. Wer wird demnächst die präzise regionalisierte Honorarverteilung vornehmen? Nicht die Patientenvertreter, sie erfolgt auch nicht über den Wettbewerb der Krankenkassen, sondern sie wird durch die Kassenärztlichen Vereinigungen vorgenommen, also genau durch die Einrichtung, die die Fehlverteilung, die der Minister beklagt, verursacht hat. Es ändert sich nichts. Es wird de facto nichts geändert. Der einzige Punkt, der geändert wird, ist: Die Ärzte auf dem Land, die ohnedies überlastet sind, die bis acht Uhr abends arbeiten, deren Praxen total voll sind, bekommen ein bisschen mehr Geld. Das gönne ich den Ärzten - damit wir uns nicht falsch verstehen -, aber diese Ärzte können keine zusätzlichen Patienten behandeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Somit wird nichts anderes gemacht, als die bestehende Fehlversorgung aufrechtzuerhalten. Die überlasteten Ärzte bekommen ein bisschen mehr Geld. Sie hätten dafür sorgen müssen, dass in den überversorgten Gebieten die frei werdenden Praxen aufgekauft werden - es geht ja nicht um den Kauf von Praxen, die nicht frei werden - und auf dem Land neue eröffnet werden. Das war die Maßnahme, die wir alle für richtig hielten. Vor dieser Maßnahme haben Sie Angst gehabt, weil Ihnen die Kassenärztlichen Vereinigungen dieses nicht erlaubt haben. Sie sind eingeknickt vor den Lobbyisten der Kassenärztlichen Vereinigungen. Daher wird dieses Gesetz zum Schluss keine Verbesserung der Versorgungsstruktur bringen. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ CSU: Sie malen ein Zerrbild!) - Nein, es ist kein Zerrbild. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist von vorgestern!) - Das ist nicht von vorgestern. Ich nenne ein weiteres Beispiel. Sie bauen eine neue Doppelstruktur auf. Sie bauen eine spezielle fachärztliche Versorgung auf. Der Minister hat die Chuzpe besessen und das sogar im Zusammenhang mit der verbesserten Aidsvorbeugung hier vorgetragen. Die Aids-vorbeugung, die wir alle gemeinsam beschlossen haben, hat mit dieser Art der Versorgung überhaupt nichts zu tun. Sie, Herr Minister, haben das Vorbeugegesetz, das während der Großen Koalition in der Schublade lag, eingesackt; das war Ihre erste Amtshandlung. Sie haben für die Vorbeugung - das ist doch unstrittig im Haus - bisher gar nichts gemacht. (Beifall bei der SPD - Elke Ferner [SPD]: Mittel gestrichen!) Sie machen nichts für die Vorbeugung und nennen ausgerechnet das Beispiel Aids. Das einzige, was Sie machen, ist der Aufbau einer neuen Versorgungsstruktur, die spezielle fachärztliche Versorgung. Die speziellen Fachärzte werden aber mit den Hausärzten konkurrieren. Somit wird es letztendlich weniger Hausärzte geben. Eine junge Ärztin, die sich nach dem Studium entscheiden muss, wohin sie geht und was sie macht, hat eine weitere Option, die mit der Hausarztversorgung nichts zu tun hat: Sie kann sich als spezialärztliche Versorgerin in der Stadt niederlassen. Das führt dazu, dass wir weniger Hausärzte haben und nicht mehr. Die bestehende Versorgung wird teurer, auf der Grundlage der Einschätzung der Krankenkassen um etwa 2 Milliarden Euro. Die Versorgung wird aber in der Qualität nicht besser. Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden gestärkt. Und das Ganze wollen Sie uns verkaufen als ein Gesetz, mit dem die Versorgung der Patienten verbessert wird? Ich bitte Sie! Das gelingt noch nicht einmal Herrn Lanfermann, bei dessen Rede die Union nicht geklatscht hat. Bei allem Selbstlob, für das Sie bekannt sind, Herr Lanfermann, dieses Gesetz wird die Versorgungsstruktur in Deutschland nicht verändern. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lotter zu? Dr. Karl Lauterbach (SPD): Ja. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Bitte schön. Dr. Erwin Lotter (FDP): Lieber Herr Kollege Lauterbach, stimmen Sie mir erstens zu, dass Hausärzte für andere Krankheitsbilder zuständig sind als spezialfachärztlich tätige Ärzte und dass es insofern zu keiner Konkurrenzsituation kommen kann, sondern es sich um eine Ergänzung handelt? Stimmen Sie mir zweitens zu, dass Ärzte, die gezwungen werden sollen, in unterversorgte Gebiete zu gehen, dann eher den Weg in die Schweiz oder nach Skandinavien wählen? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Kann man mit Ja beantworten!) Dr. Karl Lauterbach (SPD): Zum ersten Punkt. Ich habe bereits ausgeführt - ich denke, das war leicht verständlich -, dass wir zu wenige Mediziner haben. Wenn diese wenigen Mediziner sich zwischen einer schlecht bezahlten Hausarzttätigkeit auf dem Land und einer gut bezahlten Facharzttätigkeit in der Stadt entscheiden können, dann wird es noch weniger Mediziner geben, die sich für die Hausarzttätigkeit entscheiden. Somit werden noch weniger Ärzte in der Hausarztversorgung und noch mehr Ärzte in der Facharztversorgung tätig sein. Sie verschlimmern ein bestehendes Problem. (Elke Ferner [SPD]: Genau!) Zum zweiten Punkt. Niemand geht ins Ausland, wenn die Rahmenbedingungen in Deutschland stimmen. Das heißt, egal ob es um gesetzlich Versicherte oder Privatversicherte geht, Ärzte müssen durch Bürokratieabbau entlastet und auskömmlich bezahlt werden. Die Vorbeugung muss besser bezahlt werden. Wir brauchen mehr Wettbewerb und mehr Transparenz. Wir brauchen all das. Aber das Gesetz leistet dazu keinen Beitrag. Das ist doch der Grund, weshalb es sich immer weniger lohnt, als Arzt in Deutschland tätig zu sein. (Beifall bei der SPD - Heinz Lanfermann [FDP]: Und das machen Sie alles ohne Alterserkrankungen!) - Wir werden das machen. Ich gehe in der Tat fest davon aus, dass wir Sie ab 2013 bei dieser Aufgabe entlasten können. (Beifall bei der SPD) Ich möchte darauf hinweisen: Dieses Gesetz - da stimme ich der Kollegin Bunge nicht zu - kann man nicht abtun als ein Gesetz, das zwar nichts bringt, aber keinen dauerhaften Schaden anrichtet. Dem ist, glaube ich, nicht so. Für all die Probleme, die wir jetzt nicht lösen, gilt: Uns läuft die Zeit weg. Sie müssen bedenken: Heute zahlen die Menschen in den unterversorgten Gebieten den gleichen Beitrag wie die Menschen in den Städten - zum Teil mehr - für eine Versorgung, die sie de facto nicht haben. Die Menschen auf dem Land zahlen den gleichen Beitrag, die gleichen Zusatzbeiträge und Sonderbeiträge für eine Leistung, die sie nur bekämen, wenn sie umziehen würden. Wir schulden den Menschen in den unterversorgten Gebieten schon seit Jahren eine Verbesserung ihrer Versorgung; denn sie zahlen voll, bekommen aber weniger. Im Hinblick darauf haben Sie in diesem Gesetz nichts geleistet. Sie sind vor den Lobbyisten eingeknickt. Das ist insbesondere für die FDP eine Schande; denn die FDP muss in diesen Zeiten gegen den Ruf kämpfen, nichts anderes zu sein als eine reine Klientel- und Lobbyistenpartei. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das sagt der Oberlobbyist!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lauterbach, erste Klasse fliegen, aber Apologet der Zweiklassenmedizin sein - das ist eine gewisse Kunst, die Sie uns hier präsentiert haben. (Zurufe von der SPD: Oh!) Am Beispiel eines Fluges in der ersten Klasse kann man wunderschön deutlich machen, wo Ihr Problem in der Argumentation besteht. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Dummes Geschwätz!) Entscheidend bei einem Flug ist, dass Sie sicher von A nach B kommen, dass die entsprechenden Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, dass der Pilot die entsprechende Ausbildung hat, dass Sie angenehm sitzen können. Derjenige, der dann zusätzlich etwas will - meinetwegen die Schokolade bei der Landung -, gönnt sich die Businessclass. Genau das ist unser Verständnis von Gesundheitspolitik. Wir wollen eine Grundversorgung, die sicherstellt, dass jeder - unabhängig vom Alter, vom Einkommen, vom sozialen Status und davon, wo er lebt - die notwendige medizinische Versorgung auf dem aktuellen Stand von Technik und Wissenschaft bekommt. Wer sich aber mehr leisten will, soll das auch tun können. Beim Fliegen den Wettbewerb und die Differenzierung selbst nutzen und die erste Klasse genießen, in der Gesundheitspolitik aber Wettbewerb und Differenzierung nicht zulassen - das ist doppelzüngig, lieber Herr Kollege Lauterbach. Das ist heute deutlich geworden wie selten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben in Deutschland - das ist ohne Zweifel so; der Herr Minister hat darauf hingewiesen - eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Schauen Sie auf die Wartezeiten und die flächendeckende Versorgung. Es nutzt Ihnen nichts, wenn es Spitzenmedizin in London oder New York gibt, sondern es ist entscheidend, dass Sie - wie es in Deutschland der Fall ist - eine gute Versorgung in der Fläche haben. Jedoch steht auch das beste Gesundheitssystem der Welt vor Herausforderungen, Veränderungen und Problemen. Mit diesem Versorgungsstrukturgesetz gehen wir die Probleme im Versorgungsalltag der Menschen an, die uns ganz konkret - auch in den Bürgersprechstunden im Wahlkreis sowie bei Veranstaltungen - nahegebracht werden. Wir greifen sie auf und wollen sie mit einem Bündel verschiedener Maßnahmen lösen. Deswegen ist das - der Patientenbeauftragte hat das schon zu Recht gesagt - heute ein guter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieses Gesetz reiht sich nahtlos ein in die Gesundheitsgesetzgebung der christlich-liberalen Koalition. Wir haben mit dem GKV-Finanzierungsgesetz eine solide Basis für die gesetzliche Krankenversicherung geschaffen. Eines der größten Defizite, das für 2011 in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung erwartet wurde, haben wir mit kurzfristigen Maßnahmen, vor allem aber auch mit einem Konzept zur langfristigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung abgewendet. Die Finanzierung erfolgt nicht mehr nur lohnabhängig, sondern - gerechter - über einen steuerfinanzierten Sozialausgleich bzw. über den Zusatzbeitrag. (Elke Ferner [SPD]: Das ist kein Gesetz, sondern eine Katastrophe!) Die gesetzliche Krankenversicherung befindet sich - mit so vielen Rücklagen und so vielen Möglichkeiten wie noch nie - in einer guten Lage. Zum einen ist das ein Verdienst derjenigen, die ihren Beitrag leisten mussten: der Apotheker, der Pharmaindustrie, der Ärzte und der Krankenhäuser. Sie werden in den Jahren 2011 und 2012 weniger haben, als eigentlich geplant war. Zum anderen ist es dem Beitrag der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber geschuldet. Es ist aber auch ein großer Erfolg christlich-liberaler Gesundheitspolitik. Darauf sind wir auch ein Stück weit stolz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Neben der Frage der Finanzierung gibt es ein zweites entscheidendes Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitswesens, nämlich den Zugang zu Innovationen. Auf der gesamten Welt findet man im Grunde kein anderes gesetzliches Gesundheitssystem, in dem beispielsweise Arzneimittel direkt ab Zulassung erstattungsfähig sind und bezahlt werden. Das gibt es nur in Deutschland. Wir haben aber gesagt: Es kann nicht sein, dass die jahrzehntelange Praxis in Deutschland fortgesetzt wird, unabhängig vom tatsächlichen Zusatznutzen, also unabhängig von der Frage, ob ein neues Medikament tatsächlich mehr Nutzen bringt und eine Verbesserung darstellt, und dass wir jeden Preis zahlen, der verlangt wird. Wir haben mit dem sogenannten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz die Balance zwischen dem Bedürfnis der Patienten nach Hilfe - denn mit neuen Medikamenten ist auch viel Hoffnung auf Leidminderung, etwa bei der Krebstherapie, verbunden - und dem Bedürfnis nach angemessenen Preisen hinbekommen. Sie haben jahrelang davon geredet, wir haben es jetzt vernünftig umgesetzt. Das ist es doch, was Sie so wurmt, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Versorgungsstrukturgesetz passt nahtlos zum dritten Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitswesens, das darin besteht, eine flächendeckende Versorgung bei hoher Qualität sicherzustellen. Wir haben damit begonnen, mit dem Krankenhausinfektionsschutzgesetz den Versorgungsbereich in den Blick zu nehmen. Dabei geht es um die Frage der Hygiene in den Krankenhäusern. Das ist ein Thema, welches die Menschen - leider auch immer wieder wegen trauriger Vorfälle wie jetzt in Bremen - zu Recht massiv bewegt. Sie wollen nicht kranker aus den Krankenhäusern kommen, als sie hineingegangen sind. Wir haben da bundesgesetzlich geregelt, was zu regeln war. Jetzt sind die Länder gefragt - übrigens auch Bremen. Wir wollen Anfang nächsten Jahres den Entwurf eines Patientenrechtegesetzes vorlegen. Im Kern der Überlegungen zur Versorgungsstruktur steht für uns aber das Versorgungsstrukturgesetz. Ein Kernelement dieses Gesetzes ist, die flächendeckende Versorgung - insbesondere die flächendeckende ärztliche Versorgung - in den Blick zu nehmen. Ich selber komme vom Land, aus dem Münsterland. Da ist es heute schon so, dass es für uns in den kleineren Orten nahezu unmöglich ist, einen Nachfolger für jemanden zu finden, der seine Praxis aufgibt. Es wird inseriert, um einen Nachfolger zu finden. Aber es ist nahezu unmöglich, jemanden dazu zu bewegen, eine Praxis auf dem Land zu übernehmen, egal ob im Münsterland, in der Eifel, in Mecklenburg-Vorpommern oder im Bayerischen Wald. Das gleiche Problem besteht übrigens auch - es ist schon darauf hingewiesen worden; es ist wichtig, zu differenzieren - in manchen großstädtischen Stadtteilen wie in Berlin-Neukölln, in Köln-Chorweiler und im Essener Norden. Auch hier ist es schwierig, Ärzte zu finden, die bereit sind, dorthin zu gehen; denn die Arbeit dort ist schwerer. Wir gehen an das Problem heran, indem wir zum einen eine kleinräumigere Bedarfsplanung durchführen. Wir schauen uns kleinere Einheiten an - nicht mehr nur ganze Landkreise oder Großstädte -, um festzustellen, wo die Versorgung gut ist und wo nicht. Wir wollen differenzieren. Wenn wir wissen, wo die Versorgung gut ist und wo zusätzlicher Bedarf an Ärzten besteht, wollen wir zum anderen Anreize setzen, indem wir etwa ein höheres Honorar zahlen und das Honorarsystem so verändern, dass es attraktiver wird, sich um die schwierigeren Fälle zu kümmern, und indem wir die Regelung zur Residenzpflicht so ändern, dass der Arzt nicht mehr dort wohnen muss, wo er seine Praxis hat. Wir sorgen also für mehr Flexibilität. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Lauterbach, eines unterscheidet uns grundsätzlich - das stört mich schon den ganzen Morgen hier in der Debatte, auch das, was Sie hier gesagt ha-ben -: Wir wissen, dass man eine gute Versorgung der Menschen im Land nur mit den Ärzten und nicht gegen sie schafft; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wollen da mit dem Hammer ran. Wir hatten hier im Deutschen Bundestag schon Anträge vorliegen, in denen Sie gefordert haben: Wer als Facharzt nicht innerhalb von zwei oder drei Wochen einen Termin ermöglicht, der soll 10 000 oder 15 000 Euro Strafe zahlen. - Sie wollen mit dem Hammer ran; Sie wollen mit Zwang arbeiten; Sie wollen Sanktionen. Das ist nicht unser Weg; denn er führt am Ende nicht zu einer guten Versorgung, sondern zu Frustration. (Zuruf von der SPD: Bei den Patienten auf jeden Fall!) Deswegen arbeiten wir mit Anreizen, mit den Ärzten, nicht gegen sie, für eine gute Versorgung der Menschen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Menschen haben ein gutes Gespür für das, was notwendig ist. Sie wissen natürlich, dass die Debatte über die flächendeckende medizinische Versorgung, über die Verteilung der Ärzte, eine Vorbotendebatte über die anderen Fragen der Versorgung ist. Deswegen stellen wir das in den Mittelpunkt. Da, wo kein Arzt ist, wird auf Dauer auch kein Apotheker existieren können. Eine Apotheke ohne Rezept, das ist auf Dauer schwierig. Physiotherapeuten zum Beispiel werden sich auf Dauer nicht dort niederlassen, wo es keine Ärzte gibt, weil sie dort nicht überleben können. Unsere Vorbotendebatte geht übrigens mit anderen Diskussionen über die Infrastruktur im ländlichen Raum einher. Wir haben Debatten darüber, ob Schulen vor Ort bestehen bleiben können oder wie es mit dem Einzelhandel vor Ort weitergeht. Selbst Kirchengemeinden müssen fusionieren. Da ist es für die Menschen gerade im ländlichen Raum ein entscheidendes Thema, ob es noch einen Arzt, einen Hausarzt oder einen Facharzt vor Ort gibt. Deswegen greifen wir dieses zentrale Thema auf; es bewegt die Menschen. Es ist fast ein höhnischer Schlag in die Gesichter der Menschen, wenn man hört, wie Sie hier und heute mit diesem Thema umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es steht noch deutlich mehr in diesem Gesetz. Wir wollen das Thema des sogenannten Entlassmanagements angehen. Wenn ein Patient am Freitagnachmittag nach einer Hüftoperation aus der Klinik entlassen wird: Hat sich jemand darum gekümmert, was anschließend passiert? Wurde darauf geachtet, ob ambulante oder stationäre Pflege nötig ist, ob eine Familie da ist, die den Patienten auffängt, oder ob jemand alleine lebt? Wurde vorab mit dem Arzt, der weiterbehandelt, gesprochen? Das passiert heute teilweise schon, aber viel zu selten. Deswegen wollen wir das verbessern. Wir greifen das Thema der spezialfachärztlichen Versorgung auf - es ist schon angesprochen worden -, um gerade bei schwierigen Erkrankungen - im Bereich der Onkologie, bei der Behandlung von Krebs, bei der Behandlung von MS und Parkinson, im Bereich der Brachytherapie - höchste Qualitätsstandards und eine Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten zu erreichen, weil es im Interesse der Menschen liegt, dass etwas für eine gute Versorgung getan wird. Herr Kollege Terpe, die Veränderungen, die wir bei der spezialfachärztlichen Versorgung vornehmen, gehören zu den grundlegendsten Strukturveränderungen, die es in den letzten Jahren im deutschen Gesundheitswesen gegeben hat. Deswegen gehen wir sie voller Überzeugung im Sinne der Patienten an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen setze ich mich ja so kritisch damit auseinander!) Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe. Sie haben jetzt wieder, wie schon gestern im Ausschuss, mehrfach behauptet, es gehe nur um die Ärzte. Das stimmt so pauschal nicht. Wir wollen ganz bewusst die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern verbessern, aber auch zwischen Ärzten und Apothekern. Beispiel Medikationskatalog: Es gibt in Deutschland immer mehr Menschen, die zum Teil 10, 15 oder 20 unterschiedliche Arzneimittel pro Tag bekommen, weil sie verschiedene chronische Erkrankungen haben. Es bedarf einer besseren Abstimmung zwischen Ärzten und Apothekern, wenn es darum geht, was wem verschrieben wird. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen ohne Sorge und ohne Angst - auch ohne Angst vor dem, was im Beipackzettel steht - die Medikamente nehmen, die nötig sind. Deswegen wollen wir eine bessere Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern. Wir erproben mehrere Modelle, um das zu ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Gleiche gilt auch - Sie haben es angesprochen - für die Zusammenarbeit mit den Pflegeberufen. Die sogenannte Delegation ärztlicher Leistung bedeutet, dass jemand aus einem anderen Gesundheitsberuf, zum Beispiel eine Pflegekraft - das berühmteste Beispiel ist das Modellprojekt "Gemeindeschwester AGnES" -, Hausbesuche übernimmt, um zu sehen, wie es den Patienten vor Ort geht. Er steht in ständigem Kontakt zum zuständigen Hausarzt und hält Rücksprache mit ihm. Er überprüft, ob es notwendig ist, dass auch der Hausarzt den Patienten besucht. Hat der Routinebesuch ergeben, dass es nicht nötig ist, muss der Hausarzt nicht extra kommen. Die Zusammenarbeit zwischen dem ärztlichen Beruf und den anderen Gesundheitsberufen zu befördern, das greifen wir ganz bewusst in diesem Gesetzentwurf auf. Denn wir wissen: Für eine gute Versorgung der Menschen braucht man nicht nur Ärzte. Man darf nicht vergessen, dass Ärzte mit Vertretern anderer Gesundheitsberufe eng zusammenarbeiten und kommunizieren müssen. Die Ärzte sind in dieser Beziehung mittlerweile deutlich weiter als vielleicht noch vor einigen Jahren. Wir wollen diese Zusammenarbeit in Zukunft befördern. Denn wir wissen: Eine gute Versorgung in Deutschland schaffen wir nur, wenn wir alle Gesundheitsberufe und alle anderen, die im Gesundheitswesen tätig sind, in ihrer Arbeit miteinander verzahnen. Das wollen wir mit dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute abschließend beraten, leisten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Mechthild Rawert [SPD]: Sie brauchen Ausstattung, sie brauchen Geld! Sie brauchen nicht nur Verzahnung!) Es ist schon bezeichnend, dass Ihnen nicht viel mehr einfällt als die lahme Kritik, die Sie vorgebracht haben. Der Entschließungsantrag, den Sie heute vorgelegt haben, ist eigentlich ein Aufguss alter, oft gehörter Überschriften. Er wird aber nicht besonders konkret, wenn es um die Verbesserung des vom Patienten erlebten Versorgungsalltags geht. Wenn wir uns heute das deutsche Gesundheitswesen betrachten, dann stellen wir fest: Wir haben eine solide Finanzlage der Kassen und wachsenden Wettbewerb um die beste Qualität in der Versorgung. In unserer Gesundheitswirtschaft sind 4,5 Millionen Menschen beschäftigt. Es ist übrigens die Branche in Deutschland, die am stärksten wächst. Dieses Wachstum wollen wir befördern. Deswegen brauchen wir eine andere Finanzierungsgrundlage. Wir haben eine Freiheit bei der Ärztewahl und eine Therapiefreiheit, wie es sie kaum in einem anderen Land auf der Welt gibt. Wir haben eine flächendeckende Versorgung und vor allem Verständnis für die konkrete Versorgungssituation der Patienten, für ihre Sorgen und Nöte. Die greifen wir mit diesem Gesetzentwurf auf. Christlich-liberale Gesundheitspolitik ist erfolgreich. (Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Nein!) Sie wird auch erfolgreich bleiben. Das wurmt Sie - das wissen wir -, weil wir vieles von dem, was Gegenstand der gesundheitspolitischen Debatte in den letzten Jahren war, aufgegriffen haben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Jens Spahn (CDU/CSU): Wir laden Sie dazu ein, diesen Weg mit uns weiterzugehen. Christlich-liberale Gesundheitspolitik ist erfolgreich, weil sie gut für die Patientinnen und Patienten in Deutschland ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Niemals!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch beim Versorgungsstrukturgesetz, über das wir heute abschließend beraten, müssen wir über Demenz sprechen, und zwar über eine bestimmte Form von politischem Gedächtnisverlust, die wohl vor allem FDP-Mitglieder befällt. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD]) Anders kann ich mir es nicht erklären, Herr Minister Bahr, dass Sie jetzt bei der Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte an die Versicherten den Turbo einlegen. Bis Ende 2012 sollen 70 Prozent der Versicherten mit der E-Card ausgestattet sein, und das, obwohl die Praxistests reihenweise gescheitert und viele wichtige Fragen des Datenschutzes, der Selbstbestimmung und der Freiwilligkeit immer noch völlig ungeklärt sind. Darauf hat zu Oppositionszeiten übrigens nicht zuletzt eine Fraktion hier im Hause deutlich hingewiesen, und das war die FDP. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Und wir haben uns angeschlossen!) Um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, greift jetzt die Linke diese immer noch richtige Kritik auf. Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, die elektronische Gesundheitskarte auszusetzen, bis all diese dringenden Fragen geklärt sind, und zwar von unabhängigen Sachverständigen. (Beifall bei der LINKEN) Sie behaupten nun, Sie hätten die Bestandsaufnahme erfolgreich abgeschlossen. Das eine Übertreibung zu nennen, wäre eine ziemliche Untertreibung; denn diese sogenannte Bestandsaufnahme durch die Betreibergesellschaft Gematik erfolgte unter Ausschluss kritischer Expertinnen und Experten, auch unter Ausschluss des Parlaments. Die geplanten Funktionen, die voraussichtlichen Kosten oder der zusätzliche Verwaltungsaufwand in den Arztpraxen, all das blieb im Nebel. Ergebnisoffene Prüfungen sehen für mich anders aus. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb fordert die Linke heute: Setzen Sie nicht alles auf diese eine Karte! Legen Sie die Bremse ein! Machen Sie einen ehrlichen Stresstest, und lassen Sie vor allem auch Alternativen prüfen! (Beifall bei der LINKEN) Von der SPD haben wir nichts anderes erwartet, als dass sie diesem zweifelhaften Projekt zustimmt; schließlich war dies eines der Lieblingskinder der SPD in der Zeit, als Ulla Schmidt noch Gesundheitsministerin war. Sie haben die E-Card jahrelang, und zwar nicht nur während Ihrer Regierungszeit, trotz aller Pleiten und Pannen gefördert. Das hat der Kollege Edgar Franke in der Debatte zur Einbringung unseres Antrags bekräftigt. Aber selbst er gibt zu, dass die E-Card so, wie sie jetzt ist, zunächst - ich betone: zunächst - gar nichts besonders Neues bringt außer das Foto. Wenn es nach ihm geht, können die Pläne für eine elektronische Patientenakte aber gar nicht schnell genug umgesetzt werden. Kollege Franke meint, dass sie schon 2015 kommen soll. Bis dahin ist die Karte nur lästig für die Ärztinnen und Ärzte und teuer für die Versichertengemeinschaft. Ab dann wird es aber riskant für die Sicherheit der sensiblen Gesundheitsdaten der Patientinnen und Patienten und richtig interessant für diejenigen, die aus diesen Daten pures Kapital schlagen wollen. (Lars Lindemann [FDP]: Jetzt reden Sie doch einmal zum Gesetz! - Heinz Lanfermann [FDP]: Heute ist Versorgungsstrukturgesetz!) - Genau. Mit einem Änderungsantrag haben Sie das angehängt. Darf ich Ihrem Gedächtnis auch diesbezüglich auf die Sprünge helfen? Der Kollege Stracke von der Union wies uns damals darauf hin, welche "sehr große Bedeutung" die Gesundheitswirtschaft hat und dass wir uns angesichts dieses "riesigen Wirtschaftsfaktors" den "Entwicklungen, egal in welchem Bereich, nicht verschließen" dürften. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Was ist das eigentlich für eine Argumentation? Wir meinen, im Mittelpunkt des Gesundheitswesens müssen immer zuallererst die Interessen der Patientinnen und Patienten und dürfen eben nicht Wirtschaftsinteressen stehen. (Beifall bei der LINKEN) Natürlich wecken die Milliardenbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung Begehrlichkeiten weit über den Gesundheitssektor hinaus. Wir wollen mit unserem Antrag verhindern, dass Interessen von Konzernen und IT-Unternehmen immer mehr Einfluss auf die Gesundheitspolitik erhalten. In unserem Antrag fordern wir Sie auf, das Projekt noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Dafür fehlt Ihnen aber leider der Mut; schließlich geht es um bis zu 14 Milliarden Euro für die IT-Industrie. Diese Zahl stammt übrigens nicht von den Kritikerinnen und Kritikern des Projekts, sondern sie stammt aus einem Gutachten der Gematik, das nicht einmal der Bundestag kennen würde, hätte es damals nicht der Chaos Computer Club gehackt. Die IT-Industrie kann trotz erkennbarer Schwächen im Bereich der Datensicherheit mit ihrer Lobbyarbeit offensichtlich ganz zufrieden sein. Die Zeche zahlen sollen die Versicherten in der gesetzlichen Krankenkasse mit ihren Beiträgen. Ob die FDP zu Weihnachten so hübsche Spenden von IT-Firmen erhalten wird wie damals nach der Hotelsteuersenkung von Mövenpick, das werden nicht nur wir von der Linken ausgesprochen interessiert beobachten. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Schon mehr als 750 000 Menschen haben gegen die E-Card unterschrieben. Gemeinsam mit ihnen und mit vielen Verbänden und Organisationen fordert die Linke: Patientendaten gehören in Patientenhand. Deshalb sagen wir allen, die skeptisch sind: Kein Foto für die E-Card! In Großbritannien wurde ein ähnliches Projekt jüngst beerdigt, nachdem es schon viele Milliarden Pfund verschlungen hatte. In Deutschland erwies sich der elektronische Gehaltsnachweis ELENA nicht als die Lichtgestalt, als die Sie sie uns verkaufen wollten, sondern als glatter Rohrkrepierer. Bitte lernen Sie daraus! Bitte schalten Sie Ihr Erinnerungsvermögen wieder an! Werfen Sie Ihr Herz über die Hürde, und stimmen Sie einmal einem Antrag der Linken zu! Es tut nicht weh. Danke. (Beifall bei der LINKEN - Lars Lindemann [FDP]: Ganz großes Kino! - Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Inhaltsleer!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Maria Michalk hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Maria, hilf!) Maria Michalk (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Vogler, dass Sie von einem fahrenden Zug abspringen wollen, das verwundert uns nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kommen wir zurück zum Versorgungsstrukturgesetz. Wie wir heute Vormittag merken, ist eine gute, wohnortnahe, flächendeckende medizinische Versorgung für alle Menschen in aller Munde. Dies ist eine berechtigte Forderung von gesunden und erkrankten Versicherten, von Jungen und Alten, von Menschen mit und ohne Behinderung, von Männern und Frauen. Alle bewerten unser vorbildliches Gesundheitswesen - das kann nicht oft genug gesagt werden - unter dem Gesichtspunkt ihrer erlebten Versorgungsrealität. Es gibt in Deutschland die hochleistungsfähige, individuell gestaltete und abgestimmte Versorgung, die auf der ganzen Welt vorbildlich ist. Es gibt aber auch lange Wartezeiten, lange Wege und vielleicht auch Doppeluntersuchungen; das mag sein. Das Versorgungsstrukturgesetz wird sich in der Praxis bewähren. Wir haben es intensiv und sehr lange beraten. Über den drohenden und den tatsächlichen Ärztemangel in zunehmend mehr Regionen reden wir schon sehr lange. Ich erinnere an meine allererste parlamentarische Anfrage 2002 an die damalige Gesundheitsministerin Frau Schmidt. Dabei ging es um genau dieses Thema. In der Antwort wurde geleugnet, dass ein Mangel droht, dass vielleicht sogar schon ein Problem besteht. Es hat lange gedauert, bis über dieses Thema ernsthaft in der Politik diskutiert wurde. Bestimmte Länder haben - im Grunde genommen auf Testbasis - im Rahmen von Ausnahmeregelungen verschiedene Modellprojekte durchgeführt. Mit Fördermitteln wurden zusätzliche ambulante Praxen eingerichtet, um junge Mediziner auf das Land zu holen. Kommunen zahlten Stipendien für junge Medizinstudenten, um sie an die Region und vielleicht auch an die Kommune zu binden. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung gibt es objektiv die Notwendigkeit, die Unterstützung für Ärzte auf dem Land weiterzuentwickeln. Daher müssen alle Verantwortlichen im Gesundheitswesen, auch die kommunalen Verantwortungsträger und die Landesebene, im Rahmen der kleingliedrigeren Bedarfsplanung, die wir heute beschließen, in Zukunft noch besser gemeinsam agieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Es ist die Koalition aus CDU/CSU und FDP, die dieses Problem ernsthaft angeht. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das muss einmal gesagt werden! - Zuruf von der LINKEN: Ach Gott!) Ich möchte jetzt auf zwei Punkte etwas genauer eingehen. Mich freut besonders, dass in Zukunft der Ausbau der Telemedizin im ländlichen Raum durch eine bessere Vergütung gefördert wird. Mein Appell auch an unsere Wirtschaftsexperten lautet: Vergessen wir dabei nicht, dass der Ausbau der Breitbandversorgung dafür eine grundsätzliche Voraussetzung ist. Auch im ländlichen Raum muss es eine ausreichende Breitbandversorgung geben und nicht nur in Ballungsgebieten, wo es vielleicht effizienter ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Je schneller, desto besser. Wir meinen, dass gerade junge Mediziner die Herausforderungen der Telemedizin annehmen werden, weil sie sich im ländlichen Raum im Bereich der telemedizinischen Versorgung an innovativen Konzepten erproben und bewähren können. Das ist eine ganz neue Herausforderung. Dies wird in Zukunft Kreativität fördern und zu Kostenersparnis führen. Wir sehen im Gesetzentwurf eine Vielzahl von finanziellen Anreizen für Ärzte in unterversorgten Gebieten vor. Sie werden von Begrenzungen der Vergütung ausgenommen, können Preiszuschläge für ihre Leistungen erhalten und von den KVen über einen Strukturfonds gefördert werden. Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Es war uns wichtig, die Zulassungsregelungen für die Medizinischen Versorgungszentren zu konkretisieren. Seit ihrer Einführung im Jahr 2004 beobachten wir die Entwicklung der MVZ. Mit rund 8 600 Ärzten in rund 1 650 MVZ sind im Durchschnitt fünf Ärzte pro Einheit tätig, die meisten im Angestelltenverhältnis. Am häufigsten sind es Hausärzte und Internisten. Bei der Organisationsform handelt es sich vorwiegend um GmbH oder GbR. Der Anteil der Vertragsarztträgerschaft ist höher als der Anteil der Krankenhausträgerschaft. Bisher gründen sich MVZ sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten, allerdings lässt sich die Mehrzahl der MVZ in Kernstädten oder in Ober- und Mittelzentren nieder. Im ländlichen Raum sind es 15 Prozent. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass sich das Bild wandelt und diese Versorgungsmöglichkeit im ländlichen Raum stärker genutzt werden kann. Wir haben für bestehende MVZ eine Bestandsschutzwahrung festgeschrieben, allerdings mit der Maßgabe, dass die ärztlichen Leiter eines MVZ in medizinischen Fragen weisungsfrei sind. Das war uns besonders wichtig, weil wir möchten, dass die medizinische Versorgung im Vordergrund steht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Für bestehende MVZ, die dies nicht einhalten, gibt es eine Karenzzeit von sechs Monaten, dann muss es geregelt sein. Die Gründung ist nach § 95 Abs. 1 nur durch zugelassene Ärzte, zugelassene Krankenhäuser gemäß § 108 sowie SGB V sowie gemeinnützige Trägerorganisationen, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, möglich - eine Präzisierung, die wir für wichtig halten. Wir wollen die Konzentration auf Leistungserbringer, die den überwiegenden Teil der ambulanten und stationären ärztlichen Versorgung leisten. Deshalb bin ich froh, dass wir in diesem Gesetz noch eine Ausnahme regeln, nämlich für gemeinnützige Trägerorganisationen, die als Erbringer von nichtärztlichen Dialyseleistungen an der vertragsärztlichen Versorgung in dieser Form teilnehmen können. Aktiengesellschaften sind an dieser Stelle nicht mehr zugelassen. Sollte ein Nachbesetzungsverfahren notwendig werden, dann entscheidet der Zulassungsausschuss. Ich möchte noch einen weiteren Punkt kurz anführen: Dass wir die aufsuchende medizinische Versorgung haben, ist selbstverständlich. Hausärzte machen Hausbesuche. Dass wir jetzt eine aufsuchende zahnmedizinische Versorgung für Menschen, die nicht mobil sind, die wir nicht mehr in die Praxis bringen können, die zu Hause oder in Heimen krank, pflegebedürftig oder behindert sind, durch zusätzliche Aufwandsentschädigungen für den Leistungserbringer regeln, ist ein guter und ein wichtiger Schritt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Insgesamt ist festzustellen, dass wir viele kleine Punkte aufgeführt haben. Es war eine Fleißarbeit. Ich bin mir sicher, dass alle Leistungserbringer das zum Wohle der Versicherten und der Patientinnen und Patienten und - so hoffen wir - im Geiste dieses Gesetzes ausgestalten werden. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je schlechter ein Gesetz ist, umso mehr bedarf es der Nachbesserung und umso mehr Änderungsanträge müssen produziert werden. Wer bei der Anhörung war, der hat natürlich auch erlebt, wie verheerend diese Anhörung für die Koalition gewesen ist. Es kamen praktisch Watschen von allen Seiten. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Nun haben Sie fleißig - Frau Michalk hat es noch einmal gesagt - gearbeitet. Sie haben 125 Änderungsanträge produziert. (Elke Ferner [SPD]: Trotzdem ist es nicht besser geworden!) Nur, wenn ich das in einer Beurteilung ausdrücken müsste, würde ich schreiben: hat sich stets fleißig bemüht. - Sie wissen selbst, was das bedeutet. Durch die Änderungsanträge ändert sich die grundsätzlich falsche Ausrichtung dieses Gesetzes überhaupt nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das sogenannte Versorgungsstrukturgesetz ändert eben keine Strukturen. Aber das wäre notwendig gewesen, weil wir mit dem klassischen Einzelkämpferarzt den Anforderungen, die vor uns stehen, nicht gerecht werden können. Wir müssen hinsichtlich der Gewährleistung der gesundheitlichen Versorgung nicht vom niedergelassenen Arzt her denken, wie Sie das tun. Bei Ihnen steht dieser nach wie vor im Mittelpunkt. Sie sagen zum Bespiel, wir müssen die Honorare erhöhen, damit Ärzte in die ländlichen Regionen gehen. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ja, wir setzen auf Anreize!) Sie schaffen Voraussetzungen dafür, dass niedergelassene Ärzte zusätzlich im Krankenhaus tätig werden können. Die anderen Leistungserbringer müssen sich, was die Strukturen betrifft, nach dem niedergelassenen Arzt richten - sie dürfen ihm quasi nicht in die Quere kommen -, und die Patientinnen und Patienten, für die diese Versorgung eigentlich da ist, müssen sich mit diesen Strukturen zufriedengeben. Sie müssen quasi damit Vorlieb nehmen. (Beifall bei der SPD) Das kann nicht so bleiben. Wir müssen hinsichtlich der Gewährleistung der Versorgung vom Patienten her denken. Wir müssen fragen: Was brauchen wir für eine bedarfsgerechte Versorgung der Patientinnen und Patienten überall im Land, ganz egal, ob sie in der Großstadt oder auf dem Dorf leben? Wir alle wissen: Die Menschen werden immer älter - der Anteil älterer und hochaltriger Menschen steigt -, die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt zu, und wir haben schon heute in vielen Regionen Deutschlands Versorgungsengpässe. Das alles sind Herausforderungen, vor denen wir stehen und die wir bewältigen müssen. Hier ist echte Teamarbeit gefragt, nicht nur zwischen Hausärzten und Fachärzten, nicht nur zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern, sondern auch zwischen Ärzten und nichtärztlichen Gesundheitsberufen. Es gibt im Übrigen viele Ärztinnen und Ärzte, die das auch so sehen. Aber dieses Gesetz wird diesem Anspruch nicht gerecht. Durch das Gesetz zieht sich wie ein roter Faden Klientelpolitik für Vertragsärzte. (Lars Lindemann [FDP]: Und für Patienten!) Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber modernen Versorgungsstrukturen wie zum Beispiel Medizinischen Versorgungszentren. Auch wenn die Medizinischen Versorgungszentren hier gerade sehr gelobt worden sind, muss man doch feststellen, dass den Medizinischen Versorgungszentren mit diesem Gesetz wieder Fesseln angelegt werden. (Beifall bei der SPD) Eines muss man der Koalition lassen: Sie ist konsequent, wenn es um die Klientelpolitik für niedergelassene Ärzte geht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lars Lindemann [FDP]: Und für Patienten!) Aber es fehlen der Wille und vielleicht auch der Mut, konsequent etwas für die qualitätsgesicherte Versorgung der Patientinnen und Patienten zu tun. Ein Beispiel dafür ist, dass wir schon ewig auf das angekündigte Patientenrechtegesetz warten. Ich bin gespannt, ob es im Frühjahr nächsten Jahres das Licht der Welt erblicken wird. (Elke Ferner [SPD]: Wahrscheinlich nicht!) Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen: den Umgang mit neuen Medizinprodukten. Verbraucherschützer beklagen, dass zum Beispiel neuartige Endoprothesen oder neuartige Stents auf den Markt kommen und den Patientinnen und Patienten implantiert werden, obwohl man noch nichts über ihre Qualität und nichts darüber sagen kann, ob sie tatsächlich einen Nutzen für die Patientinnen und Patienten bringen. Durch dieses Gesetz wird sich daran leider nichts ändern. Das ist sehr bedauerlich für die Patientinnen und Patienten und natürlich auch für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die einen Anspruch auf eine qualitätsgesicherte Versorgung haben. Dieses Gesetz ändert trotz seines schönen Namens nichts an den Versorgungsstrukturen. Es verbessert die Versorgung der Patientinnen und Patienten nicht. Aber eines kann man mit Sicherheit sagen: Durch dieses Gesetz wird die Versorgung teurer, zum Beispiel deshalb, weil die Honorare für die Ärzte steigen. (Lars Lindemann [FDP]: Sie müssen sich schon mal entscheiden! Wollen Sie sie nun besser bezahlen oder nicht?) Wer muss das bezahlen? (Lars Lindemann [FDP]: Sie wollen sie also nicht besser bezahlen, ja? Dann sagen Sie das doch dazu!) Das müssen die Versicherten über Zusatzbeiträge allein bezahlen; denn diese Regierung hat die Arbeitgeberbeiträge eingefroren. (Lars Lindemann [FDP]: Mehr Leistung ohne Anreize wollen Sie! Zwangsarbeit!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie vielleicht Bedenken haben, einem Gesetz zuzustimmen, das die Versorgung nicht verbessert, das Gesundheitssystem aber teurer macht, dann ermutige ich Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Lothar Riebsamen für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung wurde gestern in meiner Heimatzeitung mit folgender Überschrift zitiert: Das Land muss sich neu erfinden. - Gott sei Dank müssen wir das Gesundheitswesen nicht neu erfinden; denn wir haben ein gutes Gesundheitswesen. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Richtig!) Es ist aber notwendig, dieses Gesundheitswesen weiterzuentwickeln; das ist wahr. Wir müssen auf die demografische Entwicklung reagieren. Die Bevölkerung, also auch die Patientinnen und Patienten, wird erfreulicherweise immer älter, und auch die Ärztinnen und Ärzte werden erfreulicherweise immer älter. Durchschnittlich sind sie inzwischen 53 Jahre alt. Damit läuft bereits jetzt eine Welle von Inruhestandsetzungen, und es ist keineswegs gewährleistet, dass all diese niedergelassenen Ärzte auch tatsächlich einen Nachfolger finden. Das ist ein Problem. Ein weiteres Problem ist der Trend, dass die Bevölkerung raus aus ländlichen Räumen hinein in die Städte zieht. Das hat damit zu tun, dass wir zu wenige Kinder haben. Familien mit Kindern bevorzugen den ländlichen Raum. Diese werden nun leider weniger, mit der Folge, dass die öffentliche Infrastruktur, wie Schulen, Kindergärten und anderes mehr, und auch die private Infrastruktur, wie Geschäfte, Bankfilialen und auch Arztpraxen, im ländlichen Raum in Nöte kommen, es hier Einschränkungen gibt und auch Einrichtungen geschlossen werden. Die dritte Herausforderung besteht darin, dass die heutige junge Ärztegeneration eine etwas andere Vorstellung davon hat, ihren Beruf zu leben als die Generation vor 20 oder 30 Jahren. Hier spielen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die Frage, ob man das Risiko eingehen kann, im ländlichen Raum in eine neue Arztpraxis zu investieren, eine wichtige Rolle. Diesem Bündel von Veränderungen stellen wir mit diesem Gesetzentwurf ein Bündel von Maßnahmen zur Lösung gegenüber. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf das Gesundheitsniveau in unserem Land mit weiterhin freier Arztwahl, freier Krankenhauswahl und einer flächendeckenden Versorgung im ambulanten und stationären Bereich auf hohem Niveau halten. Bei dieser Problemlage spielt natürlich die Bedarfsplanung eine herausragende Rolle. Es ist notwendig, die Bedarfsplanung nicht mehr global, pauschal zu betrachten, sondern sie ganz konkret an den örtlichen Gegebenheiten, an den Distanzen bis zum nächsten Facharzt und bis zum nächsten Hausarzt, an der konkreten Morbidität und an der konkreten Sozialstruktur auszurichten. Es ist bei dieser Bedarfsplanung auch notwendig, sektorübergreifend vorzugehen - das tun wir mit diesem Gesetzentwurf -, Krankenhäuser und Rehakliniken mit einzubeziehen, aus wirtschaftlichem Interesse dafür zu sorgen, dass Doppelstrukturen abgebaut werden, und im Interesse der Patienten zu erreichen, dass diese nicht von Pontius zu Pilatus gehen müssen, sondern die Diagnosen und Therapien möglichst an einer Stelle erhalten können. Diese Ziele können wir nicht ohne die Ärzte, sondern nur im Zusammenspiel mit den Ärzten erreichen. Deswegen müssen wir Anreize setzen, um den niedergelassenen Ärzten vor allem im ländlichen Bereich und in bestimmten Stadtbezirken das Leben ein Stück weit zu erleichtern. Dazu gehört zum Beispiel die Abschaffung der Residenzpflicht. Wenn beide Partner in verschiedenen Städten arbeiten, dann muss schon innerhalb der Familie ein Kompromiss geschlossen werden. Deswegen ist die Abschaffung der Residenzpflicht wichtig. Es werden größere Notdienstbereiche geschaffen, damit die jungen Arztfamilien die Wochenenden und ihre Freizeit besser planen können, und es werden natürlich auch finanzielle Anreize gesetzt. Diese finanziellen Anreize sind notwendig, und es ist auch richtig, diese am konkreten Bedarf vor Ort auszurichten, indem die Honorare dezentral festgesetzt und Abstaffelungen abgeschafft werden. Wenn ein Arzt seine Praxis in einer Gemeinde schließt und dort nur noch ein Arzt übrig bleibt, dann kann es nicht sein, dass dieser dafür bestraft wird, dass er mehr arbeitet als bisher. Die richtigen Anreize müssen allerdings - ich erlaube mir, das zu sagen - über diesen Gesetzentwurf hinaus auch im stationären Bereich gesetzt werden. Hier geht es darum, Krankenhäuser in der Fläche zu sichern. Es geht aber auch darum, Überkapazitäten dort, wo sie vorhanden sind, abzuschaffen, und es ist auch nicht unbedingt das richtige Mittel, fehlende Erlöse in den Krankenhäusern permanent durch Mehrleistungen auszugleichen. Deswegen halte ich es für notwendig und richtig, dass wir uns über diesen Gesetzentwurf heute hinaus zeitnah Anfang des neuen Jahres über die Erlössituation in den Krankenhäusern unterhalten. Dort klafft die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben - auch mit Blick auf die Tarifverhandlungen - allzu weit auseinander. Das halte ich für ein wichtiges Ziel dieser Koalition im kommenden Jahr, für das ich mich sehr gern einsetzen werde. Mit diesem Gesetzentwurf wird sichergestellt, dass wir die Probleme, die auf uns zukommen, nicht nur passiv zur Kenntnis nehmen, sondern aktiv darauf reagieren. Ich habe mit dem Zitat vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung begonnen. Wir müssen auf die Veränderungen, die es nun einmal in der Welt gibt, reagieren. Mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir Verbesserungen für das System insgesamt, insbesondere aber für unsere Patientinnen und Patienten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8005, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/6906 und 17/7274 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheiten angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8009? - Gegenprobe! - Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mehrheitlich angenommen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8010? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Unter Tagesordnungspunkt 3 b setzen wir die Abstimmung zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/8005 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3215 mit dem Titel "Wirksamere Bedarfsplanung zur Sicherung einer wohnortnahen und bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7190 mit dem Titel "Wirksame Strukturreformen für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung auf den Weg bringen". Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d der gleichen Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/7460 mit dem Titel "Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen worden. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aber knapp!) - Das war schon ziemlich übersichtlich. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis e sowie 20 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen - Drucksache 17/7942 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des Ausweises - Drucksache 17/6586 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Behindern ist heilbar - Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft - Drucksache 17/7872 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Teilhabesicherungsgesetz vorlegen - Drucksache 17/7889 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Neuntes Buch Sozialgesetzbuch im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit Behinderung weiterentwickeln - Drucksache 17/7951 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB unterstützen - Drucksache 17/7827 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir offensichtlich so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. (Unruhe) Sobald man sich auf den Bänken neu sortiert hat, erhält die Kollegin Elke Ferner das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Am Samstag ist der Welttag der Menschen mit Behinderungen. Ich muss sagen: Ich freue mich, dass heute in der Debatte auch Frau von der Leyen das Wort ergreift. Nach meiner Erinnerung ist es eine Premiere, dass ein Mitglied der Bundesregierung, zumindest auf der Ministerebene, das Wort ergreift, wenn die Opposition Anträge zu einem Thema einbringt. Ich bin sehr gespannt, Frau von der Leyen, welche unserer vorgeschlagenen Maßnahmen Sie bereit sind zügig umzusetzen, um den Menschen mit Behinderungen entgegenzukommen und die Situation zu verbessern. Am Samstag werden sich viele mit schönen Worten zur Inklusion bekennen. Aber Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen ist alleine mit Reden, auch wenn sie noch so schön sind, nicht geholfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie wollen als selbstverständlicher Teil der Vielfalt einer Gesellschaft akzeptiert und respektiert werden. Sie wollen nicht als Bittstellerinnen oder Bittsteller am Rande der Gesellschaft stehen. Sie wollen teilhaben können und nicht nur bloß teilhaben dürfen. Für uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen bilden die gleichberechtigte Teilhabe und die Selbstbestimmung aller Menschen, die von gegenseitigem Respekt und von gegenseitiger Solidarität getragen sind, das Fundament unserer Gesellschaft. Behindertenpolitik ist keine Nischenpolitik. Sie ist Menschenrechtspolitik. Politik für Menschen mit Behinderungen muss immer Politik zusammen mit den Expertinnen und Experten in eigener Sache sein und keine Politik über sie. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben seit 1998 mit den Grünen viel auf den Weg gebracht, auch wenn wir noch lange nicht alles erreicht haben, was man erreichen muss. Wir haben das Behindertengleichstellungsgesetz gemacht. Damit haben wir erstmals Ansprüche behinderter Menschen auf barrierefreien Zugang sowohl zu Infrastruktureinrichtungen als auch zu Informationen und geistiger Teilhabe gesetzlich verankert. Wir haben mit der Einführung des SGB IX als Erste den Versuch unternommen, das zergliederte Sozialsystem zugunsten von Menschen mit Behinderungen zusammenzuführen. Wir haben in der Großen Koalition gegen die erbitterten Widerstände aus CDU und CSU das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auch in Deutschland Wirklichkeit werden lassen. Das sind sicherlich Meilensteine in der Behindertenpolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Seit 2006 gilt damit erstmals ein eigenes Gesetz, mit dem die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen sanktioniert wird. Davon - das muss man leider sagen - zehren die Koalition und die sie tragenden Fraktionen immer noch. Bisher sind keine eigenen Initiativen auf den Weg gebracht worden. (Beifall bei der SPD) Wir haben vor zwei Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, und die Regierung hat nichts geliefert. Unser Antrag enthält mehr Forderungen und Möglichkeiten als das, was Sie in Ihrem doch sehr zögerlichen Nationalen Aktionsplan geliefert haben. Wir haben kein Erkenntnisdefizit. Wir haben ein Umsetzungsdefizit. Deshalb muss ein Aktionsplan mehr als ein paar Absichtserklärungen und Forschungsaufträge enthalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich muss Ihnen sagen: Mit Ihrer konkreten Politik gehen Sie zurück und nicht voran. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen. Das KfW-Programm zur Förderung von Maßnahmen zum Bau einer barrierefreien Wohnung läuft aus. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Nein! Das läuft weiter!) Was machen Sie mit den Teilen der UN-Behindertenrechtskonvention, in denen es um Bewusstseinsbildung und Vorgehen gegen Diskriminierung geht? Die Mittel für die Antidiskriminierungsstelle werden gekürzt, und zwar Jahr für Jahr. Sie wollen die Rentenversicherungsbeiträge von Beschäftigten im Ausbildungsbereich einer Werkstatt für Behinderte der Verantwortung der Steuerzahler entziehen und diese Kosten auf die Rehaträger abladen. Auch in der Novelle des Personenbeförderungsgesetzes ist nichts zu umfassender Barrierefreiheit in den neuen Fernbussen, die bald auf Deutschlands Straßen unterwegs sein werden, zu finden. All das sind Schritte zurück und nicht nach vorne. Der letzte Punkt, den ich im Rahmen der konkreten Beispiele noch anführen möchte, ist, dass Sie bei der Neuordnung der Regelsätze Menschen über 25 Jahre ungleich behandeln, abhängig davon, ob sie zum Rechtskreis des SGB XII oder des SGB II zählen. Damit haben Sie de facto Leistungen für Menschen mit Behinderungen gekürzt, Frau von der Leyen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie nach der Protokollnotiz, die von der Bundesregierung im Bundesrat abgegeben worden ist, heute ankündigen würden, dass Sie schnell eine Lösung anbieten werden, statt ellenlange Briefe zu schreiben und das Ganze auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Die Einzelheiten werden nachher noch von den anderen Rednern und Rednerinnen erläutert. Ich glaube, dass wir in der Behindertenpolitik einen Paradigmenwechsel brauchen. Wir müssen uns - wir wollen das auch - an den Stärken und Potenzialen der Menschen mit Behinderungen orientieren, und wir müssen die bisherige Defizitorientierung endlich überwinden. (Gabriele Molitor [FDP]: Genau das macht der Aktionsplan!) Das macht, glaube ich, auch in der Zukunft den Unterschied aus. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir im Interesse der Menschen mit Behinderungen noch in dieser Wahlperiode nennenswerte Fortschritte auf den Weg bringen können, auch wenn wir vielleicht nicht in jedem Punkt einer Meinung sein werden. Den Rest - das kann ich Ihnen versprechen - machen wir dann zusammen mit den Grünen nach dem Jahr 2013. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von der Leyen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ferner, ich habe die Kritik im Detail gehört. Aber ich glaube, es gibt auch sehr große Gemeinsamkeiten. Ich möchte zwei, drei Gedanken über diese Gemeinsamkeiten vorwegschicken. Denn das ist auch der zentrale Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention, der dies deutlich formuliert, nämlich die Idee der Inklusion. Unsere Vision, unser Ziel ist die Inklusion. Wir sind auf dem Weg dorthin, dass wir eines Tages in einer Gesellschaft leben, in der es in Geschäften, auf Straßen, in Hotels, in einer Pizzeria, im Fernsehen, bei der Arbeit, in der Straßenbahn, wo immer wir uns bewegen, Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, intellektuellen oder mentalen Voraussetzungen gibt, die mit großer Selbstverständlichkeit ohne Trennung miteinander leben, und dass wir das als selbstverständlich erleben. Das ist der große Gedanke der Inklusion der UN-Behindertenrechtskonvention. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für uns ist der Auftrag, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, ein Focal Point. Die Bundesregierung hat den Nationalen Aktionsplan auf den Weg gebracht, mit dem wir mit 200 größeren und kleineren Maßnahmen entsprechende Schritte machen. Sie können sie kritisieren und sagen: Das ist zu wenig. Aber die Konvention sagt zu Recht: Alle - also nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Länder, die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände und die Wirtschaft - sollen sagen, was sie dazu beitragen, dass wir in einer inklusiven Gesellschaft leben können. Der Gedanke ist, dass jeder erst einmal selber sagt, was er oder sie für eine inklusive Gesellschaft tut, bevor man mit dem Finger auf andere zeigt und sagt: Ihr müsst das tun. Man soll erst einmal selber sagen: Was können wir beitragen? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich glaube, das ist ein großartiger Ansatz. Denn es ist viel schwerer zu sagen: "Das tun wir aktiv", sei es ein Verband, ein Wirtschaftszweig, eine Kommune, die Bundesregierung oder ein einzelnes Bundesland, als zu sagen, was man von anderen fordert. Bisher hat neben der Bundesregierung ein einziges Bundesland einen nationalen Aktionsplan vorgelegt; das ist Rheinland-Pfalz. Andere sind auf dem Weg. Aber ich freue mich auch, dass mir zum Beispiel einzelne Wohlfahrtseinrichtungen schreiben, die mir den Aktionsplan für ihre Einrichtung zeigen wollen und mit mir darüber ins Gespräch kommen möchten. Das ist das Schneeballsystem. Das ist der große Gedanke der Inklusion, den wir gemeinsam voranbringen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das ist auch Ausdruck der Ernsthaftigkeit, der Gewissenhaftigkeit und des Ehrgeizes, mit dem wir an diese Aufgabe herangehen. Wir alle wissen: Es gibt auch die andere Seite. Wir haben sehr komplexe Strukturen. Wir haben lange auf Sondereinrichtungen, Sonderlösungen und Sonderprogramme gesetzt und eher auseinandergebracht, was eigentlich zusammengehört. Es gibt die berechtigte Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Einfachheit und Authentizität. Das ist, wenn ich es einmal umgekehrt formulieren darf, die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der weder Familien noch Klassengemeinschaften daran zerbrechen, dass ein behindertes Kind in ihnen lebt, in der ein Unfall mit bleibenden Folgen nicht zwangsläufig den Verlust von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bedeutet, in der in Geschäften der Zugang nicht erst durch eine Verbandsklage erreicht werden kann, in der Menschen in der Bahn völlig unkompliziert von A nach B fahren können, um nur einige Gedanken vornewegzuschicken. Das heißt, wir müssen jetzt konkret in einzelnen, vielleicht kleineren oder auch größeren Schritten den Weg dorthin gehen. Beispiel Deutsche Bahn: Früher konnten 1,4 Millionen schwerbehinderte Menschen in einem 50-Kilometer-Radius um ihren Wohnort kostenlos mit der Regionalbahn fahren. Für jeden Kilometer darüber hinaus, ab dem 51. Kilometer, mussten sie ein Ticket lösen. Das bedeutet für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, oder für Menschen, die blind sind, eine enorme Barriere. Seit September sind diese Grenzen bei der Bahn gefallen; der Nahverkehr ist für Menschen mit schwerer Behinderung in Deutschland unbegrenzt nutzbar. (Widerspruch des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Ich finde das großartig von der Bahn, und genau diese Form der Unterstützung wünsche ich mir auch in anderen Bereichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beispiel Arbeit: Die Arbeitslosenzahl bei Menschen mit Schwerbehinderung liegt bei knapp 174 000. Da waren wir vor zwei Jahren auch. Im Januar waren wir bei 190 000. Die Zahl ist wieder gesunken, aber wir haben die schon erreichte Schwelle noch nicht unterschritten. Wir wollen besser werden. Wir haben die "Initiative Inklusion", mit 100 Millionen Euro unterfüttert, auf den Weg gebracht: für 20 000 schwerbehinderte Schülerinnen und Schüler Förderung der Ausbildung, 1 300 betriebliche Ausbildungsplätze zusätzlich, 4 000 neue reguläre Jobs für ältere Schwerbehinderte. Das ist unser Beitrag. Noch einmal zur Richtigstellung: In den Werkstätten im Rehabereich ändert sich für Menschen mit Behinderung gar nichts, Frau Ferner. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist aber schlecht!) Gar nichts ändert sich, es wird gezahlt. Auch bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten ändert sich für Menschen mit Behinderungen gar nichts. Ich glaube, das sollte man einfach einmal anerkennen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es bessert sich also auch nichts!) Beispiel Gesundheit: Nur 10 Prozent der Arztpraxen sind vollständig barrierefrei. (Zurufe von der SPD: Was?) Wir als Bundesregierung setzen uns deswegen mit Vertretern des Gesundheitswesens zusammen. Denn für Menschen mit Behinderungen ist die vollständige Barrierefreiheit entscheidend, damit sie ihre freie Arztwahl ausüben können; sonst können sie dieses Recht nicht wahrnehmen. Also ist unser Ziel, in den nächsten zehn Jahren eine deutlich erhöhte Zahl an barrierefreien Praxen zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das zeigt: Der NAP ist ein Motor für Veränderungen, aber kein Gesetzespaket. Diese Debatte zeigt aber auch - da danke ich noch einmal für die Anträge, die ich in ein paar Details unterstütze, in anderen nicht -, (Elke Ferner [SPD]: In welchen denn?) dass wir eine große Übereinstimmung bei den Stichworten barrierefreie Arztpraxen, Bildung, Reha, Arbeit und Beschäftigung haben. Wir haben aber auch eine große Übereinstimmung hinsichtlich des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Weiterentwicklung des SGB IX, zur Stärkung des inklusiven Ansatzes. Dazu möchte ich noch einmal sagen: Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sehr systematisch an der Veränderung des SGB IX arbeitet, um einerseits strukturell-inhaltlich die vielen Brüche und Widersprüche zu eliminieren und andererseits das Kostengerüst für unsere gemeinsamen Vorstellungen zu entwickeln. Sie macht eine gute Arbeit und ist fast fertig. Ich sage an dieser Stelle: Ich wünsche mir schlicht und einfach - da gibt es einen großen Konsens zwischen Bund und Ländern, (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) mit den unterschiedlichsten Parteien und den unterschiedlichsten Interessen dahinter -, dass wir diesen Weg gemeinsam weitergehen. Dazu werde ich meinen Teil beitragen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie sich mein Verhältnis zu Menschen mit Behinderung im Laufe der Jahre verändert hat. Wir sprechen hier von Menschen mit bestimmten Behinderungen, ob nun mental, geistig oder körperlich behindert - damit es da keine Zwischenrufe gibt und Sie wissen, wen wir meinen. Seien wir doch einmal ganz ehrlich: Meine Generation hat eher ein scheues Verhältnis zu diesen Menschen. Wir haben als Kinder den sozialen Umgang mit ihnen nämlich nicht gelernt. Da gibt es heute schon deutliche Verbesserungen. Wenn ich Nazis jetzt einmal weglasse, die solche Leute schlagen - das ist völlig indiskutabel; darüber müssen wir gar nicht diskutieren -, stelle ich fest: Die anderen sind eher nett, aber eben doch zurückhaltend; sie wollen nicht so viel damit zu tun haben und denken deshalb nicht daran. Ich bin ganz sicher: In der Unionsfraktion und in unserer Fraktion hat sich dadurch etwas verändert, dass beide Fraktionen einen Rollstuhlfahrer in ihren Reihen haben. Ich schildere Ihnen einmal, wie das war: Wir organisierten eine Veranstaltung. Natürlich hatte keiner an die Behinderten gedacht. Dann kam Ilja Seifert in den Veranstaltungsraum nicht hinein, und wir mussten vier starke Männer organisieren, um das irgendwie zu regeln. Wir hatten an dieses Problem einfach nicht gedacht. Ich glaube, dass sich das bei Ihrer Fraktion und bei unserer Fraktion geändert hat, weil wir einfach gezwungen waren, daran zu denken. Ich möchte, dass wir jetzt einmal ehrlich im Umgang miteinander sind und sagen: Wir müssen uns wirklich einen Ruck geben; wir müssen ganze Generationen darauf vorbereiten, dass sie eine gleichberechtigte Teilhabe dieser Menschen wollen. Sie müssen erkennen, dass es sie selbst bereichert, wenn sie anders an das Ganze herangehen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Für den 2. und 3. Dezember 2011 war eine Begegnung von Bundestagsabgeordneten mit Menschen mit Behinderung geplant; auch Bundesministerinnen und Bundesminister sollten daran teilnehmen. - Abgesagt, ausgeladen! (Maria Michalk [CDU/CSU]: Verschoben!) - Ja, ja, ich weiß: Sie kommt nächstes Jahr. - Warum? Weil über 100 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer kommen wollten, und dann stellte man fest, dass dieses Gebäude, der Reichstag, der zum Teil umgebaute neue Bundestag, nicht in der Lage ist, diese Rollstuhlfahrer aufzunehmen. Das ist doch eine traurige Erkenntnis. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir können das nicht anders bezeichnen. Was ist jetzt unsere Schlussfolgerung, Frau Bundesministerin von der Leyen? Diese Begegnung findet nächstes Jahr mit weniger Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern statt. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Ihr Kollege wollte 80 ausladen! Ist das besser?) Das kann doch nicht die Antwort sein. Die Antwort muss sein, dafür zu sorgen, dass sie alle kommen und teilnehmen können. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Nun geht es um die UN-Behindertenrechtskonvention; sie ist geltendes Recht. Sie ist übrigens die erste Menschenrechtskonvention in diesem Jahrhundert. Die Große Koalition hat erklärt: Ein Aktionsprogramm ist gar nicht nötig. Die jetzige Koalition sagt: Wir machen ein Aktionsprogramm. Allerdings müssen Sie doch einräumen, Frau Bundesministerin: Fast sämtliche Behindertenbewegungen haben Ihren Aktionsplan kritisiert, und zwar aus gutem Grund: weil er eben nicht den Durchbruch bringt, den wir diesbezüglich endlich brauchen. Diese Konvention verlangt eine einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabesicherung. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Ich nenne einmal ein paar Beispiele: ICE - nur zwei Plätze für Rollstuhlfahrerinnen bzw. Rollstuhlfahrer. Begrenzungen gibt es aber auch in Kinos, in Theatern, in Stadien. In wie vielen Gebäuden können Behinderte nicht auf Toiletten? Und in wie viele Gebäude kommen sie gar nicht erst hinein? Das gilt auch für Arztpraxen - Sie haben sie genannt; die Zahl 10 Prozent scheint mir übrigens sehr niedrig zu sein; ich glaube, es sind mehr -, Apotheken, Hotels, Gaststätten, Kultureinrichtungen, Kirchen und Wohnhäuser. Überall müssen wir etwas tun. Es gibt übrigens auch viele Straßenbahnen, die noch nicht behindertengerecht sind, das heißt, sie sind nicht entsprechend ausgerüstet. Bei der Bahn ist es schon viel besser; aber dort fehlt oft das Personal, vor allen Dingen wenn Menschen mit Behinderung später ein- oder aussteigen wollen. Auch das ist ein Problem. Jetzt beraten wir über ein neues Fernbus-Gesetz. Frau Bundesministerin, warum schreiben wir in dieses Gesetz nicht hinein, dass Fernbusse künftig barrierefrei zu sein haben? Das könnte doch verpflichtend in diesem Gesetz stehen. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe im Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern eine Werkstatt für geistig Behinderte besucht. Ich habe festgestellt, dass diese Menschen mit großer Konzentration arbeiten und immer gleiche Handgriffe machen, wie ich es überhaupt nicht könnte. Ich habe festgestellt, dass diese Menschen Dinge können, die ich nicht kann. Das zu erkennen, ist ungeheuer wichtig. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie können das mit einer Ausdauer, die ich in einem solchen Fall gar nicht an den Tag legen könnte. Aber sie bekommen nur ein Entgelt. Schon die Bezeichnung "Entgelt" finde ich doof. Warum kann diese Arbeit eigentlich nicht bezahlt werden? Die Betreuerinnen und Betreuer erzählten mir, dass sie gerne einmal eine Prämie oder etwas Ähnliches geben würden, aber dass das nicht gehe, weil das Geld gleich wieder mit der Grundsicherung verrechnet werde. Das heißt, sie bekommen es nicht wirklich ausbezahlt. Mein Gott, warum müssen wir da so kleinkariert sein? Können wir ihnen nicht einmal eine Anerkennung für ihre Arbeit und ihre Leistung in Form einer Prämie gönnen? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht verstanden. Ich sage noch einmal: Es geht nicht zuvörderst - das natürlich auch - um medizinische und soziale Probleme, sondern um Menschenrechte. Das müssen wir wirklich begreifen. (Beifall bei der LINKEN) Die Konvention kann nur umgesetzt werden, wenn alle Fachressorts der Bundesregierung daran mitwirken - nicht sie allein, das wäre gar nicht zu schaffen; die anderen Ressorts müssen ebenfalls beteiligt werden -, aber auch die Länder, die Kommunen und ebenso - sie sollte man nicht vergessen - die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kultur. Letztlich müssen alle Bereiche ein anderes Denken an den Tag legen, anders damit umgehen, die Konvention verinnerlichen und sie dann so schnell wie möglich umsetzen. Es gibt noch etwas: Ich möchte nicht, dass über Menschen mit Behinderung entschieden oder geredet wird ohne sie. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie müssen das Recht auf Teilhabe haben, und zwar auch, wenn Rechtsakte vorbereitet werden. Wir haben beim Fernbus-Gesetz keine Menschen mit Behinderung gefragt. Sonst hätten sie gesagt: Denkt doch bitte auch an die Barrierefreiheit! Also müssen wir im Bundestag diese Verpflichtung wahrnehmen und immer daran denken. Ilja Seifert hat mich im Laufe der Jahre immer wieder dazu gezwungen, sodass ich es inzwischen nicht mehr vergesse. Das war früher anders; das bestreite ich gar nicht. Aber, Ilja, du musst zugeben: Ich habe mich deutlich gebessert. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ich bin sofort fertig. - Wir haben drei Anträge eingebracht, die meines Erachtens sehr sinnvoll sind. Sie sollten sie alle annehmen. Es stimmt nämlich: Behinderung ist in einem bestimmten Sinne heilbar. Das müssen wir durchsetzen. Der Welttag für die Menschen mit Behinderung ist der 3. Dezember. Wir müssen uns einen Ruck geben und unsere Einrichtungen so ausstatten, dass die Teilhabe der Menschen mit Behinderung am politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und jedem anderen gesellschaftlichen Leben so weit wie möglich gewährleistet wird. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gabriele Molitor (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich mache es einmal ganz anders: Ich fange mit etwas Schönem an. Kennen Sie die Band "Seeside"? Oder kennen Sie GSDS? Die Band "Seeside" hat in dieser Woche den integrativen Musikwettbewerb gewonnen. GSDS heißt "Guildo sucht die Super-Band". Guildo Horn hat diesen Wettbewerb gemeinsam mit der Lebenshilfe ausgerufen. 203 Bands und Musiker haben sich beteiligt. "Seeside" hat den ersten Platz errungen. Bei "Seeside" musizieren geistig und körperlich behinderte Menschen gemeinsam. Jetzt hat die Band also den Preis errungen und hofft auf einen Plattenvertrag. Der Wettbewerb zeigt, was möglich ist, wenn sich Menschen engagieren. Guildo Horn hat in beispielhafter Weise deutlich gemacht, was möglich ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich kann Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie sich die Band an. Sie werden unweigerlich mitwippen, weil Sie die Lebensfreude erleben, die von diesen Menschen ausgeht. Genau das brauchen wir. Wir brauchen Menschen mit Behinderung in der Mitte unserer Gesellschaft und nicht am Rand. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht aber auch darum, dass behindernde Umstände verändert werden können und müssen. Das macht auch die Kampagne des Bundesarbeitsministeriums "Behindern ist heilbar" deutlich. Auf großen Plakatwänden wird dieses Motto humorvoll umgesetzt, eben ohne erhobenen Zeigefinger. Auch dabei geht es darum, dass wir gesellschaftliche Veränderung brauchen. Die Politik gibt den gesetzlichen Rahmen vor. Die Menschen sind es, die das Motto "Behindern ist heilbar" in die Tat umsetzen müssen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit dem Nationalen Aktionsplan stoßen wir einen Veränderungsprozess an, der selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Mit über 200 Maßnahmen gehen wir das Ziel einer inklusiven Gesellschaft an. Unabhängig vom Unterstützungsbedarf muss jeder Mensch das gleiche und volle Recht auf individuelle Entwicklung und Teilhabe haben. Wie erreichen wir das? Durch die Richtigstellung der Verantwortlichkeit. Es geht nicht darum, wie Menschen mit Behinderung sein müssen, damit sie teilhaben können, sondern es muss um die Frage gehen: Wie muss unsere Gesellschaft gestaltet sein, damit jeder Mensch teilhaben kann? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Genau das ist es, was mit Inklusion gemeint ist. Wenn aber Treppenstufen, komplizierte Sprache, Bevormundung oder Vorurteile Inklusion behindern, muss etwas passieren. Es gibt ganz viele Gelegenheiten für Achtsamkeit. Schulen müssen fragen: Welche Konsequenzen hat der Lehrplan für einen Schüler mit Downsyndrom? Verkehrsunternehmen müssen fragen: Werden beim Fahrkartenautomaten auch die Belange von sehbehinderten Menschen berücksichtigt? Der Unternehmer muss sich fragen: Kann ich einen Menschen mit Behinderung einstellen? (Beifall des Abg. Pascal Kober [FDP]) Nicht behindern, sondern ermöglichen: Das soll die Grundidee unserer Projekte sein. Inklusion fällt nicht vom Himmel. Viele Bürgerinnen und Bürger - das müssen wir leider feststellen - wissen wenig über die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Dabei ist Behinderung weiß Gott keine Randerscheinung. 10 Prozent der Weltbevölkerung gelten als behindert. In Deutschland leben 9,6 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Im Übrigen sind die Wenigsten von ihnen von Geburt an behindert. Behinderung kann jeden von uns aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung treffen. Mit dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und FDP "Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte" setzen wir uns für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung ein. Ich freue mich über diesen Antrag, weil auch andere Ressorts dieses Thema jetzt bearbeiten und hier für Verbesserungen sorgen. Heute Morgen haben wir bei der Debatte über das GKV-Versorgungsstrukturgesetz festgestellt, dass die zahnärztliche Versorgung für Menschen mit Behinderung verbessert werden soll. Dies ist ein entscheidender Fortschritt: Andere Ressorts kümmern sich um diese Thematik. Das ist genau das, was wir brauchen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eines sollten wir bei der Debatte nicht vergessen: Lassen Sie uns vorsichtig sein mit dem Vorwurf, man würde die UN-Behindertenrechtskonvention nicht richtig umsetzen oder ihr gar zuwiderhandeln. Deutschland ist ein Land, in dem die Gleichstellung schon weit vorangeschritten ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für unsere Behindertenpolitik und unsere Umsetzung der Konvention erhalten wir international viel Anerkennung. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wo denn?) Viele der 100 Vertragsstaaten haben noch keinen Aktionsplan. Wir liegen mit unserer Politik auf dem richtigen Kurs, und weitere Verbesserungen werden folgen. Sie, sehr geehrte Opposition, sollten zu Engagement ermutigen, statt zu behindern. (Zuruf von der LINKEN: Was? - Mechthild Rawert [SPD]: Lesen Sie unseren Antrag! Da steht das drin!) Der Nationale Aktionsplan ist ein Maßnahmenpaket, kein Gesetzespaket. Das Paket ist nicht fest verschnürt, sondern offen für weitere Projekte und Ideen. Sie alle sind eingeladen, mitzumachen, wenn es heißt, die kleinen und die großen Veränderungen voranzubringen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt noch ein Wort zu der Veranstaltung im Deutschen Bundestag, die eigentlich für diesen Dezember geplant war und die wir auf das nächste Jahr verschoben haben. Diese Veranstaltung musste zunächst abgesagt werden, weil Sicherheitsbedingungen nicht erfüllt werden konnten. Für mich als verantwortungsvolle Politikerin ist Sicherheit das oberste Gebot. Ich werde, gemeinsam mit den anderen Sprechern, alles daransetzen, dass diese Veranstaltung im nächsten Jahr unter hoffentlich barrierefreien Bedingungen durchgeführt werden kann. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung darüber, mit wem Sie und wie Sie wohnen wollen, nehmen Sie natürlich für sich ganz selbstverständlich in Anspruch. Sie würden sich dagegen wehren, wenn Ihnen aufgrund einer medizinischen Diagnose ein Arbeitsort und ein Arbeitsplatz quasi zugewiesen würden. Sie würden es als ungerecht empfinden, wenn Sie trotz guter oder gar gesteigerter Arbeitsleistung keine entsprechende Entlohnung erhalten würden. Es würde Sie empören, wenn Ihnen nach Ihrem ersten berufsbildenden Abschluss keine weitere Möglichkeit zur Qualifizierung oder Weiterbildung offenstehen würde. Sie würden sich kaum damit abfinden, wenn Ihnen ein Sozialrichter erklären würde, zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben genüge es vollkommen, sich im Nahbereich der Wohnung bewegen zu können. Für viele Menschen mit Behinderungen in Deutschland sind solche Erfahrungen jedoch Alltag und rechtlich festgelegte Wirklichkeit. Es ist das Besondere an der UN-Behindertenrechtskonvention, dass Rechte und Lebenschancen, die sogenannte Nichtbehinderte ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen können, nunmehr den Status von Menschenrechten für Menschen mit Behinderungen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Mit diesem Status von Menschenrechten obliegt es also nicht mehr allein den Menschen mit Behinderung, sich optimal anzupassen und bestmöglich zu integrieren, sondern es ist Aufgabe von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Menschen mit ihren jeweiligen körperlichen, seelischen, mentalen und geistigen Besonderheiten zumindest die Möglichkeit haben, gleichberechtigt und selbstbestimmt am Leben teilzuhaben und ihr Leben mit anderen zu gestalten. Damit schafft die Behindertenrechtskonvention einen modernen Freiheitsbegriff: Freiheit ist nach diesem inklusiven Verständnis nicht nur eine Abwesenheit von Zwang. Freiheitsrechte sind mehr als Schutzrechte bei staatlichen Eingriffen oder übermächtigen Kollektiven. Damit Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen ohne oder mit wenigen Ressourcen oder Menschen in Zwangslagen ihre Freiheitsrechte überhaupt erst in Anspruch nehmen können, braucht es das aktive ermöglichende Handeln von Staat und Gesellschaft. Dieser Freiheitsbegriff weist weit über die eigentliche UN-Konvention hinaus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Er macht diese Konvention nicht nur zu einem bemerkenswerten, sondern, wie ich meine, auch zu einem bahnbrechenden Menschenrechtsdokument. Angesichts der Größe des Handlungsauftrags, den sich die Bundesrepublik Deutschland - wir alle hier - mit der Ratifizierung der Konvention selbst gegeben hat, ist es allerdings geradezu erschütternd, in welcher Blockade und Erstarrung sich die Behindertenpolitik in Deutschland befindet. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz einige Dinge analysieren. Nach wie vor ist nicht geregelt, dass Teilhaberechte - die ja zu einem großen Teil im Sozialrecht angesiedelt sind - koordiniert aufeinander abgestimmt umgesetzt werden. Die große Aufgabe, die Rot-Grün mit dem SGB IX angegangen ist - übrigens mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP -, wurde nicht weiterentwickelt. Keiner Nachfolgeregierung nach Rot-Grün ist es gelungen, in den Strukturfragen weiterzukommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich glaube sogar, nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass wir gewisse Rückschritte sehen. Rehabilitationsträger - nach meinem Empfinden insbesondere die Krankenkassen - streiten einfach ab, dass etwa das Recht auf Teilhabe Vorrang vor den einzelnen Ausführungen der Leistungen hat. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!) Das Problem ist, dass die Zersplitterung sich teilweise fortsetzt. Ich nenne das Beispiel der sogenannten Integrationsfachdienste. Die Integrationsfachdienste als Regelangebot - vom Gesetzgeber seinerzeit ins SGB IX gesetzt - sollen Menschen mit Behinderungen bei der Arbeitsvermittlung unterstützen und dann am Arbeitsplatz begleitend zur Seite stehen. Sie sollen Arbeitgeber beraten oder ihnen Hilfestellung beim Umbau des Arbeitsplatzes leisten. Sie sollen also eine Leistung aus einer Hand zur Teilhabe am Arbeitsleben bieten. Was hat diese Bundesregierung jetzt gemacht? Sie hat diese einheitliche Leistung, die genau so, wie ich es hier beschrieben habe, im Gesetz steht, zersplittert. Sie hat den Teil der Vermittlung jetzt einfach zur Ausschreibung freigegeben, abgetrennt vom Teil der Begleitung und Beratung der Arbeitgeber. Das macht natürlich überhaupt keinen Sinn. Arbeitgeber sagen mir: Wir wollen einen einzigen Ansprechpartner. - Es macht natürlich auch keinen Sinn, dass derjenige, der die Vermittlung vornimmt, der die Kontakte zu Arbeitgebern hat, nach der Vermittlung aus dem Spiel ist und irgendein anderer die Begleitung und Beratung übernimmt. Das Ganze ist eine Leistung aus einer Hand, die, wie gesagt, so im Gesetz formuliert ist. Ich empfinde es wirklich als Rückschritt und Defizit, wenn das jetzt wieder auseinandergerissen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Weil der Mut zu größeren Veränderungen fehlt, werden Verbesserungen viel zu häufig als Insellösungen vorgenommen. Ich nenne das Beispiel der "Unterstützten Beschäftigung", das die letzte Regierung, die Große Koalition, auf den Weg gebracht hat. Vom Ansatz her ist das Prinzip, zuerst zu platzieren und dann zu qualifizieren, sehr vernünftig; denn auf diese Weise kann sozusagen innerbetrieblich gestartet werden, statt dass irgendwelche Maßnahmen in Sondereinrichtungen absolviert werden müssen. Was aber wird getan, aus Angst, das Ganze könnte sich jetzt - im Hinblick auf Kosten oder was auch immer - unabsehbar entwickeln? Das Programm wird auf den Ausbildungsbereich beschränkt - also auf zwei oder maximal drei Jahre -, und es wird keine vernünftige Nachfolgeregelung entwickelt. Das ist eine reine Insellösung, die nicht in das sonstige Geschehen der Arbeitsmarktpolitik integriert ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit solch fragmentierten, kleinteiligen und nicht wirklich mutigen, sondern eher ängstlichen Schritten werden wir nicht weiterkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Angesichts der Finanzlagen besteht das Problem, dass sich alle, aber auch wirklich alle Akteure eingraben. Sie versuchen erst einmal - wie in alten Zeiten -, Ansprüche abzuwehren. Aber auch die Leistungserbringer - das sage ich an dieser Stelle ganz offen - versuchen, ihre Strukturen zu konservieren. Das gilt selbst für diejenigen, die im Prinzip bereit wären, Dinge zu öffnen und zu verändern. Sie sagen sich: Wir machen lieber nichts; denn wenn wir unsere Wirtschaftlichkeitsreserven bzw. Effizienzpotenziale, die wir vielleicht in unseren Einrichtungen haben, offenlegen, wird das möglicherweise dazu führen, dass uns die Mittel gekürzt werden. - Im Ergebnis passiert im Moment in dem gesamten Bereich viel zu wenig. Wir brauchen dringend mehr Bewegung. Die gesamte Entwicklung - auch in Bezug auf Fallzahlen und Kosten; das wird auch in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Eingliederungshilfe diskutiert - lässt nicht zu, dass wir uns hier nicht weiter bewegen. Wir bekommen von kommunaler Seite doch allesamt klar zurückgespiegelt, dass wir etwa im Bereich der Eingliederungshilfe am Ende der Fahnenstange angekommen sind. Wenn wir nicht Standards absenken wollen, müssen wir über Strukturveränderungen diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Auch der demografische Wandel lässt es nicht zu, dass wir an dieser Stelle länger warten. Das Projekt "Inklusiver Sozialraum" - für die Zuschauerinnen und Zuschauer sage ich: Dabei handelt es sich um das Vorhaben, einen Gemeinderaum bzw. einen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem sich alle mit ihren Beeinträchtigungen bewegen können - stellt in Bezug auf die Lebensqualität in unseren Städten und Gemeinden eine Zukunftsfrage dar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Ich meine, dass in dieser Hinsicht gerade im Bereich der Kostenträger mehr Kompromissbereitschaft gezeigt werden muss. Wenn wir etwa das sogenannte Budget für Arbeit ermöglichen wollen - welches erlaubt, dass Menschen aus Werkstätten auch an einem allgemeinen Arbeitsplatz tätig sein können -, geht das nur mit einem Nachteilsausgleich auch in Form eines dauerhaften und regulären Lohnkostenzuschusses. Es kann nicht sein, dass die Träger der Sozialhilfe sagen: Wenn er nicht mehr in meiner Werkstatt ist, dann zahle ich gar nichts mehr. - Ebenso kann es nicht sein, dass die Agentur für Arbeit keine Anreize bietet. Wir müssen dort Leistungen kombinieren und sektorenübergreifend Initiativen ergreifen; denn sonst werden wir an einen Punkt kommen, an dem wir das, was wir an Standards erreicht haben, nicht mehr aufrechterhalten können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe jetzt über den erweiterten Menschenrechtsbegriff bzw. darüber geredet, was wir in Bezug auf Ermöglichung an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben brauchen. Lassen Sie mich zum Schluss auch noch etwas zur Notwendigkeit der ganz akuten Verteidigung von unmittelbaren Menschenrechten sagen. Es gibt eine Studie der Universität Bielefeld - sie wird in der nächsten Woche bekannt werden - zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung. Es ist wirklich erschütternd, was in ihr bezüglich der Gewaltanwendung gegenüber Frauen in Einrichtungen und Familien festgestellt wird. Eine große Anzahl von Frauen wurde befragt. Durchschnittlich ein Drittel dieser Frauen hat körperliche Gewalt erfahren. Sexualisierte Gewalt haben 21 bis 44 Prozent der befragten Frauen und Mädchen erfahren, psychische Gewalt in Kindheit und Jugend mehr als die Hälfte. Das sind Zahlen, die uns wirklich alarmieren müssen. Gewalt, auch sexualisierte Gewalt, ist nicht nur in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren zu verorten, sondern diese Studie macht sehr deutlich, dass wir auch heute noch damit zu kämpfen haben. Auch der Frage von Gewalt in stationären Einrichtungen der Psychiatrie müssen wir uns erneut stellen. Wenn man fast 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete mit Betroffenen redet, stellt man fest, dass Zwangsmedikamentierungen gegen den eigenen Willen - und zwar über die Maße des sogenannten Selbstschutzes hinaus - an der Tagesordnung sind und dass auch dort Gewalt - speziell gegen Frauen - weiterhin ein Ausmaß hat, das wir nicht akzeptieren können. Insofern hoffe ich, dass wir uns an dieser Stelle dieser Sache noch einmal gemeinsam annehmen und genau hinschauen werden, damit wir später nicht wieder sagen müssen: Wir haben etwas übersehen. Teilhabe bemisst sich am erweiterten Freiheits- und Menschenrechtsbegriff, aber auch an der ganz konkreten Verteidigung von Menschenrechten im Hier und Jetzt. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Maria Michalk (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen heute eine Debatte, von der wir uns lange gewünscht haben, dass sie zu einer so prominenten Zeit stattfindet. (Elke Ferner [SPD]: Und wer hat's gemacht?) Dafür danke ich auch der Opposition. Sie müssen aber annehmen, dass wir den Ernst der Lage schon lange verstanden haben. Denn was wäre ein deutlicheres Signal dafür, dass wir diese Debatte sehr ernst nehmen, als dass unsere Bundesministerin in dieser Debatte das Wort ergreift? (Anette Kramme [SPD]: Handeln! Geld ausgeben! Warme Worte nützen nichts!) Übrigens ist es bisher gerade bei diesem sachlichen Thema immer üblich gewesen, fraktionsübergreifend nach Lösungen zu suchen, zum Wohle der Menschen mit Behinderung. Liebe Frau Ferner, das kann ich Ihnen nicht ersparen: Wenn diese Debatte mit dem Anwurf beginnt, dass alles nach unten gehe, dann darf ich mit dem Argument zurückschießen, dass wir in all den Jahren Ihrer Regierungsherrschaft einen unmöglichen, diffusen, dünnen Bericht bekommen haben. (Elke Ferner [SPD]: "Herrschaft"? Was ist denn das für ein Vokabular?) Es ist unsere Ministerin, die die Datenlage und die Berichterstattung jetzt in eine qualitative Form bringt, sodass wir gut damit arbeiten können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Gysi, es tut mir leid: Ich glaube Ihnen natürlich sofort, dass sich Ihr Verhältnis zu behinderten Menschen rapide geändert hat. Wenn Sie ehrlich gewesen wären, hätten Sie an genau der Stelle sagen müssen, was in den letzten 20 Jahren im Bereich der Behindertenpolitik gerade in den neuen Bundesländern passiert ist, welche Aufbauleistung zum Wohle der Menschen vollzogen wurde. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das streitet keiner ab, Frau Michalk!) Sie wissen, dass die Behindertenpolitik in der DDR-Zeit eine Wegsperrpolitik war, dass SED-Genossen und Staatsträger ihre behinderten Kinder lieber in Klöster gegeben haben, weil sie wussten, dass sie dort gut aufgehoben sind. Das gehört zur Ehrlichkeit. Ich finde es ziemlich unverschämt, dass Sie mit Ihrer Kritik die Verschiebung unserer gemeinsamen Aktion, bei der sich behinderte Menschen mit dem Parlament treffen sollten, hier kurz vor dem Internationalen Tag der Behinderten, an dem die Aktion stattfinden sollte, instrumentalisieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wissen, dass auch Ihr Kollege, Herr Seifert, nach einem langen, intensiven Beratungsprozess, in dem wir alle möglichen Alternativen geprüft haben, zugestimmt hat. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht! - Diana Golze [DIE LINKE]: Er hat nicht zugestimmt!) Es war Ihr Kollege, der lieber 80 Rollstuhlfahrer ausladen würde, um die Veranstaltung an diesem Wochenende durchführen zu können. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau so war's!) Wir haben hier im guten Einvernehmen eine richtige Lösung gefunden, eine richtige Entscheidung getroffen. Ich werbe hier ausdrücklich um die Akzeptanz dieser Entscheidung. Wir bemühen uns alle nach bestem Wissen und Gewissen, diese Veranstaltung nächstes Jahr in guter Qualität durchzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Kurth, Sie haben ein Stück weit die Leistungen kritisiert. Im Übrigen lobe ich, dass Sie wirklich konstruktiv sind. Sie wissen, dass wir die Ausschreibung der IFD-Leistungen aus Gründen des europäischen Rechts durchführen mussten. Sie wissen auch, dass wir uns gerade einvernehmlich darum bemühen, im Vergaberecht eine Lösung zu finden, die in Zukunft das umsteuert, was wir alle gemeinsam kritisieren. Sie haben vom inklusiven Lebensraum gesprochen. Jawohl, das ist etwas, was wir alle anstreben: dass alle miteinander leben. Das gibt mir jetzt die Gelegenheit, meine sorbischen Freunde aus der Lausitz zu begrüßen: Witaj k nam! Denn dort passiert das schon seit Jahrtausenden: Deutsche und Sorben leben in einer Region zusammen. Wir wollen es schaffen, dass Menschen mit und ohne Behinderung genauso selbstverständlich miteinander leben. Einer hat einmal gesagt: Wenn alle Äpfel pflücken, dann braucht der Kleinwüchsige nur eine Leiter; dann kann er es auch. - So einfach ist das eigentlich. Wir wissen aber - zurück zur Wirklichkeit -, dass uns die Wirklichkeit manchmal einholt. Deshalb will ich darauf hinweisen, dass wir neben der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, der breiten Diskussion und den Beschlüssen zum Nationalen Aktionsplan und den vielen Aktivitäten, die der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe - vielen Dank! -, mit dem Inklusionsbeirat durchführt, weitere Maßnahmen ergreifen. Ich denke hier an die Länder. Die Bahn wurde schon genannt; viele Unternehmen überlegen, wie sie den inklusiven Gedanken umsetzen können. Das zeigt doch, dass wir auf einem guten Weg sind und in unserer Gesellschaft etwas erreicht wurde: eine stärkere Sensibilisierung für dieses Thema. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das heißt nicht, dass wir die Augen vor Dingen verschließen, die in der Tat ärgerlich sind und die wir verändern wollen. Ich will jetzt einmal einen Punkt herausgreifen. Es ist schon gesagt worden: Vor zehn Jahren haben wir das SGB IX beschlossen. Das ist ein gutes Gesetzbuch, dem auch wir damals aufseiten der Opposition zugestimmt haben. Darin ist auch das Persönliche Budget geregelt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert? Maria Michalk (CDU/CSU): Ja. - Bitte schön. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Frau Kollegin Michalk, Sie haben vorhin wahrheitswidrig gesagt, ich hätte zugestimmt, dass die Veranstaltung abgesagt wird. Sind Sie so freundlich, zuzugeben, dass ich in der Runde der behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher gesagt habe, dass wir alles dafür tun sollten, dass diese Veranstaltung doch stattfindet, wenn es sein muss, mit der Ausladung einiger, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von mindestens 80 Leuten!) und dass ich auch gesagt habe, dass es besser wäre, wenn wir eine Lösung finden würden, sodass alle hereinkommen könnten; denn in einem Jahr ist die Situation in diesem Haus sicherlich nicht anders als jetzt. Ich möchte, dass Sie ausdrücklich bestätigen, dass ich nicht einverstanden war, dass diese Veranstaltung jetzt abgesagt wird. Maria Michalk (CDU/CSU): Herr Kollege Seifert, wir haben sehr lange und mehrfach miteinander darüber diskutiert. Wir haben uns von der Bundestagsverwaltung Alternativen vorlegen lassen. Fast alle von uns haben eigene Vorschläge vorgetragen. Es war allen klar - das haben wir ausdrücklich gesagt -, dass wir diese Veranstaltung im Reichstag nicht mit 130 Rollstuhlfahrern durchführen können, auch nicht im Paul-Löbe-Haus unter Einbeziehung aller vorhandenen Räume. Wir haben bewusst beschlossen - Sie waren auch dabei -, dass wir für diese Begegnung das Fluidum des Reichstages und nicht das einer Messehalle möchten. In diesem Zusammenhang gab es tatsächlich nur die Alternative, mindestens 80 Rollstuhlfahrer auszuladen. Dafür haben Sie zunächst votiert. Wir waren uns alle einig, dass das schwierig wird; denn wer traut sich, den 130 Rollstuhlfahrern zu sagen: Du darfst kommen, du nicht. - Deshalb haben wir beschlossen, dass es besser ist, ehrlich zu sagen, dass es so nicht geht und dass wir ein neues Anmeldeverfahren brauchen. Die Rechnung, die wir aufgrund der Erfahrungen aufgestellt haben, nämlich dass es bei solchen Veranstaltungen im Schnitt 10 Prozent Rollstuhlfahrer gibt, ist hier nicht aufgegangen. Das ist eine Tatsache, die wir alle zur Kenntnis nehmen müssen. Den Brief, den wir dann gemeinsam an die Teilnehmer geschrieben haben, haben Sie mit unterschrieben. (Widerspruch des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Ich denke, unsere Lösung ist fair. Ich werbe dafür, dass wir uns hier nicht fetzen, sondern dass wir weiterhin an einer Lösung arbeiten, um diese Veranstaltung so durchführen zu können, wie es ursprünglich geplant war. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte noch kurz auf das Persönliche Budget eingehen. Es ist ein relativ junges Instrument, zehn Jahre alt, und es ist ärgerlich, dass es nicht richtig angenommen wird. Wenn nur in 10 000 bis 15 000 Fällen das Persönliche Budget tatsächlich genutzt wird, dann ist das für unsere Bundesrepublik einfach zu wenig. Deshalb möchte ich auf einige Hintergründe eingehen. Alle bisherigen Erfahrungen belegen, dass das Persönliche Budget die Selbstbestimmung und die Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung verbessert und ihr Wahlrecht stärkt, weil sie sich eigenständig oder mit Unterstützung die jeweilige Integrationsleistung einkaufen können. Sie bestellen selbst, und sie bezahlen selbst, und zwar von dem Geld, das ihnen der Sozialstaat zur Verfügung stellt. So bietet das Persönliche Budget zum Beispiel die Möglichkeit, Menschen mit Behinderungen betriebsintegrierte Qualifizierungsangebote zu machen. Potenziellen Nutzern wird der Zugang jedoch viel zu schwer gemacht. Wir kritisieren, dass nur wenige von diesem Instrument profitieren. Defizite in der Beratungsinfrastruktur, willkürliche Verfahrensmängel, manchmal auch eine intransparente Bedarfsermittlung und unzureichende Budgethöhen konfrontieren die Menschen mit unzumutbaren Hürden, und sie geben resigniert auf. Regional ist das mitunter unterschiedlich. Das ist ein Beweis dafür, dass es sehr davon abhängt, in welchem Umfang sich die betroffenen Bearbeiter in den Institutionen auf dieses Thema einlassen. Die verhältnismäßig geringe Inanspruchnahme liegt nicht am Instrument selbst - das will ich ausdrücklich betonen -; oft mangelt es an der richtigen Haltung. Der Paradigmenwechsel im SGB IX, der vom Gesetzgeber beschlossen und mit der UN-Behindertenrechtskonvention unterstrichen wurde, muss vor Ort gelebt werden. Gerade junge Menschen wünschen sich trotz ihrer Behinderung berufliche Teilhabemöglichkeiten auch außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen. Die Bundesagentur für Arbeit hat es ermöglicht, dass die Leistungen des Berufsbildungsbereichs der Werkstätten für behinderte Menschen personengebunden auch in Form Persönlicher Budgets zur Erprobung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingesetzt werden können. Gerade nach der gestrigen Klarstellung des Bundessozialgerichts zum Persönlichen Budget ist es mir wichtig, zu sagen, dass die Menschen mit Behinderungen damit rechnen können, zukünftig Werkstattleistungen ohne Anbindung an eine Werkstatt für behinderte Menschen in Anspruch nehmen zu können. Diese Klarstellung ist wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth? Maria Michalk (CDU/CSU): Bitte schön. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Michalk, es freut mich sehr, dass Sie das Persönliche Budget als eine Möglichkeit, um trägerübergreifend Leistungen zusammenzuführen, nennen. Aber wie bewerten Sie die Tatsache - ich frage vor dem Hintergrund, dass Sie gerade auch über die berufliche Reha gesprochen haben -, dass im Haushaltsplan der Bundesagentur für Arbeit beim Persönlichen Budget Folgendes steht - das wurde auf Seite 64 umfangreich beschrieben, sogar unter Nennung der Rechtsgrundlage -: Ist 2010: 0 Euro; Soll 2011: 0 Euro; Soll 2012: 0 Euro. - Meinen Sie nicht, dass wir an dieser Stelle Strukturveränderungen vornehmen müssen, zum Beispiel, indem wir eine bewilligende Stelle errichten oder die Gemeinsamen Servicestellen mit Entscheidungskompetenz ausstatten, damit solche, sicherlich auch von Ihnen als trostlos empfundene Haushaltsprognosen vermieden werden? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Maria Michalk (CDU/CSU): Lieber Kollege Kurth, Sie haben das ja auch in Ihrem Antrag unter Nr. 9 festgehalten. Da stimme ich Ihnen zu. Ich habe ja gesagt: Die Bundesagentur für Arbeit hat die Möglichkeit zur Einrichtung eines Persönlichen Budgets; diese wird zu selten genutzt. Wir haben Vergleichsmöglichkeiten bzw. deckungsfähige Titel, und wir haben einen Eingliederungsfonds, dessen Mittel die Mitarbeiter vor Ort in Eigenverantwortung mit Blick auf die konkrete persönliche Situation einsetzen können. Dafür, dass aus der Null im Soll im Ist etwas mehr wird, plädiere auch ich. Es ist aber normal, dass die Haushälter sagen: Wenn das bisher wenig in Anspruch genommen wurde, dann setzen wir eine Null. Liebe Haushälter, das ist jetzt keine Kritik, sondern eine Werbeveranstaltung: Die neuen Instrumente sollten im Haushalt ihre Entsprechung finden. Entscheidend ist aber, dass es vor Ort umgesetzt wird, und nicht, dass wir im Haushalt Mittel vorsehen, die später nicht genutzt werden. Noch einmal: Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir mehr tun müssen, dass wir auch öffentlich mehr Werbung machen müssen. In dieser Woche habe ich ein Gespräch geführt, das mich davon überzeugt hat. Es ist nachgewiesen, dass mit dem Persönlichen Budget die betroffenen Menschen glücklicher sind und der Staat einsparen kann. Das wird deutlich, wenn man den Aspekt der Integration in den Arbeitsmarkt mit einem möglichen Dauerarbeitsplatz berücksichtigt. Noch wichtiger ist für meine Begriffe, gerade für die Betroffenen, die zum Teil Ängste haben, aus ihrem geschützten Bereich herauszugehen, dass wir die Durchlässigkeit des Systems stärker leben. Das heißt, wenn die Integration in den ersten Arbeitsmarkt bzw. in den Arbeitsmarkt außerhalb der Werkstätten gescheitert ist, muss die Möglichkeit zur Rückkehr in die Werkstatt möglich sein. Ich denke, es gibt viele Beispiele für eine gute praktische Umsetzung vor Ort. Sie müssen bloß stärker publiziert werden, damit das auch in den Regionen, in denen man sich damit noch schwertut, gelebte Praxis wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Molitor [FDP]) Ich will noch die anderen Anträge ansprechen. Ob wir, wie in den uns vorliegenden Anträgen teilweise gefordert, das SGB weiterentwickeln oder die Diskussion über ein Teilhabesicherungsgesetz vertiefen oder die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII nehmen und in veränderter oder unveränderter Kostenträgerschaft im SGB IX verankern, darüber lässt sich trefflich streiten. Ich glaube, wir werden uns in der kommenden Ausschusssitzung über das Pro und Kontra austauschen. Das ist aber unerheblich. Wir sollten nicht immer suggerieren, dass alles mit einer Kostensteigerung verbunden ist. Ich erinnere an den Beschluss der Bund-Länder-Kommission zur Eingliederungshilfe, der an dem Grundsatz der Kostenneutralität festhält. Ich glaube, dass schon vor Ort nachgewiesen wurde, dass die finanziellen Ressourcen zielgenauer eingesetzt werden müssen. Meinen Sie nicht auch, dass Teilhabegerechtigkeit einen viel höheren Stellenwert bekommen muss als die sogenannte Verteilungsgerechtigkeit, weil sie wirklich auf die Situation des einzelnen Menschen eingeht und die Inklusion letztendlich ermöglicht? Ich will zum Abschluss etwas zitieren. Wir alle lesen ja fleißig die Presse und im Internet. Kobinet ist eine schöne Homepage, auf der man viel Kritik, aber auch Lob lesen kann. Mich hat beeindruckt, was Frau Sabine Zobel dort geschrieben hat: Ein schöner Traum! Ach wie wäre das schön für mich als Mensch mit Handicap, in einer Welt leben zu können, wo ich nicht tagtäglich merke, dass ich anders als die anderen bin. Das ist ein Appell an uns alle. Ändern wir uns, seien wir wie alle! Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allen Dingen: Liebe Mitstreiter auf der Tribüne, schön, dass ihr da seid und die Debatte heute mitverfolgen könnt. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sehr verehrter Herr Gysi, diese Gesellschaft muss auf Menschen mit Behinderungen vorbereitet werden. Das ist richtig; ich gebe Ihnen grundsätzlich recht. Aber an einer Stelle haben Sie nicht recht: Schon die Große Koalition, also auch Olaf Scholz, hat gesagt, dass ein Nationaler Aktionsplan entstehen muss. Das war auch so festgeschrieben. - Gestatten Sie mir bitte noch eine Anmerkung. Sie sagten, dass Sie in einer Werkstatt für Behinderte waren, die dort Entgelt bekommen, und das sei doof. Ja, darüber kann man streiten. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nein! Dass es angerechnet wird!) - Ja, aber ich spreche jetzt über das Wort "doof". - Ich würde mich freuen, wenn das Wort "doof" auch bei einer Finanzdiskussion fallen würde. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da wäre es auch angebracht!) Frau Molitor, Treppensteiger zum Beispiel werden nach einem Urteil nicht mehr von den Krankenkassen finanziert. Das verhindert Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das ist ein Rückschritt; das müssen wir festhalten. Das Gesundheitsministerium hat ganz lapidar auf eine entsprechende Anfrage geantwortet, da müsse man noch einmal nachfragen bzw. das sei nicht so. Die Menschen hängen tatsächlich in der Luft und können nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sehr verehrte Frau Ministerin, wir alle möchten diese inklusive Welt noch erleben; sie soll nicht erst eines Tages Realität sein. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Die haben wir doch schon! Das ist ein Prozess!) Hierbei geht es um ein Menschenrecht für uns alle. Wir alle profitieren davon. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Die Aussage über die freie Arztwahl stimmt nicht. Zum Beispiel in Berlin sind 86 Prozent der Arztpraxen nicht barrierefrei. Daher gibt es hier keine freie Arztwahl. Wenn man sich in einer Einrichtung befindet, zum Beispiel in einem Pflegeheim, hat man einen Heimarzt. Auch das ist keine freie Arztwahl. In den Werkstätten passiert nichts; das ist ein Problem. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben zur Werkstatträtekonferenz eingeladen. Es gibt ein Positionspapier der Werkstatträte. Sie wollen mehr Mitbestimmung in den Werkstätten. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir müssen die Mitwirkungsverordnung für Werkstätten ändern. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Die Bahn tut schon einiges; das ist richtig. Sie ist hier einen Schritt weiter. Aber wenn man in einem Rollstuhl sitzt oder wenn man blind oder gehörlos ist, dann kann man nur sagen: "Gute Nacht, Marie!", wenn man sich alleine auf einem Bahnhof befindet; denn sie sind nicht überall barrierefrei. Ein Rollstuhlfahrer muss erst einmal telefonieren, bevor er überhaupt eine Reise antreten kann. Ich kann mich einfach in den Zug setzen, ein Rollstuhlfahrer kann das nicht so einfach. Er muss sich anmelden und warten, und wenn er Glück hat, kommt er dran und darf mit der Bahn fahren. Das würde uns allen missfallen. Ich bitte um noch eines. Sehr verehrte Frau Ministerin, Sie sagten, dass es schon Inklusionskonzepte bei den jeweiligen Wohlfahrtseinrichtungen gibt. Ich bitte, die Betroffenen dabei mitzunehmen. Die Betroffenen sind die Experten in eigener Sache. Wir haben damals gemeinsam das Motto geprägt: nichts über uns ohne uns. - Das ist eine ganz wichtige Feststellung, und das sollten wir nicht aus dem Auge verlieren. Die Betroffenen müssen verstärkt einbezogen werden. (Beifall bei der SPD) Das hat die SPD-Bundestagsfraktion gemacht. Wir haben über Monate hinweg ein Positionspapier mit Menschen mit Behinderung erarbeitet. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Vorbildhaft!) Ich möchte mich ganz herzlich bedanken bei ForseA, Weibernetz, bei den Verbänden von psychisch kranken Menschen, beim Gehörlosen-Bund, beim Blinden- und Sehbehindertenverband, bei "Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen", beim Studentenwerk, bei Gewerkschaften, Wissenschaftlern, beim Landkreis, bei der Lebenshilfe. Wir haben an einem Tisch gesessen, haben monatelang diskutiert und gemeinsam ein Positionspapier entwickelt. Aus diesem Positionspapier ist der heutige Antrag entstanden. Das war für uns selbstverständlich. Das war der Geist des SGB IX, das wir gemeinsam, alle, die wir hier sitzen, damals beschlossen haben. So muss es auch weitergetragen werden. (Beifall bei der SPD - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren nur ein bisschen viel Prüfaufträge!) Gestatten Sie mir, noch etwas zu sagen - ich habe nicht mehr viel Zeit - zur Reform der Eingliederungshilfe bzw. generell zur Eingliederungshilfe. Es ist schon angedeutet worden: Ob ich Akademiker bin oder in einer Werkstatt beschäftigt bin, wenn ich Leistungen zur Teilhabe brauche - Assistenz oder was auch immer -, muss ich zum Sozialamt gehen, und dann werde ich automatisch zum Sozialhilfeempfänger. Ein Mensch geht aufgrund seiner Behinderung zum Sozialamt und wird aufgrund seiner Behinderung - das muss man sich bitte vorstellen - zum Sozialhilfeempfänger und hat keine Chance mehr, aus dieser Situation herauszukommen. Ich halte das für menschenverachtend. Hier muss sehr schnell etwas getan werden. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] und Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vielleicht noch eine Anmerkung: Die Vermögens- bzw. Einkommensprüfung, die stattfindet, bringt im Jahr ungefähr 12 Millionen Euro - ForseA hat dazu ein Papier herausgegeben -; dem stehen 500 Millionen Euro Verwaltungskosten gegenüber. So viel Unsinn können wir nun wirklich nicht gebrauchen. Vor allen Dingen: Welche Belastung das für Menschen mit Behinderung bedeutet, das wissen wir doch alle hier. Das heißt, diese Prüfung gilt es so schnell wie möglich auszusetzen. Auch das steht nicht in Ihrem Aktionsplan. (Beifall bei der SPD) Markus Kurth hat vorhin die Studie über Frauen mit Behinderung aufgegriffen, die sexuell missbraucht oder generell Gewalt ausgesetzt werden. Bitte lassen Sie uns nicht wieder in die Vergangenheit reisen. Es findet in den Institutionen, also in den Einrichtungen und in den Werkstätten, statt. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur! In der Familie leider auch!) Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie Geld in die Hand, und sagen Sie, dass Frauenbeauftragte in die Einrichtungen gehören, damit nicht wieder so etwas passiert, was wir jetzt sehr schwer und sehr langsam aufarbeiten! Wir haben das 2008 gemeinsam auf den Weg gebracht. Unterstützen Sie diese Frauen! Ich bitte Sie darum. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Heinz Golombeck (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention gilt als Meilenstein und politischer Impulsgeber für Menschen mit Behinderung nicht nur bei uns in Deutschland, auch in der internationalen Politik. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen wird durch die Konvention verboten. Bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Menschenrechte werden garantiert. Dadurch können Menschen mit Behinderung in ihrer Andersartigkeit als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft geachtet und als Teil der menschlichen Vielfalt akzeptiert werden. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]) Im Zentrum steht dabei das Ziel, die gleichberechtigte Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe in allen Lebensphasen zu verwirklichen - angefangen vom gemeinsamen Besuch des Kindergartens, der Schule bis zur Schaffung von Arbeitsplätzen, auf denen Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam arbeiten. Die Konvention verlangt von allen Vertragsstaaten und auf allen Ebenen, die in ihr verankerten Rechte planmäßig in der Politik zu verfolgen. Neben dem Bund sind also auch Länder und Kommunen zu einer erkennbaren Umsetzung der Konvention aufgefordert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Viele Inhalte der Konvention haben wir schon durch Einzelgesetze geregelt. Dazu gehören das Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Neunte Buch Sozialgesetzbuch, das SGB IX. Das Benachteiligungsverbot wird durch Art. 3 des Grundgesetzes umfassend garantiert. Positiv hervorheben möchte ich, dass der von der Bundesregierung vorgelegte Nationale Aktionsplan die Behindertenfrage zu einer Menschenrechtsfrage gemacht hat und Deutschland hier eine Vorreiterrolle spielt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Nationale Aktionsplan macht deutlich, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und die damit verbundene Behindertenpolitik in Deutschland als Querschnittsaufgabe begriffen werden. Behinderten Menschen und den sie vertretenden Organisationen werden dadurch in allen Politikfeldern Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet, und in unserer Gesellschaft etabliert sich mehr und mehr eine Kultur der Nichtdiskriminierung zugunsten behinderter Menschen. Besonders erfreulich ist, dass sich bereits viele Organisationen aus dem Bereich der Zivilgesellschaft mit der UN-Behindertenrechtskonvention identifizieren und sich im Rahmen des Nationalen Aktionsplans engagiert haben. Die bundesweiten Entwicklungen geben Hoffnung auf einen noch besseren Weg in eine inklusive Gesellschaft. Sie verdeutlichen einen aktiven Bewusstseinswandel in Politik und Gesellschaft. Unser Ziel ist es, diesen Aktionsplan kontinuierlich auf den Prüfstand zu stellen und entsprechend neuere Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Dazu brauchen wir einen ständigen Dialog mit denjenigen, die Behinderungen aufweisen, um herauszufinden, wo Teilhabe noch nicht funktioniert. Nicht nur Deutschland startet die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Das Europäische Parlament hat gerade letzte Woche die "Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020" beschlossen. Wir begrüßen die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention auf europäischer Ebene. Die Aktionslinien lassen sich mit den Artikeln der UN-Behindertenrechtskonvention weitgehend in Einklang bringen. Ziel ist ein wirklich barrierefreies Europa für Menschen mit Behinderungen im Jahr 2020. Die Strategie zeigt auf, was vonseiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu tun ist, damit Menschen mit Behinderungen ihre Rechte uneingeschränkt wahrnehmen können. In der EU leben über 80 Millionen Menschen mit Behinderungen. Mehr als jeder Dritte der über 75-Jährigen hat ein körperliches Handicap, das ihn in seinem Alltag beeinträchtigt. Folge des demografischen Wandels ist eine immer älter werdende Gesellschaft. Es ist also davon auszugehen, dass der Anteil von Bürgerinnen und Bürgern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen steigen wird. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gestaltet sich dann umso schwieriger. Wir unterstützen daher das Vorhaben der EU-Kommission, die auf eine europaweite Räumung der bestehenden Barrieren zielt und die Rechte von Menschen mit Behinderungen in ganz Europa stärken möchte. Umfassende Barrierefreiheit ist Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben; denn der Alltag von Menschen mit Behinderungen ist voller Herausforderungen und Tücken. Eine U-Bahn-Haltestelle ist für einen Rollstuhlfahrer ohne Aufzug kaum erreichbar. Baustellen sind ohne fremde Hilfe schwer zu überbrücken. Das Wohnen zu Hause bereitet Schwierigkeiten. Menschen mit Behinderungen haben kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. In Planung sind ganz konkrete Maßnahmen wie die Verbesserung der Anerkennung von Behindertenausweisen, und zwar EU-weit. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja! Dafür habt ihr unseren Gesetzentwurf!) Durch die Verleihung eines europäischen Preises für gut zugängliche Städte oder durch eine gezielte Berücksichtigung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und der Gewährung staatlicher Beihilfen soll die Öffentlichkeit für Behinderungen und behindertengerechte Einrichtungen sensibilisiert werden. Dienstleistungsangebote und Geräte für Behinderte sollen EU-weit verbessert werden. Diese europäische Strategie ergänzt und unterstützt die Maßnahmen der Mitgliedstaaten und bestätigt unsere Behindertenpolitik. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sind aufgerufen, im Rahmen dieser Strategie zusammenzuarbeiten, um ein barrierefreies Europa für alle zu schaffen. Insgesamt müssen wir dabei gewährleisten, dass Vorgaben von der EU-Ebene in den Kommunen vor Ort umgesetzt werden. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg, Menschen mit Behinderung wie allen anderen Menschen auch ein freies und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Neben Gesetzen, Strategien und Aktionsplänen ist auch der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sehr wichtig. Wir benötigen die innere Einstellung, dass Vielfalt zu unserer Gesellschaft gehört und jeden bereichert. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Heinz Golombeck (FDP): Ich komme zum Schluss. - Ich glaube, dass Inklusion nur gelingen kann, wenn jeder seinen Beitrag dazu leistet, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) angefangen mit den kleinen Dingen im Alltag, wie mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit gegenüber den Menschen mit Behinderung. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute wäre eigentlich die Stunde für eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin gewesen. (Beifall bei der LINKEN) Anscheinend passen Menschen mit Behinderung aber nicht unter Ihre komischen Rettungsschirme. Da gehören sie aber hin. (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Ach, unmöglich!) - Lassen Sie mich doch erst einmal weiterreden. - Die Kanzlerin hat ja nicht einmal zur Kenntnis genommen, dass am vergangenen Wochenende viele Menschen, die Opfer des Conterganskandals geworden sind, um "5 vor 12" vor ihrem Kanzleramt standen und dort eine Petition übergeben wollten, damit ihnen endlich ein würdevolles Leben ermöglicht wird. Aber: Fehlanzeige! Der Geist der UN-Behindertenrechtskonvention, nämlich die Betroffenen ernst zu nehmen und zu beteiligen, ist in dieser Regierung nicht angekommen. Liebe Frau von der Leyen, das muss ich Ihnen auch sagen: Fehlanzeige! Warum haben Sie denn nicht einmal den sogenannten Nationalen Aktionsplan dem Parlament als Unterrichtung zugeleitet, damit wir uns hier einmal gemeinsam darüber unterhalten und damit befassen können? Über hundert Unterrichtungen gibt es von der Regierung, diese aber nicht. Frau von der Leyen, Sie sagen jetzt: Inklusion ist das Schlüsselwort. - Wenn dem so sein sollte: Warum übernehmen Sie dann nicht die Schattenübersetzung und erklären sie zur offiziellen Übersetzung? In Ihrer offiziellen Übersetzung kommt das Wort "Inklusion" nämlich gar nicht vor. Sie haben sogar dagegen gekämpft, als wir es aufgenommen haben wollten. Diese Regierung hat überhaupt nicht begriffen, worum es geht und dass es alle betrifft. Wo ist denn von Herrn Ramsauer, von Herrn Schäuble und von Herrn Rösler das Konjunkturprogramm "Deutschland barrierefrei" zur Beseitigung bestehender Barrieren? Es gibt den Vorschlag, hierfür ein Konjunkturprogramm zu machen. Das ist Wirtschaftsförderung! Zehn Jahre lang jedes Jahr mindestens 1 Milliarde Euro nur zur Beseitigung bestehender Barrieren im Baubereich, das wäre Wirtschaftsförderung vor Ort. (Beifall bei der LINKEN) Ihre Kollegin Frau Schröder sagte auf die Frage, wo in ihrem Ressort überhaupt Geld für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eingestellt ist: Das ist bei uns nicht ressortiert, das macht alles Frau von der Leyen, ich bin nicht zuständig. - Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist nicht zuständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention?! Wo wohnen wir denn überhaupt? Herr Bahr hat hier heute über die Verbesserung im Gesundheitswesen geredet. Wo ist denn das Konzept, mit Geld unterlegt, zur Schaffung barrierefreier Arztpraxen? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können ja gerne über zahnärztliche Behandlungen reden. Wie kommt ein Rollstuhlfahrer überhaupt auf den Stuhl? Hier haben wir wirklich noch viel zu tun. Frau Schavan, wo ist denn die behindertenpolitische Kompetenz bei zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern, bei Architekten, bei Ingenieuren? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD) Wieso gibt es denn da kein Curriculum, keine Pflicht, das zu lernen? In Karlsruhe wird demnächst der letzte Lehrstuhl für hörbehinderte Menschen aufgelöst und nicht wieder neu besetzt. Was hat das mit Inklusion und mit Umsetzung der UN-Konvention zu tun? Sie von der FDP: Wo ist denn von Ihren Ministern Westerwelle und Niebel das Programm zur Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in jegliche Aktivitäten in Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit? Wir fordern mit dem Antrag, den wir eingereicht haben, einen einkommens- und vermögensunabhängigen Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile durch ein Teilhabesicherungsgesetz. (Beifall bei der LINKEN) Da kann man den betroffenen Organisationen - ForseA, dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen, dem Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland usw. - danken, dass dafür schon seit Wochen, seit Monaten und zum Teil seit Jahren Konzepte vorliegen. Sie greifen die nicht auf; wir bringen sie ins Parlament, damit etwas passieren kann. (Beifall bei der LINKEN) Die Anträge der SPD unterstützen wir. Das passt zusammen. Als ihr noch die Denkschrift unterschrieben habt, habt ihr eine ganz andere Position vertreten. Insofern ist durchaus ein Fortschritt erkennbar. Frau von der Leyen, Sie machen eine große Kampagne, die "Behindern ist heilbar" heißt. Einverstanden! Fangen wir doch bei der Regierung an! Falls Sie einen Therapeuten brauchen sollten, stelle ich mich zur Verfügung. Dann würden wir die UN-Konvention zum Regierungsprogramm machen. Das wäre eine gute Tat für Deutschland. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Nationalen Aktionsplan, den die Bundesregierung im Juni dieses Jahres auf den Weg gebracht hat, sorgen wir für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Frau Ministerin von der Leyen hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen, dass immerhin circa 200 Einzelmaßnahmen bereits jetzt enthalten sind. Es ist ein lernendes und sich fortentwickelndes System. Natürlich wird das eine oder andere noch ergänzt und fortgeschrieben werden können. Das muss uns natürlich klar sein: Es ist ein Thema, das die Gesellschaft dauerhaft - über die nächsten Jahre und Jahrzehnte - beschäftigen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Das ist auch gut so!) Mit dem Nationalen Aktionsplan gehen wir einen großen und entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft voran - einige Vorredner haben bereits darauf hingewiesen - und regen einen Prozess an, der in den kommenden zehn Jahren das Leben von rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland maßgeblich verbessern und beeinflussen wird. Es liegt mir sehr am Herzen, Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe mitten in der Gesellschaft zu ermöglichen. Wir haben zwar bereits viel erreicht, aber wir sind noch längst nicht am Ziel angelangt. Bei der Entwicklung des Aktionsplans war es wichtig, die gesamte Zivilgesellschaft einzubinden. Es wurden Wünsche und Visionen von Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und ihren Verbänden berücksichtigt. Schließlich sollte der Plan gerade keine Auflistung über wünschenswerte Veränderungsvorschläge und Lebensrealitäten werden, sondern ein Aktionsplan, der den Alltag für Behinderte in Deutschland nachhaltig und bewusst verändern und in der Praxis umgesetzt und gelebt werden soll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Es freut mich sehr, dass ich bereits wenige Monate nach Inkrafttreten von ersten Erfolgen berichten kann. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat mit der Deutschen Bahn AG vereinbart, die 50-Kilometer-Regelung nach § 147 Abs. 1 SGB IX für schwerbehinderte Menschen bereits zum 1. September 2011 aufzuheben. Damit wird für schwerbehinderte bzw. schwer kriegsbeschädigte Reisende durchgängig eine bundesweite kostenfreie Nutzung der Nahverkehrszüge der DB Regio AG gewährleistet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ein großer Erfolg! - Anette Kramme [SPD]: Wenn sie denn in den Zug reinkommen!) Wenn Kollege Seifert gerade eben unseren Verkehrsminister Peter Ramsauer angesprochen und ausgeführt hat, der Nationale Aktionsplan müsste auch im Bereich Verkehr fortentwickelt werden, so möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir derzeit mit der Bahn AG und dem Verkehrsministerium den Umbau einer Vielzahl von Bahnhöfen mit Bundesmitteln forcieren und fördern, um eine behindertengerechte Ausgestaltung von Bahnanlagen zu ermöglichen. Auch in meinem Wahlkreis in Würzburg ist ein Bahnhof, der noch längst nicht behindertengerecht ist und von dem ich hoffe, dass bis 2018 ein Rollstuhlfahrer oder eine Mutter mit Kinderwagen den Bahnsteig ohne fremde Hilfe erreichen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Genau so ist es!) Nehmen Sie das als Beispiel, Herr Kollege Seifert, dafür, dass diese Querschnittsaufgabe in vielen Ministerien angekommen ist und dass in vielen Facetten und mit vielen Puzzlesteinen bereits jetzt an einer inklusiven Gesellschaft gearbeitet wird. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wo denn im Haushalt?) Die Kampagne "Behindern ist heilbar", die über zahlreiche Medien derzeit zu sehen ist, kommt Art. 8 der Konvention nach, ein gesamtgesellschaftliche Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen. Sie alle werden das Bild kennen, auf dem ein in 2,30 Meter Höhe angebrachter Geldautomat von niemandem zu erreichen ist, weder von dem Behinderten, dem Kleinwüchsigen, noch von den normal Gewachsenen. Da ist Behinderung für alle bemerkbar. Der erste Schritt muss sein, Aufmerksamkeit zu erzeugen, Menschen für das Thema Behinderung und für alles, was damit zusammenhängt, zu sensibilisieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lieber Herr Kollege Gysi, ich habe noch nicht vieles von dem, was Sie hier an diesem Mikrofon von sich gegeben haben, unterschreiben können, aber heute haben Sie in vielen Punkten recht gehabt. (Beifall bei der LINKEN) Herr Gysi, Sie haben am Beispiel des Kollegen Seifert ausgeführt, dass wir schlichtweg oft nicht an die Belange behinderter Menschen denken. Ich habe selber ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt, ähnlich wie Sie bei Ihren Organisationen: Ich habe als junger Bürgermeister die Gestaltung eines Parkplatzes im Innerortsbereich in Gaukönigshofen vorgenommen: Es handelte sich um eine Böschung mit einer dreistufigen Treppe. Ich bin am Schluss, nach dieser Baumaßnahme, mit einem Rollstuhlfahrer, der durch einen Unfall an den Rollstuhl gebunden war, die Strecke abgefahren. Er hat mich darauf hingewiesen und mir schlichtweg die Augen geöffnet, was wir einfach übersehen haben, weil das für uns kein Hindernis ist. Es ist gut, rechtzeitig, vielleicht sogar vor der Planung, stärker die Personen mit Handicap einzubeziehen, um solche Fehler oder Nachbesserungen zu vermeiden. Wir konnten alles nachbessern. Wir konnten Hochbord-Gehsteige absenken und das Ganze mit einer Rampe behindertengerecht ausgestalten. Aber Sie haben recht gehabt, Herr Dr. Gysi: Wenn man rechtzeitig hinschaut, kann man manches erleichtern. Dazu kommt: Wenn man das rechtzeitig macht, kostet das relativ wenig Geld. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Erste Berührung mit dem Thema und umfassende Information dazu schaffen die Basis, um Toleranz zu entwickeln und schließlich im nächsten Schritt eine inklusive Gesellschaft zu erreichen. Es reicht nicht, Menschen nur zu akzeptieren, sondern sie müssen auch eingebunden werden, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Es ist erschreckend, dass laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Behinderung mit 25 Prozent der meistgenannte Diskriminierungsgrund ist. Bei Mehrfachdiskriminierungen werden die Kombination Behinderung und Alter mit 17 Prozent sowie Behinderung und Geschlecht mit 7 Prozent am häufigsten genannt. Dies gilt sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Bereich. Ich möchte an dieser Stelle das C im Namen unserer Fraktion hervorheben. (Elke Ferner [SPD]: Oh je!) Die zentrale Botschaft vieler Weltreligionen, nicht nur der christlichen, ist es, nach dem Prinzip der Nächstenliebe zu leben. Nur so kann ein gleichberechtigtes Zusammenleben innerhalb eines Völkerbundes und darüber hinaus erreicht werden. Deshalb öffnet der Nationale Aktionsplan mit folgender Vision eine Zukunftsgesellschaft: Menschen akzeptieren Menschen so, wie sie sind. - Mit der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans sind wir hier auf dem besten Weg. Die Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Ende letzten Jahres eine Studie zur Inklusion, in welcher insbesondere Handlungsbedarf an den Schulen festgestellt wurde. Die inklusive Bildung der Kinder endet laut Studie nach der Kita. Während in der Kindertageseinrichtung noch 60 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit anderen spielen und lernen, sind es in der Grundschule gerade noch 34 Prozent. Beim Übergang in die weiterführende Schule müssen dann viele Kinder aus Mangel an inklusiven Bildungsangeboten an eine Förderschule wechseln. Mit dem Nationalen Aktionsplan wird Schulen die Möglichkeit gegeben, ihre Arbeit und ihre Angebote individuell auf die Bedürfnisse der Kinder zuzuschneiden. Förderschulen dürfen keine Abschiebeschulen sein. Wir werden über die Finanzierung der Schulbegleiter diskutieren. Mit den Kommunen werden wir uns zusammensetzen und regeln, wer welche Aufgabe in diesem Bereich schultern kann und schultern muss. Hier wird in Zukunft mehr Geld erforderlich sein. Da brauchen wir uns gar nichts vorzumachen. Es gilt aber auch, physische Barrieren abzubauen, wie beispielsweise der vorhin bereits angesprochene nicht abgesenkte Bordstein, fehlende Aufzüge in öffentlichen Gebäuden, fehlende Lichtanlagen für hörbehinderte Menschen, fehlende Lautsignale für sehbehinderte Menschen. Ein weiteres Thema wird die Elektromobilität sein. Hier wird eine zusätzliche akustische Wahrnehmung für Menschen mit Handicap erforderlich sein: Wenn ein Elektroauto sehr viel leiser als ein Benziner ist, ist die Sorge der Betroffenen, dass sie das Fahrzeug überhören können. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Fahrzeuge entsprechend ausstatten können. Es geht aber auch um jene Barrieren, die in den Köpfen sitzen und die Integration und Berührungen mit Menschen mit Behinderung verhindern. Umfassende Barrierefreiheit ist ein zentrales Element im Nationalen Aktionsplan und auch wesentlicher Inhalt des Art. 9 der UN-Behindertenrechtskonvention. Die soziale Wohnraumförderung unterstützt als eine Maßnahme im Nationalen Aktionsplan, die ich beispielhaft herausgreifen möchte, sowohl Mietwohnraum als auch die Bildung von selbst genutztem Wohneigentum. So können insbesondere für Menschen mit Behinderung barrierefreie Wohnungen und die barrierefreie Modernisierung von Altbauten gefördert werden. Darüber hinaus werden Beratungs- und Informationsangebote über die behindertengerechte Gestaltung von Wohnraum und Umbauten ausgebaut und weiterentwickelt. Es ist wichtig, dass sich diese nicht nur auf bauliche Vorhaben bezieht, sondern auch auf barrierefreie Kommunikation, barrierefreies Film- und Fernsehangebot und barrierefreies Internet. Auch hier sind wir bereits aktiv. Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung, BITV 2.0, soll gewährleisten, dass öffentlich zugängliche Internetdienste und Angebote der Bundesverwaltung von Menschen mit Behinderung uneingeschränkt genutzt werden können. Meine Damen und Herren, selbstverständlich wäre es wünschenswert, alle Punkte der umfangreichen UN-Behindertenrechtskonvention sofort komplett umzusetzen. Es ist aber wichtig, die Umsetzung als Prozess zu sehen. Nur so kann sie wirkungsvoll sein und auch nachhaltig in den Köpfen stattfinden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir können beispielsweise von einem mittelständischen Unternehmen nicht fordern, von heute auf morgen sein komplettes Gebäude mit automatischen Türen auszustatten und eine feste Anzahl von Menschen mit Behinderung einzustellen. Dieser Zwang würde sicherlich nicht zur Integration der Mitarbeiter führen, sondern wäre in vielen Bereichen wohl kontraproduktiv. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es würde aber schon reichen, wenn es ein betriebliches Eingliederungsmanagement gibt!) Es muss das Bewusstsein gestärkt werden - Sie haben recht, Herr Kurth -, dass in den 8,7 Millionen Menschen mit Behinderung - das sind mehr als 10 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes - ein gewaltiges Potenzial schlummert. Wir brauchen diese Menschen: Wir brauchen sie im Hinblick auf den demografischen Wandel; wir brauchen sie im Hinblick auf den Fachkräftemangel; wir brauchen sie aber auch als Menschen unter uns. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ulla Schmidt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine große Chance für unser Land. Denn in ihrer auf Inklusion ausgerichteten Konzeption ist sie ein Angebot an alle, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen und unabhängig von ihrer sozialen, ethnischen oder kulturellen Herkunft gleichberechtigt an Ausbildung, am Berufsleben, an der gesellschaftlichen Entwicklung und am politischen Leben teilhaben zu können. Darin steckt die große Chance, mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention einen neuen Gesellschaftsvertrag auf den Weg zu bringen und damit auch neue Impulse für mehr Gleichheit und für mehr Wahrung der sozialen Chancen des Einzelnen zu setzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Frau Ministerin, der Schlüssel zu dem, was getan werden muss, findet sich in der Präambel der Behindertenrechtskonvention. Ich zitiere daraus, weil ich bei Ihrer Rede nicht sicher war, ob Sie das so gelesen haben. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Also nein! Das ist eine Unverschämtheit!) Darin heißt es - Zitat -, dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein gültig und unteilbar sind, einander bedingen und miteinander verknüpft sind und dass Menschen mit Behinderungen der volle Genuss dieser Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung garantiert werden muss ... Ich betone das Wörtchen "garantiert". "Garantiert" heißt nicht, dass Sie sich hier hinstellen und sagen: Jeder ist gefordert; (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das stimmt ja auch!) Forderungen an die Regierung reichen nicht. Bringen Sie doch einmal Ihre Vorschläge ein! (Maria Michalk [CDU/CSU]: Sie waren auch mal zuständig!) - Wir haben auch vieles gemacht, liebe Frau Michalk. Garantie heißt: Das ist Ihre Verantwortung! In einer Demokratie und einem Rechtsstaat ist die Exekutive dafür verantwortlich, dass die Einzelrechte umgesetzt und die Rechtsansprüche der Menschen verwirklicht werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen wundert es mich nicht, dass der Aktionsplan heute nicht zur Debatte steht. Wir brauchen nicht mehr darüber zu reden, was wir denn noch alles prüfen sollten oder tun könnten. Es geht vielmehr darum, in einem nachvollziehbaren, transparenten Plan darzulegen: Was sind die nächsten Schritte, die wir angehen? Wie sieht unser Zeithorizont aus? Wie verbindlich setzen wir die Rechte von Menschen mit Behinderungen in diesem Lande endlich um? Um nichts anderes geht es. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Und deswegen: Wir haben in unserem Antrag eine Reihe von ganz konkreten Vorstellungen dargelegt. Über die können wir diskutieren; denn sie heben darauf ab, dass die Behindertenrechtskonvention zwar auf die Rechte von Behinderten fokussiert ist, aber in dem Zusammenhang noch mehr verwirklicht werden kann. Sie bietet die Chance, dass wir nicht nur die Barrierefreiheit umsetzen, wenn es um behinderte Menschen geht - das müssen wir -; vielmehr bedeutet das auch Barrierefreiheit für Familien mit Kindern, Barrierefreiheit für die Arbeitswelt und Barrierefreiheit für ältere Menschen. Wir sollten jetzt damit anfangen; denn wir müssen in den nächsten zehn Jahren die grundlegenden Voraussetzungen dafür schaffen, wie wir mit dem veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft umgehen wollen. Deshalb geht es jetzt darum, wie verbindlich und wie schnell wir die Dinge regeln können. Wir müssen uns gemeinsam als Ziel setzen, durch diese Aktionen und unser Handeln darauf hinzuwirken, dass auch in den Köpfen der Menschen die Barrieren überwunden werden. Dazu gibt es eine ganze Menge, das man schnell machen kann. Ihre Kolleginnen und Kollegen weisen doch nichts Konkretes - auch nicht in den Anträgen, die wir heute diskutieren - zum Kulturbereich auf. Warum können nicht alle Fördermittel, die von der öffentlichen Hand gezahlt werden, nur dann zur Verfügung gestellt werden, wenn Barrierefreiheit garantiert wird? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Warum gibt es Filmförderung nicht nur noch dann, wenn untertitelt wird, oder nur dann, wenn Audiodeskription möglich ist? All das sind die Dinge, die wir auf den Weg bringen müssen. Ich muss sagen: Es gibt Dinge, die kosten gar nichts. (Elke Ferner [SPD]: Genau!) Man glaubt es nicht, aber es gibt in unserem Land noch Menschen, die eine Oper oder ein Theater nicht besuchen können, weil sie dorthin den Blindenhund nicht mitnehmen dürfen. Das muss sofort verboten werden! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Denn uns zwingt auch niemand, unsere Augen an der Tür abzugeben, aber wir zwingen die Blinden, ihren Blindenhund abzugeben. Ich möchte noch zwei Punkte nennen, die wichtig sind und bei denen Sie auch eine Verantwortung haben: Der erste betrifft den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, bei dem Sie in der letzten Legislaturperiode verhindert haben, dass die Beschlüsse dazu weiter gefasst wurden. (Elke Ferner [SPD]: Genau!) Menschen mit Behinderung sagen mir: Es ist nicht schlimm, blind zu sein; darauf kann man sich einstellen. Schlimm ist es, blind zu sein, alt zu werden und dadurch andere Behinderungen mit dazuzubekommen. Damit kommen wir nicht mehr zurecht. - Da wäre der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff genau der richtige Ansatz zu sagen, wie wir damit eigentlich umgehen wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Zweite ist die Regelbedarfsstufe 3. Sie haben die Mittel in diesem Bereich einfach um 20 Prozent gekürzt. "Behindern ist heilbar!", diesen Satz kann man auf schönen Plakaten überall sehen. Dass Sie aber einem Menschen, der dauerhaft erwerbsunfähig ist, der entweder alt, behindert oder krank ist - sonst wäre er als junger Mensch nicht dauerhaft erwerbsunfähig -, sagen: "Wenn du aufgrund deiner mangelnden Fähigkeit, allein zu leben, in der Wohnung und im Haushalt deiner Eltern lebst, dann wirst du behandelt wie ein Ehepartner!", das verstößt gegen die Würde von erwachsenen Menschen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) die auch dann, wenn sie in der Wohnung ihrer Eltern leben müssen, ein Recht darauf haben, dass sie ihre eigene Identität haben und ihr eigenes Leben leben können. Sie brauchen dann vielleicht einen eigenen Fernsehapparat oder einen eigenen Kühlschrank. Von Ehepartnern kann man vielleicht verlangen, dass sie Tisch und Bett teilen, aber nicht von erwachsenen Menschen, die mit ihren Eltern im gleichen Haushalt leben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marlene Mortler (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wer diese Debatte von Anfang an mit verfolgt hat - ich war wirklich von Beginn an mit dabei -, der muss den Eindruck gewinnen, wir, die wir Regierungsverantwortung haben, würden beim Thema Inklusion bzw. UN-Behindertenrechtskonvention bei null anfangen. Er muss außerdem den Eindruck bekommen (Elke Ferner [SPD]: Sie fangen nicht bei null an, aber Sie haben null getan! - Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Berühmt ist das nicht!) - Moment! -, als ob wir in der Regierung alles verhindern würden. Liebe Frau Schmidt, hätten Sie doch in Ihrer Regierungszeit so laut geschrien und gehandelt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Elke Ferner [SPD]: Haben wir!) wie Sie das gerade hier getan haben! (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das können Sie doch gar keinem draußen erklären! Wir haben!) - Ich kann das deshalb erklären, weil ich schon den Eindruck gewonnen habe, dass sich aufseiten der Opposition einige zum ersten Mal überhaupt mit diesem Thema beschäftigt und versucht haben, (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Nicht bei uns!) alle Register zu ziehen, die es gibt - und das ist unfair. (Elke Ferner [SPD]: Sie reden den größten politischen Müll!) Ich weiß, wovon ich rede; denn mein Zwillingsbruder und ich haben mit dreieinhalb Jahren - jetzt werde ich leiser - Kinderlähmung bekommen. Wir sind schwer erkrankt. Damals gab es keine Pflichtimpfung. Ich hatte Glück. Man sieht mir diese Behinderung heute nicht mehr an. Mein Bruder hingegen leidet bis heute. Für mich war ab diesem Zeitpunkt, 1958, klar: Ich habe zu helfen. Ich habe zu unterstützen, in der Schule, im Berufsleben, wo auch immer. Ich sehe dieses Thema seit dieser Zeit grundsätzlich mit anderen Augen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau das ist der Punkt!) Meine Eltern - die anderen Kinder durften mit dem Bus in die Schule fahren - haben uns jeden Tag ohne Unterstützung des Staates vom Dorf in die Schule - sie war eine Ortschaft weiter - gefahren; das war ganz selbstverständlich. Wenn wir ehrlich sind: Heute ist in meinem Landkreis, in euren Landkreisen, bayernweit, bundesweit das Thema Inklusion doch von großer Bedeutung - jeden Tag, jede Woche. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich selber stehe hier, um über den Antrag der SPD-Fraktion "Tag des Barrierefreien Tourismus auf der ITB unterstützen" zu reden. Ich sage hier als Tourismuspolitikerin ganz klar: Unser Motto ist "Teilhabe für alle, barrierefreier Tourismus für alle". (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ganz richtig!) Dazu fordern wir ständig auf, und genau darauf zielt ja auch Ihr Antrag ab. Als Tourismuspolitikerin sage ich ebenfalls ganz deutlich: Wir unterstützen die Forderung, im Rahmen der ITB, der Internationalen Tourismus-Börse, einen Tag des barrierefreien Tourismus einzurichten. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sehr gut, Frau Mortler!) Aber wir fordern nicht, dass ein solcher Tag ab sofort eine Dauereinrichtung wird, sondern wir erwarten, dass das Ganze zunächst einmal bewertet wird. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Dann können Sie unserem Antrag auch zustimmen!) Das hat eindeutige Hintergründe. Gleichzeitig gibt es eine Aktion der NatKo, der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle. Diese Koordinierungsstelle macht übrigens sehr gute Arbeit. Sie hat im Rahmen der ITB ein Projekt gestartet und mittlerweile konzeptionell fertiggestellt. Erst danach, also im Nachhinein, ist sie an das BMWi herangetreten und hat gefragt, ob sie Geld dafür erhalten kann. Das ist zwar legitim, aber da hier heute ständig so viel Offenheit und Transparenz eingefordert werden, würde ich mir schon wünschen, dass Akteure wie die NatKo die Regierung im Vorhinein einbinden, damit sie weiß, worüber sie zu entscheiden und was sie im Falle des Falles zu finanzieren hätte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kramme? Marlene Mortler (CDU/CSU): Ja, bitte. Anette Kramme (SPD): Vielen Dank, Frau Mortler. - Sie haben gesagt, Sie hätten ein behindertes Familienmitglied. Ich denke, in diesem Fall müssten Sie in besonderer Weise nachvollziehen können, welche Probleme dies mit sich bringt. Ich bin in einer ähnlichen Situation: Auch ich habe bzw. hatte drei schwerstbehinderte Familienmitglieder. Meine Frage geht dahin: Was tun Sie konkret in Richtung des barrierefreien Tourismus? Ich mache es einmal an einem einfachen Beispiel fest: Mein Vater ist Rollstuhlfahrer. Wir waren in einem Hotel in der Pfalz, und dieses Hotel war als barrierefrei ausgewiesen. Wir kamen dorthin: ein wunderbares Hotelzimmer, tatsächlich barrierefrei. Wir gingen hinüber in den eigentlichen Hotelkomplex und versuchten, zu Abend zu essen. Dort gab es leider drei Stufen. Was machen Sie in Sachen Siegel? Was machen Sie, damit Menschen sich bei den vorhandenen Einrichtungen tatsächlich darauf verlassen können? Ich weiß, dass Menschen mit Behinderung nur mit großer Angst und Sorge verreisen. - Erste Frage. Eine zweite Frage in diese Richtung: Was geben Sie mit dem Aktionsplan tatsächlich an Geldern frei, um Barrierefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen? Ich kann nämlich Ihre Auffassung nicht teilen, dass die Situation in der Bundesrepublik Deutschland befriedigend ist. Sie wissen es selber: Ganz gleich, wohin ich komme, ganz gleich, ob ich in eine Metzgerei gehen will, ob ich einen Arzt aufsuche, ob ich in die Kneipe will, ob ich ins Restaurant will - ich stoße auf Barrieren. Ich denke, es geht um einen erheblichen finanziellen Einsatz. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diese beiden Fragen beantworten könnten. Marlene Mortler (CDU/CSU): Der Tourismusausschuss ist ein Querschnittsausschuss, und ein Querschnittsausschuss bearbeitet viele Themen bzw. hat viele Schnittstellen. Das heißt, unter dem Strich ist nicht nur unser Ausschuss gefordert, nicht nur die Bundesregierung ist gefordert, sondern alle sind gefordert, so wie es die Ministerin gerade gesagt hat. Die Frage lautete: Was tun Sie konkret? Erstens. Bewusstsein schaffen. Diesbezüglich ist jeder von uns gefordert. Zweitens hat das Bundeswirtschaftsministerium Studien dazu gemacht und große Veranstaltungen durchgeführt, um das Bewusstsein zu vertiefen. Drittens ist bereits im Oktober ein Projekt angelaufen, in dem es darum geht: Wir brauchen in Zukunft eine einheitliche Kennzeichnung, damit der behinderte Mensch sofort erkennen kann, ob er an einen bestimmten Ort kommt oder nicht. Das steht für mich an erster Stelle. Wir wollen in diesem Projekt die Leistungsträger qualifizieren. Wir wollen quasi Schulungsmaßnahmen durchführen. In diesem Projekt werden wir auch eine Internetplattform errichten, auf der der gehandicapte Mensch barrierefreie Angebote bzw. Dienstleistungen gebündelt finden kann. Das sind doch alles tolle Wege und Beispiele. Wir tun immer so, als ob jetzt alles und auf einmal umgesetzt werden müsste. Bei allem Respekt: Wenn wir ehrlich sind, ist dies immer mit einem bestimmten Geldbetrag verbunden. Auf der anderen Seite gibt es auch Unternehmer, Reiseveranstalter, die bewusst für sich dieses Thema entdeckt und gesagt haben: Ich springe in diese Lücke; die Anzahl der Menschen mit Behinderung wird größer - Stichwort "demografischer Wandel". Frau Ulla Schmidt hat die Vielfalt von Behinderungen selber angesprochen: Familie mit Kindern, mit Kinderwagen, vorübergehend Behinderte, dauerhaft Behinderte. Dies alles sind Zielgruppen und Menschen, die entsprechende Angebote brauchen. Am 8. Februar werden wir - übrigens auf meine Anregung hin - einschlägige Experten zum Thema "Barrierefreier Tourismus" öffentlich anhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Anette Kramme [SPD]: Das hat es schon gegeben! - Sie sagen: "Das hat es schon gegeben." Das ist eine tolle Antwort! Aber weil es das schon gegeben hat, sage ich doch nicht: Das braucht es nicht mehr zu geben. (Elke Ferner [SPD]: Das ist doch kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit!) Es geht um einen permanenten Prozess. (Anette Kramme [SPD]: Wie viel Geld geben Sie konkret?) Zum einen ist es ein Umsetzungsproblem; wir sind aber nicht bereit, irgendwelche Gesetze zu stricken und damit Zwang auszuüben. Vielmehr sagen wir: Auch die Privatwirtschaft, die Tourismusbranche, muss die Chance haben, die Dinge in die Hand zu nehmen. (Anette Kramme [SPD]: 95 Jahre!) Qualitätstourismus im Bereich Barrierefreiheit ist unser Ziel, liebe Frau Kollegin Kramme. (Anette Kramme [SPD]: Wie viele der großen Anbieter machen barrierefreie Angebote außerhalb von Spezialreisen?) - Wir sollten uns nicht ständig schlechter reden, als wir sind, liebe Frau Kollegin Kramme. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme zum Schluss: Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzen im Deutschland-Tourismus auf das Qualitätsmerkmal Barrierefreiheit. Denn uns ist vollkommen bewusst, dass dies die Grundvoraussetzung für selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe und am Ende auch ein Gewinn für alle ist. Meine Damen und Herren, sorgen wir also alle dafür, dass Barrierefreiheit nicht nur anlässlich des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung am Samstag oder im Rahmen der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin, sondern ständig, nämlich jeden Tag, im Fokus der Öffentlichkeit ist! Ich glaube, ich habe deutlich gemacht: Aus persönlicher Erfahrung, aber auch aus Überzeugung muss und werde ich meinen Beitrag weiterhin dazu leisten. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Mortler, wie sieht es tatsächlich mit Barrierefreiheit im Tourismus aus? Auch dazu verpflichtet uns die UN-Behindertenrechtskonvention. Ich habe in meinem Wahlkreis mit behinderten Menschen gesprochen und sie gefragt: Wie macht ihr Urlaub? Ich muss Ihnen sagen: Es war erschreckend, was ich da erfahren habe. Noch immer gibt es viel zu wenig Reiseangebote. Nur ein winziger Bruchteil der Hotels und Gaststätten ist in Deutschland, in unserem Reiseland Nummer eins, tatsächlich barrierefrei. Oft scheitert der Urlaub aber schon an der Anreise. Gehörlose und blinde Menschen haben immer noch große Schwierigkeiten, sich auf unseren Bahnhöfen zurechtzufinden. Herr Lehrieder, kostenfreie Beförderung nützt gar nichts, wenn die Menschen überhaupt nicht in die Züge hineinkommen. (Beifall bei der SPD) Für Rollstuhlfahrer sind Busse, Züge und vor allem Flugzeuge in der Regel entweder gar nicht oder nur mit ganz großen Schwierigkeiten zu nutzen. Das müssen wir ändern; denn das ist beschämend. (Beifall bei der SPD) 8 Millionen Menschen sind betroffen. Das entspricht der Einwohnerzahl von New York oder der achtfachen Einwohnerzahl von Köln. Diese Menschen haben ein Recht, zu reisen und Urlaub zu machen, wie alle anderen Menschen auch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Die Tourismuswirtschaft scheint dieses Potenzial überhaupt noch nicht für sich entdeckt zu haben. Wie sonst lassen sich die bestehenden Mängel erklären? 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz wären möglich. 90 000 Vollzeitarbeitsplätze - das entspricht fast der Einwohnerzahl einer Großstadt - könnten geschaffen werden. Für uns alle wären weniger Hindernisse hilfreich. Was tut die Bundesregierung für barrierefreien Tourismus? Ich habe in Ihren Nationalen Aktionsplan geschaut und gelesen, dass erst einmal die Länder, Städte und Gemeinden zuständig sind. Einfacher geht es wohl nicht. (Beifall bei der SPD) Die Regierung schiebt den Schwarzen Peter den Ländern, Städten und Gemeinden zu. Die sollen etwas tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, liebe Bundesregierung, ich fordere Barrierefreiheit in Ihren Köpfen. Es gibt doch auch auf Bundesebene nun wirklich genug Baustellen, an die wir heranmüssen. (Beifall bei der SPD - Otto Fricke [FDP]: Soll der Bund das bezahlen?) Unsere Vorschläge für barrierefreies Reisen liegen seit langem auf dem Tisch. Wir wollen erstens einen umfassenden Masterplan, zweitens Barrierefreiheit im Schienenfernverkehr inklusive Umbau aller Bahnhöfe, drittens ein Programm für barrierefreie Gaststätten und Hotels, viertens ein bundesweites, qualitätsgeprüftes Gütesiegel "Barrierefreier Tourismus für alle". (Beifall bei der SPD) Wir müssen alle Zuständigen an einen Tisch holen und für Barrierefreiheit begeistern. Ein tolles Signal wäre hier ein "Tag des barrierefreien Tourismus" auf der Internationalen Tourismus-Börse, der ITB. Frau Mortler hat dies angesprochen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Das würde Ihre Redezeit verlängern, die gerade zu Ende gegangen ist. - Bitte schön. Otto Fricke (FDP): Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich habe erstens vernommen, dass nach Ihrer Meinung der Bund hier mehr tun sollte. Zweitens habe ich Ihre Punkte vernommen. Ich bin ja nur ein schlicht gestrickter Haushälter, der dann nach Zahlen fragt. Deshalb würde ich erstens gerne wissen: Wie viele Millionen oder Milliarden Euro fehlen Ihrer Meinung nach, die der Bund mehr einsetzen müsste? Zweitens würde ich gerne wissen: Welche Anträge dieser Art haben Sie im Haushaltsverfahren gestellt? (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Keinen einzigen! Keinen einzigen!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Lieber Herr Kollege, wir müssen gemeinsam festlegen, welche Schritte getan werden sollen. Das ist schon mehrfach gesagt worden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Jetzt rudern Sie gerade zurück!) Es gibt einen Aktionsplan, das ist richtig. Dieser Plan setzt aber keine Prioritäten, was zuerst abgearbeitet werden soll. Das vermisse ich seitens der Bundesregierung. (Beifall bei der SPD) Diese Schritte müssen natürlich im Haushalt verortet werden. Das ist zunächst einmal Ihre Zuständigkeit. Wir haben unsere Forderungen auf den Tisch gelegt. Sie aber sind an der Regierung; Sie müssen handeln. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Haben Sie einen Antrag gestellt? - Gegenruf der Abg. Anette Kramme [SPD]: Frau Connemann, bei Ihnen Anträge zu stellen, ist sowieso sinnlos!) Sie müssen die Prioritäten aufzeigen, wie Sie den Aktionsplan, den Sie auf den Weg gebracht haben, abarbeiten wollen. Das vermisse ich. Das passiert bei Ihnen leider nicht. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Scheuer. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Das ist ja enorm, was hier alles gefragt wird. (Heiterkeit bei der SPD) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Frau Kollegin, wollen Sie bitte akzeptieren und es näher ausführen, dass die Bundesregierung seit Jahren für den barrierefreien Ausbau der Bahnhöfe einen dreistelligen Millionenbetrag zur Verfügung stellt und dabei zusammen mit den Behindertenverbänden aussucht, welche Bahnhöfe realisiert werden? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun sie gerade nicht!) Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass gerade diese christlich-liberale Koalition dem Einzelplan 12 des Bundesverkehrsministeriums zusätzlich für die Bundesschienenwege noch einmal 100 Millionen Euro bereitgestellt hat, um die Bahnhöfe sauberer, sicherer und schöner zu gestalten, aber vor allem auch, um das Thema der Barrierefreiheit in dieses Programm zu stellen? (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das dauert noch Jahrzehnte, bis die Bahnhöfe barrierefrei sind!) Welche Aktivitäten und Unterstützungen haben wir dafür in den letzten Wochen von Ihrer Fraktion bekommen? (Beifall bei der CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Kollege, es ist richtig, dass es das Programm zur Umgestaltung der Bahnhöfe für mehr Barrierefreiheit gibt. Das gilt aber nur für die großen Bahnhöfe. Die kleineren sind davon gar nicht erfasst. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Auch in meinem Wahlkreis wurde der Bahnhof entsprechend umgebaut. Ich musste aber leider feststellen, dass die Standards, die von der Bahn gesetzt werden, nicht dem entsprechen, was Menschen mit Behinderungen brauchen. (Beifall bei der SPD) So sind zum Beispiel die Fahrkartenautomaten für Rollstuhlfahrer überhaupt nicht benutzbar. Es gibt aber angeblich keine Fahrkartenautomaten anderer Art, die für Rollstuhlfahrer unterfahrbar wären. Das ist eine Schwachstelle. Da muss nachgearbeitet werden. (Anette Kramme [SPD]: Züge, die ungeeignet sind!) Ich gebe Ihnen insofern recht, als dass es das Programm gibt. Das Programm allein reicht aber noch nicht aus. Es muss mehr getan werden, damit die Menschen reisen können, damit sie die Bahnhöfe benutzen können. Da gibt es einfach noch zu viele Schwachstellen. Da müssen wir weiterarbeiten, und da haben Sie auch unsere Unterstützung. (Beifall bei der SPD) Ich komme zurück zum "Tag des barrierefreien Tourismus" auf der ITB. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Aber vor allem müssen Sie zum Schluss kommen, liebe Kollegin. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ja, ich komme zum Schluss. - Es wäre toll, wenn wir für dieses Projekt Ihre Unterstützung hätten. Ich fordere Herrn Minister Rösler, der leider nicht da ist, und Frau Ministerin von der Leyen auf: Unterstützen Sie dieses tolle Leuchtturmprojekt! Das wäre eine echte Aktion für Ihren bisher recht schlappen Nationalen Aktionsplan. Liebe Kolleginnen und Kollegen, - Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Aber Frau Kollegin! Gabriele Hiller-Ohm (SPD): - es gibt eine ganz einfache Erfolgsformel: Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für 40 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komfortabel. Wir wollen 100 Prozent. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/7942, 17/6586, 17/7872, 17/7889, 17/7951 und 17/7827 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 a bis g sowie den Zusatzpunkt 2 a bis d auf: 39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die geodätischen Referenzsysteme, -netze und geotopographischen Referenzdaten des Bundes (Bundesgeoreferenzdatengesetz - BGeoRG) - Drucksache 17/7375 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Düngegesetzes, des Saatgutverkehrsgesetzes und des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches - Drucksache 17/7744 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Mai 2011 zur Änderung des Abkommens vom 3. Mai 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/7917 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Herbert Behrens, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Ergebnisse öffentlicher Forschung für alle zugänglich machen - Open Access in der Wissenschaft unterstützen - Drucksache 17/7864 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien e) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt - Drucksache 17/7937 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Gerster, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung eines offenen Umgangs mit Homosexualität im Sport - Drucksache 17/7955 - Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schlechte Treibhausgasbilanz von Kraftstoffen aus Teersanden bei der Umsetzung der Kraftstoffqualitätsrichtlinie berücksichtigen - Drucksache 17/7956 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, Stephan Kühn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bedarfsfestlegung des Baus oder Ausbaus von Bundesfernstraßen - Drucksache 17/7885 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung einer aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsregelung - Drucksache 17/7933 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klassische Schweinepest zeitgemäß bekämpfen - Impfen statt Töten - Drucksache 17/7958 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abitur sichern - Drucksache 17/7957 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 40 a, 40 c bis k, dem Zusatzpunkt 3 sowie dem Tagesordnungs-punkt 17 a bis d. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 40 a auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/7632 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) - Drucksache 17/7984 - Berichterstattung: Abgeordneter Thomas Bareiß Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7984, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/7632 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Grünen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7989. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 40 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/11 - Drucksache 17/7986 - Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Frank Schorkopf als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 40 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 346 zu Petitionen - Drucksache 17/7876 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 346 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 40 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 347 zu Petitionen - Drucksache 17/7877 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 347 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 40 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 348 zu Petitionen - Drucksache 17/7878 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 348 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 40 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 349 zu Petitionen - Drucksache 17/7879 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 349 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 40 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 350 zu Petitionen - Drucksache 17/7880 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 350 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 40 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 351 zu Petitionen - Drucksache 17/7881 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 351 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 40 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 352 zu Petitionen - Drucksache 17/7882 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 352 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 40 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 353 zu Petitionen - Drucksache 17/7883 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 353 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 3: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) - zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz und zur Änderung der Richtlinie 2004/35/EG (KOM [2006] 232 endg.; Ratsdok. 1388/06) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Bodenschutz europaweit stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EU-Bodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen - Drucksachen 17/7024, 17/3855, 17/7503 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Ute Vogt Judith Skudelny Eva Bulling-Schröter Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7024 zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für den Bodenschutz und zur Änderung der Richtlinie 2004/35/EG mit dem Titel "Bodenschutz europaweit stärken". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3855 mit dem Titel "Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EU-Bodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 17 a: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klimakonferenz Durban: 10 Punkte für ein besseres Klima - Drucksache 17/7828 - Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Tagesordnungspunkt 17 b: Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Jung (Konstanz), Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die UN-Klimakonferenz in Durban - Vertrauen schaffen, konkrete Ergebnisse erzielen - Drucksache 17/7936 - Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 17 c: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Klimakonferenz in Durban zum Erfolg führen - Kyoto-Protokoll verlängern, Klimaschutz finanzieren und Cancún-Beschlüsse umsetzen - Drucksache 17/7938 - Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Tagesordnungspunkt 17 d: Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Nur konsequenter Klimaschutz führt aus der Sackgasse der UN-Klimaverhandlungen - Drucksache 17/7939 - Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der "Bundesstiftung Magnus Hirschfeld" - Drucksache 17/7935 - Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Es liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag aller Fraktionen auf Drucksache 17/7935 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weltklimakonferenz in Durban - Klimapolitik am Scheideweg Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Frank Schwabe (SPD): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Es ist wirklich absurd: Die Situation des Klimawandels wird weltweit immer dramatischer. Die Prognosen zu den Auswirkungen des Klimawandels in Zukunft werden immer dramatischer. Die Treibhausgasemissionen steigen dramatisch. Dramatisch ist aber vor allem auch die Lücke zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tun, auf der ganzen Welt und hier im Deutschen Bundestag. Es ist absurd, dass sich kurzfristige Lobbyinteressen gegenüber dem durchsetzen, was eigentlich notwendig ist. Es ist absurd, dass uns ständig erzählt wird, was alles nicht geht, statt darüber zu reden, was geht. Ich stelle fest: Wir befinden uns in einer Legitimationskrise des UN-Prozesses. Es sind nicht nur Politiker und Wirtschaftsvertreter, sondern es ist die gesamte Menschheit gefragt. Auch die Menschen draußen an den Fernsehern können und sollen sich für mehr Klimaschutz einsetzen. Wenn hier in Berlin Demonstrationen zum Klimaschutz möglich wären wie zum Atomausstieg, dann würde sich, da bin ich mir sicher, in Deutschland und auch bei dieser Bundesregierung viel mehr bewegen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Wir befinden uns in einer Glaubwürdigkeitskrise des gesamten Prozesses, am Ende aber auch in einer Glaubwürdigkeitskrise einer demokratisch legitimierten Politik, die sich dieser Herausforderung nicht ausreichend stellen kann. Ich habe keine Lust mehr, hier im Deutschen Bundestag darüber zu diskutieren, was China, die USA, Indien oder wer sonst alles nicht tun. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Dann lassen Sie es halt! Dann gehen Sie nach Hause!) Wir sind hier im Deutschen Bundestag. Herr Umweltminister, Sie können sich sicher sein - das können wir zusagen -, dass wir in Durban gemeinsam für eine deutsche Position streiten werden. Das wird uns auch gelingen, aber hier im Deutschen Bundestag müssen wir über das diskutieren, was Europa und Deutschland in dieser Krise tun bzw. was sie eben nicht tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Umweltminister, ich kann mir schon denken, was jetzt gleich kommt. Es wird eine schöne Rede kommen mit Textbausteinen, die ich bald alle auswendig kenne. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Dann gehen Sie halt nach Hause!) Das ist alles talkshowtauglich, aber es ist eben nicht regierungstauglich. Sie müssen schon sagen, was die Bundesregierung tut bzw. tun will und wo Deutschland steht. (Beifall bei der SPD - Ulrich Kelber [SPD]: Butter bei die Fische!) Das bereitet mir Sorge. Die taz hatte in der letzten Woche die Überschrift "Rösler auf Chinakurs". Die Financial Times Deutschland hatte die Überschrift "Minister für Ineffizienz". Damit ist Herr Rösler gemeint, aber auch Sie, Herr Röttgen, sind damit gemeint; denn das betrifft das Thema Energieeffizienz. Wir lesen über "Solardeckel" und anderes. Sie sind nicht in der Lage, das Klimaschutzziel der Europäischen Union zu verschärfen. Sie sind ausdrücklich auch persönlich dazu nicht in der Lage. Deutschland war einmal Vorreiter, da sind wir uns alle einig. Ich glaube, dass Deutschland in den letzten Monaten und Jahren eher Nachreiter geworden ist. Mittlerweile sind wir zum Bremser innerhalb der Europäischen Union verkommen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Herr Schwabe, Sie haben keine Ahnung! Keine Ahnung haben Sie! Ahnungslos!) Sie sprechen von einer Vorreiterrolle, die uns auf internationalen Konferenzen zugestanden wird. Das ist aber eher ein Nachhallen einer Politik von früher, eine gute Nachrede, die Sie noch ereilt, aber mit der heutigen Rolle Deutschlands in der Europäischen Union hat das nichts mehr zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich weiß nicht, ob man das darf, aber ich habe eine Grafik mitgebracht, die ich Ihnen gerne zeigen würde. Das ist eine Grafik, die die Entwicklung des Emissionshandelspreises seit einem Jahr darstellt. Wissen Sie, was das bedeutet? Die Deutsche Bank hat das vor zwei Tagen deutlich gemacht. Es bedeutet, dass die Deutsche Bank erwartet, dass wir im zweiten Halbjahr 2012 einen Emissionshandelspreis von 5 bis 7 Euro sehen werden. Wenn die europäische Politik nicht verändert wird, werden wir ab dem Jahr 2013 einen Preis von unter 10 Euro sehen. Das ist das Gegenteil von dem, was vor allen Dingen Politiker von der Koalition im Rahmen der Atomausstiegsdebatte in Deutschland behauptet haben. Es wurde damals beschrien, der Preis steige von 15 Euro auf 16,50 Euro, die Industrie müsse Deutschland verlassen. Jetzt liegt der Preis bei 8 Euro, und von Herrn Fuchs, Herrn Pfeiffer und Herrn Bareiß höre ich zu dieser dramatischen Entwicklung der letzten Wochen und Monate überhaupt nichts mehr. Ich frage mich wirklich, wie Sie da noch von einer Vorreiterrolle sprechen können. Alle wissen, dass wir in der Europäischen Union die Treibhausgasemissionen um 30 Prozent senken müssen. Wenn wir das nicht erreichen, dann gibt es für die nächsten sieben, acht Jahre keinen Anreiz für eine Klimaschutzpolitik in der Europäischen Union. Wir haben kein Geld mehr für Klimaschutzmaßnahmen. Ihren Energie- und Klimafonds können Sie vergessen. Am Ende wird kein Geld drin sein. Wir können für uns erst recht keine internationale Antreiberrolle mehr reklamieren. Vorreiterrolle bedeutet doch, vorne zu stehen im Kampf für die Senkung der Emissionen in der Europäischen Union um 30 Prozent. Wenn es Länder gibt, die weiter sind - wie Großbritannien, Dänemark und andere, wo gerade die Diskussion geführt wird - und Deutschland eben nicht vorne ist, dann heißt das für mich: Sie können die Vorreiterrolle für sich und Ihre Politik nicht mehr reklamieren und damit leider auch nicht für die Bundesrepublik Deutschland. Herr Röttgen, Sie haben in Durban zweifellos die Unterstützung der Opposition. Wir werden dort gemeinsam auftreten. Sie hätten die Unterstützung der Opposition auch für eine gute und konsistente Klimaschutzpolitik in Deutschland. Das würde aber bedeuten, dass Sie das Wort Vorreiterrolle nicht nur in den Mund nehmen, sondern es auch mit realer Politik füllen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir ein Anliegen, in dieser Aktuellen Stunde unsere Gemeinsamkeiten in der Klimapolitik zu betonen. Zunächst will ich aber ein Wort zu den Ausführungen des Kollegen Frank Schwabe sagen: Selbstverständlich ist die Bundesrepublik Deutschland Vorreiter, und selbstverständlich wird die Bundesrepublik Deutschland international weiterhin als Vorreiter wahrgenommen. (Beifall bei der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen beschließen wir die 30 Prozent auch nicht im Deutschen Bundestag! - Gegenruf des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ CSU]: Hör auf, zu krakeelen!) In Durban wird es um das Verhandeln gehen. Wir zeigen hier durch Handeln, dass wir dieser Vorreiterrolle gerecht werden. Es gibt kein anderes Land, das ein so ambitioniertes Ziel wie unser 40-Prozent-Reduktionsziel - (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Großbritannien, na klar!) das gilt für Deutschland unbedingt - beschlossen hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Aber es ist nicht mehr hinterlegt mit Programmen!) - Das ist mit Programmen hinterlegt. - Wir zeigen mit der Energiewende, mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zum Beispiel und mit unseren Anstrengungen im Bereich der nachhaltigen Mobilität, dass wir das umsetzen. Wir zeigen damit, dass wir Vorreiter sind, und wir laden andere zum Mitmachen ein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Aber die Wissenschaftler sagen Ihnen etwas anderes!) Wahr ist, dass wir eine Diskussion in Europa führen. Ich will auf einen Satz in dem Antrag, den die Koalitionsfraktionen in diesem Zusammenhang eingebracht haben, der gerade beschlossen wurde, hinweisen. Es wird auf unser unkonditioniertes 40-Prozent-Ziel verwiesen, zu dem sich die Bundeskanzlerin in ihrer Haushaltsrede übrigens glasklar bekannt hat. Sie hat gesagt: Das wird eingehalten; daran halten wir fest. - In unserem Antrag heißt es: Es ist anzustreben, dass die EU und die anderen Mitgliedstaaten sich zu vergleichbar ambitionierten Reduktionszielen wie Deutschland verpflichten. Ich verstehe das ganz persönlich als Auftrag, weiterhin für das 30-Prozent-Ziel in Europa zu werben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wahr ist auch - auch das hat Kollege Frank Schwabe gesagt -, dass der internationale Klimaprozess in einer schwierigen Situation ist. Wir haben gemeinsam ein klares Ziel: Wir wollen ein verbindliches, umfassendes Abkommen, wie das 2-Grad-Celsius-Ziel erreicht werden kann. Wir wissen schon heute: Auch in Durban wird es leider nicht zu einem Durchbruch auf diesem Weg kommen. Deshalb gibt es die eine oder andere Stimme, deshalb gibt es hier und da Gegrummel, nach dem Motto: Dann könnt ihr es auch bleiben lassen. Warum fahrt ihr da überhaupt hin? Ich finde, als Deutscher Bundestag müssen wir dem ein entschiedenes Nein entgegenstellen. Natürlich geht das zu langsam. Natürlich sind die Schritte zu klein, und natürlich gibt es Rückschläge. Aber die Frage ist doch: Was wäre die Alternative? Es gäbe nur eine Alternative: aufgeben. Aufgeben dürfen wir aber nicht. Deshalb muss dieser Weg unter dem Dach der Vereinten Nationen weitergeführt werden. Die Verhandlungen müssen weitergehen. Wir werden uns engagiert einsetzen und einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Gerade jetzt ist es notwendig, dass diese Konferenz stattfindet, weil sich jetzt, vor dem Jahr 2012, die Frage stellt, was passieren würde, wenn im Jahr 2012 das Kioto-Protokoll ohne Anschlussregelung auslaufen würde. Gäbe es dann überhaupt keinen internationalen Klimaschutz mehr? Würden wir dann vor einem Scherbenhaufen stehen? Deshalb ist es jetzt notwendig, Folgendes deutlich zu machen: Erstens. Es muss bei den flexiblen Mechanismen des Kioto-Protokolls bleiben, weil sie einen Weg für einen effizienten Klimaschutz auf marktwirtschaftlicher Basis darstellen, weil sie den Entwicklungsländern nutzen und uns global voranbringen. Zweitens. Wir sind bereit, auch weiterhin Verantwortung zu übernehmen und uns verbindlich zu Minderungszielen zu bekennen. Wir werben dafür bei den bisherigen Partnern des Kioto-Protokolls, bei den bisherigen Partnern für internationalen Klimaschutz. In Durban wollen wir aber auch sagen: Wir brauchen einen umfassenderen Ansatz. Wir müssen das, was in Cancún mit der Vereinbarung des 2-Grad-Celsius-Ziels begonnen wurde, unter der Klimarahmenkonvention fortführen. Wir wollen, dass es einen konkreten Fahrplan mit konkreten Zielen, konkreten Maßnahmen und Minderungsverpflichtungen unter dem Dach der Klimarahmenkonvention gibt. Das bedarf der Einbeziehung aller, auch der USA und Chinas. Wir dürfen sie und die großen Schwellenländer nicht aus der Verantwortung herauslassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Oliver Luksic [FDP]) Die Konferenz ist auch abgesehen von den Verhandlungen über die Minderungsziele notwendig, weil es darum geht, die Maßnahmen, die in Cancún beschlossen und auf den Weg gebracht wurden, zu operationalisieren und umzusetzen. Es geht um Maßnahmen im Bereich Waldschutz, um Anpassungsmaßnahmen und um Maßnahmen im Bereich der Technologiekooperation, weil durch all das Klimaschutz sichtbar wird, weil wir mit konkreten Projekten und konkreten Maßnahmen in den Bereichen Klimaschutz und Klimaanpassung vorankommen und weil dadurch auch die Glaubwürdigkeit gestärkt wird. Es wird auch darum gehen - Stichwort: Glaubwürdigkeit -, die Finanzierung sicherzustellen, und zwar die kurzfristige, aber auch die langfristige Finanzierung. Deshalb muss darüber geredet werden, wie die Zusage der Industriestaaten, 100 Milliarden US-Dollar bis 2020 bereitzustellen, mit öffentlichen Mitteln, aber eben auch unter Einbeziehung privater Mittel umgesetzt werden kann. (Ulrich Kelber [SPD]: Was ist denn der Vorschlag der Bundesregierung dazu?) Dabei muss es auch wieder um die Frage der Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel gehen. Wir brauchen hier globale Fortschritte und keine europäischen Rückschritte. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Jung. - Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kollege Dr. Hermann Ott. Bitte schön, Kollege Dr. Ott. Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schön, dass wir diese Debatte hier noch bei Tageslicht führen können; doch es ist schon etwas irritierend, dass wir sie nicht auf Antrag der Koalition führen. Tatsache ist: Wenn es die Opposition nicht gäbe, dann würde über die zukunftsentscheidende Klimakonferenz in Durban in diesem Hause gar nicht diskutiert und dann könnten Sie Ihren Antrag dazu nicht zur Sprache bringen. Meine Damen und Herren von der Union und von der FDP, es ist erschreckend und beschämend, wie wenig ernsthaft Sie mit einem so wichtigen Thema umgehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Leider ist das nicht das einzige Indiz dafür, welch geringen Stellenwert die internationale Klimapolitik bei Ihnen hat. Die deutsche Klimadiplomatie, früher das Paradepferd unserer Umweltaußenpolitik, steht, bildlich gesehen, kurz vor dem Abdecker. Sie haben keine neuen Ideen, wie mit dem Desaster von Kopenhagen umgegangen werden soll, keine strategischen Ansätze, um die festgefahrenen Verhandlungen wieder flottzumachen. Herr Röttgen, es tut mir leid, aber Sie sind mithilfe Ihrer tüchtigen Beamten im BMU nicht mehr als eine Art Verweser der Politik Ihrer Vorgänger Trittin und Gabriel; dies gilt auch für Frau Merkel. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Töpfer!) Viel zu sehr schauen Sie und die EU noch immer auf die Blockierer im Verhandlungsprozess, vor allem auf die USA. Nach mittlerweile 16 Vertragsstaatenkonferenzen und nach 100 vorbereitenden Konferenzen muss man doch realisieren, dass von den USA auch bei der kommenden 17. Klimakonferenz in Durban nichts anderes als in der Vergangenheit zu erwarten ist. Ja, mittlerweile geht es gar nicht mehr darum, ob sich die USA konstruktiv beteiligen oder nicht. Man muss ja schon hoffen, dass sie eine Einigung nicht torpedieren. Dass der amerikanische Kongress es den Fluglinien in den USA verboten hat, am Emissionshandel der EU teilzunehmen, ist ein direkter Hieb gegen die Klimapolitik und übrigens auch ein Affront sondergleichen gegen die Europäische Union. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Weil das so ist, fordern wir einen Strategiewechsel. Diese neue Strategie nennen wir KLUG: Klimapolitik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Diese Strategie erkennt die Realität an, nämlich dass die beste Lösung, also ein Abkommen mit allen großen Verschmutzern, nicht möglich ist. Die Strategie folgt der Erkenntnis, dass es wichtig sein kann, letztlich alle ins Boot zu holen, aber dass nicht unbedingt alle zur gleichen Zeit in das Boot einsteigen müssen. Es ist politisch und völkerrechtlich möglich, auf Grundlage der Klimarahmenkonvention oder des Kioto-Protokolls einen Folgevertrag auszuhandeln, der nicht von allen Staaten gebilligt werden muss. Ein schönes Beispiel dafür ist die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen. Sie wurde von den USA bis heute nicht ratifiziert, aber sie halten sich an die Regeln. Genau die Industrien, die sich zu Anfang vehement gegen dieses Seerechtsübereinkommen gestellt haben, fordern heute dessen Ratifizierung, weil es in ihrem Interesse ist, weil es Rechtssicherheit verspricht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Was einst als Belastung empfunden wurde, ist heute ein Gewinn. So wird es auch bei der Klimapolitik sein. In Durban müssen Deutschland und die EU einen ambitionierten Fahrplan für den Kioto-Folgevertrag auf den Weg bringen. Wenn sich die USA sträuben, muss ihnen freundlich, aber unmissverständlich klargemacht werden, dass sie die anderen nicht am Klimaschutz hindern dürfen. Dann muss eine Allianz ohne die USA gebildet werden. Wir haben diese Woche einen Zehn-Punkte-Plan in den Bundestag eingebracht. Diese zehn Punkte kann man jetzt angehen; man muss dafür nicht auf ein neues Abkommen warten. Dadurch kann das Klima natürlich nicht gerettet werden, aber es können wichtige Fortschritte beim Klimaschutz erzielt werden. Zu diesen zehn Punkten gehören folgende Forderungen: ein nationales Klimaschutzgesetz, der Abbau klimaschädlicher Subventionen, ein Programm für den Aufbau erneuerbarer Energien in den Entwicklungsländern und konkret die Umsetzung von Projekten wie SARI in Südafrika und Yasuní-ITT in Ecuador, Projekte, die den weltweiten Klimaschutz mit bahnbrechenden Ideen voranbringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Röttgen, meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe eben, vielleicht aus Gründen der Rhetorik, etwas übertrieben. Das Paradepferd der deutschen Klimaaußenpolitik lahmt zwar, aber etwas gute Pflege kann es schnell wieder auf die Beine bringen. Dazu brauchen Sie nichts als guten Willen und natürlich den Mut, die Einflüsterungen der Lobbyisten von der Unmöglichkeit eines Strategiewechsels als das zu nehmen, was sie sind: der hinterhältige Versuch, das fossile System zu retten und die Lebensinteressen von jetzt 7 Milliarden Menschen zu opfern. Lassen Sie, lassen wir das nicht zu! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Denn in der Klimapolitik, meine Damen und Herren, ist es doch wie in der Politik allgemein: Man muss das tun, was richtig ist, nicht das, was die anderen einen tun lassen. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Ott. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Michael Kauch. Bitte schön, Kollege Michael Kauch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Kauch (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Klimaschutz hat auch in der Finanzkrise nicht an Bedeutung verloren. Er ist weiterhin eines der zentralen Zukunftsfelder der deutschen Politik. Ich muss sagen, dass ich großes Vertrauen in die Politik von Bundesumweltminister Röttgen und Bundesentwicklungshilfeminister Niebel habe, (Frank Schwabe [SPD]: Und Herr Rösler?) die entscheidend dazu beitragen, dass Deutschland auf der internationalen Bühne weiterhin eine Vorreiterrolle zugeschrieben wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dieses Oppositionsgenöle, Deutschland und die EU seien ja nicht mehr Vorreiter, seit Sigmar Gabriel nicht mehr Umweltminister ist, (Frank Schwabe [SPD]: Es ist aber so! - Ulrich Kelber [SPD]: Es war selbst unter Merkel besser und unter Töpfer noch besser!) diese Platte kann man als Opposition immer auflegen. Das würde ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch tun. Aber dann erklären Sie mir doch einmal: Wer in der G 20 ist denn mehr Vorreiter als die Europäische Union, (Ulrich Kelber [SPD]: Großbritannien!) mehr Vorreiter als Deutschland und Großbritannien? Etwa China, etwa Saudi-Arabien oder etwa die USA? Sie werden in der G 20 keine Länder finden, die beim Klimaschutz stärker als die Europäische Union vorangehen. (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die anderen sind noch viel schlechter! Das reicht nicht!) Deshalb sollten Sie den Leuten hier nichts vormachen. Wir sind Vorreiter im Klimaschutz in der G 20. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, einfach immer nur mehr Ziele zu fordern, ist ja leicht. (Ulrich Kelber [SPD]: Wir wollen mehr Instrumente in Deutschland!) Da Sie Großbritannien angesprochen haben: Ich schätze Großbritanniens Engagement sehr. Großbritannien ist für die internationale Verhandlungslinie der Europäischen Union von herausragender Bedeutung. Aber ich muss auch deutlich sagen: Großbritannien ist ein Land, das sich in den letzten Jahrzehnten deindustrialisiert hat. (Frank Schwabe [SPD]: Aber doch nicht wegen des Klimaschutzes! - Ulrich Kelber [SPD]: Wegen der Marktliberalen!) Das Geld wird bei den Banken und im Dienstleistungssektor verdient. Wir in Deutschland sind sehr froh, dass wir unseren industriellen Kern erhalten haben; denn das hat dazu geführt, dass wir glimpflich durch die Finanzkrise gekommen sind. (Frank Schwabe [SPD]: Trotz FDP! Das hat doch mit dem Klima nichts zu tun!) Dieses Wachstum von morgen dürfen wir nicht aufgeben. Wir als Liberale, als christlich-liberale Koalition wollen die industriellen Kerne Deutschlands erhalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Sie waren doch für den politischen Weg als FDP! Das kann man nachlesen!) Das gilt sowohl für neue als auch für alte Technologien. Denn wir müssen Wertschöpfungsketten insgesamt im Land erhalten und dürfen sie nicht über die Grenze, zum Beispiel nach China oder in die Ukraine, treiben, wo dann mit möglicherweise noch mehr Emissionen die gleichen Produkte hergestellt werden, aber dann eben ohne Arbeitsplätze in Deutschland. Deshalb finde ich es sehr legitim, dass der Bundeswirtschaftsminister, der für die Wirtschaft in Deutschland zuständig ist, ein waches Auge darauf hat, ob Industriearbeitsplätze in Deutschland überfordert werden oder nicht. Wir stehen für eine Balance, dafür, dass der industrielle Kern Deutschlands nicht beschädigt wird und wir zugleich Klimaschutzvorreiter in der Welt bleiben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nutzen die Chancen nicht! Sie schaden den kleinen und mittelständischen Betrieben!) Meine Damen und Herren, Cancún war ein Teilerfolg. Wir haben es geschafft, dass das 2-Grad-Ziel international anerkannt worden ist. Wir haben für die Entwicklungsländer Finanzierungsentscheidungen getroffen. Wir haben die Schwellenländer dazu gebracht, dass sie eigene Minderungsbeiträge zugesagt haben. Die Aufgabe, die wir jetzt in Durban haben, ist, deutlich zu machen, dass die Minderungsbeiträge noch nicht ausreichend sind, um das vereinbarte 2-Grad-Celsius-Ziel tatsächlich zu erreichen. Das werden wir im Wesentlichen dadurch erreichen, dass wir in der Klimadiplomatie darauf setzen, dass die Staaten, die kooperativ sind, weiterhin das Kioto-Protokoll einhalten. Wir als christlich-liberale Koalition wollen eine Verlängerung des Kioto-Protokolls, auch wenn wir noch kein globales Abkommen hinbekommen. Wir wollen mit den Schwellenländern, die kooperativ sind, vorangehen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns als Europäische Union und als deutsche Regierung auch auf die Frage konzentrieren: Wie ist in der Klimadiplomatie unser Verhältnis zu China, Brasilien und Mexiko? In einem Punkt gebe ich Herrn Ott recht: Wir können und dürfen nicht auf die Vereinigten Staaten von Amerika warten. Wenn die USA nicht mitmachen, dann muss die EU mit anderen Teilen der Welt vorangehen, und dann müssen sich die USA fragen, ob sie sich nicht zunehmend isolieren, auch in der Außenpolitik und in anderen Feldern der Politik. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) Meine Damen und Herren, wir müssen praktisch vorangehen. Mit seinem Energiekonzept ist Deutschland im Hinblick auf erneuerbare Energien so ambitioniert wie kein anderes Industrieland auf der Welt. Wir investieren über die Etats des Umwelt- und des Entwicklungshilfeministeriums mehr als 1 Milliarde Euro im Jahr in den Waldschutz und in Klimaanpassungsmaßnahmen. Wir werden die Energiekooperation mit den Entwicklungsländern vorantreiben. Vizepräsident Eduard Oswald: Das wäre doch ein schöner Schlusssatz. Michael Kauch (FDP): Dirk Niebel beispielsweise hat gerade erst eine Vereinbarung über den Bau einer Solarfabrik in Marokko unterzeichnet. Das ist der Weg, auf dem wir praktisch in das neue Energiezeitalter gehen werden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Michael Kauch. - Jetzt für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Eva Bulling-Schröter. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Durban wird es kein umfassendes internationales Klimaschutzabkommen geben, bestenfalls Verhandlungsmandate auf dem Weg dorthin. Ich halte das angesichts des drohenden Klimakollapses für erbärmlich - für richtig erbärmlich - und sehr traurig. Wir wissen ebenfalls: Die angestrebte Minimallösung, nämlich die Verlängerung des Kioto-Protokolls bis 2015, wird eine leere Hülle sein: ohne neue Minderungspflichten und ohne Einbindung der USA und Chinas. Das ist nicht mehr als ein Platzhalter, eine Brücke hin zu einem umfassenden Abkommen, damit nicht auch die wenigen Mechanismen für die Industrieländer entsorgt werden. Die Bilanz ist ernüchternd. Ich kann die Wut verstehen, die die Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind, haben - aber nicht nur die, sondern auch die Menschen in unserem Land, die endlich etwas tun wollen. (Beifall bei der LINKEN) Es nützt auch nichts, auf dem bevölkerungsreichen China herumzuhacken, wie es viele zurzeit tun. Die Pro-Kopf-Emissionen Chinas liegen deutlich unter denen der EU und erst recht unter denen der USA, die sich seit Jahrzehnten nicht um den Klimaschutz kümmern und lieber Kriege anzetteln, statt Zukunft zu gestalten. Natürlich müssen beide Länder mit ins Boot; das ist für mich gar keine Frage. Sonst machen internationale Abkommen keinen Sinn; das wissen wir. Ja, die Wachstumsraten beim CO2-Ausstoß in den Schwellenländern sind beängstigend. Das gibt allerdings vor allem deshalb Probleme, weil die Atmosphäre bereits voll ist. Dieses Problem wurde nicht von den Entwicklungsländern, sondern von uns, den Industrieländern, verursacht. Nicht etwa die Chinesen jetten zweimal im Jahr nach Mallorca oder haben einen Zweitwagen in der Garage; das sind ganz andere. Ich möchte jetzt nicht schlaumeiern, wie China oder die USA zu einem anderen Verhalten gebracht werden können. Klar ist aber: In Durban müssen endlich die Weichen für ein umfassendes Post-Kioto-Abkommen gestellt werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage Ihnen: Das sind wir unseren Enkeln und vielen anderen auch schuldig. Die Konferenz muss die Absichtserklärungen von Kopenhagen und Cancún mit Leben füllen. Das heißt - es wurde angesprochen -, man muss Vertrauen schaffen und gegenseitige Blockaden aufbrechen. Es ist natürlich die vordringlichste Aufgabe der EU, endlich das 30-Prozent-Ziel zu diskutieren und dann natürlich auch zu beschließen; wir reden die ganze Zeit darüber. Wir sind uns einig, andere - natürlich die Wirtschaftspolitiker und die Industriebosse - blockieren das. (Dr. Thomas Gebhart [CDU/CSU]: Und Gewerkschaften!) Wir brauchen eine entsprechende Finanzierung und verbindliche Geldzusagen. Wir brauchen frisches Geld und keine aufgewärmten alten Versprechen. Ich sage Ihnen: Den Banken schmeißen Sie es in den Rachen, aber für die betroffenen Leute ist kein Geld da. (Beifall bei der LINKEN - Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Blödsinn!) Ich möchte Sie daran erinnern: Nur ein Fünftel der Mittel im Bundeshaushalt ist dafür zusätzlich veranschlagt. Das halte ich für einen Witz. Für diese Menschen muss jetzt endlich Geld her. Letzte Bemerkung. Deutschland ist ein Industrieland, das fähig ist, die Energieversorgung zügig auf eine regenerative Basis umzustellen. Wir können ein Vorbild dafür sein, wie das ohne Verlust an wirklicher Lebensqualität geht. Allerdings müssen wir das Tempo erhöhen - das wurde schon angesprochen -, das heißt: Halbierung des CO2-Ausstoßes bis 2020 und 50 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien. Das ist möglich, aber das wird nur dann gelingen, wenn die Kosten nicht allein die Privathaushalte und die kleinen Betriebe tragen müssen. Die Bundesregierung schont energieintensive Industrien und große Kraftwerksbetreiber. Das, was Herr Kauch gesagt hat, ist eben nicht richtig. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Doch! In dem Fall hat er recht!) Schauen wir uns die EEG-Umlage und den Emissionshandel an. Hier werden Gewinne eingefahren. Das kann man berechnen und beweisen. Es geht hier nicht darum, dass wir irgendwelche Arbeitsplätze abbauen wollen, sondern wir wollen, dass fair bezahlt wird; denn alles andere ist absurd. Die energieintensiven Industrien und die großen Kraftwerksbetreiber erhalten leistungslos Geld. Es geht in Deutschland nicht allein um ein paar Prozentpunkte mehr beim Minderungsziel. Es geht darum, dass das Energiesystem auf komplett neue Grundlagen gestellt wird, nämlich: erneuerbar, demokratisch und sozial. Wenn wir das durchsetzen, dann können wir auch international etwas bewegen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Bulling-Schröter. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Thomas Gebhart. Bitte schön, Kollege Dr. Gebhart. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Viele fragen in diesen Wochen in der Tat: Was bringen eigentlich diese Klimakonferenzen? Lohnt der Aufwand? Ist es nicht grotesk, dass die Warnungen vor den Folgen des Klimawandels zunehmen, dass wir bei den Treibhausgasemissionen im letzten Jahr historische Rekordwerte erreicht haben und dass gleichzeitig die Erwartungen an die jetzige Konferenz eher mäßig sind? Ja, aber deswegen die Klimakonferenzen grundsätzlich infrage zu stellen, wäre sicherlich ein Fehler; denn am Ende gibt es keine vernünftige Alternative dazu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Warum ist dies so? Der Klimawandel ist ein klassisches globales Problem, und es ist klar, dass wir für dieses Problem weltweite Lösungen brauchen. Die Staaten müssen miteinander kooperieren. Dort, wo es möglich ist, müssen wir unter dem Dach der Vereinten Nationen miteinander reden, verhandeln und das, was möglich ist, vereinbaren. Ich hoffe, dass wir in Durban zum Beispiel Entscheidungen treffen, die zumindest die Grundlage für weltweit verbindliche Vereinbarungen über die Mengenbegrenzung der Treibhausgasemissionen schaffen. Deutschland wird dabei weiterhin engagiert für mehr Klimaschutz werben. Deutschland steht zu seinen ambitionierten Zielsetzungen. Wir wollen die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Dies ist Teil unserer Verantwortung. Dies ist der Beitrag, den wir leisten. Es ist gut, dass es dazu einen breiten Konsens gibt. Den sollten wir auch heute nicht zerreden. Ich bin überzeugt: Es gibt am Ende keine vernünftige Alternative zu diesen Klimakonferenzen und zu diesen Verhandlungen. Ich bin aber in gleicher Weise fest davon überzeugt, dass diese Verhandlungen - so notwendig sie sind - am Ende alleine nicht reichen werden. Warum? Wenn wir heute die Situation weltweit betrachten, stellen wir fest, dass wir nach wie vor ein Wachstum der Weltbevölkerung erleben. Auch jene, die nicht so leben wie wir in den westlichen Industrieländern, streben verständlicher- und berechtigterweise nach Wohlstand und Wachstum. Die große Herausforderung besteht also darin, dass es uns gelingt, Wohlstand und Wachstum mit der Ressourcenschonung und dem Klimaschutz in Einklang zu bringen. Der Schlüssel dazu liegt in neuen Technologien, in Effizienztechnologien, erneuerbaren Energien und vielem mehr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie doch mal was! Hauen Sie doch mal Ihrem Wirtschaftsminister auf die Finger!) - Wir tun sehr viel. Wir sind in Deutschland auf dem Weg. Wir bauen die Energieversorgung zu einer nachhaltigen Energieversorgung um. Viele schauen in diesen Monaten auf Deutschland und fragen: Schafft ihr das? Ich bin mir sehr sicher: Wir werden es schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen Sie mal in die Enquete! Das reicht nicht aus!) Je besser uns dieser Umbau gelingt, desto attraktiver wird am Ende dieser Weg auch für andere Länder werden - auch weil sie erkennen, dass darin wirtschaftliche Chancen liegen. (Zurufe von der CDU/CSU: Genau!) Je besser uns dieser Umbau gelingt, desto mehr tragen wir am Ende zum Klimaschutz insgesamt bei. (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie das machen würden, hätten Sie uns doch dabei!) Deshalb: Durban ist wichtig; aber das, was danach kommt, ist mindestens genauso wichtig. Ich will noch einen Punkt aufgreifen. Die Schuldenkrise überlagert im Moment viele andere Themen. Auch der Klimawandel ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein ganzes Stück weit nach hinten gerutscht. Wenn wir es aber genau betrachten, dann sind Schuldenkrise und Klimawandel im Grunde zwei Seiten der gleichen Medaille; denn beide haben die gleiche Ursache: Ein Teil des Wohlstands von heute wird zulasten künftiger Generationen erwirtschaftet. (Beifall des Abg. Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Gerade die Schuldenkrise lehrt uns, dass es vernünftig ist, frühzeitig und rechtzeitig den Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise und Politik einzuschlagen und nicht erst dann, wenn es unvermeidlich ist; denn dann wird die Anpassung am Ende umso härter ausfallen. Gleiches gilt für den Klimawandel. Also überzeugen wir möglichst viele, mit uns gemeinsam diese Herausforderung anzugehen, und zwar jetzt! Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Gebhart. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dirk Becker. Bitte schön, Kollege Dirk Becker. (Beifall bei der SPD) Dirk Becker (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gebhart, ich muss schon sagen: Sie haben beim Umweltminister gelernt, wie man ein Thema würdevoll vorträgt. Sie haben viel Richtiges gesagt. Entscheidend ist aber, dass die Taten, die Ihre Regierung vornimmt, auch diesen Aussagen entsprechen. Da ist es leider so, dass Sie bei vielen energiepolitischen Weichenstellungen der letzten Monate das Gegenteil tun. Herr Kauch hat vorhin gesagt, wir sollten den Leuten nichts vormachen. Das kann ich an Ihre Adresse zurückgeben. Es wurde auch Sigmar Gabriel angesprochen. Ich greife den Ball gern auf: Bei der Klimakonferenz auf Bali im Jahr 2007 war es Sigmar Gabriel, der als erster Umweltminister eines Industrielandes mit einem Energie- und Klimaprogramm aufgetaucht ist, in dem man nachlesen konnte, an welchen Stellen die deutsche Regierung wie viel Prozent CO2- bzw. Treibhausgasemissionen nachweisbar und nachprüfbar einsparen will, um so das 40-Prozent-Ziel zu erreichen. (Beifall bei der SPD) Wenn Sie sagen, dass Sie weiter sind, dann muss ich Sie enttäuschen. Auch wenn die damalige Opposition erklärt hat, das gehe nicht weit genug: Eines lag dem zugrunde, nämlich eine Liste, mit welchen Maßnahmen man was erreichen will. Ich will nur drei oder vier Punkte des damaligen Energie- und Klimaprogramms aufgreifen. Ich beginne mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Man wollte mit dem Ausbau erneuerbarer Energien 54 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Diese Bundesregierung hat auf der Basis von Studien zur Laufzeitverlängerung die Ausbauphase erneuerbarer Energien verlängert. Es sollte also einen verlangsamten Ausbau geben, weil Sie die Kernenergie wollten. Als Sie Ihren Beschluss zur Laufzeitverlängerung rückgängig machten, haben Sie im Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht nachgebessert. Das heißt, Sie haben das Vorgehen verlangsamt. Sie werden mit diesem EEG die Ziele zur Senkung der Treibhausgasemissionen nicht erreichen. Zweitens haben Sie gesagt, Sie wollten durch Effizienzmaßnahmen Stromeinsparungen in großem Umfang erreichen. Doch wo bleiben die Taten? Wir können es nachlesen: Herr Rösler blockiert die Festlegung verbindlicher Effizienzvorgaben an allen Ecken und Enden. Wir werden durch Effizienzmaßnahmen die 25 Millionen Tonnen, die als Ziel hinterlegt sind, dank Ihrer Politik nicht erreichen. Herr Rösler bremst und blockiert auch hier beim Klimaschutz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollten des Weiteren durch das Marktanreizprogramm im Wärmemarkt rund 10 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Was ist denn Gegenstand Ihrer Politik? Die Förderung durch das Marktanreizprogramm wurde wieder und wieder eingeschränkt. Es gibt auf dem Wärmemarkt einen totalen Stillstand. Das heißt, auch hier werden wir die CO2-Minderungsziele aufgrund Ihrer Politik verfehlen. Der letzte Punkt: Meisterstück ist eigentlich das Gebäudesanierungsprogramm. Während wir noch zu Zeiten der Großen Koalition verlässlich und verbindlich 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben, in der Wirtschaftskrise sogar 2,2 Milliarden Euro, weil der damalige Finanzminister den Zusammenhang zwischen energetischer Sanierung und der wirtschaftlichen Bedeutung erkannt hat, nehmen Sie dieses Programm komplett aus dem Haushalt und verschieben es stattdessen in einen Energie- und Klimafonds, der niemals über die entsprechenden Mittel verfügen wird, weil es zu den Einnahmen, die Sie unterstellen, nicht kommen wird. (Michael Kauch [FDP]: Woher wissen Sie das?) - Woher ich das weiß? Das kann man mathematisch lösen. Sie unterstellen Einnahmen, die auf einem Zertifikatepreis von 33 Euro basieren. Heute liegt der Preis, eben nachgesehen, bei knapp unter 9 Euro. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist falsch! Herr Becker, Sie haben keine Ah-nung! - Gegenruf des Abg. Frank Schwabe [SPD]: Lesen Sie einmal bei der Deutschen Bank nach!) Herr Frank Schwabe hat es eben vorgetragen: Die Deutsche Bank rechnet damit, dass der Preis weiter sinken wird. Dieser Fonds ist ein Flop. Mit diesem Flop floppt auch der Klimaschutz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann kommt die dreisteste Nummer, die ich mir vorstellen kann: Sie zeigen jetzt mit dem Finger auf die Bundesländer, weil sie beim Thema Steuerentlastungen blockieren. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Völlig zu Recht!) - Zu Recht? Sie lassen den Umweltminister hier sagen, was diese Regierung alles für den Umweltschutz tut. Die Finanzierung aber schaffen Sie sich vom Hals. Weil Sie in der letzten Woche ohnehin schon eine hohe Neuverschuldung durchs Parlament jagen mussten, haben Sie die Förderung der Gebäudesanierung komplett aus dem Haushalt herausgenommen und auf die Länder übertragen. Die Länder sollen also dafür bezahlen, dass Herr Röttgen hier eine schöne Rede halten kann. (Ulrich Kelber [SPD]: Und auch die Kommunen! - Andreas Jung [Konstanz] [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Auch die CDU-geführten Bundesländer lehnen das zu Recht ab. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung!) Sie machen sich hier einen schlanken Fuß, verschieben die Finanzierung in die Bundesländer und belassen es hier bei warmen Worten und schönen Reden. So funktioniert der Klimaschutz nicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist der Grund, warum die Vorreiterrolle Deutschlands in der Welt nicht mehr wahrgenommen wird. Herr Jung, ich gebe Ihnen recht. Ich glaube Ihnen, dass Sie die Ziele ernst meinen. Das stelle ich überhaupt nicht infrage. Aber die Taten fehlen. Solange die Taten fehlen, wird Deutschland nicht mehr Vorreiter beim Klimaschutz sein können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Becker. - Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Dr. Christiane Ratjen-Damerau. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wenn Sie heute nach draußen schauen, werden Sie sehen, dass es bewölkt ist. Wie auch für mich ist für die meisten von uns die Frage nach dem Wetter eine Frage nach dem eigenen Wohlbefinden. Tatsächlich stellen aber Wetter und Klima für die meisten Menschen auf dieser Welt eine Frage von Leben und Tod dar. Der weltweite Ausstoß von Kohlendioxid hat einen neuen Rekordwert erreicht. Wir haben zurzeit den größten CO2-Anstieg aller Zeiten zu verzeichnen. Die Folgen dieses dramatischen Anstiegs des klimaschädlichen Treibhausgases in der Atmosphäre sind durch den Klimawandel messbar und spürbar geworden. Ganz besonders betroffen sind die Menschen auf der südlichen Halbkugel dieser Erde und damit genau die Menschen, die nicht das Glück haben, auf dieser Seite der Erde, nämlich in den reichsten Ländern der Welt, geboren zu sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese Menschen tragen die Hauptlast des Klimawandels, obwohl sie am allerwenigsten dazu beitragen. Die schwierigen Klimabedingungen der letzten Jahre führen zum Beispiel in Nigeria dazu, dass Flüsse austrocknen und viele Wasserquellen versiegen. Allein die Wassermenge des Lake Chad ist in den vergangenen Jahren um 60 Prozent zurückgegangen. Als Folge der schwer vorhersehbaren Wetterbedingungen in diesem Land kommt es immer öfter zu Bodenerosion und Überschwemmungen. Wichtige Straßen und Wege, die Lebensadern für die dort lebenden Menschen sind, werden zerstört. In Papua-Neuguinea steigt der Meeresspiegel. Überschwemmungen sind die dort spürbaren Auswirkungen des Klimawandels. Ganze Dörfer verschwinden unter dem Meeresspiegel, und Ernten werden vernichtet. Frauen sind von den Auswirkungen des Klimawandels am stärksten betroffen. Sie sind für die Ernährung von Familien zuständig. Wasserknappheit oder die Verunreinigung des Wassers durch Überflutungen führen dazu, dass Frauen immer weitere Wege gehen müssen, um sauberes Wasser oder Feuerholz zu finden. Für sie wird es daher immer schwieriger, sich und ihre Familien zu ernähren. Für die westliche Welt steht die Minderung der Treibhausgase im Vordergrund. Die globale Temperaturerhöhung soll auf maximal 2 Grad begrenzt werden. Die Ausgangslage in den Entwicklungsländern ist eine erheblich andere: Sie sind nur zu einem geringen Prozentsatz Verursacher des Klimawandels; doch sie sind es, die die Hauptlast der Klimaveränderung tragen müssen. Ihre Küsten werden überschwemmt, ihre Landwirtschaft wird zerstört, und ihre Ernährungsgrundlage ist von Dürren und Flutkatastrophen akut bedroht. Die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern haben ebenso wie wir ein Recht auf Entwicklung und Wohlstand - und dies fordern sie auch von uns ein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Umgekehrt ist eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung weltweit, ohne dass klimafreundliche Entwicklungspfade beschritten werden, nicht möglich. Daher müssen wir die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern auf dem Weg zum globalen Klimaschutz begleiten. Unsere Partnerländer in der Entwicklungszusammenarbeit brauchen bei der Wiederaufforstung, bei der Verminderung der Wüstenausdehnung und bei dem Schutz der Biodiversität unsere Unterstützung. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr für diese Projekte. Hinzu kommen Mittel aus dem Energie- und Klimafonds. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Insbesondere mit den Schwellenländern müssen wir den Dialog verstärken. Gemessen an ihrer wirtschaftlichen Größe und ihrem Einfluss in der Welt müssen sie ihren Beitrag leisten. Ohne sie und ihr Mitwirken ist der Klimaschutz nicht zu machen. In Durban muss die internationale Gemeinschaft den Weg für ein rechtsverbindliches Klimaabkommen im Rahmen der Vereinten Nationen ebnen. Dabei gilt es besonders, die Ambitionen der Länder in Bezug auf ihre Emissionsminderungsziele zu stärken und eine faire Aufteilung zwischen den Staaten und ihren Verpflichtungen zu schaffen. Wir werden die Vereinigten Staaten und die großen Schwellenländer dabei unterstützen, auch ihre Ambitionen beim Klimaschutz rechtsverbindlich auszugestalten. Im Jahr 2010 hatten wir den größten Anstieg aller Zeiten beim Ausstoß von Kohlendioxid zu verzeichnen. Ich wünsche der deutschen Delegation viel Erfolg bei der Konferenz in Durban. Ich hoffe sehr, dass weitere Rekordausstöße von Kohlendioxid mit den Ergebnissen der Konferenz in Zukunft zu verhindern sind. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Bärbel Höhn. Bitte schön, Frau Kollegin Höhn. (Beifall des Abg. Ulrich Kelber [SPD] - Ulrich Kelber [SPD]: Ich finde das immer doof, dass Sie nicht klatschen! - Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finde ich auch! - Beifall des Abg. Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal an das Thema erinnern, um das es hier geht, und dabei die Rolle Deutschlands beim Kampf gegen die Klimakatastrophe beleuchten. Deutschland hat im Klimaschutz international in den letzten Jahrzehnten immer eine sehr aktive Rolle gespielt. Ich finde es auch richtig, deutlich zu sagen: Das war nicht das Anliegen einer einzigen Fraktion, sondern das war das Anliegen vieler Umweltminister aus vielen verschiedenen Fraktionen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es hat mit Klaus Töpfer angefangen, der 1992 viel dazu beigetragen hat, dass wir die Konferenz in Rio hatten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist weitergegangen mit der Umweltministerin Angela Merkel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Und es ist - ich hoffe, dass jetzt auch alle wieder klatschen - mit Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel weitergegangen. Ich bitte jetzt auch um Beifall! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) - Danke schön! Wenn wir heute vor Durban die Situation haben, dass man sagt: "Durban steht unter keinem guten Stern", dann müssen wir auch fragen: Welche Rolle spielt dabei eigentlich Deutschland? Bisher gingen vor jeder Klimakonferenz von der Bundesregierung immer Initiativen aus: Da gab es Impulse, da sind wir mit neuen Ideen zu den Klimakonferenzen gegangen. Mein Vorwurf ist, dass in diesem Jahr, vor Durban, keine solchen Initiativen von der Bundesregierung kommen. Das muss sich ändern, sonst werden wir diese Vorreiterrolle verlieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Deshalb gibt es auch die Idee einer Klimapolitik der verschiedenen Geschwindigkeiten; wir wollen - ich nenne es einmal so - eine Koalition der Willigen. Aber wenn man eine Koalition der Willigen schaffen möchte, weil man die großen Emittenten nicht mit ins Boot bekommt, dann muss man auch vor Ort, hier in Deutschland, zeigen, dass man willig ist und dass der Klimaschutz hier bei uns eine Rolle spielt. Da vermisse ich das Engagement der Bundesregierung. Das, was Sie hier bieten, ist mir zu wenig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir haben alle gemeinsam, der ganze Bundestag - das war eine gute Sache -, beschlossen: 40 Prozent CO2-Reduktion bis zum Jahr 2020. Wir wissen aber alle, dass dieses Ziel mit den jetzigen Maßnahmen nicht erreicht werden wird. (Zuruf von der LINKEN: So ist es!) Am Ende landet man vielleicht bei 30 oder 35 Prozent, nicht aber bei 40 Prozent CO2-Reduktion. Ich sage deshalb: Meine Damen und Herren, lassen Sie uns endlich gemeinsam ein Klimaschutzgesetz verabschieden, damit wir jedes Jahr überprüfen können, ob wir uns von diesem Ziel entfernen oder nicht, damit wir rechtzeitig agieren können, damit wir hier nicht nur große Predigten und Reden halten, sondern auch handeln. Klimaschutz lebt vom Handeln! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dazu gehört auch, dass Deutschland nicht nur im eigenen Land aktiv ist, sondern vor allen Dingen Deutschland auch in Europa aktiv ist. Noch vor der Konferenz in Bali ist eindeutig und klar gesagt worden: 30 Prozent CO2-Reduktion - wenn die anderen mitmachen. Das war damals etwas Neues. Heute muss man sagen: 30 Prozent CO2-Reduktion in Europa - ohne Wenn und Aber. Eine solche Ansage hätte ich von der Bundesregierung erwartet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es ist doch eine logische Folge von zu viel ausgegebenen Zertifikaten, dass der Preis der Zertifikate jetzt unter 9 Euro liegt. In den Haushaltsplan sind für die Zertifikate 17 Euro eingestellt. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Richtig! Nicht 33 Euro!) Das heißt doch umgekehrt, dass wir ehrgeiziger sein müssen. Wir müssen den CO2-Ausstoß begrenzen, damit wir überhaupt bei 17 Euro landen können. Deshalb müssen wir uns in Europa ehrgeizigere Ziele zur Reduktion des CO2-Ausstoßes setzen. Wir müssen auf jeden Fall den CO2-Ausstoß in Europa um 30 Prozent reduzieren. Das ist das Ziel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Hermann E. Ott [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Röttgen muss sich einmal durchsetzen!) Das Zeitfenster für eine solche Forderung schließt sich. Denn wenn Sie diese 17 Euro pro Zertifikat nicht bekommen - und danach sieht es aus; ursprünglich lag das Ziel sogar bei über 30 Euro -, dann heißt das, dass Sie mit der derzeitigen Konstruktion Ihres Klimafonds die Energiewende nicht durchsetzen können. Die Zahl der Gebäudesanierungen bei uns ist doch eingebrochen, weil die Einnahmen aus den Zertifikaten nicht mehr stimmen. Wir alle wissen, die Gebäudesanierung ist einer der wichtigsten Bereiche, durch den wir CO2 einsparen können. Hier müssen wir Klimaschutz betreiben. Deshalb sage ich Ihnen: Werden Sie ehrgeiziger beim Klimaschutz, damit wir die Energiewende hier in Deutschland hinbekommen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eines muss ich wirklich sagen: Ich ärgere mich extrem über Wirtschaftsminister Rösler. Was ist das für ein Wirtschaftsminister, der wirklich wichtige Bereiche der Wirtschaft brachliegen lässt? Maßnahmen der Energie-effizienz beinhalten ein Potenzial zur Schaffung von 250 000 Arbeitsplätzen. Das hat der Bundesumweltminister gesagt. Ich vertraue ihm einmal an diesem Punkt. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der hat doch gute Leute!) Herr Röttgen, dann bringen Sie endlich einmal den Wirtschaftsminister Rösler dazu, dass er diese Vorhaben nicht immer blockiert. Es darf doch wohl nicht sein, dass ein Minister die Schaffung solcher Arbeitsplätze in kleinen und mittelständischen Unternehmen blockiert! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Er betreibt diese Politik aus ideologischen Gründen; er spricht ja von Planwirtschaft. Er hat noch gar nicht verstanden, worum es hier geht. Solche Potenziale einfach brachliegen zu lassen, geht nicht. Ja, wir sind bereit, fraktionsübergreifend zu arbeiten. Da sollte man sich nicht verweigern; dazu ist die Aufgabe viel zu groß. Ich komme zum Schluss. Ich sage noch einmal sehr deutlich: Die EU muss sich verbindlich auf eine CO2-Reduktion um 30 Prozent einigen. Zusätzlich muss die Effizienzrichtlinie der EU-Kommission unterstützt werden. Bringen Sie endlich den Wirtschaftsminister dazu, diese Unterstützung zu leisten. Stoppen Sie den Wirtschaftsminister dabei, die Entwicklung der erneuerbaren Energien immer wieder zu hemmen. Daran, dass sich selbst Herr Kauch für die erneuerbaren Energien einsetzt und so versucht, den Wirtschaftsminister zu stoppen, sieht man, wo die Koalition steht. Es geht auch darum, dass wir mit dem Abbau klimaschädlicher Subventionen wirklich ernst machen müssen. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie haben mir versprochen, zum Schluss zu kommen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt schaffen Sie wieder Ausnahmen für energieintensive Unternehmen. Das geht nicht. Diese Unternehmen bekommen 8 bis 9 Milliarden Euro an Zuschüssen. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie müssen zum Schluss kommen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. - Mit diesen Subventionen ohne Gegenleistung muss Schluss sein. Wir brauchen eine Gegenleistung, auch von diesen Unternehmen. Nur dann, wenn wir bei all diesen Punkten ernst machen, können wir in Deutschland Vorreiter sein und die anderen dafür begeistern, dasselbe zu tun. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank. - Nächster Render in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Josef Göppel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Josef Göppel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich greife den Vorschlag auf, Frau Kollegin Höhn, gemeinsam das Thema Klimaschutz zu behandeln. Man ist ja wirklich versucht, zu glauben, dass die Grenzlinien nicht zwischen den Parteien, sondern innerhalb von Parteien verlaufen. Allein die Präsenz heute hier in diesem Saal in der Debatte zu diesem Punkt zeigt, dass die Umweltpolitiker wieder einmal fast unter sich sind. Das ist nicht gut. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind alle Umweltpolitiker! Damit haben Sie recht! - Ulrich Kelber [SPD]: Bei uns: Umweltpolitiker und NRW!) Vizepräsident Eduard Oswald: Das wollen wir jetzt natürlich nicht abfragen, Herr Kollege. Josef Göppel (CDU/CSU): Ich beginne mit der Festlegung von Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede am 23. November 2011: Unsere Reduktionsziele stehen fest. Diese werden wir nicht ändern. Dafür danke ich der Kanzlerin, und ich unterstütze sie ausdrücklich. Diese Unterstützung hat sie sicherlich auch nötig; denn offenkundig gibt es Kräfte, die den Rückzug aus dem weiteren Ausbau von erneuerbaren Energien, vom weiteren Klimaschutz und von mehr Klimaeffizienz wollen. Diese Beharrungskräfte richten sich nach meiner Meinung gegen deutsche Interessen. Denn die Modernisierung unserer Volkswirtschaft durch Klimaschutz und energetische Erneuerung ist eine wesentliche Triebfeder für unseren Erfolg auf den Weltmärkten. Der deutsche Erfolg ist das beste Verhandlungsargument auf den Klimakonferenzen. Ich stimme den Rednern der Opposition nicht zu, die behaupten, dass wir in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten werden. Ganz im Gegenteil: Es ist so, dass die Vertreter der anderen Länder darauf schauen, wie den Deutschen ihre mutigen Schritte "Abschaltung der Atomkraftwerke in den nächsten zehn Jahren" und "Einleitung einer Energiewende hin zu einer kohlenstofffreien Energieversorgung" gelingen. Wir sind im Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Ich möchte hier ausdrücklich die Grundannahme von Minister Röttgen unterstützen, dass wir mit entschlossenen Klimaschutzmaßnahmen unseren wirtschaftlichen Erfolg stärken, weil wir so unser Land modernisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man von dieser Grundannahme ausgeht, dann ist es falsch, das eigene Handeln immer vom Handeln der anderen Akteure in Europa abhängig zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Wenn wir der Meinung sind, dass unser entschlossener Klimaschutz zu Modernisierung und wirtschaftlichem Erfolg führt, müssen wir in der Tat den Abwehrring des Beharrens und Abwartens durchbrechen. Frau Kollegin Höhn, ich stimme Ihnen zu: Wir brauchen eine Koalition der Willigen. Es sind zusammengerechnet etwa 120 Staaten, die man zu dieser Konferenz der Willigen bringen kann. Ich möchte auch ausdrücklich dafür werben, meinem Kollegen Gebhart zuzustimmen, der sagt: Es ist richtig, zu diesen Konferenzen zu gehen, weil nur dort den vielen kleinen Ländern eine Plattform geboten wird, auf der sie agieren können. - Auch nach meiner Meinung wäre es völlig falsch, diese Beratungen auf die G 20 zu beschränken und alle anderen auszuschließen. Aber unser eigenes Handeln ist Maßstab für unsere Glaubwürdigkeit. Mit den Beschlüssen im vergangenen Sommer wurde ein gewaltiger Schritt nach vorn getan. Ich habe das Gefühl, dass hinterher der eine oder andere erschrocken ist. Bei großen Entscheidungen überlegt man sich ja oftmals, was man denn eigentlich mitbeschlossen hat. Wir können auf diese Energiewende vertrauen und sie vorantreiben, weil sich bereits in der wirtschaftlichen Krise der beiden letzten Jahre gezeigt hat, dass der Erfolg Deutschlands zu einem großen Teil auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und auf die Modernisierung unserer Volkswirtschaft im energetischen Bereich zurückgeht. Ich kann auch das Argument nicht akzeptieren, dass dieser Teil unserer Wirtschaft über die EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent subventioniert werde. Wenn man sich anschaut, welch riesige Lasten die alten Formen der Energieversorgung unseren Nachkommen noch aufbürden, dann, so denke ich, relativiert sich das sehr schnell. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN - Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Wir dürfen nicht in alte und neue Energien trennen, sondern wir müssen den Übergang entschlossen angehen. Das ist die Chance für unser Land. Damit geben wir auch auf den internationalen Konferenzen ein gutes Beispiel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Josef Göppel. - Jetzt folgt für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Matthias Miersch. Bitte schön, Herr Dr. Miersch. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Miersch (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die Stenografen eben sehr genau hinschauen mussten, wo geklatscht wurde, war symptomatisch. Lieber Josef Göppel, ich denke, du hast uns - jedenfalls uns, die wir auf der von mir aus gesehen linken Seite dieses Parlaments sitzen - allen aus dem Herzen gesprochen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Andreas Jung [Konstanz] [CDU/CSU]: Auch uns!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Organisation Germanwatch stellt in ihrem Hintergrundpapier ein Zitat von Nelson Mandela heraus; dieses lautet: Es scheint immer so lange unmöglich, bis es wirklich getan ist. Wir haben in dieser Legislaturperiode des Parlaments erlebt, dass ein längst beschlossener Atomausstieg rückgängig gemacht wurde und dass dann nach einem bestimmten Ereignis wiederum eine Kehrtwende zugunsten der Erneuerbaren vollzogen und der Ausstieg erneut beschlossen wurde. Das zeigt, dass politisch ganz viel möglich ist. Deswegen finde ich, Herr Kollege Gebhart, Sie haben völlig recht: Es kann jederzeit passieren, dass sich weltweit die Einsicht durchsetzt, dass eine internationale Klimaschutzkonferenz Erfolg haben muss. Deswegen ist es wichtig, diesen internationalen Kontext, diese internationalen Verhandlungen nie aus den Augen zu verlieren. Aber zugleich und zu Recht haben Sie auch darauf hingewiesen, dass es dabei nicht bleiben darf, sondern dass wir hier unsere Hausaufgaben machen müssen. Daran, lieber Herr Kollege Röttgen, krankt es im Moment. Denn seit über zwei Jahren erleben wir, dass hier an diesem Pult gut geredet, aber in keiner Weise gehandelt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Da Sie nach mir reden, möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, heute zu einer Sache ebenfalls Stellung zu nehmen. Es ist eine Woche her, da hatte ich Sie von diesem Pult aus darauf angesprochen, wie es um die Verhandlungen zwischen Rösler, Röttgen, Pofalla und Ramsauer über Maßnahmen zur Energieeffizienz steht. Daraufhin haben Sie erklärt - ich zitiere -: (Frank Schwabe [SPD]: Wahrheitswidrig!) Das werden wir - darüber sind sich der Bundeswirtschaftsminister, die Bundesregierung und der Bundesumweltminister einig - natürlich nur mit der verbindlichen Zielsetzung durchsetzen können, ... (Josef Göppel [CDU/CSU]: So war es an dem Abend! - Zuruf des Abg. Frank Schwabe [SPD]) Lieber Herr Kollege Röttgen, es dauerte keine 24 Stunden, bis wir in der Zeitung lesen konnten, dass Sie sich nicht einig sind, dass Sie wieder gegen verbindliche Regelungen sind. Das ist unglaubwürdig. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Daran krankt es, und daran merken die Leute: Dahinter steckt nicht viel. Deswegen gebe ich Ihnen die Gelegenheit, nach mir sehr deutlich zu sagen: Ja, ich kämpfe dafür, aber ich habe in dieser Bundesregierung keine Mehrheit. Ich habe keine Rückendeckung von Herrn Pofalla, von der Kanzlerin und von Herrn Rösler. (Beifall bei der SPD) Das, was Sie sich dort leisten, leisten Sie sich auch auf internationaler Ebene. Wir haben hier letzte Woche den Haushalt beraten. Wir haben beraten, was es mit den in Kopenhagen zugesagten Fast-Start-Mitteln auf sich hat. Wir haben festgestellt, dass diese Zusagen, die wir den Staaten anderer Kontinente gegeben haben, nicht eingehalten wurden. Auch das müssen wir hier benennen; denn es führt nicht zu der Glaubwürdigkeit und schafft nicht das Vertrauen, die gerade auf internationaler Ebene notwendig sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann möchte ich gemeinsam mit Ihnen zum Schluss überlegen, ob die Taktik, mit der wir nach Durban fahren, eigentlich richtig ist. Wir warten darauf, wie sich die anderen verhalten. Aber ist es nicht vielmehr sinnvoll, zu überlegen, was wir verlieren, wenn wir vorangehen? Was verlieren wir, wenn wir unserer Industrie vorschreiben, effizient zu werden? Es ist nicht nur so, dass es um Klimawandel geht, sondern es geht auch um urökonomische Fragen. Es geht zum Beispiel um die Frage: Welche Maschinen wird man weltweit in den nächsten Jahren noch verkaufen können? Das werden die Maschinen sein, die am wenigsten Energie verbrauchen. Das, was wir hier machen, ist also viel mehr als Umweltpolitik: Es geht um Gesellschaftspolitik und um elementare Fragen der Gerechtigkeit; es geht um urökonomische Fragen. Wir vergeben uns nichts, wenn wir zwei Schritte weiter sind als die anderen. Deswegen brauchen wir deutlichere Signale hier in Berlin, aber auch in Brüssel. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Matthias Miersch. - Jetzt für die Bundesregierung Herr Bundesminister Dr. Norbert Röttgen. Bitte schön, Herr Bundesminister. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich zu Beginn meiner Rede darauf eingehe, worum es bei dieser Konferenz geht; denn einige Redner hatten das nicht im Zentrum ihrer Rede. Es geht darum, dass der Klimawandel voranschreitet, dynamischer als gedacht, mit all seinen Folgen, und dass demgegenüber die Handlungsfähigkeit der internationalen Politik stagniert oder vielleicht sogar abnimmt. (Ulrich Kelber [SPD]: Ja, das teilen wir!) Das heißt, die Schere geht auseinander. Das kann man konkret aufzeigen. Wenn die Schere auseinandergeht, dann hat das für viele Menschen existenzielle Folgen. Frau Kollegin, Sie haben das bereits ausgeführt und von einer Frage von Leben oder Tod gesprochen - und das völlig zu Recht. Das hat dramatische wirtschaftliche Konsequenzen bis hin zur Zerstörung der Lebensgrundlage von vielen Millionen Menschen. Es hat Auswirkungen auf Flüchtlingsströme, es begünstigt die Entstehung von Konflikten, vielleicht sogar Kriegen, um Wasser und Weideland. Diese drohen immer öfter. Letztendlich geht es um eine elementare Frage der Menschheit, nämlich um Gerechtigkeit. Wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen und sie weitergeht, dann kommt es zu einer großen Menschheitsungerechtigkeit; denn durch unsere Wirtschaftsweise - das liegt in unserer Verantwortung - tragen wir dazu bei, dass ganze Generationen und Hunderte von Millionen, vielleicht Milliarden Menschen niemals eine Chance in ihrem Leben erhalten. Das ist die globale Menschheitsdimension des Themas. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Darum erlauben Sie mir, dass ich einmal zugebe, worüber ich mich ärgere. Ich ärgere mich darüber, dass bei diesem Thema - ich habe keinen Zweifel daran, dass es nicht einen gibt, der das nicht so sieht - sehr viele, wenn auch nicht alle, aus den Oppositionsfraktionen kleinkariert, relativ provinziell, nicht über den Tellerrand hinausschauend debattieren, indem sie zum Beispiel über energetische Gebäudesanierung sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD) Bei aller Liebe: Die energetische Gebäudesanierung ist wichtig. Ich kann auch gleich etwas dazu sagen. Man muss sich aber auch einmal Herausforderungen einer anderen Dimension stellen. Wir dürfen nicht immer nur die kleinkarierten Debatten von gestern und vorgestern führen, nicht nur weil es intellektuell wirklich langweilig ist, sondern weil wir alle Verantwortung haben, und zwar nicht nur die Regierung und die Koalitionsfraktionen, die diese Regierung tragen. Sie sollten sich an Ihrer eigenen Verantwortung messen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Aufgabe, um die es geht, ist klar zu beschreiben. Was ist unser Ziel? Das Ziel bleibt ein globales Rechtsabkommen. Wir wollen, dass es zu einem Klimaschutzregime kommt - rechtlich verbindlich und angemessen in der Ambition -, das es ermöglicht, mindestens das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Bei diesem Ziel, ein globales Rechtsabkommen zu erwirken, bleibt es. Das ist das Ziel deutscher Klimaschutzpolitik, und es ist genau das richtige Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der falsche Weg!) Wie aber kommen wir dahin? Die außenpolitische Lage ist kompliziert. Sie können ja einmal außerhalb dieses Saales, außerhalb Ihrer eigenen Fraktionen, fragen, ob irgendeiner glaubt, dass Deutschland oder Europa das Problem seien. Nein, Deutschland oder Europa sind nicht das Problem, weil wir dieses Abkommen wollen, und zwar problemadäquat. Was aber ist das Problem? Das Problem ist, dass die großen Emittenten - im Wesentlichen China, USA und Indien - noch nicht bereit sind, sich auf den Weg hin zu einem solchen international verbindlichen Regime zu machen. Das ist das Problem; denn ohne den Beitrag der Verursacher können wir das Problem nicht lösen. Wir müssen einen Weg finden, diese Großemittenten und -verursacher in das gemeinsame Boot zu holen. Das ist die außenpolitische und klimaschutzpolitische Aufgabe, der wir uns zu stellen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Daraus leite ich die Strategie ab. Um es klar zu sagen: Was ist das Ziel für Durban? Wir können niemanden zu etwas zwingen; das haben wir in Kopenhagen erleiden und erlernen müssen. Deshalb muss das Ziel für Durban sein, auch die anderen Großemittenten - insbesondere die USA und China - auf einen Fahrplan bzw. ein Mandat zu verpflichten, sodass es zu einem Rechtsabkommen kommt, das im Ziel von rechtlicher Verbindlichkeit und von einem hinreichenden Ambitionsniveau geprägt ist. Das 2-Grad-Ziel muss mindestens erreicht werden. Unser Ziel ist es, die großen Emittenten - die Schwellenländer und die USA - auf diesen Fahrplan zu verpflichten. Dieses Ziel wollen wir erreichen, und daran arbeiten wir mit allen Kräften. Unser Ziel ist es selbstverständlich auch, Europa dazu zu bewegen, sich noch stärker einzubringen. Die Europäer machen weiter; sie sind zur Verbindlichkeit bereit, und zwar im eigenen Interesse und aus Verantwortung heraus. Es gilt aber einen ernsten Punkt außenpolitischer Abwägung und Analyse zu bedenken: Ein Kioto-Protokoll mit einer zweiten Verpflichtungsperiode, bei dem man sich damit abfindet, dass es noch weniger Teilnehmerstaaten hat als das jetzige Kioto-Protokoll - Kanada, Russland und Japan haben glasklar erklärt, dass sie aussteigen -, das nur noch 15 Prozent der globalen Emissionen erfasst und das die USA und die Schwellenländer mit zunehmenden Emissionen außen vor ließe, würde die Unzulänglichkeit der internationalen Bemühungen geradezu zementieren; davon sind wir in der Bundesregierung überzeugt. Wenn man sich damit abfindet, dass Kioto II nur noch ein EU-Abkommen ist, das im Ergebnis weniger bringt als der heutige EU-Rechtszustand, leistet man eben keinen Beitrag zum Klimaschutz. Damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben. Wir brauchen mehr als Kioto II. Das ist die unverzichtbare Position, für die wir eintreten und zu der wir uns verpflichten. Kioto II darf nicht zementieren, dass 85 Prozent der Emissionen keinem Regime unterworfen werden. Vielmehr müssen wir die anderen ins Boot holen und selber selbstverständlich bereit sein - das sind wir -, eigene Verpflichtungen zu erfüllen. Das ist das Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Darüber hinaus dürfen wir die anderen Themen nicht vergessen. Über die ist heute, glaube ich, kaum gesprochen worden. Dabei geht es unter anderem um Klimafinanzierung. Die Struktur des diesbezüglichen Fonds muss dort beschlossen werden. Das Ziel von Cancún bleibt: 100 Milliarden Dollar ab 2020. Wir erfüllen unsere Verpflichtungen. (Lachen des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Wir sind dabei, an der Struktur zu arbeiten. Über die große Frage dürfen wir aber die kleinen Schritte nicht aus dem Auge verlieren, die elementar wichtig sind. Das reicht von der Technologiekooperation und der verläss-lichen Finanzierung - da sind die Industrieländer in der Verantwortung - bis hin zum Waldschutz. Auch da werden wir Leistungen erbringen. Ich komme zur Frage: Was ist eigentlich unser Beitrag? Er besteht darin, dass wir in unserem Land und in Europa so handeln, wie wir international reden. Das ist die Basis der Glaubwürdigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich frage mich manchmal, in welchem Land Sie eigentlich leben. Es macht keinen Sinn, wenn die Opposition immer so tut, als wären Entscheidungen gar nicht getroffen worden. Fällt es Ihnen so schwer - nur weil diese Entscheidungen von einer anderen Koalition, aber nicht von Ihnen getragen werden -, die Fortschritte im Land anzuerkennen? Die Politik dieser Bundesregierung besteht darin, ein unkonditioniertes Reduzierungsziel von 40 Prozent zu erreichen. Freuen Sie sich darüber, weil es für das Land gut ist und weil es für den Klimaschutz gut ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Aber welche Maßnahmen machen Sie?) Es müsste Ihnen doch möglich sein, zur Kenntnis zu nehmen, dass außerhalb der kleinen Gruppe der Opposition hier in Deutschland - das hat, glaube ich, Josef Göppel so gesagt, und das ist keine Übertreibung - die ganze Welt auf die deutsche Energiewende schaut. Sie fragt sich: Bekommen die das hin? Schaffen die das? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen das doch gerade kaputt! - Dr. Matthias Miersch [SPD]: Herr Töpfer sagt Nein!) Genau das ist der Maßstab, an dem wir gemessen werden. Es wird gefragt: Schaffen die das, was sie beschlossen haben? - Wir haben es jedenfalls beschlossen. Sie haben damit ein parteipolitisches Problem, dass wir die richtige Politik machen. (Ulrich Kelber [SPD]: Herr Töpfer ist neuerdings Sozialdemokrat?) Das kann aber nicht der Maßstab für uns sein. Wir machen trotzdem die richtige Politik weiter, auch wenn Sie keine Themen mehr haben und Ihre Einfallslosigkeit in allen umwelt- und klimapolitischen Debatten hier sehr deutlich zum Ausdruck kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bleibe bei dem, was als Maßstab eigentlich von allen Koalitionsrednern formuliert worden ist: Der wichtigste Beitrag, den wir als Bundesrepublik Deutschland leisten können und werden, besteht darin, dass wir beweisen, dass ein großes Industrieland - das größte in Europa - erfolgreich in der Lage ist, sowohl wirtschaftliches Wachstum, industrielle Modernisierung und Innovationen zu schaffen als auch gleichzeitig ökologische bzw. klimaschutzpolitische Ziele zu erreichen. Dieser Beitrag besteht auch darin, dass wir gerade dadurch, dass wir uns zum Erreichen dieser Ziele verpflichten, Technologien entwickeln, Innovationen schaffen und so Wachstum erzeugen. Den Beweis, dass beides zusammen geht, ja dass es nur zusammen geht, will Deutschland in Europa erbringen. Das ist der wichtigste Beitrag, den wir international leisten können. Es wird auch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte sein, wenn wir das Klima schützen und die Natur bewahren. Das ist unser Ansatz. Mit dem sollten Sie sich - wenn Ihnen noch irgendetwas zu dem Thema einfällt - vielleicht irgendwann auch einmal inhaltlich auseinandersetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Ulrich Kelber. Bitte schön, Kollege Ulrich Kelber. (Beifall bei der SPD) Ulrich Kelber (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Röttgen, Handeln statt Reden einzufordern, ist nicht kleinkariert. Es ist das, was endlich - nach zwei Jahren salbungsvoller Reden von Ihrer Seite aus - notwendig ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben auch deutlich am Thema vorbeigeredet. Heute geht es nicht darum, dass wir uns alle noch einmal bestätigen, dass Klimaschutz wichtig ist. Das haben wir oft genug in allen Konstellationen gemacht. Die Frage heute lautet: Welchen Beitrag leistet Deutschland auf der Klimaschutzkonferenz und zum nationalen Klimaschutz? Dazu haben wir wieder nichts gehört. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dabei haben Sie als schwarz-gelbe Bundesregierung eine einmalige Chance, die in den letzten 15 Jahren eigentlich keine Regierung vor Ihnen hatte, nämlich dass die gesamte Opposition Sie bei Maßnahmen zum Klimaschutz unterstützt. Ich erinnere mich an die Große Koalition, als die FDP in der Opposition war, und an die rot-grüne Regierung, als CDU/CSU und FDP in der Opposition waren. Da war das anders. Der heutige Bundesumweltminister hat damals gegen die ökologische Steuer-reform, gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz, insgesamt gegen 19 von 20 Klimaschutzinstrumenten gestimmt. Das war in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts. Heute haben Sie eine Opposition, die möchte, dass Sie mehr machen. Diese Opposition unterstützt Sie in der Bevölkerung. Sie würde Sie auch verteidigen, wenn Sie handeln würden. Nutzen Sie das doch einfach aus! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben in den letzten Tagen immer wieder davon gesprochen, dass die internationale Klimadiplomatie ein Marathonlauf ist. Ich finde diese Bildsprache richtig. Wenn wir sie verwenden, dann müssen wir sagen: Deutschland ist nicht mehr der Topläufer; Deutschland ist langsamer geworden und bleibt immer wieder stehen. Die Läufer Röttgen und Rösler haben sich zwar zum Ausgleich knallbunte neue Sportkleidung gekauft, mit der man schon im Stehen verdammt schnell aussieht. Aber sie veröffentlichen Fanmagazine und Websites und streiten sich am Straßenrand darüber, ob man loslaufen sollte und in welche Richtung, ob man nicht nur so schnell laufen sollte wie die langsamsten Läufer, anstatt einfach einmal loszulaufen und das Ganze zu gewinnen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Röttgen und Rösler sind ein Bild des Jammers. Das sagen doch längst nicht nur die Umweltverbände, die das alles heftig kritisieren. Besuchen Sie doch einmal die Konferenzen der Wirtschaftsverbände! Dann erfahren Sie, dass Versäumnisse beim Klimaschutz auch verpasste wirtschaftliche Chancen sind. Wenn Sie zu VKU-Konferenzen, zur Handelsblatt-Jahrestagung oder zu anderen Tagungen gehen, dann stellen Sie fest: Man lacht da über den Wirtschaftsminister. Es tut sogar einem Oppositionspolitiker weh, wenn über eine Regierung nur noch gelacht wird. Die Ankündigungen des Umweltministers beziehen sich immer nur auf Ziele; Maßnahmen bleiben aus. Diese Ankündigungen werden dort nicht mehr ernst genommen. Schauen wir einfach auf die Maßnahmen, die notwendig wären: Energieeffizienz. Minister Röttgen stellt sich hier morgens hin und erzählt uns, die Regierung habe sich geeinigt, und es komme zu verbindlichen Energie-effizienzvorgaben. Aber schon am Nachmittag lesen wir, dass der Wirtschaftsminister dem Umweltminister widerspricht. Bis heute wissen wir nicht, worüber in der Europäischen Union verhandelt wird, obwohl doch Deutschland das Land wäre, das die meisten entsprechenden Technologien liefern könnte. Weil man auf wenige Lobbyisten hört, nimmt man uns ein großes wirtschaftliches Betätigungsfeld weg. Was ist die Linie der Bundesregierung? Ausbau der Energienetze. Auch da werden keine Entscheidungen getroffen. Die Smart-Grid-Technologien entstehen im Augenblick in anderen Ländern. Wir schauen zu, wie uns andere überholen, obwohl wir technologisch einmal die Vor-Läufer waren. Seit 2009 könnten die Bedingungen für die Förderung hochflexibler, sauberer Kraftwerke definiert werden; seit 2009 erlaubt das die Europäische Union. Bis heute liegt eine solche Definition nicht vor. In der Folge unterbleiben milliardenschwere Investitionen in Kraftwerke. Bei den erneuerbaren Technologien gibt es ständig Verunsicherung durch Briefe der Koalitionsfraktionen und Äußerungen von Fraktionsvizevorsitzenden. Sie müssten mir irgendwann einmal erklären, warum 2013 die Förderung im Photovoltaikbereich zurückgefahren und die Förderung im Offshorebereich hochgefahren werden soll, obwohl 2013 die Kilowattstunde Strom aus Photovoltaik nach den Berechnungen Ihrer eigenen Regierung billiger sein wird als die Kilowattstunde aus der Offshoretechnologie. Welcher Sinn steckt dahinter, die billigere Technologie zu blockieren und die andere mit noch mehr Geld zu füttern? Das soll ein Kostenargument sein? Das kann ich nicht verstehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Förderprogramme werden angehalten und dann zeitweise wieder aufgelegt. Solche Programme können heimische Anbieter nicht nutzen; denn sie sind auf einen stetigen heimischen Markt angewiesen. In der Folge wird nach Deutschland geliefert, was in anderen Ländern Überschuss ist. In den Jahren, in denen es hier keine Förderung gibt, wird der Markt völlig trockengelegt. Das erleben wir jetzt seit zwei Jahren: hü und hott in der Technologieförderung. Der letzte Punkt ist das Fast-Start-Programm. Ich komme da zum Marathon zurück: Die Bundeskanzlerin hat den ärmsten Läufern versprochen, im Rahmen des Fast-Start-Programms die Schuhe zu bezahlen. Was macht sie jetzt? Im Haushalt sind keine Mittel mehr für die Schuhe eingestellt. Es wird jetzt das Mittagessensgeld verwendet, um die Schuhe zu kaufen, weil man der buckligen Verwandtschaft das Betreuungsgeld und die Steuersenkungen finanzieren muss. (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Ja, ja! Die Räuber!) Damit nimmt sich Deutschland die Glaubwürdigkeit; aber Glaubwürdigkeit ist die Währung in der internationalen Klimaschutzdiplomatie. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ulrich Kelber. - Letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU Dr. Christian Ruck. Bitte schön, Kollege Ruck. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Schluss der Debatte möchte auch ich bekräftigen, dass wir zwar in einer sehr schwierigen Phase der Klimaverhandlungen sind, dass nicht viele Optimismus ausstrahlen, wir aber trotzdem nicht die Flinte ins Korn werfen dürfen, sondern kämpfen müssen; denn das, was wir heute nicht tun, müssen zukünftige Generationen teuer bezahlen. Deswegen stärken wir allen aus diesem Hause, die nach Durban fahren - Minister Röttgen und allen Politikern der Koalition und der Opposition -, auch mit dieser Debatte den Rücken und wünschen ihnen viel Glück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, dass Durban auch deswegen wichtig ist, weil sich die Länder die Meinung sagen und darüber sprechen müssen, dass führende Industrienationen wie die USA und Japan, aber auch andere politisch sehr ambitionierte Staaten wie China und Russland derzeit völlig unangemessen auf die dramatisch schlechter werdenden CO2-Bilanzen reagieren. Wir müssen ihnen sagen, dass sie so ihrem Führungsanspruch nicht nur in der Welt, sondern auch gegenüber ihren eigenen Bürgern nicht gerecht werden. Ich möchte betonen, was Entwicklungspolitiker und Minister Röttgen heute über die auseinandergehende Schere gesagt haben. Die Folgen des Klimawandels sind in der Tat regional sehr unterschiedlich. Viele Länder in den gemäßigten Zonen, auch Deutschland, können - so die Wissenschaft - den Klimawandel durchaus verkraften. Aber das Problem ist, dass es ganze Erdteile gibt, deren Bevölkerung den Klimawandel nicht verkraften wird. Das wird dann ein Desaster nicht nur für die betreffenden Regionen in den Entwicklungsländern, sondern auch für uns und zum Beispiel für die Amerikaner werden, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Wir werden ein riesiges Migrationsproblem und letztendlich auch ein Sicherheitsproblem bekommen. Das müssen wir in Durban deutlich machen. Ich bin der Meinung, dass wir uns als Deutsche durchaus zum Anwalt für die Entwicklungsländer machen sollten, deren Existenz in den nächsten Jahrzehnten auf der Kippe steht. Herr Kelber, Sie haben hier - entweder bewusst oder unbewusst - die Unwahrheit über die Fast-Start-Initiative gesagt. (Ulrich Kelber [SPD]: Vorsicht! Man könnte nachrechnen!) - Ich habe die Zahlen dabei. Ich gebe sie Ihnen gerne. (Ulrich Kelber [SPD]: Ja!) Ich gebe Ihnen gerne Informationen darüber, was sich in BMZ und BMU abspielt. (Ulrich Kelber [SPD]: Neue und zusätzliche Mittel!) Wir werden neue Zusagen zum Sockelbetrag in Höhe von 894 Millionen Euro machen. (Frank Schwabe [SPD]: Da weiß doch jeder Mensch, dass das nicht stimmt!) Das haben wir entweder schon ausgegeben oder eingestellt. Wir werden das Plansoll erfüllen. Ich gebe Ihnen das gerne zur Kenntnis. (Ulrich Kelber [SPD]: Aber das sind doch keine neuen und zusätzlichen Mittel! Das ist die internationale Zusage!) - Herr Kelber, Sie haben keine Ahnung, tut mir leid. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Bis heute Abend legen Sie die Zahlen vor, ja? Neu und zusätzlich! - Frank Schwabe [SPD]: Wollen wir den Check machen?) Der Schutz der Wälder als CO2-Senken ist für uns ein wichtiger Punkt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf etwas aufmerksam zu machen, das man in Durban ansprechen muss, nämlich die Tragödie, die sich in Brasilien andeutet. Wenn in Brasilien das neue Forstgesetz tatsächlich in Kraft tritt, dann wird es zu einem Verlust von bis zu 76 Millionen Hektar Wald kommen. Das entspricht einer Freisetzung von umgerechnet 28 Milliarden Tonnen CO2. Das ist das 30-Fache des deutschen Jahresausstoßes. Auch das muss man in Durban besprechen. (Ulrich Kelber [SPD]: Wer hat denn nicht verhindert, dass dafür deutsche Hermesbürgschaften gegeben werden?) - Kleinkariert, Herr Kelber, furchtbar! (Ulrich Kelber [SPD]: Sie finanzieren das, was Sie ablehnen! Das ist kleinkariert?) Niemand braucht nächstes Jahr zur Rio-Konferenz zu fahren, wenn die Brasilianer mit diesen Schätzen dermaßen schlecht umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Die Bundesregierung finanziert den Raubbau doch!) Zu all dem, was der Bundesregierung vorgeworfen wurde, wenn es darum geht, was wir im eigenen Land tun, kann ich Ihnen nur die Lektüre des neuesten Gutachtens von Ernst & Young empfehlen. Dort steht: 17,3 Milliarden investiert Deutschland derzeit im Kampf gegen den Klimawandel. Das ist im internationalen Vergleich das größte Budget - in absoluten Zahlen und im Verhältnis zum Gesamthaushalt. (Ulrich Kelber [SPD]: Private Investitionen!) Mit ungeahnten Steigerungen der Mittel für das BMZ, mit Steigerungen der Mittel für die Energieforschung und mit dem EEG, mit dem unsere Bundesregierung gerade in den letzten Jahren gigantische, positive Erfolge erzielt hat, haben wir innerhalb von zwei Jahren den Anteil, der von erneuerbaren Energien beim Stromverbrauch gedeckt wird, von 16,3 Prozent auf über 20 Prozent steigern können. Das ist unser Erfolg. Das lassen wir uns von Ihnen nicht kleinreden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Und wann sind die Anlagen geplant worden?) Wir können über vieles reden. Wir haben noch viele Hausaufgaben zu machen, insbesondere im Bereich der Energieeffizienz. Das ist vollkommen klar. Ich habe aber auch die Hoffnung, dass wir mit unserer Energiewende in Deutschland einen Technologievorsprung erreichen, der uns einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Ich habe die Hoffnung, dass dieser Wettbewerbsvorteil einen Dominoeffekt auslöst und uns in die richtige Richtung führt. Ökonomie erzwingt Ökologie. Das ist genau das, was wir uns für die nächsten Jahre erhoffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie mal loslaufen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Ruck. - Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 17/7743, 17/7995 - Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Dr. Frithjof Schmidt - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/8002 - Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Ich darf Ihnen mitteilen, dass wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen. Darf ich Sie bitten, die Plätze einzunehmen? - Wir wollen dem ersten Redner dieser Debatte zuhören. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte schön, Kollege Joachim Spatz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung legt Ihnen einen Antrag auf Verlängerung des Einsatzes im Rahmen der Operation Active Endeavour vom 1. Januar bis zum 31. Dezember nächsten Jahres vor. Die vorgesehene Höchstzahl der Soldatinnen und Soldaten, die zum Einsatz gebracht werden dürfen, liegt bei 700. Um es gleich vorwegzunehmen: Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, ob die in dem Mandat aufgeführte Begründung noch ausreichend für einen solchen Einsatz sein kann. Wir stellen fest, dass alle - ich betone: alle - anderen NATO-Partner das als ausreichend ansehen. Gerade diejenigen - ich sage das vor allem in Richtung SPD -, die immer anmahnen, wir dürften uns nur ja nicht isolieren, sollten sich zu Gemüte führen, dass die Verbündeten dieser Meinung sind. Deswegen unterstützt auch die Bundesrepublik Deutschland dies. Die Bundesregierung versucht weiterhin, dieses Mandat in eine Standing Maritime Operation, also in eine dauerhafte maritime Operation im Mittelmeer, zu überführen. Das ist bedauerlicherweise aber noch nicht gelungen. Deswegen schließen wir uns der Meinung der anderen NATO-Partner an. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Übrigen möchte ich zu Bedenken geben, dass die Aufgaben, die speziell für die deutsche Marine vorgesehen sind - militärische Präsenz im Mittelmeer zeigen, für Aufklärung und Überwachung sorgen und ein gemeinsames Lagebild erstellen -, auch in der Vorstufe einer ständigen maritimen Operation mehr als Sinn machen; denn der Umbruch in der arabischen Welt, der begrüßenswert ist - wir unterstützen all jene, die sich in der Demokratiebewegung engagieren -, birgt auch Risiken, die man heute noch nicht abschließend bewerten kann. Der Ausgang dieses Prozesses ist offen. Wir können ihn heute noch nicht endgültig feststellen. Eingedenk der Risiken macht natürlich die Präsenz unserer deutschen Marine dort im Rahmen der NATO mehr als Sinn. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Marine ist dort nicht - das ist im Ausschuss unterstellt worden - als potenzielle Eingreiftruppe im nördlichen Afrika eingesetzt. Wer das unterstellt, ist schief gewickelt. Das ist überhaupt nicht der Fall. Sie lenken mit dieser Unterstellung ein weiteres Mal davon ab, dass wir in der Südflanke der NATO zur Überwachung und Sicherstellung des ordentlichen Seeverkehrs schlicht und ergreifend weiterhin gefordert sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wie gesagt, leider erfolgt das noch nicht im Rahmen einer ständigen Präsenz der NATO, sondern aufgrund der Verlängerung des Mandats, das seinerzeit kurz nach 9/11 erstmalig erteilt worden ist. Wir setzen diesen Einsatz in dieser Struktur fort. Wenn man Active Endeavour in eine ständige Mission überführen will, kommt man natürlich um eine Beschreibung der zugrunde liegenden Szenarien nicht herum. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das geht doch gar nicht!) Ich gebe den Rat, bei der Beschreibung konkreter Szenarien sehr vorsichtig zu sein. Es wäre aus diplomatischer Sicht sinnvoll, sich hierbei am schon erteilten Mandat zu orientieren. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vor dem Hintergrund der bestehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen und aufgrund der Einbindung in das Bündnis - alle anderen Partner im Bündnis sehen es genauso - halten wir es für geboten, den Einsatz um ein weiteres Jahr zu verlängern. Wir sollten uns bemühen, es langfristig in eine Standing Maritime Operation zu überführen. Danke schön. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Ulla Schmidt. Bitte schön, Frau Kollegin Ulla Schmidt. (Beifall bei der SPD) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2003 war das Mandat zur Beteiligung an der US-geführten Operation Active Endeavour im Mittelmeer stets mit der Beteiligung an der US-geführten Operation Enduring Freedom verbunden. Bei Enduring Freedom sind Sie im vergangenen Jahr zu der Entscheidung gekommen, dass sich die Aktionsformen des internationalen Terrorismus verändert haben und dass aus diesem Grund eine weitere Beteiligung an der Operation nicht mehr gerechtfertigt ist. Deshalb wurde beschlossen, dieses Mandat nicht zu verlängern. Bei der Einbringung des Antrags zur Verlängerung dieses Mandats hat Herr Außenminister Westerwelle darauf hingewiesen, dass auch die Legitimation dieses Mandats schwindet. Außenminister Westerwelle hat im letzten Jahr bei der Einbringung des Antrags und der Mandatsverlängerung gesagt, dass er die Zeit nutzen will, um ein neues Konzept und eine neue Legitimationsbasis zu entwickeln. Wir hätten uns gewünscht, dass er dies auch getan hätte. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hätten sehr gerne daran mitgearbeitet. Wer die Missionen vergleicht, der sieht, dass die Operation Enduring Freedom darauf abzielte, Terroristen ausfindig zu machen, gefangen zu setzen und zu bekämpfen. Wir sind dort ausgestiegen, weil die Legitimation nicht mehr gegeben ist. Die Operation Active Endeavour ist hingegen eine reine Beobachtungs- und Überwachungsmission. Trotzdem ist im Antrag der Bundesregierung weiterhin von einer Bekämpfung von Terroristen die Rede; weiterhin wird die Operation Active Endeavour mit einem robusten Mandat für den Einsatz von bis zu 700 Soldatinnen und Soldaten ausgestattet. Es fällt mir schwer, zu verstehen und logisch nachzuvollziehen, warum man zur Beobachtung und zum Austausch von Informationen ein solch robustes Mandat braucht. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin Ulla Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Joachim Spatz? Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Eigentlich möchte ich jetzt weiterreden. Wir hatten heute schon so viele Zwischenfragen. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich einmal an, was die Bundesregierung selbst zur Terrorgefahr im Mittelmeerraum sagt: Sie sieht selber doch schon seit langem keine neue Terrorgefahr oder terroristischen Aktivitäten mehr. Ich muss auch einmal sagen - Herr Kollege Spatz, Sie haben das auch wieder aufgebracht, und der Herr Staatssekretär Kossendey hat das bei der Einbringung gesagt -: Es kann doch nicht sein, dass man jetzt als Argument für das robuste Mandat einfügt, dass sich die Lage wegen der Umbrüche, der Freiheitsbewegungen und der vielen Aktivitäten in den Ländern Nordafrikas verändert hat. Hier - das wissen wir doch alle - haben wir keine militärischen Aufgaben zu erfüllen und geht es nicht um Terrorismusbekämpfung, sondern hier - dafür haben wir auch die Programme - haben wir herausragende gesellschaftspolitische und zivile Aufgaben zu erfüllen. Es geht nicht um Terrorismusbekämpfung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Robert Hochbaum [CDU/CSU]: Auch!) Auch der Außenminister hat bei der Einbringung darauf hingewiesen, dass es Unsicherheiten gibt. Zu den Unsicherheiten sage ich einmal Folgendes. Viele von uns schauen dorthin und insbesondere auf die Demokratiebewegungen dort. Wir wissen, dass das kein Prozess ist, der in 1, 2 Jahren beendet ist, sondern bei dem unsere Unterstützung in den nächsten 10 oder 20 Jahren gefordert ist, damit die Möglichkeit gegeben ist, dass dort stabile und demokratische Regierungen eingesetzt werden. Aber da geht es nicht um Terrorismus. Seit Beginn des Mandats vor zehn Jahren wurden im Mittelmeerraum keine terroristischen Aktivitäten festgestellt. Wir Sozialdemokraten können absolut nicht sehen, dass sich das mit dem arabischen Frühling geändert hätte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach den Anschlägen von New York und Washington ist das Recht zur kollektiven und individuellen Selbstverteidigung eine äußerst fragwürdige Begründung. Trotzdem argumentiert die Bundesregierung immer wieder und so auch in diesem Antrag mit Art. 5 des Nordatlantikvertrages und mit Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen. Ich glaube, dass das nicht mehr trägt. Dazu, dass von manchen das Argument kommt, dass hier die Bündnistreue gefordert ist, (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist sie auch, Frau Schmidt!) muss ich sagen: Es ist schon ein bisschen dünn, von Bündnistreue zu reden, wenn die Legitimation und die Begründung für ein Mandat nicht mehr da sind. Bündnistreue hat von uns auch niemand eingefordert, als wir im letzten Jahr gesagt haben: An der Operation Enduring Freedom beteiligen wir uns nicht mehr. - Aber ich gebe zu, für mich ist es manchmal nicht nachvollziehbar, wann dem Außenminister die Bündnistreue wichtig ist und wann nicht. Aber darüber können wir ja ein anderes Mal streiten. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ha, ha!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend lässt sich festhalten: Es gibt keine aktuelle Terrorgefahr oder terroristischen Aktivitäten im Mittelmeer, die über dieses Mandat bekämpft werden müssen. Es gibt auch keine Terroristen, die aufgespürt werden müssen, und keine Terrorcamps, die vernichtet werden müssen. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Abschreckung!) Vielmehr gibt es ein auch in den Reihen der Bundesregierung und natürlich, wie wir wissen, in den Reihen der Koalitionsfraktionen erkanntes Legitimationsproblem für ein robustes Mandat nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags und Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen. Deswegen sagen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Ja zu Aufklärung und Überwachung sowie dem Sammeln von Informationen, aber Nein zu dem vorliegenden Antrag, und zwar ein klares Nein zu der unklaren Formulierung und zu der erneuten Vermischung von Operation Active Endeavour und Operation Enduring Freedom im Mandat und in der Begründung. Die Bundesregierung hat leider die Chance vertan, sich mit uns gemeinsam für ein neues Konzept einzusetzen, für eine sinnvolle Gestaltung und Einbettung des Mandats auch im Sinne der Strategie der NATO. Deswegen, meine Damen und Herren, stimmen wir nicht zu. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. - Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Robert Hochbaum. Bitte schön, Kollege Hochbaum. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Robert Hochbaum (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 11. September 2001 um 8.46 Uhr amerikanischer Zeit geschah das Unfassbare: 2 977 Menschen, darunter 30 Deutsche, starben bei dem bisher perfidesten Terroranschlag, den die Welt je gesehen hat. Wir alle saßen damals fassungslos vor den Bildschirmen, und uns allen sind sicherlich die apokalyptischen Bilder der einstürzenden Türme, der schreienden Menschen und der weinenden Mütter und Kinder noch deutlich vor Augen. Es sind Bilder des Terrors, die wir nie vergessen werden. Diese Bilder sind unter anderem der Anlass, warum wir heute erneut für eine Verlängerung der Operation Active Endeavour stimmen. Denn das, was am 11. September 2001 geschah, war ein Angriff auf die gesamte freie Welt, der nie wieder geschehen darf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich anhand von vier Begriffen darstellen, warum der Einsatz auch nach zehn Jahren aktuell ist und unsere Zustimmung verdient, liebe Frau Schmidt. Erstens: unsere Sicherheit. Das Mittelmeer, in dem die Operation durchgeführt wird, ist nicht nur eine Hauptader des internationalen Seeverkehrs. Nein, es hat auch eine Scharnierfunktion und eine strategische Bedeutung, weil es zwischen den Kontinenten liegt. Die aktuelle Lage im nordafrikanischen Raum und die Umbrüche in der arabischen Welt zeigen uns gerade heute die Instabilität dieser Region auf. Instabilität - das hat uns die Vergangenheit gezeigt - ist oft Nährboden für Terrorismus. Darum ist es auch wichtig, dort schnell zu sicheren demokratischen Strukturen zu kommen, die eine solche terroristische Gefahr in Zukunft verhindern. Wer aber glaubt, diese Gefahr sei schon gebannt, der afrikanische Kontinent in Gänze friedlich und ohne terroristische Gefahr, der handelt meiner Meinung nach ziemlich blauäugig und gefährdet die Sicherheit Europas und damit natürlich auch die Sicherheit Deutschlands. Nicht zuletzt deshalb ist der Auftrag, dem sich die Operation Active Endeavour widmet - ich wiederhole es sehr gerne: Prävention durch Kontrolle, Abschreckung, Informationsgewinnung und Informationsverarbei-tung -, von essenzieller Bedeutung für die Sicherheit unseres Landes. (Zuruf von der SPD: Das wurde doch alles schon gesagt!) Zweitens: die Bündnissolidarität. Frau Schmidt, die Operation Active Endeavour ist die Art.-5-Operation der NATO. Aus dieser internationalen Verantwortung heraus stehen wir natürlich auch fest an der Seite unserer Partner. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für die Beendigung dieses Bündnisfalles wäre es übrigens notwendig, dass die Mitgliedstaaten der NATO feststellen, dass von diesem Gebiet keine Gefahr mehr ausgeht und für dieses Gebiet keine Gefahr mehr besteht. Das, meine Damen und Herren, ist aber, wie ich eingangs bereits erläutert habe, sicherlich nicht der Fall. Deswegen halten die NATO-Partner an einer Weiterführung des Mandates fest, was wir hier und heute mit einer großen Mehrheit ebenfalls tun sollten. Im Übrigen unterstreichen die kürzlich erneut verabschiedeten Resolutionen des UN-Sicherheitsrates abermals die Notwendigkeit dieses Einsatzes. Was will man da mehr, liebe Frau Schmidt? Drittens: die kooperative Sicherheit. Die Operation leistet einen hervorragenden Beitrag nicht nur zur Zusammenarbeit der NATO-Staaten, sondern auch zur Zusammenarbeit mit Nicht-NATO-Staaten. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Länder wie Russland, die Ukraine und Marokko nehmen an der Operation teil. Das ist ein deutliches Signal und unterstreicht, dass es auch um die Sicherheit von Staaten außerhalb der NATO geht. Als vierten und letzten Punkt möchte ich auf die Mandatierung eingehen und mich abermals an die Opposition wenden. Dort hört man in letzter Zeit von Einzelnen, für eine solche Aufgabe brauche man ja eigentlich gar kein Mandat. Ich will Ihnen sagen: Sie wissen nicht, was Sie wollen. Das eine Mal rufen Sie, wenn irgendwo ein Soldat mit einen Gewehr auftaucht, sofort nach einem Mandat, und hier wollen manche ohne Mandat Kriegsschiffe im Mittelmeer patroullieren lassen, immer nach dem Motto: Wie es uns gerade gefällt. Ich wünsche mir da sehr oft eine klarere Linie. Für uns ist es selbstverständlich: Für diesen Auftrag, den wir für richtig und notwendig halten, benötigen wir ein Mandat des Deutschen Bundestages. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Abschließend möchte ich es nicht versäumen, Dank zu sagen: Dank an all unsere Soldatinnen und Soldaten, die durch ihren Einsatz im Mittelmeer für die Sicherheit unseres Landes, ja, für die Sicherheit aller friedfertigen und friedliebenden Menschen sorgen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Hochbaum. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte schön, Kollege Gehrcke. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Danke sehr. - Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon bedrückend, dass man, wenn man auf die heutige Tagesordnung des Bundestages schaut, sieht: Wir sollen heute drei Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr verlängern. Wenn man das hier vor ein paar Jahren gesagt hätte, dann wäre man als Spinner und absurder Denker bezeichnet worden. Das ist aber die Realität geworden. Sie können es befremdlich finden, aber ich bin nach wie vor froh darüber, dass meine Fraktion die Bundeswehr aus allen Auslands-einsätzen zurückholen will. Das ist meine politische Position, und ich halte sie auch für begründet. (Beifall bei der LINKEN) Beim Mandat für die Operation Active Endeavour geht es ja um den Krieg gegen den Terror. Deswegen lohnt es sich, besonders hinzuschauen. Ich halte die Außenpolitik der Bundesregierung für leichtgewichtig, aber ich nehme sie trotzdem ein Stück weit ernst, und ich will das auch mit diesem Mandat tun. Die erste Begründung für das Mandat ist, dass der Krieg gegen den Terror fortgeführt werden muss und dass die Gefahr der terroristischen Anschläge von 2001 bis heute so erhalten geblieben ist. Das steht wörtlich in der Mandatsbegründung. Sie können doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass sich bis jetzt, im elften Jahr, überhaupt nichts geändert hat und dass die Vereinten Nationen nicht handlungsfähig sind. Sie tun so, als ob die Welt stehen geblieben ist. Das ist niemals eine vernünftige Politik, und damit können Sie das Mandat nicht begründen. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen dazu aber auch: Sie drücken sich auch davor, sich den Krieg gegen den Terror einmal genauer anzuschauen, der ja unter Bush und anderen vorangetrieben worden ist. Wir haben immer gesagt: Der Kampf gegen den Terror kann gewonnen werden, der Krieg gegen den Terror aber niemals. Wenn Sie sich die Hauptbegründungen für diesen Krieg anschauen, dann sehen Sie, dass nichts eingelöst wurde. Fragen Sie doch ganz einfach: Ist die Gefahr terroristischer Anschläge durch den Krieg gebannt worden oder nicht? Sie ist nicht gebannt worden. Damit argumentieren Sie ja selber. (Robert Hochbaum [CDU/CSU]: Wir haben doch keine Alternative!) Ich frage Sie ganz einfach: Wurde mit dem Krieg gegen den Terror die Abrüstung vorangebracht? Auch das nicht! Die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen ausgeht, ist heute größer denn je. Ich frage Sie: Hat der Krieg gegen den Terror wirklich zu mehr Demokratie geführt, oder sind wir durch den Krieg gegen den Terror so verändert worden, dass es weniger Demokratie gibt? Ich glaube, Letzteres ist der Fall. Das heißt, mit Ihrer Begründung zeigen Sie: Der Krieg gegen den Terror ist ein einziges Desaster. Man darf kein Mandat erteilen, das darauf beruht. (Beifall bei der LINKEN) Ich will Ihnen noch zwei andere Argumente vortragen, weil die Bundesregierung das Parlament und die Öffentlichkeit mit ihren Anträgen ja immer täuscht. Sie werden mit darüber entscheiden müssen, ob Art. 5 des Nordatlantikvertrages - Bündnisfall - weiterhin so gehandhabt wird wie derzeitig. Sie wussten nicht, wie man in den Bündnisfall einsteigt, und Sie wissen nicht, wie man aus dem Bündnisfall aussteigt. Das ist doch inakzeptabel, und jetzt wollen Sie hier noch einmal die Verlängerung beschließen. Ich nenne Ihnen einen ganz einfachen Weg: Wenn Deutschland feststellt, dass der Bündnisfall nicht mehr gegeben ist, dann ist nach den NATO-Vereinbarungen der Bündnisfall aufgehoben. So einfach kann das gehen, und zwar durch einen Beschluss dieses Parlaments. Nur erklären müssen Sie es! (Beifall bei der LINKEN) Zum Schluss will ich Ihnen doch noch einmal sagen: Mich hat die ganze Begründung für diesen Mittelmeer-Einsatz sehr bedrückt. Es wird jetzt auch davon gesprochen, dass mit dem Mandat nebenbei eine neue NATO-Strategie "Mittelmeer" implementiert werden soll. Sie wollen hier über etwas entscheiden, was hier kein Abgeordneter kennt. Entspricht es Ihrem parlamentarischen Verständnis, dass man über etwas entscheiden soll, was man nicht kennt? Ich sage Ihnen: Wenn ich über das Mittelmeer nachdenke, dann wird mir klar, dass das Mittelmeer für mich nicht mehr das Meer des Friedens, sondern ein Meer ist, in dem über 14 000 Menschen beim Versuch, nach Europa zu kommen, ertrunken sind. Das müssen Sie doch bedenken. Sie wollen mit diesem Mandat im Mittelmeer eine neue Militäraktion - auch als Antwort auf den arabischen Frühling - in Gang setzen. Das ist doch alles unverantwortlich. Deswegen kann ein verantwortungsvoller Abgeordneter nur gegen dieses Mandat stimmen. Schönen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Omid Nouripour. Bitte schön, Herr Kollege Nouripour. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, auch zehn Jahre nach 9/11 gibt es eine terroristische Bedrohung. Ja, diese Bedrohung betrifft auch das Mittelmeer. Ja, man muss dagegen etwas tun. Trotzdem ist die Auslandsmission, über die wir heute hier abstimmen, diejenige in der Geschichte der Bundeswehr, über die am kontroversesten diskutiert wird. Es gab noch nie die Situation, dass die Regierung ein Mandat tatsächlich gegen die Stimmen der Opposition durchdrücken musste. Da stellt sich die Frage, warum das diesmal so ist. Sie bringen drei Argumente für dieses Mandat. Argument eins: Die USA stehen seit zehn Jahren kontinuierlich unter Angriff. - Da scheinen Sie in den letzten vier oder fünf Jahren etwas erlebt zu haben, was wir anscheinend verpasst haben. Das ist schlicht absurd. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das zweite Argument ist nicht absurd, das ist krude: Sie sagen, es gibt nun einmal einen arabischen Frühling. Wir haben zwar zu dem entscheidenden Zeitpunkt im Januar, als es darum ging, sich auf die Seite der Menschen auf dem Tahrir-Platz zu stellen, das nicht gemacht, aber jetzt brauchen wir etwas anderes, also schicken wir Fregatten. (Joachim Spatz [FDP]: So ein Quatsch!) Das ist krude. Das dritte Argument, das Sie nennen, lautet: Sie sind gescheitert. Herr Spatz hat mehrfach gesagt: Wir wollten dies, wir wollten jenes, wir wollten das Mandat so nicht, aber auf uns hört halt niemand. - Dieses Mandat ist ein Zeugnis des Scheiterns dieser Bundesregierung im Bündnis und in der gesamten Außen- und Sicherheitspolitik. Deswegen können wir dem nicht zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 700 Soldatinnen und Soldaten und zwei Fregatten für die Überwachung im östlichen Mittelmeer inklusive eines Kombattanten-Mandats - das macht überhaupt keinen Sinn. Es macht auch keinen Sinn, U-Boote zu schicken, um Ausbildungslager der Terroristen zu zerstören. Ich verstehe das nicht einmal technisch. Ich glaube, dass Sie es selbst auch nicht verstehen. Angesichts dessen brauchen Sie sich aber auch nicht zu wundern, dass Sie bei der Abstimmung über ein solches Mandat keine Zustimmung über die Fraktionsgrenzen hinweg bekommen; dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn es eine Polarisierung gibt, die die Bundeswehr und die Menschen, die wir dorthin schicken, nicht verdient haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Frage ist: Wann kommt die Bundesregierung dazu, die Außen- und Sicherheitspolitik in Form konkreter Gestaltungen voranzutreiben? Wann gibt es Vorschläge der Bundesregierung für eine Weltsicherheitsarchitektur in einem neuen Zeitalter? Es ist immer wieder die Rede von der Standing Defense Structure. Darüber kann man reden, aber wo wird der Vorschlag eigentlich vorangebracht? Herr Kollege Gehrcke, die Frage, wie man den Bündnisfall aufhebt, ist ziemlich einfach zu beantworten: einstimmig beschlossen muss einstimmig wieder aufgehoben werden. Dafür muss aber irgendjemand die Stimme erheben. Irgendjemand muss in den NATO-Rat gehen und sagen: Wollen wir nicht einmal darüber nachdenken? Sie tun es nicht, obwohl Sie es besser wissen, weil Sie ganz genau wissen, dass in der Allianz und in der westlichen Welt niemand mehr auf Sie hört und niemand mehr Ihre Außenpolitik ernst nimmt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb kommen Sie mit keinem einzigen konkreten Vorschlag, wie man an dieser Stelle vorankommen kann. Das Problem ist, dass es nicht nur im Bündnis so ist. Es ist auch innerhalb der eigenen Koalition so. In der letzten Woche sagte der Außenminister, dass eine Militäroption gegenüber dem Iran nicht existiere. Heute sagt der außenpolitische Sprecher der Mehrheitsfraktion exakt das Gegenteil. Gibt es da ein Widerwort? Nein, er kann sich das erlauben, weil die Stimme dieses Außenministers sowieso kein Gewicht mehr hat, also sowieso niemand mehr auf das hört, was er sagt. Das ist im Augenblick das Besorgniserregende, dass nur derjenige, dessen Stimme das kleinste Gewicht hat, einen solchen Militärschlag ausschließt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Die Stärkung des internationalen Rechts ist der größtmögliche Beitrag, den auch die Bundesrepublik Deutschland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus leisten kann. Mit einem Mandat auf so - milde gesagt - wackligen rechtlichen Beinen tun Sie genau dieses nicht, sondern Sie beschädigen das Rechtssystem auf internationaler Bühne. Damit verhindern Sie, dass es hier ein breiteres Mandat für diese Mission gibt. Wir können dem nicht zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Unruhe) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank. - Bevor ich dem letzten Redner in unserer Debatte das Wort erteile, darf ich darum bitten, dass wir auch ihm die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat unser Kollege Dr. Wolfgang Götzer. Bitte schön, Kollege Götzer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Herr Präsident, vielen Dank für diese vorausgeschickten Worte. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die internationale Staatengemeinschaft hat die Operation Active Endeavour der NATO als Reaktion auf den 11. September 2001 ins Leben gerufen. Dieser terroristische Angriff auf die USA hat bekanntlich erstmals seit Bestehen der NATO den Bündnisfall gemäß Art. 5 des Nordatlantikvertrages ausgelöst. Der deutsche Beitrag zur OAE besteht in der Unterstützung der Seeraumüberwachung und der Terrorismusbekämpfung im Mittelmeer durch Einheiten der deutschen Marine. Auch nach zehn Jahren ist OAE für Frieden, Sicherheit und Stabilität in der derzeit instabilen Mittelmeerregion unverzichtbar. Daher stimmen wir einer Verlängerung der Operation bis zum 31. Dezember 2012 zu. Seit nunmehr zehn Jahren leistet die Bundeswehr im Rahmen von OAE einen wichtigen Beitrag zur maritimen Sicherheit im Mittelmeerraum. Im Einsatz sind meistens Fregatten, aber auch U-Boote und AWACS. Die Zahl unserer Soldatinnen und Soldaten beträgt derzeit insgesamt bis zu 700. Allen, die dort bereits Dienst geleistet haben oder Dienst leisten, möchte ich an dieser Stelle einmal mehr unseren Dank aussprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einen Einsatz über ein Jahrzehnt in diesen Dimensionen zu unterstützen, zeugt von unserer Solidarität mit der NATO und den Vereinigten Staaten. Mit OAE senden wir nicht nur ein wichtiges Signal an die NATO, dass wir für kollektive Verteidigung nach Art. 5 des Nordatlantikvertrages bereitstehen, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern eben auch, wenn es die Umstände erfordern, über ein Jahrzehnt hinweg. Mit OAE zeigen wir des Weiteren auch den USA, dass wir auch zehn Jahre nach den verheerenden Anschlägen bereit sind, unserem transatlantischen Partner im Kampf gegen den Terror zuverlässig zur Seite zu stehen. Terrorismus ist weiterhin eine der größten Herausforderungen für die internationale Staatengemeinschaft. Seit 2001 hat der Sicherheitsrat in Resolutionen regelmäßig die Notwendigkeit betont, den internationalen Terrorismus umfassend zu bekämpfen. Diesen Kampf können wir nur gemeinsam gewinnen und nur - das ist leider so - unter Einbeziehung militärischer Kräfte. Die OAE ist dazu ein wichtiger Beitrag. Durch den fortgesetzten Einsatz von See- und Seeluftstreitkräften wehrt OAE terroristische Aktivitäten ab und schafft zugleich die Voraussetzungen zu deren effizienter Bekämpfung. Dabei begegnet die NATO dem internationalen Terrorismus durch einen zunehmend netzwerkbasierten Ansatz mit einem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung. Als letztes Mittel sieht das OAE-Mandat auch den Einsatz von militärischer Gewalt vor. Gemäß dem Parlamentsbeteiligungsgesetz ist für diesen Einsatz unsere Zustimmung nötig. Mit unserem Votum für eine erneute Mandatsverlängerung müssen wir auch die Verantwortung für etwaige Fälle, in denen ein Einsatz militärischer Gewalt unerlässlich ist, übernehmen. Wir tun dies, damit OAE auch in Zukunft Stabilität im Mittelmeer gewährleisten kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Aktuell ist der Beitrag der Operation insbesondere vor dem Hintergrund der schwierigen Sicherheitslage an den Küsten Nordafrikas unverzichtbar. Darüber hinaus hat OAE während des NATO-Einsatzes gegen das Gaddafi-Regime einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der NATO-Operation Unified Protector zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung durch Bereitstellung von Informationen und Sicherung des freien Seeverkehrs leisten können. Somit ist OAE ein zuverlässiger Garant von Sicherheit und Stabilität in Zeiten des Umbruchs in der arabischen Welt. Darüber hinaus ist OAE offen für die Beteiligung von Drittstaaten, vor allen Dingen den Partnerstaaten des Mittelmeerdialogs der NATO, wie beispielsweise Marokko. Für die Zukunft ist zu prüfen, ob OAE im bisherigen Rahmen weitergeführt werden soll oder in ständige NATO-Operationen überführt werden kann. Dies erörtert die Bundesregierung zurzeit mit den NATO-Bündnispartnern. Bis zu einer Entscheidung hierüber ist die Fortführung der Operation auf Grundlage des aktuellen Mandats aus bündnispolitischen und aus sicherheitspolitischen Erwägungen aus unserer Sicht notwendig. Deshalb werden wir der Verlängerung zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7995, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/7743 anzunehmen. Wir werden nun über die Beschlussempfehlung namentlich abstimmen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen alle besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ich frage jetzt, nachdem ich ein Signal erhalten habe, dass möglicherweise schon alle abgestimmt haben: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1 Ich darf Sie bitten, Ihre Plätze wieder einzunehmen. Wir wollen schließlich allen folgenden Rednern die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Jan Korte, Sevim Daðdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990 - Drucksachen 17/5303, 17/7161 - Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Petra Pau. Bitte schön, Kollegin Pau. (Beifall bei der LINKEN) Petra Pau (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe noch die entsetzten Gesichter in Erinnerung, als die Nazi-Mordserie der sogenannten Zwickauer Zelle publik wurde. Entsetzen auch hier im Bundestag, quer durch alle Fraktionen. Wir sollten uns dieses Innehalten bewahren und nicht gleich wieder ins politische Klein-Klein verfallen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich finde, das sind wir auch allen Opfern und ihren Angehörigen schuldig, zumal viele Fragen weiterhin offen sind. Deshalb hat die Linke diese Debatte heute auf die Tagesordnung setzen lassen. Es geht um die Frage, wie viele Menschen in Deutschland seit 1990 von Nazis getötet wurden. Die Recherche seriöser Journalisten belegt 138 Todesopfer. Hinzu kommen aktuell die 10 Morde der Nazi-Zelle; damit sind es also insgesamt 148. Das sind erschreckende Zahlen. Die Bundesregierung verharrt auf Nachfrage der Linken bei der Aussage: 48 Todesopfer. Diese Differenz ist gravierend. Die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort lapidar auf die Angaben der Landesregierungen. Sie könnte auch auf die Berichte aller Ämter für Verfassungsschutz verweisen. Stets wurde verneint, dass es systematische rechtsextreme Gewalt oder gar Nazi-Terror gebe. All das gehört mit zum Problem. Wir haben offenbar eine gravierende Fehlstelle in der offiziellen Wahrnehmung rechtsextremer Gewalt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das wiederum bedeutet: Ist die Analyse falsch, dann ist auch alles falsch, was darauf fußt. Deshalb wiederholt die Linke ihre Forderung: Wir brauchen endlich eine parteipolitisch unabhängige Beobachtungsstelle gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. (Beifall bei der LINKEN) Zu den übergeordneten Fragen gehört auch die nach der Rolle der V-Leute und damit nach dem Beitrag des Staates bei der Duldung oder gar Unterstützung rechtsextremer Strukturen und gewalttätiger Nazis. Spätestens jetzt dürfte doch klar geworden sein: V-Leute sind keine netten Informanten, sondern gekaufte Spitzel und gewalttätige Täter. Deshalb fordert die Linke: V-Leute sind abzuschalten, und zwar unverzüglich und alle. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die offenen Fragen betreffen nicht nur Versäumnisse oder Beihilfen von Landesbehörden in Thüringen, Sachsen, Niedersachsen oder Hessen, sondern auch von Bundesbehörden. Auch diese Fragen müssen geklärt werden, allerdings nicht durch ein handverlesenes Trio des Bundesinnenministers. Das nährt nur den Verdacht, dass etwas vertuscht oder verdrängt werden soll. Die Aufklärung muss unvoreingenommen, transparent und radikal erfolgen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch deshalb sollten endlich zivilgesellschaftliche Initiativen zurate gezogen werden. Sie sind offensichtlich kompetenter als die meisten Behörden. Wir sollten sie endlich stärken und nicht länger verprellen. Der Kampf gegen Rechtsextremismus wird in der Zivilgesellschaft gewonnen - oder verloren. Da hilft auch kein Ad-hoc-Aufstand. Dazu gehört ein langer Atem aller Anständigen und aller Zuständigen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein letzter Satz, Herr Präsident. Es gibt inzwischen den Bericht einer unabhängigen Expertenkommission zum Antisemitismus. Darin kommt man zu dem Schluss: Es fehlt an einem politischen Gesamtkonzept im Kampf gegen Antisemitismus. Das gleiche Manko haben wir beim Rechtsextremismus. Die falschen und auch verengten Zuständigkeiten der Bundesregierung gehören dazu. Kurzum, diese großen Fragen verlangen nach anderen Antworten, jedenfalls vertragen sie nicht kleine Antworten, wie es die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage ist. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen bekannt geben das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der soeben durchgeführten namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung "Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen": abgegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 307, mit Nein haben gestimmt 253, Enthaltungen keine. Die Beschlussempfehlung ist also angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 559; davon ja: 306 nein: 253 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Hans-Ulrich Klose Marianne Schieder (Schwandorf) FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen-Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Nein SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Manfred Nink Thomas Oppermann Aydan Özoðuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Wolfgang Neškovic Thomas Nord Petra Pau Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer (Köln) Dr. Ilja Seifert Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Ole Schröder das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle sind noch immer betroffen, dass es bei uns in Deutschland möglich war, dass eine rechtsextremistische Terrorzelle zwischen 2000 und 2007 mutmaßlich zehn Morde beging und weitere Taten verübte, die Menschenleben gefährdet haben. Es ist abscheulich, wenn Menschen zur Projektionsfläche eines rassistischen, menschenverachtenden Weltbildes werden, und es macht uns sprachlos, wenn Menschen deswegen ihr Leben lassen müssen. Eines ist klar - darüber sind wir uns ebenfalls alle einig -: Unabhängig von der Statistik, über die wir heute sprechen, ist jedes Opfer rechtsextremer Gewalt eines zu viel. (Beifall im ganzen Hause) Die Linke versucht nun, zu unterstellen, dass die Verantwortlichen in den Ländern und im Bund das Phänomen kleinrechnen oder gar verschleiern. 47 Todesopfer, die die offiziellen Stellen von 1990 bis zum 31. Januar 2011 gezählt haben - mittlerweile sind es aufgrund der neuesten Erkenntnisse 58 Todesopfer -, werden 137 Todesopfer rechtsextremer Gewalt nach der Zählweise von Journalisten der Zeit und des Tagesspiegels gegenübergestellt. Ich möchte hier noch einmal erwähnen, dass auch in dieser Statistik nicht die zehn Todesopfer mitgezählt werden, die es nach den neuesten Erkenntnissen gab; sie müssen jetzt natürlich auch in die Statistik aufgenommen werden. Dabei zeigt das nur eines: Bei der statistischen Erfassung eines solchen Phänomens gibt es nie die richtige Lösung. Keine Statistik ist in der Lage, ein objektiv unangreifbares Bild zu zeichnen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber eine sehr große Differenz!) Derzeit ist bei der Erfassung das konkrete Tatmotiv relevant. Das Erfassungssystem ist übrigens 2001 von der damaligen rot-grünen Regierung mit den Ländern vereinbart worden. Es wird seitdem so fortgeführt, immer wieder evaluiert und angepasst. Wir haben es hierbei mit einer Eingangsstatistik zu tun. Das ist notwendig, damit den Sicherheitsbehörden sofort bekannt ist, mit welchen Straftaten wir es zu tun haben. Diese Eingangsstatistik kann dann im Laufe der weiteren Ermittlungen und auch durch die Erkenntnisse, die im Gerichtsverfahren zutage treten, korrigiert werden. Deshalb sind jetzt auch die neuen Erkenntnisse in die Statistik mit eingeflossen. Der Grund für ein solches System zur Analyse des konkreten Tatmotivs liegt vor allem darin, dass eine reine Zuordnung des Täters zu einem bestimmten Milieu, zum Beispiel zum rechtsextremen Milieu, keine eindeutigen Schlüsse zulässt. Denn gerade in diesem braunen Milieu, um das es in dieser Anfrage geht, haben wir es eben auch mit erheblicher Allgemeinkriminalität zu tun. Im Bereich rechtsmotivierter Straftaten sind über 50 Prozent der Täter vorher schon durch allgemeinkriminelle Delikte aufgefallen. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deshalb die Beurteilung der Bekämpfung von rechtsextremer Gewalt nie allein an Statistiken festmachen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vor allem muss es darum gehen, das hinter diesen erschreckenden Zahlen stehende Phänomen zu erkennen, zu verstehen und zu bekämpfen. Darauf kommt es an. Es geht darum, dass jeder Mensch in unserem Land, ungeachtet seiner Hautfarbe, seiner Religion, seiner politischen Einstellung und seiner sexuellen Ausrichtung, vor solch verabscheuungswürdiger Gewalt sicher ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deshalb ist es wichtig, dass Erkenntnisse über gefährliche Personen und Gruppen künftig systematisch ausgetauscht werden können, dass Ermittlungen besser koordiniert werden können, dass wir die Szene und ihre Protagonisten noch genauer auf mögliche Gewaltpotenziale hin durchleuchten können. Nur so können wir die Informationsverluste und die Koordinierungsprobleme, die jetzt bei den Ermittlungen zutage getreten sind, künftig verhindern, und nur so können wir rechtsextreme Gewalt konsequent verfolgen oder - noch besser - verhindern. Dafür ist es auch wichtig, dass wir den Sicherheitsbehörden die notwendigen Instrumentarien an die Hand geben. Wir sind schon einige Schritte weiter. Wir wollen die Führungskompetenz des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wie wir es bereits im Bereich des islamistischen Terrorismus haben, weiter stärken. Wir wollen eine Gesetzesänderung dahin gehend auf den Weg bringen, dass weitergehende Informationen über Rechtsextremisten eingestellt und abgerufen werden können, und dies eben nicht nur bei gewaltbereiten, sondern auch bei sonstigen. Wir brauchen eine Verbunddatei, damit keine einzige Information verloren geht. Deshalb brauchen wir auch ein gemeinsames Abwehrzentrum, wie wir es bereits im Bereich des islamistischen Terrorismus haben. Meine Damen und Herren, keine Information darf bei der Verfolgung von solchen abscheulichen Straftaten verloren gehen. (Zuruf der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Deshalb ist es wichtig, dass wir auch die Hürden, die es im Bereich des Föderalismus gibt, überwinden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Aber natürlich ist es auch wichtig, dass wir dieses Phänomen in Statistiken sehr deutlich erfassen. Das machen wir weiterhin. Wir analysieren natürlich auch die Dinge, die jetzt zutage treten, und prüfen, ob sie Auswirkungen auf notwendige Korrekturen haben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Was aber überhaupt nicht weiterhilft, ist der gegenseitige Vorwurf, dass die jeweils andere Seite irgendetwas verschleiern wolle. Wichtig ist, dass wir das Phänomen richtig beschreiben und gemeinsam dagegen vorgehen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gabriele Fograscher (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Grundlage der Großen Anfrage der Linken sind die in der Zeit und im Tagesspiegel veröffentlichten Zahlen der Opfer rechter Gewalt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Aufzählung, um Statistik, sondern es ist die Beschreibung von brutalen Angriffen, von Gewaltexzessen, von Tötung und Mord quer durch die Republik. 137 Menschen sind von 1990 bis September 2010 grausam umgebracht worden. Mut-gegen-rechte-gewalt.de nennt 182 Opfer, bei denen die Täter rechtsextremistische Motive hatten. Die polizeiliche Kriminalstatistik nennt für den gleichen Zeitraum die schon genannten 48 Opfer. Diese Differenz, Herr Schröder, haben Sie zwar zu erklären versucht; aber Sie haben nicht gesagt, dass man sie auch so weit wie möglich reduzieren muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Spätestens seitdem bekannt ist, dass eine rechte Terrorzelle über zehn Jahre lang unentdeckt gemordet und geraubt hat, müssen wir feststellen, dass wir keine realistische Lageeinschätzung rechtsextremistischer Bedrohungen haben, weder bei den Sicherheitsbehörden noch in der Öffentlichkeit noch in der Politik. Wir müssen davon ausgehen, dass das Dunkelfeld rechter Gewalt noch größer ist; denn nicht jeder Angriff geht tödlich aus, nicht jede Einschüchterung und Bedrohung wird zur Anzeige gebracht. Trotz Anpassung und Differenzierung der Kriterien für die Einstufung als Straftaten mit rechter Motivation bleibt - das beschreiben Sie richtig in der Anfrage - der rechtsextremistische Hintergrund einer Tat oft im Dunkeln, weil die Motive verschleiert werden, weil sich das Motiv erst im Laufe der Ermittlungen zeigt oder weil die Tat falsch zugeordnet wird. Zu lange ist verharmlost worden, ist man von verwirrten Einzeltätern ausgegangen, ist die zugrunde liegende Ideologie nicht ernst genommen worden. Diese zugrunde liegende Ideologie rechter Gefahr und Gewalt ist die Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen. Diese Ideologie ist es, die zu Fremdenhass, Rassismus, Antisemitismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Gewalt führt. Diese Ideologie wird im Internet, in Musiktexten, in Flugblättern, in Parolen verbreitet. Sie kursiert in der rechtsextremistischen Szene, in Kameradschaften und in der NPD. Sie zeigt sich bei Aufmärschen, Demonstrationen und leider auch in einigen Landtagen. Sie macht sich eben nicht nur in den Randgruppen breit, sondern, wie Studien von Heitmeyer und der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen, auch in der Mitte der Gesellschaft. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Es geht um mehr als die statistische Erfassung von Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund. Wir brauchen eine Strategie des Zurückdrängens, der Ächtung und der Abgrenzung zu rechtsextremen Einstellungen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir brauchen die lückenlose Aufklärung der Ermittlungspannen, der Fehleinschätzungen und Konsequenzen aus der fehlenden Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden. Wir brauchen eine Demokratieoffensive mit Verstetigung und Nachhaltigkeit von Programmen zur Demokratieförderung. Wir brauchen eine Stärkung und Unterstützung der Kommunen und Regionen, in denen Neonazis Alltag und Meinungsführerschaft bestimmen. Wir brauchen eine Verständigung über eine Gesamtstrategie gegen Rechtsextremismus und menschenfeindliche Einstellungen, die Bund, Länder, Kommunen, Behörden, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die Zivilgesellschaft mit einbezieht. Dafür brauchen wir einen langen Atem. Wir müssen daran arbeiten, auch wenn die Berichterstattung in den Medien sich längst wieder anderen Themen zuwendet. Danke. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enthüllungen in den letzten Tagen haben das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Sicherheitsbehörden nachhaltig geschädigt. Es gab bereits - vornehmlich in rot-grüner Regierungszeit - erkennbare erhebliche, fast unfassbare Fehler und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch auf eine lückenlose politische Aufklärung dieses braunen Sumpfes. Der Generalbundesanwalt hat richtigerweise die Ermittlungen über Ländergrenzen hinweg an sich gezogen. Er ermittelt zentral die gesamten Zusammenhänge. Neben der juristischen und kriminalistischen Aufklärung brauchen wir aber auch die Aufklärung durch eine gemeinsame politische Stelle, die eine politische Bewertung vornimmt und das Ganze kontrolliert. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass wir das hier im Deutschen Bundestag tun. Aufgrund der fehlenden Koordination haben die Länder nebeneinanderher gearbeitet. Es ist deshalb geradezu unverantwortlich, wenn sich die Innenminister der Länder nun weigern, ihren Beitrag zur politischen Aufarbeitung zu leisten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Darüber hinaus stellt sich im konkreten Fall die Frage nach der besseren Vernetzung der Sicherheitsbehörden. Deshalb weisen die Vorschläge des Bundesinnenministers in Bezug auf ein gemeinsames Abwehrzentrum und die Zusammenführung von Daten durchaus in die richtige Richtung. Das Nebeneinander der Sicherheitsbehörden und die unverhohlene Verteidigung von Ressortegoismen müssen der Vergangenheit angehören. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir brauchen eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung der Länder. Meine Damen und Herren, die Linke geht in ihrem Antrag aus meiner Sicht unseriös mit den Zahlen um und legt bei ihren Bewertungen keine rechtsstaatlichen Maßstäbe zugrunde. Nur so kommt sie auf eine Zahl von über 100 Extremismusopfern in den vergangenen mehr als zwei Jahrzehnten. Die Bundesregierung zählt nur die Straftaten als rechtsextrem, die gerichtlich als solche verurteilt wurden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur die!) Die Linken wollen stattdessen ein Gesinnungsdenunziantentum, das die linke Szene anhand der rechtsextremen Straftaten hoffähig machen soll. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist peinlich! Unverschämt! In dieser Situation!) Das bestätigt noch einmal mehr: Antifaschismusarbeit ist seit jeher Kernelement linksextremistischer Aktivität. (Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Stefan Rebmann [SPD]: Da schießen Sie aber weit über das Ziel hinaus! Peinlich!) Es gibt viele seriöse unabhängige Organisationen gegen den Rechtsextremismus. Diese unabhängigen Organisationen, wie zum Beispiel die Kirchen, müssen wir stärken. Aber der Kampf der Extremisten der einen Seite hat schon immer den Extremisten der anderen Seite als Vorwand und Rechtfertigung gedient. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie merken es gar nicht! - Zuruf von der SPD: Schämen Sie sich gar nicht?) Demokraten sollten - und das zeigt Weimar - auf keiner der beiden Seiten zum Trittbrettfahrer werden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der LINKEN: So ein Dummgeschwätz!) Wir brauchen keine linksextreme Unterstützung im Kampf gegen Rechtsextreme. (Beifall bei der FDP - Michael Groschek [SPD]: Das ist eine Beleidigung, die Rede! - Michael Leutert [DIE LINKE]: Das ist unglaublich! Das ist unerhört!) Es hat keinen Sinn, rechten gegen linken oder muslimisch motivierten Extremismus auszuspielen. (Zuruf von der SPD: Das machen Sie aber gerade! - Michael Groschek [SPD]: Dafür sind Sie der Leithammel! - Stefan Rebmann [SPD]: Das ist eine Schande!) Ich würde es begrüßen, wenn Demokraten jeglicher Couleur gemeinsam gegen Extremismus jeglicher Couleur zusammenstünden und die gleichen Maßstäbe auf alle Gegner unserer Verfassung anwenden würden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Deshalb gehen die Liberalen unter!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen: Mir hat es nach Ihrem Redebeitrag die Sprache verschlagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Das ist bodenlos! In der aktuellen Situation und nach der guten Debatte vor einer Woche hier im Bundestag diskreditiert das nicht nur Sie und Ihre Fraktion, sondern alle, die genauso denken. (Zuruf von der FDP: Ach!) Es ist unmöglich! Wie können Sie sich hier hinstellen und so etwas sagen? Ich bin ebenso wie alle hier für ein breites Bündnis aller Demokraten. Vor einer Woche haben wir es geschafft: in Form eines gemeinsamen Antrags mit allen Fraktionen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Jetzt versuchen Sie wieder, die Demokraten zu spalten, und das in dieser Situation. Ich finde das unverantwortlich! In der Öffentlichkeit sind unterschiedliche Zahlen genannt worden: Die Amadeu-Antonio-Stiftung spricht von 182 Toten, die Zeit und der Tagesspiegel sprechen von 148 Toten. Das alles sind gut recherchierte Zahlen. Sie können nicht einfach unterstellen, dass das von irgendwelchen antifaschistischen Extremisten kommt. Das ist wirklich - wie gesagt, mir fehlen die Worte - (Gabriele Fograscher [SPD]: Dummes Zeug! - Sönke Rix [SPD]: Unerhört!) einfach unerhört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Die Bundesregierung kommt auf 48 Opfer und hat jetzt die 10 dazugezählt; es sind jetzt also 58. Bei Ihrem Redebeitrag hat man gemerkt, dass man sensibilisiert sein muss. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Eindeutig!) Wenn die Sensibilität fehlt, werden die Zahlen nicht anerkannt. Deshalb ist es wichtig, dass alle Stellen, die damit zu tun haben - das gilt auch für Sie -, geschult werden, (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD - Beifall bei der LINKEN) damit sie erfahren, wie es in Bezug auf dieses Gedankengut vom Denken zum Handeln kommt. Wie gesagt, ich bin wirklich erschüttert. Insbesondere im Hinblick auf die Zwickauer Zelle - da sind wir uns wahrscheinlich einig - muss es Aufklärung geben. Dabei nützen aber solche Ausführungen, wie Sie sie hier kundgetan haben, überhaupt nichts. Nicht nur die Rechtsextremisten, sondern insbesondere die Rechtspopulisten verschärfen das Problem. Ihre Rede ging ganz klar in diese Richtung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ach was! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Das ist Blödsinn! - Gegenruf von der SPD: Unwürdig!) - Doch, das ist so. Ich empfinde es so. Sie lenken von dem Problem ab, und Sie verhöhnen die Opfer. Zum Abschluss möchte ich noch einige Beispiele aus meinem Heimatland Sachsen nennen: Am 1. Mai 2008 wurde eine Gruppe alternativer Jugendlicher in Stolpen in der Sächsischen Schweiz angegriffen. Mehrere Neonazis verletzten sie schwer mit Knüppeln und Faustschlägen. Bis heute - dreieinhalb Jahre nach dem Angriff - ist keiner von ihnen vor Gericht gekommen, obwohl allesamt bekannte Neonazis sind. Einer der Angreifer, Mirko H., war bis mindestens 2002 V-Mann des Verfassungsschutzes. Er ist ein maßgeblicher Führungskader des Netzwerkes "Hammerskins", hat eine Firma namens "Hate Records" und vertreibt Hass-CDs. Vermutet wird, dass er auch mit dem Terrortrio aus Zwickau in Verbindung stand. Es ist beschämend, dass die Täter immer noch frei herumlaufen, während sich die Opfer auch heute noch unwohl und unsicher fühlen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) In Leipzig gab es vor einem Jahr einen rassistischen Mord an einem jungen Iraker namens Kamal K. Es dauerte eine ganze Weile, bis auch die Justiz anerkannte, dass er Opfer rassistischer Gewalt wurde. In der Urteilsbegründung wurde angeführt: "Er hat das Opfer nicht als Mensch gesehen, sondern als Ausländer, den man töten kann." Lebenslange Haft bekam auch der Mörder von Marwa al-Schirbini aus Dresden. Dieser tragische Vorfall ist Ihnen allen sicherlich noch in Erinnerung. Marwa al-Schirbini hatte den Täter, der sie beschimpft hatte, wegen Beleidigung verklagt. Sie wurde im Gericht erstochen, und ihr Ehemann wurde lebensgefährlich verletzt. Es ist traurig, dass die Debatte immer nur dann wiederaufgenommen wird, wenn etwas so Furchtbares geschieht. Ich finde es wichtig, dass wir unsere Arbeit in der Demokratie auf möglichst breiter Basis voranbringen. Wir sollten eine nachhaltige bundesweite Gesamtkonzeption entwickeln. Dazu gehört auch, dass die Reform der Ermittlungsbehörden unter die Lupe genommen wird. Nicht förderlich ist es, die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die wir mehr denn je brauchen, weiterhin mit der Extremismusklausel, die von Ministerin Schröder und anderen Unbelehrbaren immer noch aufrechterhalten wird, zu knebeln. Weiterhin ist es wichtig, dass wir jeder Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit besonders in der Mitte der Gesellschaft entgegentreten. Wir brauchen mehr Aufklärung, Prävention und Kooperation. Das sind wir dem Schutz unserer Demokratie und dem Schutz der Menschenwürde schuldig. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Helmut Brandt (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehrfach ist schon dargestellt worden, weshalb wir uns heute hier unterhalten. Es geht tatsächlich um eine große Diskrepanz - das ist unbestreitbar -, was die Zahlen angeht. Nach meiner Auffassung ist in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage schon hinreichend deutlich geworden, woran dies liegt. Der Staatssekretär hat eben schon darauf hingewiesen, dass die Kriterien, die den offiziellen Zahlen zugrunde liegen, seinerzeit von Rot-Grün so festgelegt worden sind. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit den Ländern zusammen! Da waren Schwarz und Gelb auch dabei!) Vereinfacht gesagt, ergibt sich die große Differenz dadurch, ob die Beurteilung, wie in dem einen Fall, ausschließlich anhand des Kriteriums erfolgt, ob der Täter dem rechten Milieu zuzuordnen ist, oder ob, wie in dem anderen Fall, sich aufgrund des Ermittlungsverfahrens und der Feststellungen der Gerichte hat manifestieren lassen, dass die Gesinnung des Täters bei der Tat ausschlaggebend war. Ich möchte aber gar nicht mit Ihnen darüber streiten, ob die eine oder die andere Zahl die richtige ist. Ich bin mit Ole Schröder der Auffassung: Jedes einzelne Opfer ist ein Opfer zu viel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich denke, dass wir darin übereinstimmen. Die unsägliche Mordserie der Neonazi-Bande aus Thüringen ist für uns alle erschütternd. Es trifft uns in besonderer Weise, dass solch verabscheuungswürdige Taten gerade in unserem Land passieren. Dabei wurde in den letzten Wochen, natürlich immer vorschnell, von interessierter Seite zumindest unterschwellig die Behauptung aufgestellt, unsere Behörden seien auf dem rechten Auge blind. Das muss ich allerdings mit Entschiedenheit zurückweisen. In den letzten Jahrzehnten haben gerade wir in der Bundesrepublik alles getan, um unsere Vergangenheit aufzuarbeiten, aber insbesondere auch, um den Rechtsextremismus in seine Schranken zu weisen. Es ist nicht bestreitbar, dass dies nicht vollumfänglich gelungen ist. In der letzten Sitzungswoche - das ist hier eben zu Recht erwähnt worden - haben wir uns in einer gemeinsamen Erklärung aller fünf Fraktionen ausdrücklich gegen den Extremismus ausgesprochen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von links bis rechts, ich meine, wir sollten dieses Einvernehmen gerade in dieser Frage nicht aufgeben. (Zuruf von der LINKEN: Wer hat das denn aufgekündigt?) Wichtig ist im Augenblick, dass die Mordtaten umfassend aufgeklärt werden und eine umfassende Fehler-analyse vorgenommen wird. Ich danke hier ganz ausdrücklich dem Innenminister, der hier besonnen, aber auch mit großer Bestimmtheit nicht nur Konsequenzen aus diesen Taten gefordert hat, sondern auch unverzüglich Arbeitskommissionen eingesetzt hat. Inzwischen liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung einer Verbunddatei zum Erfassen der Rechtsextremisten in Deutschland bereits vor. Die Erkenntnisse, die sich hier ergeben, müssen über die Fehleranalyse hinaus zu konkreten Schritten führen. Dabei müssen auch die Länder positiv mitwirken, wenn sich herausstellen sollte, dass die bisherigen Strukturen zu Fehleinschätzungen geführt haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wie sonst sollte man sich erklären, dass noch im Verfassungsschutzbericht 2010 davon die Rede ist, dass auch im vergangenen Jahr "in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar" waren! Diese grobe Fehleinschätzung, die nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichtes erkennbar wurde, ist nicht hinnehmbar. Wenn Straftaten aus niederen Beweggründen heraus begangen werden, wenn Menschen lediglich aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder sonstiger Merkmale getötet werden, so muss dies Gründe haben. Für mich ist die entscheidende Frage: Wie kann man mithin diesen geistigen Sumpf austrocknen, der zu solchen Straftaten führt? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe bereits auf den Verfassungsschutzbericht 2010 hingewiesen. Daraus möchte ich zitieren. Ich habe mir lange überlegt, ob ich dieses schier unsägliche Zitat überhaupt verwenden sollte. Ich meine aber, dass die Öffentlichkeit wissen muss, dass es so etwas in unserem Land tatsächlich gibt. Im Verfassungsschutzbericht ist von "rechtsextremistischen Bands und Liedermachern" die Rede. Es ist auch die Rede davon, dass im Jahr 2010 "mehrere deutsche Tonträger mit strafbaren Inhalten" erschienen sind. Die Musikgruppe Braunau hat auf einem Tonträger mit dem Titel Unsere Lösung heißt Gewalt ein Lied mit folgendem Text veröffentlicht - ich zitiere wörtlich -: Man sieht sie überall im Land, ein Mischlingskind an jeder Hand. Sie präsentieren die häßlichen Kröten, mit denen sie unsere Rasse töten. ... man müßte ihnen in die Fresse rotzen. Sie rücksichtslos zusammenschlagen und sie samt ihrer Brut aus Deutschland jagen. Meine Damen und Herren, es macht mich fassungslos - das muss ich Ihnen ganz offen sagen -, dass so etwas in unserem Land präsentiert wird. (Beifall im ganzen Hause) Wer solche Musik verbreitet oder unterstützt, wer es zulässt, dass im Umfeld seiner politischen Tätigkeit Konzerte von Musikgruppen stattfinden, die solche und ähnliche Texte verwenden, wer mithin dazu beiträgt, dass Menschen aufgestachelt werden, brutalst gegen Mitmenschen vorzugehen, der macht sich mitverantwortlich für das, was in den letzten 20 Jahren seit der Wiedervereinigung in Deutschland passiert ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Volksverhetzung - um solche handelt es sich hier - ist strafbar. Die Justiz ist gefordert, diese Straftaten auch mit Nachdruck zu verfolgen. Wenn bekannt ist, dass im Umfeld der NPD und in der NPD selbst Funktionäre und Unterstützer existieren, die Konzerte mit solchem "Liedgut" veranstalten und besuchen, so gibt es für mich keinen Zweifel daran, dass die NPD nicht nur eine verfassungsfeindliche Partei ist. Nein, sie ist auch eine Partei, die unseren Staat, unsere Grundrechte, unsere Freiheit bekämpft. Damit liegen nach meiner Auffassung die Kriterien für ein Verbot vor. Wir sollten alles daransetzen, die notwendigen Voraussetzungen für ein Parteiverbot zu schaffen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion. Sönke Rix (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wolff, zunächst einmal muss ich es im Namen der SPD deutlich zurückweisen, wenn Sie den politischen Extremismus und den Antifaschismus auf eine Stufe stellen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade für die Sozialdemokraten als älteste demokratische Partei, die auch darunter gelitten hat, von politischen Extremisten verfolgt worden zu sein, unter anderem wegen antifaschistischer Arbeit, ist das eine be-schämende Äußerung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das habe ich nicht getan! Hören Sie doch zu!) Grundsätzlich gibt es beim Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus zwei Strategien. Zum einen gibt es die Strategie für eine offene, demokratische und tolerante Gesellschaft, die wir unterstützen und fördern müssen. Zum anderen gibt es die Strategie, die besagt: Dort, wo rechtsextreme Strukturen vorhanden sind, müssen wir ordnungspolitisch, also mit Polizei und den zuständigen Organen, dagegen angehen. Wir wollen hier auch nicht differenzieren, in dem Sinne, dass die eine Strategie wichtiger als die andere ist; beides ist notwendig. Besonders wichtig ist es, zu wissen, dass der Boden des Rechtsextremismus dadurch gegeben ist, dass wir in einigen Bundesländern mehr als nur einen kleinen Anteil von NPD-Wählern oder von Nazis, die auf die Straße gehen, haben. Wir haben leider das Problem, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bis in die Mitte unserer Gesellschaft reichen. Das ist der Boden für solche extremistischen Bewegungen. Das müssen wir anerkennen. Wenn wir glauben, das sei nur eine Randerscheinung und kein Problem der Mitte unserer Gesellschaft, dann können wir nicht mit zivilgesellschaftlichen und demokratischen Aktionen dagegen vorgehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Zivilgesellschaft beim Kampf gegen Rechtsextremismus, aber vor allem bei ihrer Arbeit für mehr Toleranz und Demokratie unterstützen. (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu gehört die politische Bildung; aber dazu gehört auch, entsprechende Strukturen in den Kommunen vorzuhalten, damit sich solche Szenen nicht bilden können, damit wieder anerkannt wird, dass die Demokratie das bessere System ist. Es darf nicht wieder solche dramatischen Untersuchungen geben, in denen behauptet wird, die Demokratie bringe uns nichts. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte noch etwas zur Statistik anmerken. Es ist schon fragwürdig - es sind ja keine unseriösen Medien und auch keine unseriösen Vereine und Verbände, die die Statistik aufgestellt haben -, warum es eine solche Differenz zwischen der offiziellen Statistik und der durch die Zivilgesellschaft und durch die Medien erarbeiteten Statistik gibt. Mich hätte gefreut, wenn vonseiten der Regierungskoalition geäußert worden wäre: Ja, es gibt eine dramatische Differenz, und die gilt es aufzuarbeiten. Diese Aussage habe ich, so deutlich formuliert, leider nicht gehört. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Selbstverständlich ist jedes Todesopfer, egal aus welchem Grund getötet wurde, ein Opfer zu viel. Letztendlich kann man natürlich sagen: Das ist nur eine Statistik. Es macht aber einen Unterschied, wenn ich als Angehöriger eines Opfers höre, dass ein Familienmitglied, zum Beispiel mein Ehepartner, infolge eines Streits über eine banale Sache Opfer einer Gewalttat wurde und die Gewalttat keinen rassistischen Hintergrund hat. Gerade das zeigen ja die sogenannten Döner-Morde. In diesen Fällen wurde immer davon ausgegangen, dass es keinen rassistischen Hintergrund gibt. Es ist wichtig, dass der rassistische Hintergrund deutlich gemacht wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der FDP) Wir können nur dann dagegen vorgehen, wenn wir den rassistischen Hintergrund anerkennen. Ich glaube, wir alle gemeinsam sind es den Angehörigen dieser Opfer schuldig, zu sagen: Ja, wir überarbeiten die Kriterien dieser Statistik gemeinsam. Wir sollten den Angehörigen der Opfer sagen: Ja, euer Angehöriger ist Opfer rechter Gewalt geworden. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Opferentschädigung!) Danke schön. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Tage waren Vertreter der Grünen und der FDP-Fraktion bei einer Veranstaltung des Deutschen Anwaltvereins, die ich sehr interessant fand. Journalisten haben das Ganze aufgearbeitet und erklärt, wie es zu den Differenzen in den Statistiken über rechte Gewalt kommt. Ich glaube, es ist unser aller Anliegen - es muss unser aller Anliegen sein -, dass jedem einzelnen dieser Fälle in einer Andenkens- und Gedenkenskultur ausreichend Platz eingeräumt wird. Wir sind uns bewusst, dass jeder Mensch, der durch rechten Terror gestorben ist, unser Gedenken verdient und wir keinen dieser Menschen vergessen dürfen. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Alexander von Brünneck hat ein Buch über die Justiz in der frühen Bundesrepublik geschrieben. Er hat deswegen selbst Probleme bekommen. Er ist der Frage nachgegangen, wie man in der frühen Bundesrepublik mit politischen Prozessen umgegangen ist. Er hat gezeigt, dass damals in der Tat eine Einseitigkeit bei der politischen Bewertung vorherrschte und man oft nicht genau hingeschaut hat, wenn es Vorfälle von rechts gab. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir seitdem eine viel reifere Gesellschaft geworden sind. Ich glaube, wir alle kennen Polizistinnen und Polizisten, aber niemand von uns würde ihnen unterstellen, dass sie Taten, die hier von rechter Seite begangen wurden, vertuschen oder auch nur verharmlosen wollen. Diesbezüglich sind wir heute viel weiter als in der frühen Bundesrepublik. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde die Art, in der Frau Pau das hier thematisiert hat, vollkommen richtig. Natürlich ist es ein Stachel in unserem Fleisch, wenn ein Fall in unserer Statistik nicht dokumentiert ist. Wir müssen darüber nachdenken, warum dieser Fall nicht dokumentiert wurde. Wir müssen bei jedem einzelnen Fall fragen: Wie konnte es dazu kommen? Wir sollten aber nicht so tun - das haben Sie auch nicht getan -, als ob dahinter ein bösartiger Komplott steht. Insofern bitte ich alle Beteiligten, den Schmerz, den dieser Rechtsextremismus uns allen als Demokraten zufügt, noch eine gewisse Zeit so zu empfinden. Wir sollten nicht so schnell nach Lösungen suchen, sei es das NPD-Verbot, seien es konkrete Gesetze oder andere Dinge. Wir sollten den Schmerz einfach noch ein bisschen aushalten. Wir müssen uns der Sache zivilgesellschaftlich nähern und sollten nicht zu schnell vermeint-liche Lösungen präsentieren; denn wir alle müssen, so glaube ich, registrieren, dass es angesichts dieses Phänomens eine einfache Antwort nicht gibt. Deswegen brauchen wir mehr Ermittlungen. Wir müssen jedem einzelnen Fall nachgehen. Unterstellungen wie die meinem Kollegen Wolff gegenüber sind der Sache sicherlich nicht dienlich. (Beifall bei Abgeordneten der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben sich doch auch geschämt für die Rede! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, wir sollten hier gemeinsam vorgehen und nicht schon jetzt Differenzen suchen, wo eigentlich keine sind. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7990. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der Europäischen Union vom 30. Juli 2010 und dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der Europäischen Union vom 7. Dezember 2010 - Drucksachen 17/7742, 17/7996 - Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller (Köln) - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/8004 - Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Zudem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf der Grundlage der einschlägigen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates empfiehlt die Bundesregierung die weitere Teilnahme an der gemeinsamen EU-geführten Mission Atalanta zur Gewährung der Sicherheit auf den Seewegen am Horn von Afrika. Dabei ist festzustellen, dass dieses Mandat bisher erfolgreich ist. Seit seinem Bestehen wurden circa 100 Schiffstransporte im Auftrag des Welternährungsprogramms durchgeführt und circa 700 000 Tonnen Nahrungsmittel zuzüglich anderer Versorgungsgüter erfolgreich nach Somalia gebracht. Genauso ist festzustellen, dass es im letzten Jahr weniger erfolgreiche Kaperungen durch Piraten gab. Das heißt, erstmals war die Zahl der erfolgreichen Übergriffe auf zivile Schiffe rückgängig. Ich denke, das spricht dafür, dass dieses Mandat verlängert werden sollte. Auch die deutsche Hilfe bei der Ausbildung somalischer Truppen in Uganda sollte fortgesetzt werden; denn eines ist klar: Wir betreiben durch die Sicherung der Seewege nur Symptombekämpfung. Das heißt, parallel zu dem Mandat muss die Übergangsregierung in Somalia weiterhin politisch unterstützt werden. Uns wird immer wieder vorgeworfen - Herr van Aken, ich weiß, Sie werden es wieder tun -, dass wir eine Regierung unterstützen, die nicht vollständig von der Bevölkerung getragen wird. Das ist uns wohl bewusst. Aber diese Regierung - eine Übergangsregierung in einem völlig zerrütteten Staatswesen - wird von der Afrikanischen Union und der zuständigen Regionalorganisation für Ostafrika unterstützt. Letztendlich ist sie die einzige Hoffnung darauf, dass man dort irgendwann zu geordneten staatlichen Strukturen zurückkehrt. Auf jeden Fall trauen wir der Afrikanischen Union und ihrer Regionalorganisation eher zu, das zu beurteilen, als Ihnen. Wir verfolgen insofern einen Ansatz mit zwei Zielen: Wir sichern durch den Einsatz unserer Schiffe, soweit möglich, die Seewege und somit die humanitäre Versorgung der Menschen im Land; dies ist in der letzten Zeit wichtiger und nicht unwichtiger geworden. Gleichzeitig unterstützen wir einen politischen Prozess, der irgendwann hoffentlich zum Wiederaufbau geordneter staatlicher Strukturen führt. Deshalb kommen wir zu dem Schluss, dass dieser Einsatz aus humanitären und aus politischen Gründen weiterhin geboten ist und dass das Mandat verlängert werden muss. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Karin Evers-Meyer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im dritten Jahr der Mission Atalanta bleibt die Seefahrt vor Somalia gefährlich. Über 90 Prozent aller Piratenübergriffe weltweit konzentrieren sich auf diese Region. Im vergangenen Jahr gab es allein vor der somalischen Küste fast 50 Schiffsentführungen. Über 1 000 Seeleute wurden zu Geiseln der Piraten, und es ist nicht anzunehmen, dass es 2011 besser sein wird. Das heißt für uns: Atalanta bleibt eine notwendige Mission. Atalanta bleibt ein wichtiger Bestandteil des Maßnahmenpakets, das notwendig ist, um das Sicherheitsproblem vor der somalischen Küste zu lösen. Sicherheit vor der Küste Afrikas zu schaffen, ist ein zentraler Beitrag, um die dringend notwendige humanitäre Hilfe für Somalia zu gewährleisten. Es geht darum, die Lieferungen von Hilfsgütern des Welternährungsprogramms nach Somalia sicherzustellen. Wie uns die Hungerkatastrophe in diesem Jahr beweist, ist die Bevölkerung von Somalia dringend darauf angewiesen, und es ist in unserem Interesse, dass wir Hunger und Not vor Ort lindern. Denn Hunger und Not sind die bitteren Nachschubgaranten für die kriminellen Banden, die vor der somalischen Küste ihr Unwesen treiben. Über 4 Millionen Menschen in Somalia sind abhängig von Hilfen der internationalen Gemeinschaft. Diese Hilfe läuft eben vor allem über See. Daher bleibt es richtig, die Hilfstransporte nach Somalia auf dem Seeweg abzusichern. Seit es den Geleitschutz für die Hilfsgüter nach Somalia gibt, wurde kein Schiff mehr von Piraten überfallen. Über 700 000 Tonnen Nahrungsmittel konnten so im letzten Jahr ihr Ziel erreichen. Das ist ein echter Erfolg, über den wir eigentlich viel zu wenig sprechen, wenn wir über den Sinn von Atalanta reden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das humanitäre Interesse an dieser Mission steht zu Recht im Vordergrund. Es gibt für unser Land aber auch ein wirtschaftliches Interesse. Deutschland ist, wie wir alle wissen, ein äußerst erfolgreiches Exportland. Das soll ja auch so bleiben. Gerade deswegen brauchen wir nicht nur gute Produkte; wir sind auch auf sichere Handelswege angewiesen. Diese Handelswege sind eben im Falle Deutschlands zu über 90 Prozent Seewege. Die Route durch den Suezkanal und den Golf von Aden ist einer dieser wichtigen Handelswege. Als Exportnation haben wir ein fundamentales Interesse daran, dass dieser Weg sicher bleibt. Daher muss eines ganz klar sein: Wir werden uns sehr konsequent für die Sicherheit unserer Handelswege nicht nur mit militärischen Mitteln, aber eben im Ernstfall auch mit militärischen Mitteln einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Mission Atalanta sorgt also seit 2008 dafür, dass wir am Golf von Aden inzwischen eine weitgehend stabile Situation haben. Ein Teil der Angriffe hat sich aber vor die Ostküste Somalias verlagert. Das macht noch einmal klar, dass der Kampf gegen die Piraterie vor Somalia noch nicht vorbei ist. Für die Stabilität und Sicherheit der Seewege und natürlich auch für die Sicherheit derer, die diese Wege befahren, brauchen wir weiterhin die Unterstützung durch die Marine. Atalanta wird weiter benötigt. Deshalb wird meine Fraktion dem Mandat zustimmen. Wir wollen aber natürlich auch die Defizite der deutschen Politik in diesem Bereich deutlich benennen. So fehlt bis heute ein stringentes Konzept der Bundesregierung, wie sie denn gemeinsam mit unseren Partnernationen die Piraterie vor Somalia nachhaltig bekämpfen will. Ich habe es schon gesagt: Die Ursachen für die Piraterie liegen an Land. Wir werden die Mission Atalanta erst beenden können, wenn die Ursachen für die Piraterie beseitigt sind. (Beifall bei der SPD) Jeder, der sich die Bilder der kleinen Piratenboote ansieht, von denen aus auf hoher See die Handelsschiffe angegriffen werden, bekommt eine Vorstellung davon, welches Elend und welche Armut an Land herrschen müssen, um die Piraten zu solchen waghalsigen Angriffen zu treiben. Im Mandatstext führen Sie zwar einige Maßnahmen auf, die dabei helfen sollen, die Ursachen der Piraterie zu bekämpfen - diese Schritte sind richtig -; aber das sind viel zu kleine Schritte, und sie sind zu zögerlich. Mir ist natürlich klar, dass es unglaublich schwierig ist, in diesem zerrütteten Land so etwas wie staatliche Strukturen aufzubauen und zu fördern. Genauso schwierig ist es sicherlich, dort eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen. Aber dass es schwierig ist, kann doch nicht bedeuten, dass wir so gut wie gar nichts vor Ort unternehmen. Es wäre aus meiner Sicht an der Zeit, dass wir die Unterstützung für ein Land wie Somalia gemeinsam mit unseren internationalen Partnern organisieren. Wir Deutschen sind nicht die Einzigen, die ein Interesse an stabilen Verhältnissen dort haben. Dazu findet sich im Mandatstext aber so gut wie nichts. Ich will von Ihnen wissen, welche Schritte die Bundesregierung hier unternehmen will und - vor allem - ob sie dabei auf unsere internationalen Partner zugehen will. Ein ganz wichtiges Thema ist die Strafverfolgung. Wie wollen wir das regeln? Wir können dieses Thema ja nicht irgendwelchen exotischen Inseln überlassen. Die Boote der Piraten zu zerstören, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Also: Die Pirateriebekämpfung ist Stückwerk. Neben Atalanta gibt es Missionen der USA, der NATO, Russlands und Indiens. Außerdem haben China, einige arabische Staaten und Japan Schiffe vor die somalische Küste entsandt. Das zeigt, wie viele Länder diese Bedrohung ernst nehmen. Aber es wäre besser und sehr wahrscheinlich auch effektiver, wenn man diese Einsätze bündeln würde; es liegt ja auch ein entsprechender Beschluss des UN-Sicherheitsrates vor. Deswegen regen wir an, eine gemeinsame UN-Mission zur Bekämpfung der Piraterie vor Somalia einzurichten. Das wäre dann auch die Chance, die Bekämpfung der Piraterie an Land auf eine breitere Grundlage zu stellen. Es ist höchste Zeit, dass sich die Bundesregierung mit mehr Engagement als bisher daranmacht, die Ursachen gemeinsam zu bekämpfen. Denn wenn wir die Zustände in Somalia nicht in den Griff bekommen, werden wir auch die Situation vor Somalia nicht in den Griff bekommen. Ein Dauermandat für unsere Marine vor der somalischen Küste kann nicht unser Ziel sein. Ein solches Mandat wird es mit uns auch nicht geben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte daran erinnern, dass bis zu 1 400 deutsche Soldatinnen und Soldaten bis 2012 im Rahmen von Atalanta eingesetzt sein werden. Damit ist diese Mission, anders als etwa UNIFIL, personell gut ausgestattet. Im Namen meiner Fraktion danke ich von hier aus allen Soldatinnen und Soldaten, die bei Atalanta eingesetzt sind, für ihren Einsatz. Die Fregatte Köln hat das Einsatzgebiet vor genau einer Woche verlassen und befindet sich auf Heimatkurs in Richtung Wilhelmshaven. Ich denke, es ist im Sinne des ganzen Hauses, den Soldatinnen und Soldaten der Fregatte Köln von hier aus eine gute Heimkehr zu wünschen und ihnen stellvertretend für alle anderen, die an diesem Einsatz beteiligt sind, für ihr Engagement zu danken. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist eine besondere Herausforderung, unter diesen schwierigen klimatischen Bedingungen Tausende Kilometer von Deutschland entfernt Dienst zu tun, einen Dienst, der große Aufmerksamkeit erfordert und die Fähigkeit, innerhalb weniger Minuten die richtige Entscheidung zu treffen. Die deutschen Einheiten haben das bisher gut hinbekommen und bei Atalanta wirklich gute Arbeit geleistet. Das wird allseits anerkannt. Ich bin mir sicher, dass das auch in Zukunft so bleibt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Piraterie ist ein Verbrechen und wird international geächtet. Sie muss global verfolgt werden; denn sie fügt auch der internationalen Gemeinschaft erheblichen Schaden zu. Die Piraterie am Horn von Afrika ist nichts anderes als organisierte Kriminalität. Sie richtet sich nicht nur gegen Waren, sondern auch gegen Menschen. Hier kämpfen nicht nur ein paar arme Fischer darum, ihre Familien ernähren zu können. Nein, wer mit Granatwerfern oder AK-47 bewaffnet und unter Einsatz modernster Kommunikationsmittel wie Sattelitentelefonen und GPS-Systemen große Schiffe kapert, der ist weit weg von unserer romantischen Vorstellung von einem Robin Hood der Meere. Die Akteure machen sich die Lage in Somalia, einem Land, das über keine funktionierenden staatlichen Strukturen verfügt, zunutze, um von dort aus der internationalen Gemeinschaft zu schaden. Sie schaden dabei nicht nur uns, sondern insbesondere auch dem somalischen Volk. Daher hat die somalische Übergangsregierung vor drei Jahren den UN-Sicherheitsrat gebeten, Hilfe zu leisten. Mit unserem Einsatz schützen wir die Hilfsschiffe des World Food Programme und helfen so dem somalischen Volk im Kampf gegen den Hunger. Außerdem bedrohen Piraten Schiffe deutscher Reedereien und das Leben deutscher Seeleute. Im Oktober 2010 wurden zwei Schiffe mit deutschen Besatzungen gekapert. Die Beluga Fortune ist bereits am nächsten Tag freigekommen; dies war vor allem aufgrund des umsichtigen Handelns der Besatzung und des Eingreifens englischer Marineeinheiten möglich. Der 68-jährige deutsche Kapitän des Tankers York und seine Besatzung waren aber über Monate, bis zum März 2011, in den Händen der Piraten. Die Erfolgsquote der Piraten ist in den vergangenen Jahren zum Glück deutlich gesunken. Dennoch erreichte die Zahl der Piratenüberfälle nach Angaben des Internationalen Schifffahrtsbüros in diesem Jahr - alleine bis September waren es 352 - einen neuen Höchststand. Wir müssen in Somalia weiter den internationalen Seeverkehr und die Bemühungen des Welternährungsprogramms schützen, und wir dürfen im gleichen Bekenntnis auch unseren Anspruch verankern: Freie Seehandelswege sind im Interesse unseres Landes. Denn wenn unsere Unternehmer in der maritimen Wirtschaft Arbeitsplätze schaffen sollen, dann brauchen sie sichere Seehandelswege - und das weltweit. 20 Prozent des deutschen Außenhandels erfolgten 2008 allein auf dem Seeweg. Unternehmer in der maritimen Wirtschaft geben knapp einer halben Million Menschen in Deutschland Arbeit. Diese 500 000 Menschen sind von freien Handelswegen mit abhängig. Die Piraten schaden Deutschland und seiner Wirtschaft. Sie bedrohen - und das ist das Schlimmste - tagtäglich Menschenleben. Ralf Nagel, der Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder, sagte: Die Piraterie im Indischen Ozean und im Golf von Aden ... stellt eine tägliche Lebensbedrohung für unsere Seeleute dar. Wir nehmen die Sorgen der Reeder und ihrer Seeleute ernst. Die Bekämpfung der Piraterie auf See geht einher mit der Bemühung um den Staatsaufbau an Land. Bis heute hat die EU mehr als 760 Millionen Euro investiert, um die Not zu lindern. In den Schlussfolgerungen des Rates hat die EU am 14. November dieses Jahres eine Strategie für das Horn von Afrika verabschiedet. Sie hat damit klargemacht, dass wir das Ziel von Frieden, Sicherheit und guter Regierungsführung nicht aus den Augen verlieren werden. In der gestrigen Sitzung des Rats für Außenbeziehungen in Brüssel wurde noch einmal über die derzeitige Situation beraten. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung eine Erweiterung des Mandats bis an die Strände Somalias prüfen wird. Sofern diese Prüfungen positiv ausfallen, müssten wir das Mandat im Frühjahr nächsten Jahres gegebenenfalls anpassen. An dieser Stelle möchte ich den 558 Frauen und Männern der Bundeswehr, die derzeit ihren Dienst am Horn von Afrika leisten, meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen und weiterhin Gottes Segen wünschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Insbesondere möchte ich hierbei die Fregatte Bayern erwähnen, in deren Freundeskreis ich Mitglied bin. Mit großem Interesse verfolge ich die Berichte von Bord, die alle paar Wochen zu uns kommen. Es freut mich, zu hören, dass wir hier eine ausgezeichnete Crew und eine gute Führungsriege an Bord haben, die mit viel Elan und Einsatz die tagtäglichen Herausforderungen in ausgezeichneter Weise meistern. In wenigen Tagen wird die Bayern heimkehren - nicht an den Tegernsee, das ist klar, aber nach Hause. (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Bayern ist in Deutschland zu Hause! - Michael Groschek [SPD]: Dahin kehrt jemand anderes zurück!) Meine Damen und Herren, unser Kompass ist klar: Es gilt, zu helfen, wo die Werte des Völkerrechts bedroht sind. Wir stimmen für die Verlängerung des Atalanta-Mandats. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Jan van Aken für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jan van Aken (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie wollen heute zum dritten Mal die Beteiligung am Militäreinsatz Atalanta verlängern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich frage mich die ganze Zeit: Warum eigentlich? Die Menschen in Somalia leben immer noch in bitterster Not, sie leiden unter Armut und einem Bürgerkrieg, der die Entwicklung in dem Land seit Jahren behindert. In den letzten Jahren, seit es Atalanta gibt, hat sich die Situation immer weiter verschlechtert. Jetzt kommt auch noch diese Dürrekatastrophe dazu: 4 Millionen Menschen sind in Somalia im Moment vom Hungertod bedroht. Jetzt werden Sie sagen: Sehen Sie, genau dafür brauchen wir Atalanta. - Genau damit liegen Sie komplett falsch. (Beifall bei der LINKEN) Atalanta ist kein humanitäres Hilfsprojekt, und Atalanta ist auch keine politische Strategie. Atalanta ist doch einfach nur eine rein militärische Bekämpfung von Symptomen. Mit Kriegsschiffen können Sie die Armut nicht bekämpfen, mit Kriegsschiffen können Sie auch keinen Bürgerkrieg bekämpfen, und mit Kriegsschiffen können Sie auch das Problem der organisierten Kriminalität nicht lösen, die hinter der Piraterie steckt. (Beifall bei der LINKEN - Joachim Spatz [FDP]: Das behauptet auch keiner!) Das Problem der Piraterie - das sagen Sie alle - lässt sich nur an Land bekämpfen, nur mit einer politischen Strategie. Hier würde mich doch wirklich einmal interessieren: Was haben Sie in den letzten drei Jahren für eine politische Lösung getan? Was haben Sie getan, um den Bürgerkrieg zu deeskalieren? Was haben Sie getan, um endlich eine Waffenruhe und Verhandlungen zu ermöglichen? Was haben Sie getan, um die Einmischung der Nachbarstaaten zu beenden? Und was haben Sie getan, um endlich eine lokale wirtschaftliche Entwicklung zu fördern? Nichts, nichts und wieder nichts. Gestern im Ausschuss habe ich Herrn Westerwelle genau das gefragt: Was haben Sie konkret getan, außer Kriegsschiffe zu schicken? Wissen Sie, was er geantwortet hat? Er hat geantwortet: Ich kann Ihnen gerne unser Konzept für Somalia vorstellen. - Konzepte kann er schreiben, wenn er in der Opposition ist, aber als Außenminister muss er doch handeln. (Beifall bei der LINKEN) Einfach nur Kriegsschiffe schicken und nicht eine einzige Sache für die Menschen in Somalia zu tun, finde ich unverantwortlich. Sie haben bis heute einfach keine politische Strategie. (Zurufe von der FDP: Machen Sie mal einen Vorschlag! - Wie ist denn Ihr Vorschlag?) Ihre Fixierung auf das rein Militärische kann nichts zu dem dringend notwendigen Friedensprozess beitragen. Im Gegenteil: Sie unterstützen völlig einseitig eine Partei im Bürgerkrieg. Sie bilden deren Soldaten noch aus, und dann wundern Sie sich, dass die Gewalt immer weiter eskaliert. Das ist genau der falsche Weg. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der FDP? Jan van Aken (DIE LINKE): Gern. Torsten Staffeldt (FDP): Herr van Aken, Sie behaupten, dass für das humanitäre Engagement in Somalia nichts getan wird. Sind Sie in der Lage, nachzuvollziehen, dass das Atalanta-Mandat unter anderem die wesentliche Aufgabe hat, die Nahrungsmitteltransporte nach Somalia zu beschützen, um so zu helfen, dass die Menschen dort nicht verhungern? (Beifall bei der FDP) Jan van Aken (DIE LINKE): Das ist das, was Sie jetzt sagen. Wo, bitte sehr, treiben sich die manchmal bis zu 46 Kriegsschiffe denn herum? Begleiten diese 46 Kriegsschiffe ausschließlich die Schiffe des World Food Programme? Das ist eben nicht der Fall. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie suchen hier händeringend nach einer Entschuldigung, nach einem Grund, nach irgendeiner guten Nachricht, weil Sie genau wissen, dass Sie nichts für eine politische Lösung im Land tun. Herr Westerwelle stellt sich immer hin und sagt: "Es kann nur im Land gelöst werden", tut aber nichts. Dann finden Sie etwas und ignorieren, dass die meisten dieser Kriegsschiffe in dem ganzen großen Gebiet eingesetzt werden - fernab von den Hilfsschiffen des World Food Programme. Deswegen ist es eine völlig scheinheilige Argumentation von Ihrer Seite. (Beifall bei der LINKEN) Wir sind deshalb der Meinung - damit Sie den Konflikt nicht weiter eskalieren -, dass Sie die Ausbildung somalischer Soldaten einstellen und endlich damit aufhören sollten, die wahnsinnig großen Herausforderungen in dieser Region immer nur durch die militärische und polizeiliche Brille zu sehen. Das gilt auch für den Militäreinsatz Atalanta. Vermeintliche Piratenschiffe werden nicht nur beschossen, sondern auch versenkt - ohne jeden Beweis. Der bloße Verdacht genügt. Herr Stinner von der FDP hat es gestern im Ausschuss noch bestritten. Herr Stinner, ich muss Ihnen sagen, Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Jede Woche bekommen wir Meldungen von der Bundesregierung über die verschiedenen Militäreinsätze. Wenn Sie sich die genau durchlesen, stellen Sie fest, dass dort beispielsweise steht: Auftrag, die beiden Motorboote zu zerstören, oder: Motorboote durch Beschuss versenkt, usw. Die Bundesmarine hat haufenweise Boote versenkt. Sie sind der Einzige in Ihrer Fraktion, der überhaupt ein bisschen über dieses Mandat Bescheid wissen müsste. Wenn nicht einmal Sie wissen, was vor Ort passiert, wie können Sie dann guten Gewissens einem solchen Mandat zustimmen? (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Sie haben von Booten gesprochen, nicht von Schiffen!) Machen Sie das nächste Mal bitte Ihre Hausaufgaben! Die Piraterie bekämpfen Sie mit der Methode jedenfalls nicht. Sie sorgen doch einfach nur dafür, dass auf See immer weiter aufgerüstet wird. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt noch ein Wort zur aktuellen humanitären Situation in Somalia. Vor einigen Tagen hat die Miliz al-Schabab verschiedene Hilfsorganisationen aus dem Gebiet, das sie kontrolliert, ausgewiesen. Das verurteilen wir ausdrücklich. Der humanitäre Zugang zur notleidenden Bevölkerung muss überall, in allen Gebieten, möglich sein. Es kann aber auch nicht sein, dass internationale Hilfe auf bestimmte kleine Gebiete beschränkt wird. Wir wissen zum Beispiel von den Amerikanern, dass sie Hilfe nur im Gebiet der Übergangsregierung zulassen, und all die hungernden Menschen in anderen Gebieten werden alleingelassen. Das geht genauso wenig. Wir sagen ferner, dass die kenianischen und äthiopischen Truppen das Land verlassen müssen; denn sie schneiden den Flüchtigen den Weg in die rettenden Flüchtlingslager ab. Da muss unbedingt etwas passieren. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte. Im letzten Jahr hat Deutschland beispielsweise zwei Drittel seiner Rüstungsexporte an Staaten der EU bzw. der NATO geliefert. Mit diesen Waffen führt die NATO jetzt Krieg, nicht nur in Afghanistan oder im Irak, sondern auch vor Somalia im Rahmen von Atalanta. Das lehnen wir ab. Ich bedanke mich. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Seit der letzten Verlängerung des Mandats Atalanta hat sich die Lage am Horn von Afrika noch einmal dramatisch verschärft. Auch ich meine damit nicht die Piratenüberfälle, sondern die Hungerkatastrophe in der Region. Rund 4 Millionen Menschen hungern alleine in Somalia, 250 000 Menschen sind akut vom Hungertod bedroht, und 2,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Der gescheiterte Staat Somalia kann diesen Menschen nicht helfen. Daher ist hier die internationale Gemeinschaft klar in der Pflicht. Herr van Aken, dass man vor dem Hintergrund einer solchen Situation behauptet, man brauche die Atalanta-Mission nicht, finde ich wirklich absurd. Sie haben nichts, aber auch gar nichts dazu gesagt, wie Sie denn diese Menschen versorgen wollen. Es sind, wie gesagt, 4 Millionen. Diese Antwort sind Sie schuldig geblieben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP - Widerspruch des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE]) Diese Menschen können nur von See her versorgt werden; das wurde auch von Ihnen nicht bestritten. Die Schiffe auf See werden aber von Piraten bedroht. Das heißt, ohne den sicheren Geleitschutz für die Schiffe des Welternährungsprogrammes können wir die Menschen in Somalia nicht mit Nahrungsmitteln versorgen. Genau das leistet Atalanta. Deshalb ist es richtig, diesem Mandat zuzustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP - Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE]) - Rufen Sie hier nicht rein! Machen Sie einen Vorschlag. Sie haben keinen Vorschlag dazu gemacht, wie Sie diese 4 Millionen Menschen versorgen wollen, genauso wie beim letzten Mal. Sie sprechen von der Ursachenbekämpfung. Das ist richtig. (Karin Binder [DIE LINKE]: Ja, genau!) - Ja, das wollen wir alle. Aber wissen Sie was? Sie wissen genau, dass das nicht von heute auf morgen geht. Somalia ist seit mehr als 20 Jahren ein gescheiterter Staat. (Karin Binder [DIE LINKE]: Warum denn?) Es wird hier keine schnellen Lösungen geben. Auch das haben Sie verschwiegen. Das finde ich unverantwortlich; denn es ist nicht so einfach, eine friedliche Lösung für Somalia und das Horn von Afrika zu finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Wenn man all das macht, was Sie vorgeschlagen haben - es sei dahingestellt, ob das vernünftig ist -, stellt sich die Frage: Was passiert in der Zwischenzeit? Wollen Sie die Menschen verhungern lassen, bis diese Lösungsansätze greifen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ihr Ernst ist. Wenn Sie sagen, dass nicht Atalanta oder andere multilaterale Organisationen dort tätig sein sollen: Was ist dann die Alternative? Die Alternative ist, dass die Blackwaters dieser Welt auf Container- und Getreideschiffen künftig für Sicherheit sorgen. Ich frage Sie: Wollen Sie das? Wir wollen das nicht, weil wir das für eine gefährliche Militarisierung der zivilen Schifffahrt halten. Genau das wollen wir nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch das ist für uns ein Grund, diesem vernünftigen Mandat zuzustimmen. Die Hungerkatastrophe wird noch dadurch verschärft, dass die al-Schabab-Milizen die humanitäre Hilfe politisch instrumentalisieren. Am Montag wurden 16 Büros wichtiger Hilfsorganisationen zur Versorgung der Hungernden durch die al-Schabab geplündert und geschlossen. Darunter sind UNICEF, WHO und die GIZ. Das zeigt noch einmal ganz klar, wie skrupellos bestimmte al-Schabab-Milizen ihren Krieg führen. Ich will hier sehr deutlich sagen: Wir verurteilen das auf das Schärfste. Das ist absolut zynisch! Das ist absolut inakzeptabel! Wir fordern, dass die Schließung der Büros dieser Hilfsorganisationen sofort wieder rückgängig gemacht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Leider ist zu befürchten - das möchte ich hier ansprechen -, dass dies auch eine Reaktion auf die militärische Intervention Kenias ist. Ich finde es ziemlich befremdlich, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, dass wir hierzu bis heute nichts Kritisches gehört haben. Nicht nur, dass dieser Schritt nicht mit der somalischen Übergangsregierung abgesprochen war - der Präsident der TFG hat protestiert -, sondern er ist auch sehr riskant für Somalia und das Horn von Afrika. Wenn wir im Sinne echter Krisenprävention nicht rechtzeitig gegensteuern, können der zusätzliche Einmarsch äthiopischer Truppen, die Waffenlieferungen an al-Schabab aus Eritrea, also das Wiederaufflammen des ewigen Stellvertreterkrieges zwischen diesen beiden Ländern, zu einem Flächenbrand am gesamten Horn von Afrika führen. Das dürfen wir nicht zulassen. Diese militärische Intervention ist für die Lage der Flüchtlinge und Hungernden verheerend. Statt Schutz und Nahrung zu erhalten, geraten sie noch einmal zwischen die Kriegsfronten. Wenn wir den Menschen langfristig helfen wollen - das heißt hier, das eine tun, ohne das andere zu lassen -, dann brauchen wir jetzt einen Strategiewechsel in der europäischen und internationalen Somalia-Politik. Ich meine, dass man auf Distanz zu der korrupten und unfähigen Übergangsregierung gehen muss. Sie haben gesagt, Herr Kollege Spatz, die AU arbeite mit ihr zusammen. Die AU ist nicht die einzige und letzte Instanz, die für uns einziges Kriterium sein darf. (Joachim Spatz [FDP]: Nennen Sie eine bessere Alternative!) Denn die Afrikanische Union hat schon oft versagt, zum Beispiel in Libyen, wo sie bis zuletzt an Gaddafi festgehalten hat. Die Übergangsregierung hat bisher versagt. Das ist ziemlich klar. Wir müssen daher viel stärker auf den Aufbau lokaler und auch regionaler Strukturen setzen, die es gibt. Dazu gehört auch - das sage ich offen -, einen Dialog zumindest mit den gesprächsbereiten Teilen der al-Schabab zu versuchen, ohne den es keine Versöhnung geben wird. Das sagen alle Fachleute, und das fordern auch die erfahrenen NGOs vor Ort, sofern sie noch dort sind. Also: Eine Friedenslösung für Somalia ist nicht einfach. Aber ich meine, dass die Bundesregierung - Deutschland hat einen Sitz im Sicherheitsrat - den dahinsiechenden Friedensprozess etwas mutiger voranbringen muss. Denn die Menschen in Somalia brauchen eine Zukunft. Auch da haben wir eine Verantwortung. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Burkhardt Müller-Sönksen für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mission Atalanta ist ein Erfolg; sie ist ein Erfolg für die Bevölkerung von Somalia. In diesem Jahr hat jedes der Schiffe des Welternährungsprogramms, das in die somalischen Häfen geschickt wurde, diese auch erreicht. Das ist der Beweis, Herr van Aken, dass Sie nicht recht haben und dass Atalanta ein Erfolg ist. Die Mission Atalanta ist auch ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Sicherheit der Handelsschifffahrt am Horn von Afrika. Auch wenn die Zahl der Angriffe weiterhin auf demselben Niveau wie im Vorjahr geblieben ist, (Jan van Aken [DIE LINKE]: Falsch, Herr Müller-Sönksen! Die ist gestiegen!) hat sich die Zahl der erfolgreichen Entführungen halbiert. Um der Piraterie zu begegnen, braucht es eine umfassende Strategie, die weit über den militärischen Bereich hinausreicht. Wir stärken durch eine Vielzahl von Maßnahmen die staatlichen Institutionen vor Ort, in der Region. Ziel ist es, dass sie immer stärker auch selbst gegen die Piraterie vorgehen können. Eines sage ich ganz deutlich, weil es in den Debatten von den Linken, wie auch heute wieder von Ihnen, Herr van Aken, immer wieder bestritten wird: Piraterie ist mitnichten ein Ausdruck des Protests der notleidenden somalischen Bevölkerung. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Nein. - Piraterie ist eine der schwersten Formen organisierter Kriminalität. (Jan van Aken [DIE LINKE]: Ich habe von organisierter Kriminalität gesprochen!) Die Piraten und ihre Hintermänner nehmen Mord, Totschlag und Entführung billigend in Kauf. In den letzten Monaten wurde häufig über die Möglichkeit diskutiert, Soldaten an Bord deutscher Schiffe zu nehmen. Bei jährlich mehr als 3 000 Schiffen allein unter deutscher Flagge sind solche Vorschläge illusorisch. Um den Schutz der Besatzungen weiter zu erhöhen, ist es notwendig, die Sicherheitsmaßnahmen an Bord laufend zu verbessern. Die Reeder leisten hierbei unter anderem mit der Einrichtung von Schutzräumen einen wichtigen Beitrag. Ich begrüße es auch sehr, dass auf Initiative des Maritimen Koordinators der Bundesregierung, des Kollegen Hans-Joachim Otto, ergebnisoffen geprüft wird, inwieweit und in welchem Rahmen private Sicherheitskräfte zum Schutze der Besatzungen eingesetzt werden können. In dieser - ich gebe zu: in diesem Hause kontroversen - Frage dürfen wir allerdings nicht die Relation aus den Augen verlieren: Jeder Geldtransport in Deutschland, der die Tageseinnahmen von Supermärkten abholt, wird von bewaffneten privaten Sicherheitskräften begleitet. In diesen Fällen würde - zu Recht - niemand von einer täglichen Unterhöhlung des staatlichen Gewaltmonopols sprechen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für uns als FDP ist in der Frage des Einsatzes privater Sicherheitskräfte ein Punkt nicht verhandelbar: Mit uns wird es keine Kriegswaffen in privaten Händen an Bord geben. Die Mission Atalanta leistet einen wichtigen Beitrag nicht nur für die maritime Sicherheit, sondern dient vor allem auch der Verbesserung der Situation der somalischen Bevölkerung. Damit diese wichtige Arbeit fortgesetzt werden kann, bitte auch ich Sie um Zustimmung zur Verlängerung des Mandats. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Hans-Christian Ströbele das Wort. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, trotz der Nichtzulassung meiner Frage kommen Sie nicht drum herum, meine Meinung zu hören. Sie können sich dann auch dazu äußern. Sie haben gesagt, Aufgabe sei die Sicherung der Lieferungen des World Food Programmes, des Welternährungsprogramms. Sie haben hinzugefügt, es sei aber auch Aufgabe der Kriegsschiffe der kriegsführenden Staaten dort, die Handelswege zu sichern. So etwas Ähnliches habe ich vorhin schon von der Kollegin von der SPD, Frau Evers-Meyer, gehört. Für mich stellt sich deshalb die Frage: Ist es nun tatsächlich nach Auffassung des Deutschen Bundestages - derer, die hier zustimmen -, Aufgabe der Bundeswehr, in Zukunft Handelswege für die deutsche Exportnation zu sichern? Dann sollte man das auch laut so sagen. Ich erinnere mich daran, dass der frühere Bundespräsident aufgrund einer Interviewäußerung, in der er das ähnlich in den Raum gestellt hat, Veranlassung gesehen hat, sein Amt abzugeben. Deshalb stellt sich doch ernsthaft die Frage - die müssen Sie gegenüber der deutschen Bevölkerung beantworten -: Ist es Aufgabe der Bundeswehr, einer Bundeswehr, die jetzt nicht mehr aus Wehrpflichtigen besteht, in Zukunft die Handelswege für die Exportnation Deutschland zu sichern? Wenn das so ist - und das hört sich hier heute so an -, dann schreiben Sie das auch in den Auftrag hinein, damit die Bevölkerung weiß, wofür sie entweder zur Bundeswehr geht oder wofür sie Steuern für die Bundeswehr zahlt. Meiner Meinung nach darf das nicht Aufgabe der Bundeswehr sein, zumal wenn - wie auch in diesem Fall an der Küste von Somalia - es Alternativen gibt und der Einsatz der Bundeswehr bzw. der Einsatz der Atalanta-Truppen eben nicht das letzte Mittel, sondern ein Mittel lange vor dem letzten Mittel ist. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte schön, Herr Kollege. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Herr Kollege Ströbele, vielen Dank. - Ich will es kurz machen. Einmal verweise ich auf das Weißbuch und zum anderen auf Nr. 2 b) des Mandates, des Antrags der Bundesregierung. Ich zitiere: ... b) aufgrund einer Einzelfallbewertung der Erfordernisse Schutz von zivilen Schiffen in den Gebieten, in denen sie im Einsatz ist; ... Dazu gehören selbstverständlich auch die deutschen Schiffe, von denen ich gerade gesprochen habe. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ströbele, vielleicht schauen Sie auch einfach einmal auf die Homepage des Bundesverteidigungsministeriums. Der können Sie entnehmen: Auftrag der Mission Neben dem Schutz der Handelsschifffahrt im Golf von Aden und entlang der somalischen Küste bestehen deren weitere Aufgaben im Schutz der Schiffe des Welternährungsprogramms für Hilfslieferungen nach Somalia. Das ist also keine geheime Kommandosache oder Ähnliches. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich empfehle sowieso vielen Mitgliedern dieses Hauses, insbesondere auf der linken Seite, doch einmal nur die Stichworte "Somalia", "Versorgung", "Einwohner", "Sterblichkeitsrate" in eine Suchmaschine im Internet einzugeben. Dazu können die Menschen alles bei Google finden und nachlesen. Diejenigen, die sich mit dieser Frage befassen, sollten das zumindest gelesen haben. Es gibt dort 9,9 Millionen Einwohner, von denen 4 Millionen nicht versorgt werden können, von denen 4 Millionen von Hunger bedroht und von medizinischer Versorgung ausgeschlossen sind und deren Lebenserwartung unter 50 Jahre liegt. 44 Prozent der Bevölkerung ist unter 14 Jahre alt. Wer sich die Leistungen von "Ärzte ohne Grenzen", der SOS-Kinderdörfer oder CARE anguckt, die trotzdem in diesem Gebiet arbeiten, muss größte Hochachtung vor den NGOs, den Entwicklungshelfern und denen haben, die sich dort für die Menschen einsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben hier gemeinsam ein Mandat beschlossen, um wenigstens die Grundversorgung in einem geringen Umfang sicherstellen zu können. Wir sind nicht in dem Land. Herr van Aken, Sie sagen die Unwahrheit - Sie sagen bewusst die Unwahrheit -, wenn Sie ausführen, dass wir uns ausschließlich militärisch engagieren. Wir sind es, die für Somalia Polizisten ausbilden, weil es grundsätzlich notwendig ist, dass ein Staat auch für Sicherheit und Ordnung sorgt, zum Beispiel die TFG, die derzeitige Übergangsregierung. Wir können nicht akzeptieren - das ist vollkommen klar -, dass diese Regierung jetzt aufgrund des Einmarsches von Kenia wichtige Einrichtungen geschlossen hat, gerade die SOS-Kinder- und Frauenklinik in dem Flüchtlingslager Badbado. 5 000 Flüchtlinge sind dort unversorgt. Da finden auch auf diplomatischer Ebene Gespräche statt. Es ist unverantwortlich, solche Dinge auf dem offenen Markt auszutragen. Wenn Sie sich die Informationen des Außenministeriums ansehen, erkennen Sie: Es geht darüber hinaus. Unser Max-Planck-Institut ist dabei, den Entwurf für eine Verfassung mit den Menschen im Land zu erarbeiten. Wir sind es, die Teile von AMISOM unterstützt haben. Das heißt, wir arbeiten mit an den begleitenden Maßnahmen, um wieder zu Rechtsstaatlichkeit zu kommen. Jetzt erfahren wir: 500 000 Flüchtlinge aus Somalia sind nach Dadaab gegangen, und seit dem 15. November ist dort Cholera ausgebrochen. Wir wissen nichts über die Situation in den Flüchtlingslagern in Somalia, weil die Rebellen dort, wo sie noch die Macht haben, keinen Zugang gewähren. Dort findet das Sterben unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wir kennen aber Zahlen, die besagen, dass dort in etwa jedes fünfte Kind das dritte Lebensjahr nicht erreicht, weil es unter Hunger, unter einem Mangel an sauberem Wasser und Ähnlichem zu leiden hat. Deshalb ist es notwendig, nicht nur Atalanta, sondern auch die begleitenden Maßnahmen zu stärken. Deshalb ist es richtig, dass in diesem Zusammenhang das Entwicklungsministerium sagt: Wir versuchen punktuell, fragilen Staaten entsprechend zu helfen. Das geschieht ja bei Somaliland. Dort hat man eine funktionierende Übergangsregierung, die Menschen aus Somalia können sich orientieren und erkennen, dass man, wenn man mit den Rebellen nicht zusammenarbeitet, eine Perspektive hat. Herr van Aken, die Art und Weise, wie Sie hier auftreten, ist für mich militante Menschenverachtung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Karin Binder [DIE LINKE]: Militant sind doch wohl Sie!) und keine Rücksichtnahme auf diejenigen, die keine Chance haben, sich selbst zu helfen, sondern die auf die Weltgemeinschaft angewiesen sind, damit sie im Kampf ums Überleben unterstützt werden. Ich bitte die große Mehrheit dieses Hauses, diesem Antrag zuzustimmen. Ich habe eine weitere Bitte an die Grünen. Die Grünen haben ja einen Entschließungsantrag vorgelegt. Ich möchte Sie bitten, mit den anderen Fraktionen zu reden, bevor Sie einen solchen Entschließungsantrag vorlegen. Ich sehe in diesem Entschließungsantrag sehr viele gute Ansätze; ich könnte sie Punkt für Punkt zitieren. Ich glaube, gerade die Stabilisierung Somalias ist ein Thema, an dem wir gemeinsam arbeiten können, weil es viele Gemeinsamkeiten gibt. Die wenigen trennenden Punkte sollten beiseitegeschoben werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf kommen wir zurück!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Gehrcke das Wort. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Schönen Dank, Herr Präsident. - Ich weiß, Sie wollen abstimmen; es ist ja auch das Recht und die Verpflichtung des Parlaments, abzustimmen. Ich möchte nicht stehen lassen, dass meinem Kollegen van Aken "militante Menschenverachtung" vorgehalten wird. (Beifall bei der LINKEN) Ich bitte Sie: Überlegen Sie sich einmal, was Sie hier ausführen. Sie können die Güte, die Korrektheit unserer Konzepte bezweifeln. Sie können zur Kenntnis nehmen, dass wir selber darüber nachdenken, was möglich und was nicht möglich ist; dass wir skeptisch sind, ob es wirklich so ist, dass nicht Militär, sondern zivile Hilfe und die politische Auseinandersetzung und Dialog die Probleme lösen. Aber eines können Sie nicht machen: Sie können uns nicht vorhalten, dass irgendjemand bei uns menschenverachtend ist. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Menschenverachtend sind immer Krieg und Kriegseinsätze; das ist die Wahrheit. Wenn wir uns in der Auseinandersetzung über die beste Lösung quälen, sollten Sie uns dabei unterstützen und uns nicht solche Vorhaltungen machen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Fischer, bitte. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Gehrcke, was mich bestürzt, ist, dass es angesichts der Bilder von sterbenden Kindern in den Flüchtlingslagern, die wir sehen, möglich ist, auszublenden, was notwendig ist, um Hilfstransporte durchzusetzen - und das bezeichne ich so, wie ich es vorhin getan habe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7996, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/7742 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist offensichtlich erfolgt. Dann eröffne ich die Abstimmung. Die obligatorische Frage: Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.2 Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen; denn wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/8014. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 a bis d auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Private Sicherheitsfirmen umfassend regulieren und zertifizieren - Drucksache 17/7640 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regulierung privater Militär- und Sicherheitsfirmen - Drucksachen 17/4573, 17/6780 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren - Drucksachen 17/4198, 17/7998 - Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Dr. Rolf Mützenich Dr. Bijan Djir-Sarai Jan van Aken Kerstin Müller (Köln) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (12. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Ratifizierung der "Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern" der Generalversammlung der Vereinten Nationen - Drucksachen 17/4663, 17/5799 - Berichterstattung: Abgeordnete Henning Otte Michael Groschek Joachim Spatz Paul Schäfer (Köln) Katja Keul Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um die Fortsetzung des Atalanta-Einsatzes hat gerade noch einmal deutlich gemacht, dass wir uns stärker als bisher mit der Tätigkeit privater Sicherheitsfirmen beschäftigen müssen. Die Bundesregierung empfiehlt mittlerweile deutschen Reedereien, ihre Handelsschiffe durch private Sicherheitsteams schützen zu lassen, und kündigt dabei ein Zertifizierungssystem an, das die Seetauglichkeit der Dienstleistung absichern soll. Damit widerspricht sie ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage, in der sie immer noch behauptet, es gebe grundsätzlich keinen Regelungsbedarf in diesem Bereich. Derzeit gibt es in Deutschland über 3 000 Unternehmen des Bewachungsgewerbes. Wer hier ein solches Unternehmen anmelden will, muss lediglich die erforderlichen Mittel nachweisen und eine Unterrichtung der Industrie- und Handelskammer über sich ergehen lassen. Eine Prüfung wird nicht verlangt. Damit gehört Deutschland in Europa zu den Schlusslichtern, was die Zulassungshürden in diesem Gewerbe angeht. Selbst der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft hält diese Situation mittlerweile für untragbar. Allein die FDP ist immer noch der Auffassung, das sei alles ausreichend, und verhindert damit ein fraktionsübergreifendes Vorgehen. Wir fordern mit unserem Antrag strengere Anforderungen an die Zulassung von Sicherheitsfirmen, unabhängig davon, ob sie ihre Tätigkeiten im Inland oder im Ausland anbieten. Die Tätigkeit deutscher Sicherheitsfirmen im Ausland möchte die Bundesregierung nicht regulieren, aus Angst, damit erst Interesse an diesem Geschäftsfeld zu wecken. Das ist Vogel-Strauß-Politik nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir können aber nicht abwarten, bis sich dieses unregulierte Geschäftsfeld im Graubereich von selbst etabliert. Erst im letzten Jahr hat uns der Fall der Firma Asgaard beschäftigt, die mit einem somalischen Warlord vertraglich vereinbarte, seine Kämpfer auszubilden und weitere militärische Dienstleistungen zu erbringen. Glücklicherweise gilt im Falle Somalias ein Embargo, gegen das die Firma auf diese Weise verstoßen hatte. Nur auf dieser Grundlage konnte die Staatsanwaltschaft Münster strafrechtliche Ermittlungen aufnehmen. Ohne dieses Embargo hätte der deutsche Staat keine Handhabe gegenüber der Firma gehabt. Wir fordern mit unserem heutigen Antrag, die Erbringung von Sicherheitsleistungen im Ausland an die strengen Genehmigungsvoraussetzungen des Außenwirtschaftsgesetzes für Rüstungsexporte zu binden. Die Kriterien der Rüstungsexportrichtlinien müssen nicht nur für die Waffe selbst gelten, sondern auch für die Hand, die die Waffe führt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit dem Antrag der SPD stimmen wir in vielen Punkten überein. Probleme habe ich allerdings mit dem unbestimmten und weiten Begriff der "Militärdienstleister". Hier muss eine klare Linie gezogen werden. Der Kernbereich militärischen Handelns ist nicht zu regulieren, sondern muss Privaten schlicht verboten sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) Weder Kampfhandlungen noch Ausbildung von Streitkräften gehören als Aufgabe in private Hände. Gleiches gilt für den Besitz und die Nutzung von Kriegswaffen. Da uns diese rote Linie im Antrag der SPD nicht deutlich genug ist, werden wir uns an dieser Stelle enthalten. Einig sind wir uns in der Forderung nach einer transparenten Übersicht über die in Deutschland ansässigen Sicherheitsfirmen. Eine Registrierungspflicht ist dafür unabdingbar. Auch die Forderung nach internationalen verbindlichen Normen teilen wir mit der SPD. Auf internationaler Ebene tritt die Bundesregierung leider auf die Bremse. Es ist beschämend, dass Deutschland sich den Verhandlungen im UN-Menschenrechtsrat über die Regulierung privater Sicherheitsfirmen verweigert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn Sie meinen, dass das nicht das richtige Forum ist, dann zeigen Sie wenigstens anderswo Initiative, anstatt einfach gar nichts zu tun. Die Regierung unterstützt nicht einmal den freiwilligen Verhaltenskodex der internationalen Sicherheitsbranche. Das Auswärtige Amt hat weltweit über 140 Sicherheitsfirmen unter Vertrag. Auf die Unterzeichnung dieser Selbstverpflichtung wird bei der Auftragsvergabe aber kein Wert gelegt. Dabei hat sich die Bundesrepublik im Dokument von Montreux vom September 2008 sogar verpflichtet, innerstaatliches Recht zur effektiven Bindung privater Sicherheitsfirmen an das humanitäre Völkerrecht zu erlassen. Auch das Europäische Parlament hat bereits konkrete Vorschläge unterbreitet. Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach erklärt, dass die Europäische Union auf dem Gebiet des Sicherheitsgewerbes auch selbst tätig werden kann. Gehen Sie endlich voran, und legen Sie konkrete Vorschläge vor, bevor es andere tun! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben dieses Thema nicht umsonst bereits in der zweiten Legislaturperiode auf der Tagesordnung. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat es im Bereich der Sicherheitspolitik gravierende Änderungen gegeben, nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch im gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Bereich. All diese Entwicklungen bestimmen die Sicherheitspolitik. Wir stehen außerdem vor außerordentlich gravierenden Achsverschiebungen, die auch Auswirkungen auf unsere strategischen Koordinaten haben. Unsere strategischen Sicherheitspartner - allen voran Frankreich, die EU-Länder und die Vereinigten Staaten von Amerika - sind bislang immer auch unsere strategischen Handelspartner gewesen. Wenn wir jetzt aber auf Schwellenländer oder auf China schauen, stellen wir fest, dass sich in den letzten zehn Jahren der Handel mit deutschen Firmen verfünffacht hat. China ist mittlerweile unser drittwichtigster Handelspartner. Wir blicken also in eine Zukunft, in der unsere strategischen sicherheitspolitischen Interessen und unsere Handelsinteressen möglicherweise erstmals auseinanderklaffen können. Mit zunehmendem Einfluss von China, Indien und einigen anderen Staaten ergibt sich eine Gleichgewichtsverschiebung, die nach neuer Balance strebt. Dabei knirschen und knarren einige Achsen. Sie knarren und knirschen, weil wir im Umbruch sind. Unser wichtigster Partner, die Vereinigten Staaten von Amerika, orientiert sich verstärkt in den pazifischen Raum. Die Europäische Union erarbeitet sich zurzeit außenpolitische Handlungsfähigkeit, ist aber genauso wie die Vereinigten Staaten von Amerika momentan vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Finanzkrise hält uns in Atem. Diese Verschiebungen und finanziellen Zwänge haben auch Auswirkungen auf unsere Sicherheitspolitik. Der Verteidigungshaushalt der USA wird nach dem Scheitern des Super Committees - verteilt über die nächsten zehn Jahre - um 950 Milliarden Dollar gekürzt. In Afghanistan und im Irak setzten die USA parallel zu staatlichen Sicherheitskräften bereits massiv private Sicherheitsunternehmen ein, weil ihre staatlichen Sicherheitskräfte überdehnt waren. Ich sage ganz offen: Wir von der Union stehen zum staatlichen Gewaltmonopol. Auch wir Deutsche reformieren unsere staatlichen Sicherheitskräfte, auch wir müssen einerseits sparen und zugleich verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik gewährleisten. Unsere Bundeswehr steht vor der größten Reform ihrer Geschichte, unsere Länderpolizeien sind immer stärker in der Extremismusabwehr eingebunden. Für uns gilt deshalb das staatliche Gewaltmonopol als unverzichtbar. Aber - in diesem Punkt muss ich den Antragstellern recht geben -: Vor allem international ist ein Trend zu mehr Privatisierung erkennbar. Angesichts begrenzter staatlicher Ressourcen, fortschreitender Spezialisierung und Technologisierung werden wir - das beobachten wir international sehr genau - eine erhöhte Nachfrage nach Leistungen privater Sicherheitsdienste zu verzeichnen haben. Gerade wir von der Union müssen die Entwicklung vor allem unter dem Aspekt betrachten, dass wir Herr des staatlichen Gewaltmonopols bleiben. Schauen wir einmal auf unsere Seewege. Die letzte Debatte hat uns gezeigt: Sichere Seewege sind für unser Land als Welthandelsnation unverzichtbar. Piraten am Horn von Afrika - über die Ursachen haben wir schon debattiert - dehnen ihren Aktionsradius weiter aus. Das ist ein Problem, das uns intensiv in Mitleidenschaft zieht. Eine Bewachung einzelner Schiffe durch Bundespolizisten oder die Bundeswehr ist auch weiterhin nicht machbar. Wir stellen fest: Mehr und mehr deutsche Reeder greifen deshalb schon heute auf den Schutz privater Sicherheitskräfte zurück. Hier besteht Handlungsbedarf. Es gibt eine weitere Herausforderung, die in Ihren Anträgen nicht deutlich wird, nämlich dass deutsche Soldaten im Ausland mehr und mehr mit privaten Sicherheits- und Militärunternehmen der Partner kooperieren werden. In Afghanistan und im Irak haben die USA private Sicherheitskräfte eingesetzt. Das ist ein Trend, der sich auch künftig fortsetzen wird. Das - wir wissen es - hat nicht nur positive Konsequenzen. Ich ziehe für unsere Fraktion zwei Folgerungen: Erstens. Wir brauchen eine Regelung darüber, wie wir vorgehen, wenn deutsche Firmen im Ausland auf private Sicherheits- und Militärunternehmen zurückgreifen. Zweitens. Wir haben einen Regelungsbedarf - den müssen wir definieren - für deutsche staatliche Sicherheitskräfte im Ausland, wenn unsere Sicherheitskräfte auf private Unternehmen der Partner statt auf staatliche Kräfte treffen. Dies ist übrigens in einer Anhörung, die ich im Juni dieses Jahres zusammen mit dem Koalitionspartner gemacht habe, von fünf teilnehmenden Ministerien einvernehmlich bestätigt worden. Die Anträge der Opposition sind in diesem Bereich nicht ausreichend. Wir werden sie deshalb ablehnen. Ich halte deshalb fest: Dort, wo sich Staaten mit ihren Sicherheitskräften zurückziehen oder nichtstaatliche Unternehmen einbinden, sehen wir als Union einen Handlungsbedarf. Auch wenn wir Deutsche das staatliche Gewaltmonopol stützen und fördern, ist das international nicht immer der Fall. Das Problem ist allerdings wesentlich komplexer, als in den Anträgen dargestellt. Wenn Staaten ihre Aufgaben einschränken, sie aufgrund von Haushaltszwängen auch einschränken müssen, dann muss man über die Konsequenzen und Alternativen nachdenken dürfen. Ich sage abschließend: Wir von der Union teilen die Auffassung, dass die Behandlung des Themas private Sicherheits- und Militärunternehmen drängend ist. Dazu hatten wir bereits einen Runden Tisch. Ich versichere Ihnen, wir bleiben am Thema dran. Ich schlage eine Anhörung im zuständigen Unterausschuss dazu vor. Wir hoffen auf Bewegung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der vorhergehenden namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung "Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta ..." - ich verkürze, es ist ein viele Zeilen langer Titel - mitteilen: Abgegebene Stimmen 547. Mit Ja haben gestimmt 472, mit Nein haben gestimmt 63, Enthaltungen 12. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 547; davon ja: 472 nein: 63 enthalten: 12 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Gerd Bollmann Klaus Brandner Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Manfred Nink Thomas Oppermann Aydan Özoðuz Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen-Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Priska Hinz (Herborn) Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Katja Keul Ute Koczy Tom Koenigs Oliver Krischer Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Wolfgang Neškovic Thomas Nord Petra Pau Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer (Köln) Dr. Ilja Seifert Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bettina Herlitzius Monika Lazar Lisa Paus Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Petra Hinz (Essen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Katja Dörner Dr. Anton Hofreiter Uwe Kekeritz Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Agnes Malczak Beate Müller-Gemmeke Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Nun erteile ich dem Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Rolf Mützenich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es besteht im Deutschen Bundestag - ich hoffe, auch bei der Bundesregierung - Einvernehmen, dass wir es hier mit einem Thema zu tun haben, bei dem es weiteren Handlungsbedarf gibt. Wir müssen offen darüber diskutieren. Das darf nicht in einer Nische des Ungefähren bleiben. Ich glaube insbesondere, dass weitergehende Informationen dringend notwendig sind. Wir haben mittlerweile - das hat der Kollege Kiesewetter hier beschrieben - einen Trend in der Sicherheitspolitik, der zunehmend neue Facetten beinhaltet. Insbesondere treten offensichtlich neue, private Akteure auf, die einer großen Nachfrage von Staaten - offensichtlich aber auch von privaten Gewaltakteuren - nachkommen. Ich glaube, wenn wir eine verantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik machen wollen, sollten wir uns im Deutschen Bundestag schon Gedanken darüber machen, wie wir bei diesem Thema entsprechende Regelungen einführen können. Ich will einen zweiten Punkt benennen - auch er sollte der Bundesregierung Sorge machen -: Diese Akteure höhlen das staatliche Gewaltmonopol aus. Es handelt sich dabei aus meiner Sicht - neben anderen Bereichen - um einen Eckpfeiler der europäischen Friedensordnung, der im Grunde genommen dieses Europa so einzigartig gemacht hat. Schlimme Erfahrungen haben zu der Erkenntnis geführt, das staatliche Gewaltmonopol - dies ist auch gelungen - im Innern, aber auch nach außen hin zu sichern. Das wird möglicherweise durch diesen internationalen Trend mehr und mehr ausgehöhlt. Deswegen ist es, glaube ich, die Aufgabe von Politik, sich insbesondere mit diesen Herausforderungen zu beschäftigen und nicht nebenher zu erwähnen, dass es keine Rolle spiele. Genau das ist, glaube ich, die Frage, welche heute insbesondere die Bundesregierung umtreiben muss. Die Antwort auf die Große Anfrage der Grünen hat doch gezeigt, dass zwar einerseits an der einen oder anderen Stelle gesagt wird, dass es Handlungsbedarf gibt, wir andererseits im Grunde genommen aber keine Vorschläge dazu haben. Wir beteiligen uns nicht an einer Debatte, die unbedingt notwendig ist. Ich bin der festen Überzeugung: Dieser Bereich ist zu wenig kontrolliert. Wir wissen zu wenig darüber. Weil er global organisiert ist, müssen wir versuchen, nicht nur national zu handeln, sondern global letztlich unsere Vorschläge in die Debatte einzuführen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deswegen haben wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, schon vor zehn Monaten einen Antrag vorgelegt - nachdem es bereits in der letzten Legislaturperiode einen Antrag dazu gegeben hatte -, in dem wir uns mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und auch Vorschläge unterbreitet haben. Ich hatte schon ein wenig die Hoffnung - nachdem wir in den vergangenen Monaten mit Herrn Kiesewetter, aber auch mit anderen Kolleginnen und Kollegen gesprochen hatten; Herr Mißfelder hat in der letzten Woche, als wir über Atalanta sprachen, gerade auf die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols hingewiesen -, dass wir zu einer gemeinsamen Lösung im deutschen Parlament kommen würden. Das ist nicht gelungen. Ich bedauere das. Auch bin ich letztlich sehr enttäuscht darüber. Herr Kiesewetter, wenn ich Ihre Rede richtig verstanden habe, war sie weniger ein Appell an die Fraktionen auf der linken Seite, sondern offensichtlich mehr an Ihren Koalitionspartner, zumindest eine gewisse Bewegung zu unternehmen. Wir unterstützen Sie darin. Ich will auf den Antrag hinweisen, der zwischen nationalem und internationalem Handlungsbereich unterscheidet. Wir sprechen von einer "Registrierungspflicht für private Sicherheitsfirmen und Militärdienstleister". Ich glaube, das ist dringend notwendig, weil wir zu wenig darüber wissen, was sich in Deutschland und darüber hinaus tut. Wir haben über ein "Lizenzierungssystem für militärische Dienstleistungen" gesprochen, denn das ist ein wichtiger Punkt, der in der Debatte, die der Staatssekretär Otto im Hinblick auf die maritime Begleitung angestrebt hat, offensichtlich eine Rolle spielt. Wir wollen hier im Deutschen Bundestag jährliche Berichte diskutieren. Wir wollen auch eine Offenlegung von entsprechenden Verträgen der Bundesregierung mit privaten Sicherheitsfirmen, die über eine bestimmte Summe hinausgehen, damit der Deutsche Bundestag darüber Bescheid weiß. Wir haben Sie zu all dem in unserem Antrag aufgefordert. Frau Keul, wenn es von Ihnen oder auch von anderen Kritik gegeben hätte, dann wären wir immer dazu bereit gewesen, diesen Antrag zu verändern; stattdessen führen Sie sozusagen auf den letzten Metern neue Anträge in die Debatte ein. Wir haben ebenso für den internationalen Bereich Forderungen aufgestellt. Wir haben gesagt, dass die Ratifizierung der internationalen Konvention dringend notwendig ist, weil es um ein internationales Handlungsfeld geht, auf dem es internationaler Anstrengungen bedarf. Wir wollen aber gleichzeitig eine Konkretisierung der Konvention und langfristig eine eigenständige völkerrechtliche Regelung. Die Umsetzung all dieser Forderungen wäre dringend notwendig. Sie haben die Punkte in der Antwort auf die Große Anfrage angesprochen. Der Kollege Hoyer möge es mir - bei aller Sympathie und allen guten Wünschen für die weitere Arbeit - verzeihen, dass ich ihn damit konfrontiere: Ich bin schon ein wenig enttäuscht, dass die Bundesregierung auf die Frage, inwiefern sie sich international daran beteiligt, diesen Verhaltenskodex nicht nur zu ratifizieren, sondern ihn auch auszuarbeiten, geantwortet hat - hier zitiere ich aus der Antwort auf die Große Anfrage -: Die Bundesregierung hat sich nicht aktiv bei der Ausarbeitung des Verhaltenskodex engagiert, diesen Prozess aber ... beobachtet. Herr Kollege Hoyer, ich finde, das ist zu wenig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Bei diesem Phänomen, das nicht nur für Sie von der Bundesregierung, sondern auch für das Parlament im Hinblick auf die internationale Situation eine Herausforderung darstellt, hilft es nicht weiter, nur zu beobachten. Wir müssen hier gestalten. Die Bundesregierung hätte das tun können. Sie sind jetzt Mitglied im Sicherheitsrat. Sie hätten die Initiative an sich ziehen können. Sie hätten in Genf bei der Lösung dieser Fragen eine wichtige Rolle spielen können. Leider kam nichts. Das hat auch der Bundesaußenminister offenbart, als wir ihn gestern im Auswärtigen Ausschuss gefragt haben: Was passiert denn eigentlich in diesem Bereich? Er wusste keine Antwort. Ich finde das schwierig; ich finde das schlecht für die deutsche Außenpolitik. Ich hoffe, dass in nächster Zukunft etwas getan wird, nicht nur im Rahmen des Sicherheitsrats, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union; auch hier ist ein Handlungsfeld gegeben. Die Regelungen sind dringend notwendig, weil die Herausforderungen für Deutschland, aber auch für die internationale Gemeinschaft sehr groß sind. Deswegen werden auch wir, Frau Kollegin Keul, uns nicht entmutigen lassen; wir werden weiterarbeiten. Herr Kiesewetter, ich warte schon mit Spannung darauf, wie Sie in dieser Legislaturperiode mit Ihrem Koalitionspartner - wenn Sie wollen, auch mit uns; wir wären dabei - eine gemeinsame Regelung vorlegen wollen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Bijan Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte um private und militärische Sicherheitsunternehmen ist in den letzten Jahren besonders aufgrund der internationalen Berichterstattung wieder ins Rollen gekommen. Das Unternehmen Blackwater Worldwide dürfte allen Kollegen ein einschlägiger Begriff sein. Auch mir sind die fragwürdigen Methoden dieses Unternehmens unangenehm aufgefallen. Die Schlagzeilen, die der Einsatz dieses Unternehmens gemacht hat, haben zu einer starken Verunsicherung in der Bevölkerung sowie bei Regierungen und Parlamenten geführt. Unkontrollierte Handlungen von privaten und militärischen Sicherheitsunternehmen in jedem Fall zu verhindern, ist daher das große Thema, das große Ziel. Daher sehe ich es genauso wie Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir bei diesem Thema gar nicht so weit auseinanderliegen: Niemand will, dass die Sicherheit in nicht stabilen Ländern oder Regionen durch solche Tätigkeiten zusätzlich bedroht wird. Trotzdem kann ich den vorliegenden Anträgen an dieser Stelle nicht mehr als eine gute Intention abgewinnen. Problematisch sind mehrere rechtliche wie auch tatsächliche Aspekte. Ganz zu Beginn stellt sich die Frage, wie überhaupt private und militärische Sicherheitsunternehmen in Zukunft verbindlich definiert werden. In den meisten Fällen ist eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeitsfelder betroffen, die sogar im sogenannten Montreux-Dokument nicht abschließend aufgeführt werden. Laut Montreux-Dokument werden zivile und militärische Aktivitäten sogar auf einer Ebene angesiedelt. Es kann nicht sein, dass sogar Unternehmen, die zivile Hilfstätigkeiten ausführen, unter die Rubrik "privates und militärisches Sicherheitsunternehmen" fallen, nur weil sie für eine Sicherheitsbehörde arbeiten. In Bezug auf die nationale Ebene möchte ich erwähnen, dass deutsche Unternehmen im Ausland für die Bundeswehr ausschließlich logistische und technische Aufgaben übernommen sowie nichtmilitärische Überwachung durchgeführt haben. Auch in Zukunft sind Einsätze von privaten und militärischen Sicherheitsunternehmen nicht vorgesehen. Das Gewaltmonopol soll und muss daher beim Staat bleiben; so sieht das übrigens auch die Bundesregierung. Des Weiteren gibt es keine Kenntnisse darüber, dass deutsche Sicherheitsunternehmen bislang militärische Leistungen im Ausland erbracht haben. Ich weiß nicht, wo Sie ihre konkreten Beispiele herholen. (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Das wird auch so bleiben!) - Herr Kollege, das habe ich ja auch gesagt. - Aus diesem Grunde ist die Diskussion zumindest auf nationaler Ebene derzeit nicht zielführend. Die Regulierung sorgt zum jetzigen Zeitpunkt nur für eines, nämlich für mehr Bürokratie. Im schlimmsten Fall könnte durch Zertifizierung und Regulierung sogar ein Anreiz für Unternehmen geschaffen werden, sich in diesem Bereich erst recht zu engagieren. Das ist mit Sicherheit nicht wünschenswert, und das will auch niemand in diesem Haus. (Beifall bei der FDP) Lässt man diese beiden großen Punkte weg, bleibt immer noch die Frage, wie die Arbeit dieser Unternehmen im Ausland überhaupt überprüft werden soll. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) Das stelle ich mir ebenfalls sehr schwierig vor, wenn es nicht sogar unmöglich ist. Auf europäischer Ebene reichen zum heutigen Zeitpunkt entsprechende Vorschriften des Sanktionsrechts, des Gewerberechts und des Außenwirtschaftsrechts völlig aus, um Gefahren durch militärische Sicherheitsunternehmen entgegenzutreten. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Johannes Selle [CDU/CSU]) Vor einigen Monaten ist ein weiterer Aspekt dieses Themas näher diskutiert worden: Wie kann im maritimen Bereich stärker mit privaten und militärischen Sicherheitsunternehmen zusammengearbeitet werden, um das sehr hartnäckige Problem der Piraterie zu lösen? Die Bundesregierung überprüft in diesem Zusammenhang derzeit mögliche Regelungen zur Zertifizierung von Unternehmen, die für Sicherheit auf deutschen Schiffen sorgen. Das ist ebenfalls eine interessante Diskussion, die ein selbstbewusstes Parlament zum gegebenen Zeitpunkt führen muss. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es fügt sich in der Tat gut, dass wir die Debatte über private Sicherheitsdienstleister im Anschluss an die Debatte über das Mandat für die Operation Atalanta diskutieren. Damit ist klargestellt: Wir diskutieren nicht im luftleeren Raum, sondern es geht um sehr praktische Dinge. Am Horn von Afrika wird seit Jahren versucht, das Problem der Piraterie mit militärischen Mitteln in den Griff zu bekommen. Ein durchschlagender Erfolg ist das nicht. Jetzt sollen private Sicherheitsfirmen Abhilfe schaffen, die man als Wach- und Begleitschutz einsetzen will. Das folgt der sattsam bekannten Logik, Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen. Das Problem wird dabei nicht gelöst. Was aber die Gewaltlogik im Fall der Privatisierung angeht, haben wir das besondere Problem, zu klären, wie die Wahrung rechtlicher Normen, klare Verantwortlichkeiten sowie die Vermeidung unkontrollierbarer Eskalation möglich sein sollen. Die Befürworter - oder zumindest jene, die sagen, es geht nicht anders, als das staatliche Gewaltmonopol aufzuweichen - führen ins Feld, man wolle die Privaten klaren Regeln unterwerfen. Aber ja doch: Auf dem Papier dürfte vermutlich stehen, welche Waffen eingesetzt werden und welche Vorschriften für die Anwendung von Gewalt einzuhalten sind. Solche Papiere, sprich: Verträge, gab es aber auch schon beim Einsatz von Blackwater im Irak und in Afghanistan. Wenn es dann Anwürfe, Klagen gibt, dann wird ein solches Unternehmen kurzerhand dichtgemacht, es löst sich in Luft auf, wird umbenannt und neu gegründet. Blackwater heißt heute Xe Services. Das verweist doch darauf, dass es überhaupt keine Garantien geben wird, dass die rechtlichen Grenzen eingehalten werden und dass es klare Verantwortlichkeiten gibt. Das spricht gegen die Notwendigkeit, solche Gewaltbefugnisse an private Firmen zu übertragen. Die Gefahr, dass ethische, moralische und rechtliche Standards bröckeln, ist riesengroß. Warum sollte man eine Gefahr lostreten, wenn man sie abwenden kann? (Beifall bei der LINKEN) Transparenz ist natürlich sinnvoll. Die öffentliche Registrierung und Zertifizierung von Sicherheitsunternehmen ist nicht von Übel. Wer wollte dem widersprechen? Das fordert die SPD in ihrem Antrag. Abgesehen davon muss man sagen, dass die demokratische Kontrolle in diesem Milieu verdammt schwierig ist. Das zeigt der Blick auf den Rüstungssektor und die Waffengeschäfte. Das ist bei kommerziell ausgerichteten Söldner- oder Sicherheitsfirmen noch schwieriger. Sie haben keine Produktionsstandorte, die man kontrollieren könnte, und überwiegend freie Mitarbeiter mit kleinem Handgepäck. Das tödliche Know-how steckt im Kopf. Entscheidend ist Folgendes - das werden wir in unserem grundsätzlichen Antrag schreiben; darauf kommt es nämlich an -: Erstens. Die Bundeswehr soll keine Aufträge an ausländische Unternehmen wie Xe Services zu militärischen Unterstützungsleistungen vergeben. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Deutschen Firmen soll gesetzlich untersagt werden, Leistungen der Gefechtsunterstützung, der militärischen Beratung und Informationsbeschaffung und der Gewährleistung militärischer Sicherheit zu erbringen. Das sind konkrete Forderungen. Darauf kommt es an; denn noch gibt es keine deutschen Großfirmen - diesbezüglich hat der Kollege Bijan Djir-Sarai recht -, die, wie Dyncorp, solche Dienstleistungen im Ausland anbieten. Noch kann man die Tür also zuhalten, und genau darauf kommt es an. Wir wollen die Tür nicht durch Zertifizierung aufstoßen, sondern wir wollen sie zuhalten. (Beifall bei der LINKEN) Wir wollen auch ein klares Zeichen setzen und die internationale Debatte von Deutschland aus beeinflussen. Klar, das ist kein temporäres Einzelphänomen mehr - das macht das Problem aus -, aber sich jetzt damit einzurichten, das wäre Fatalismus. Da gehen wir nicht mit. Ich glaube, die Frage muss anders beantwortet werden: Ja, wir wollen diese moderne Form des Söldnertums nicht, und ja, wir wollen diese Fehlentwicklung zurückdrehen. (Beifall bei der LINKEN) Es kann doch schlicht und einfach nicht sein, dass Sicherheit nur unter ökonomischen Kostengesichtspunkten gesehen wird. Staaten sind doch keine Diskos, die Türsteher anstellen. Staaten sind auch keine Läden, die ihre Einnahmen vom Wachdienst abholen lassen. (Beifall bei der LINKEN) Im Irak und in Afghanistan wurden einschlägige Erfahrungen gemacht, die von der Politik endlich einmal konsequent verarbeitet werden müssen. Ein letzter Satz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ein erster symbolischer Schritt, wenn Deutschland die Internationale Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern ohne Wenn und Aber umgehend ratifizieren würde. Dazu fordern wir Sie heute auf. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Robert Hochbaum für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Robert Hochbaum (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Anträge, die zumindest teilweise in die richtige Richtung gehen, bei genauerer Betrachtung für uns jedoch leider nicht zustimmungsfähig sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich zunächst auf die Anträge der SPD und der Grünen eingehen. Hier ist unter anderem als Begründung zu lesen, dass die Reduzierung der Bundeswehr zu einer verstärkten Inanspruchnahme privater militärischer Sicherheitsunternehmen führen kann - ich betone: kann - und deshalb eine Zertifizierung notwendig ist. Auch lese ich von umfangreichen Berichten, die gefordert werden. Sie können doch nicht tatsächlich erwarten, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt ein neues bürokratisches Monstrum schaffen. Ein solches fordern Sie ein, wenn Sie es auch nicht wahrhaben wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Natürlich sehen auch wir Handlungsbedarf, jedoch nicht so, wie von Ihnen hier im Einzelnen dargestellt. (Beifall bei der FDP) Es kann doch nicht sein, dass Sie, obwohl wir immer für einen Abbau der Bürokratie kämpfen, an dieser Stelle vehement nach Bürokratie rufen. Wenn wir uns diesem Thema nähern - das müssen wir in naher Zukunft; das haben wir heute schon gehört -, sollten wir gerade darauf besonders achten. Sie begründen Ihren Antrag mit Negativbeispielen aus anderen Staaten. Da stellt sich für mich natürlich die Frage, ob Sie die Unternehmen in Deutschland sozusagen prophylaktisch mit in Haftung nehmen wollen, ob Sie alle erst einmal unter Generalverdacht stellen, um sie dann einer Prüfung zu unterziehen. Meiner Meinung nach ist das nicht der richtige Weg. Was in anderen Ländern schiefgegangen ist, sollte nicht automatisch auf Deutschland übertragen werden. Wir brauchen eigene Lösungen. Ich unterstelle Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, dass Sie es gut gemeint haben. Ich glaube aber nicht, dass Sie der Sache, zumindest in der vorliegenden Form, einen Gefallen getan haben. Wie sieht es denn in Wirklichkeit aus? Wenn es tatsächlich sogenannte schwarze Schafe bei den privaten Sicherheitsunternehmen gibt, werden sich diese sicherlich nicht in Deutschland zertifizieren lassen. Sie agieren dann durch Firmenneugründungen oder Zweitniederlassungen in anderen, problematischen Staaten. Man findet in Ihren Anträgen keine Vorschläge, wie man einer solchen Problematik Herr werden kann. Nur um den Versuch zu unternehmen, dem einen Riegel vorzuschieben, müsste weltweit überwacht und kontrolliert werden. Ganz zu schweigen davon, dass dies nur sehr schwer möglich wäre, müsste verhindert werden, dass die Kosten einer solchen gigantischen Aufgabe ausufern. Letztendlich müsste wieder einmal der deutsche Steuerzahler die Zeche zahlen. Dem können und wollen wir auf gar keinen Fall zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie die Zwischenfrage der Kollegin Keul zulassen? Robert Hochbaum (CDU/CSU): Nein, ein anderes Mal. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist also nicht der Fall. Robert Hochbaum (CDU/CSU): Abschließend lässt sich zu den Anträgen der SPD und der Grünen sagen, dass wir in Deutschland bereits andere Regelungswerke haben, zum Beispiel das EU-Sanktionsrecht, das Gewerberecht oder das Außenwirtschaftsrecht, um falschen oder korrupten Entwicklungen entgegenzuwirken. Diese und andere rechtliche Regelungen sollten wir erst einmal auf ihre Wirksamkeit prüfen. Erst danach sollten wir überlegen, ob wir neue Regelungen brauchen. Nun noch einige Worte zum Antrag der Linken. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der ist gut, oder?) Nicht nur, dass Ihr Antrag - zumindest in der schriftlichen Form - ein wenig lieblos mit kaum einer Begründung daherkommt, er zielt eigentlich darauf ab, ein generelles Verbot von privaten Sicherheitsfirmen im Auslandseinsatz zu erwirken. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Zuruf von der LINKEN: Genau! Das ist richtig so!) Das halten wir für wenig sinnvoll. Sicherlich ist ein Söldnereinsatz in Krisengebieten abzulehnen, (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wo ist denn ein Söldnereinsatz nicht abzulehnen?) aber es gibt heute durchaus sinnvolle Sicherheitspartnerschaften mit privaten Dienstleistern, beispielsweise bei humanitären Einsätzen oder bei der Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte. Es soll sogar zivile Aufbauhelfer geben, die einen Schutz durch solche Sicherheitsfirmen bevorzugen, um nicht zu eng mit militärischen Kräften zu operieren. Also, auch private Dienstleister sorgen somit unter Umständen aktiv für Sicherheit und Frieden. Ebenso ist es wenig zielführend, dieses Thema so verkürzt zu betrachten, wie Sie es getan haben, und nicht detailliert auf die mit Sicherheit wichtigen Probleme und Ursachen einzugehen. Ich kann dazu nur sagen: Thema verfehlt! Wir lehnen auch diesen Antrag ab. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sehr geehrte Damen und Herren, mein Blick geht in Richtung SPD und Grüne. Ich sagte schon zu Beginn meiner Rede: Ihre Anträge, denen wir in der vorliegenden Form nicht zustimmen können, weisen zumindest teilweise in die richtige Richtung. Darum - ich kann hier natürlich nur für die CDU/CSU sprechen - sind die Türen zu weiteren Verhandlungen von unserer Seite nicht verschlossen. Die Messlatte liegt jedoch hoch. Sie liegt, wenn es an der Zeit ist, bei einer kostengünstigen, praktikablen, nicht überbürokratisierten und rechtlich sicheren Lösung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7640 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel "Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7998, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4198 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Was macht die Linke? (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir haben zugestimmt! Wir waren die Ersten, die zugestimmt haben!) - Sorry, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. (Heiterkeit) Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke. Die SPD hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel "Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Ratifizierung der ‚Internationalen Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern' der Generalversammlung der Vereinten Nationen". Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5799, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4663 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-gen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen; abgelehnt haben die Oppositionsfraktionen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation "ALTHEA" zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolu-tionen - Drucksachen 17/7577, 17/7997 - Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Dr. Rainer Stinner Sevim Daðdelen Marieluise Beck (Bremen) - Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/7999 - Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Rainer Stinner (FDP): Frau Präsidentin! Auch nach 16 Jahren Engagement in der Region, um die es nun geht, müssen wir feststellen: Der militärische Einsatz, den wir damals begonnen hatten, war notwendig. Im Rückblick können wir sagen: Er war außerordentlich erfolgreich. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Na ja!) Er hat dazu geführt, dass die grausamen Bilder, die wir alle noch in Erinnerung haben, der Vergangenheit angehören, dass die Situation in Bosnien-Herzegowina wesentlich besser geworden ist und wir jetzt von einem friedlichen Umfeld reden können. Erinnern wir uns daran: Wir hatten ursprünglich über 50 000 Soldaten in der Region. Jetzt sind es noch einige Hundert, vielleicht tausend. Insgesamt sind gegenwärtig nur noch vier deutsche Soldaten in Bosnien-Herzegowina stationiert - nur noch vier. Aber natürlich ist es auch weiterhin wichtig und richtig, dass wir als Europäer in diesem geschundenen Land militärische Präsenz aufrechterhalten, und zwar aus symbolischen Gründen. Wir wollen deutlich machen, dass wir nicht gewillt sind, eine Rückkehr in alte Zeiten zuzulassen, dass wir nicht gewillt sind, dass wieder Bürgerkriegssituationen entstehen. Aus diesem Grunde umfasst das Mandat auch die Ermächtigung, dass wir neben den Soldatinnen und Soldaten vor Ort ein Reservebataillon vorhalten - "over the horizon", nennt man das -, das bei Bedarf eingeflogen werden kann, um eventuell notwendige Maßnahmen dort durchzuführen. Das ist völlig richtig; das ist wichtig. Aus diesem Grunde ist auch die Obergrenze des Mandats mit 800 Soldaten völlig richtig. Wir erinnern uns: Ein Bataillon hat circa 600 Leute, mit Unterstützung circa 700 Leute. Das Mandat ist völlig richtig zugeschnitten. Aber natürlich wissen wir alle, dass das nur eine Seite der Medaille ist. Worauf es auch hier wieder ankommt - wir können zu diesem Bereich ähnliche Reden halten wie zuvor -: Es ist uns klar: Das Militär ist nur ein Teil der Problemlösung gewesen. Die wesentliche Problemlösung muss natürlich auch in Bosnien-Herzegowina auf der politischen Ebene erfolgen. Hier sehen wir leider bis zum heutigen Tag nicht die Erfolge, auf die wir alle gewartet haben und die dringend notwendig sind, um das Land zu befrieden, um das Land vor allen Dingen innerlich zu befrieden, um das zu erreichen, was wir ja wollen: im Sinne des europäischen Lebensgefühls gute Nachbarschaft hervorzurufen. Von guter Nachbarschaft ist man bedauerlicherweise in Bosnien-Herzegowina heute nach wie vor meilenweit entfernt. Das bedauern wir außerordentlich. Aus diesem Grunde ist auch weiterhin internationale Unterstützung, internationale Präsenz in diesem Land politisch notwendig. Jetzt kommt routinemäßig, liebe Frau Beck - ich kann es uns beiden nicht ersparen -, unsere Auseinandersetzung über die Rolle des OHR. Ich bin nachhaltig dafür - die Bundesregierung ist es auch -, dass die Rolle des OHR überflüssig geworden ist und deshalb abgeschmolzen werden soll. Wir haben mittlerweile einen europäischen SR, einen europäischen Special Representative, Herrn Sörensen. Er hat seine Arbeit gerade aufgenommen, und ich höre, dass er in der Region sehr gut ankommt und sehr gut angenommen wird, dass er mit dem richtigen Ton, mit der richtigen Intention in die Region hineingeht. Genau das muss die Richtung sein: mit europäischen Instrumenten, mit europäischen Wertehaltungen das Land näher an die Europäische Union zu bringen. (Beifall bei der FDP - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU/CSU klatscht nicht!) Wir alle wissen aber auch: Mit dem Rahmen, den wir geben, sowohl durch die Bereitschaft, militärisch noch präsent zu sein, wenn es denn notwendig ist - zum Glück war das ja schon lange nicht mehr der Fall -, als auch durch die Bereitschaft, politisch flankierend tätig zu sein, können wir nur eine Hilfestellung geben. Die Botschaft an das Land Bosnien-Herzegowina muss ein weiteres Mal lauten: Die Tür nach Europa steht offen. Durch die Tür müsst ihr, muss Bosnien-Herzegowina, selber gehen. Dabei können wir euch nur unterstützen. Aber den Weg müsst ihr selber beschreiten, so schwer er auch sein mag. Wir erleben im Augenblick die Situation, dass Bosnien-Herzegowina anderthalb Jahre nach der Wahl noch keine Regierung hat. Das ist auch in einem anderen Land in Europa der Fall. Natürlich ist das auf Dauer nicht wünschenswert. Deshalb: Da das so ist und wir eine andere Situation nicht erzwingen können - wie sollten wir das auch tun? -, müssen wir versuchen, um eine Regierung herum zu helfen. Das heißt, wir müssen versuchen, an konkreten Projekten zu arbeiten und so Unterstützung zu geben, damit die Lebenswirklichkeit der Menschen und die wirtschaftliche, die gesellschaftliche und die Rechtssituation in Bosnien-Herzegowina verbessert werden, sodass die Leute merken, dass es Fortschritte gibt und diese Fortschritte durch unsere Hilfe zustande kommen. Das betrifft zum Beispiel den Justizdialog und den Aufbau eines Justizwesens. Hier können wir Projekte anstoßen und durchführen, ohne dass wir unbedingt auf eine Regierung - es wäre natürlich besser, wenn es eine gäbe - eingehen müssen. Wir wissen natürlich auch, welche Blockaden es in Bosnien-Herzegowina gibt. Wir sind uns sehr einig - auch wir beide, Frau Beck -, wenn ich sage, dass Herr Dodik ein Störfaktor erster Ordnung ist und dass mittlerweile auch die Kroaten - Herr Covic - alles andere als eine positive Rolle spielen, wenn es darum geht, einen gemeinsamen Staat aufzubauen. Wir sagen aber sehr deutlich, auch hier und heute: Wir werden nicht erlauben, dass hier Desintegrationstendenzen Platz greifen, sondern wir erwarten, dass Bosnien-Herzegowina gemeinsam den Weg nach Europa gehen kann. Andernfalls wird dieser Weg für dieses Land außerordentlich schwierig sein. Es gibt allerdings eine weitere Möglichkeit, mit dieser Situation umzugehen. Wenn es nicht möglich ist, dass Bosnien-Herzegowina die Reformen, die notwendig sind, von sich aus in Angriff nimmt, dann müssen wir dafür sorgen, dass um Bosnien-Herzegowina herum ein Cordon von Staaten entsteht, die schrittweise näher an Europa herankommen. Das Thema Montenegro haben wir diese Woche behandelt. Was Serbien betrifft, gibt es gegenwärtig Schwierigkeiten. Ich gehe zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass wir dem Land am 9. Dezember dieses Jahres in Brüssel nicht den Kandidatenstatus verleihen können. Wir haben den Serben in ganz einfachen, platten Worten gesagt: Wenn sich nichts ändert, ändert sich nichts. - Hier muss an die Serben appelliert werden, dass sie weitere Schritte unternehmen. Wenn sie keine signifikanten Fortschritte machen, dann müssen wir sagen: Liebe Leute, wir können euch diesen Status jetzt noch nicht geben, obwohl wir bereit sind, diesen Weg mit euch gemeinsam zu gehen. Das gilt auch für andere Länder, zum Beispiel für Mazedonien; auch hier müssen wir etwas tun. Ich glaube, diesen Weg sollten wir gehen. Wir müssen das Commitment, das wir 2003 gemeinsam gegeben haben, einhalten und deutlich machen: Der westliche Balkan ist Teil Europas, und er soll Teil einer friedlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Europäischen Union sein. Diesen Weg wollen wir gehen und unterstützen. Ein Beitrag dazu ist die Verlängerung des Mandats, die wir heute beschließen. Meine Fraktion wird der Verlängerung des Mandats heute ein weiteres Mal zustimmen. Schönen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Michael Groschek spricht jetzt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Groschek (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, auch wir werden der Mandatsverlängerung zustimmen. Ein ehemals sehr großes europäisches Militärengagement wird jetzt im Grunde in eine Ausbildungsmission umgewandelt, bei der das Militär nur noch der kleinste Teil, der zu mandatierende Teil ist. Althea ist ein gutes Beispiel für eine funktionierende zivil-militärische Kooperation und ein gutes Beispiel für eine funktionierende Kooperation zwischen NATO und EU und zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der EU. Es war nicht selbstverständlich, dies zu prognostizieren; denken Sie nur an den Beginn der Mission. Aber seit 2004, als durch den Einsatz von 7 000 Militärs aus SFOR EUFOR wurde, ist dieses Mandat einem Wandel unterzogen worden, der noch im letzten Jahr zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Kollegin Beck und dem Kollegen Stinner geführt hat. Vor einem Jahr ging es um die Frage: Rückzug und Wandel - ist das Flucht aus der Verantwortung? Das war jedenfalls - zugespitzt - die Formulierung der Kollegin Beck. Der Vorwurf war, die Darstellung der Beendigungsperspektive in Bezug auf das Mandat sei pure Schönrednerei, weil sie in Deutschland zwar innenpolitisch notwendig, aber angesichts der Sicherheitslage außenpolitisch verantwortungslos sei. Ich glaube, wir sind heute einen Schritt weiter. Die militärische Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina ist durchaus als solide zu bezeichnen. Politisch gibt es wesentlich größere Probleme. Diese hat die CDU/CSU auch auf den Punkt gebracht. In der Sitzung des Verteidigungsausschusses haben die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU sehr deutlich gemacht, dass militärische Präsenz nicht die Ausrede für außenpolitische Orientierungs- und Ratlosigkeit sein darf. Diesen Vorhalt können wir nur teilen. Wir glauben, dass unter anderem auf dem Balkan die Orientierung der deutschen Außenpolitik verloren gegangen ist und dass hier deshalb im Grunde über ein Mandat diskutiert wird, ohne eine klare Orientierung dafür zu haben, was wir jenseits dieser Mandatierung wollen und wie wir die Einladung, die 2003 ausgesprochen wurde - im Hause Europas sind noch Zimmer frei -, in die Tat umsetzen wollen. Hier würden wir uns eine aktivere deutsche außenpolitische Rolle wünschen. Hier können wir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, nur unterstützen, sich in der Koalition durchzusetzen. (Beifall bei der SPD) Seit 2003 gilt: Der Westbalkan gehört zu Europa. Auch Serbien gehört zu Europa, aber Serbien hat eine doppelte Verantwortung: sowohl für Bosnien-Herzegowina als auch für den Kosovo und den Norden des Kosovo. Serbien muss wissen, dass aggressive Rhetorik, Nationalismus und Revanchismus kein Schlüssel für den Beitritt in das Haus Europa sein kann und dass es durch ein solches revanchistisches Verhalten und das Fördern von Nationalismen keine Eintrittskarte für die Europäische Union erhält. Deshalb kann man an Serbien nur appellieren, sich zu besinnen, dass es eine Einheit - auch eine serbische Einheit - nur bei einer europäischen Einheit geben kann. Serbischer Großnationalismus wird sich in Europa nicht durchsetzen. Deshalb brauchen wir eine andere Perspektive in der serbischen Politik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Michael Brand [CDU/CSU] und Dr. Rainer Stinner [FDP]) Das führt dazu, dass wir über die Wölfe im Schafspelz reden müssen. Wir haben unter anderem von General Bühler aktuell gehört, dass manches, was als ethnische Identität dargestellt wird, im Grunde nur eine Verkleidung für Korruption und Mafia ist. (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Der Mann weiß, wovon er redet!) Das muss man dann allerdings schon so präzise benennen, damit deutlich wird, dass vernetzte Sicherheit neben der militärischen Komponente im zivilen Bereich vor allen Dingen eines gewährleisten muss: eine konsequente Strafverfolgung. Das ist die Voraussetzung für ein Sicherheitsgefühl, auf das die Menschen Anspruch haben. Nur wenn es gelingt, nach der militärischen Sicherheit auch juristische und polizeiliche Sicherheit zu gewährleisten, werden wir Erfolg dabei haben, den Menschen das Gefühl zu geben: Der staatliche Aufbau und die Rechtsstaatlichkeit machen Fortschritte. Deshalb abschließend: Ja, die deutsche Außenpolitik bräuchte einen neuen Schwung. Wenn Sie die Debatten von heute Nachmittag Revue passieren lassen, dann erkennen Sie, dass in jeder Debatte ein ähnliches Element vorkam, nämlich die Kritik daran, dass unsere Außenpolitik orientierungslos geworden ist und dass sie eben nicht die klaren Perspektiven bietet, die nottäten. Das gilt auch im Zusammenhang mit Bosnien-Herzegowina und dem westlichen Balkan. Deshalb ermutigen wir Sie von der Union: Machen Sie Ihrem Koalitionspartner Dampf, solange das noch notwendig ist. Es werden andere Zeiten kommen, (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das kann aber lange dauern!) in denen die Außenpolitik nach innen und außen wieder verlässlich und Berechenbarkeit ein Gütesiegel dieser Politik wird. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich auf unsere Verantwortung hinweisen - auch Kollege Stinner hat dies sehr eindringlich getan -, die wir bei dieser Entscheidung haben. Vor 16 Jahren ereignete sich das eigentlich für unmöglich Gehaltene mitten in Europa, nämlich dass wir Krieg und Zerstörung nach so langer Zeit wieder in Europa akzeptieren mussten. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir mussten es nicht akzeptieren, wir haben es akzeptiert!) - Wir wollten es nicht akzeptieren. Dies alles hat trotzdem vor unserer Haustür stattgefunden, und zwar wegen der Unfähigkeit der europäischen Gemeinschaft, dieses Problem in Europa zu lösen. Deshalb muss man natürlich an dieser Stelle sagen, dass auch nach so langer Zeit dem NATO-Einsatz und all denjenigen ein großer Dank gebührt, die überhaupt bereit gewesen sind, vor allem die Amerikaner, die Verantwortung, der wir Europäer allein nicht gerecht geworden sind, zu übernehmen und letztendlich für Frieden und Sicherheit in Europa zu sorgen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Problem und damit auch die größte Herausforderung für die Zukunft sind natürlich, einen dauerhaften Frieden in Europa zu implementieren. Dazu gehört auch diese Region, selbst wenn die Länder im Westbalkan nicht Teil der Europäischen Union sind. Wir müssen sowohl politisch als auch wirtschaftlich dort, wo es notwendig ist, sehr viel Engagement daransetzen. Wir sprechen in diesem Rahmen auch über ein militärisches Mandat, um durch das militärische Engagement deutlich zu machen, dass wir als Europäische Union ein großes Interesse daran haben, diese Probleme vor unserer Haustür - nein, eigentlich in Europa - selbst zu lösen. Es ist seit 1995 sehr viel Erfreuliches passiert. Slowenien ist 2004 Mitglied der EU geworden, Kroatien steht nach dem aktuellen Fortschrittsbericht vor einer Aufnahme. Die Länder des westlichen Balkans, auch Bosnien und Herzegowina, sehen ihre Zukunft eindeutig in Europa. Die EU ist für Bosnien und Herzegowina der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Diese Länder dauerhaft an uns zu binden, ist natürlich ein viel wichtigerer Schritt als das militärische Engagement, auf das wir auch nicht den Schwerpunkt legen, selbst wenn wir hier über ein Mandat der Bundeswehr diskutieren. Es ist hier schon sehr deutlich geworden - auch durch die Beiträge der Vertreter der Koalitionsfraktionen -, dass wir eine politische Lösung anstreben und dass das militärische Engagement nur eine Komponente der größeren politischen Lösung sein soll. Die Operation Althea der EUFOR ist die bislang größte militärische Operation der Europäischen Union. Der Einsatz ist durch das Völkerrecht legitimiert und vom Sicherheitsrat mandatiert. Althea ist ein Einsatz mit großer Verantwortung. Die größte Kontingentstärke der Bundeswehr betrug 1 139 Soldaten. 2007 beschlossen die EU-Verteidigungsminister, die Truppenstärke in vier Stufen von 6 000 Soldaten auf die heutige Gesamtstärke von 2 000 Mann zu verringern, was zunächst einmal eine gute Entwicklung ist. Nichtsdestotrotz, gerade auch aus aktuellem Anlass im Zusammenhang mit anderen Mandaten, bleibt diese Region eine große, auch militärische Herausforderung. Deshalb ist dieses Mandat auch weiterhin notwendig. Ich möchte auch bei dieser nicht einfachen Mission - auch wenn sie nicht vergleichbar ist mit anderen aktuellen Einsätzen der Bundeswehr -, wie es eigentlich immer bei diesen Debatten der Fall sein sollte, den Bundeswehrangehörigen, den Frauen und Männern der deutschen Bundeswehr, gerade jetzt in der Adventszeit herzlich für ihren großen Einsatz danken, den sie im Rahmen dieser EUFOR-Mission leisten. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was tun die Männer und Frauen der Bundeswehr, was tun wir in Bosnien-Herzegowina im Rahmen von Althea? Sie sorgen für die Einhaltung des Friedensvertrages von Dayton. Sie stellen sicher, dass sich internationale Organisationen und NGOs in Bosnien frei bewegen können, um ihre Arbeit zu tun, und sie überwachen die Einhaltung des Rüstungskontrollabkommens. All das sind keine einfachen Aufgaben. Dies entbindet nicht davon, politisch auch weiterhin aktiv zu sein und daran zu arbeiten, dass sich gerade auch im zivilen Bereich Strukturen herausbilden können, die dauerhaft selbst und eigenständig für eine funktionierende Polizei und für Militärstrukturen sorgen können. Dazu gibt es natürlich nach wie vor große offene Fragen, die wir auch diskutieren müssen. Außerhalb dieses Mandats geht es natürlich darum, welche Möglichkeiten die Europäische Union überhaupt hat, dort stabilisierend einzugreifen und auf welche Strukturen und Institutionen man sich überhaupt verlassen kann. Unser Kompass ist dabei klar: Wir übernehmen Verantwortung für Frieden und Sicherheit in Europa und wollen das auch weiterhin tun. Wir arbeiten an einem stabilen und sicheren Bosnien. Wir wollen vor diesem Hintergrund zwar diesen militärischen Beitrag so schnell es geht beenden, aber da er zurzeit noch notwendig ist, wird unsere Fraktion heute für eine Verlängerung dieses Einsatzes stimmen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Marieluise Beck zulassen? Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Nein. Ich bin schon fertig. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es wäre jetzt eine Kurzintervention möglich. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie hat doch gleich noch das Wort!) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, keine Kurzintervention. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann gebe ich der Kollegin Annette Groth für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Annette Groth (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal soll der Einsatz deutscher Streitkräfte in Bosnien verlängert werden. 6,8 Millionen Euro sollen im nächsten Jahr für diesen sinnlosen Einsatz ausgegeben werden. Während andere europäische Staaten ihre Truppen abziehen, will die Bundesregierung ein Mandat für den Einsatz von 800 Soldaten. Dieser Militäreinsatz ist nicht nur sicherheitspolitisch fragwürdig. Viele unabhängige Beobachter meinen sogar, er blockiere geradezu jeglichen politischen Fortschritt. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wer sagt das?) Nehmen Sie sich ein Beispiel an anderen europäischen Staaten! Ziehen Sie endlich die deutschen Truppen vom Balkan ab! (Beifall bei der LINKEN) Die Linke steht im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen für die Beendigung dieses Einsatzes. (Beifall bei der LINKEN) Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist katastrophal. Daran haben auch die deutschen Truppen nichts geändert. Es ist verheerend, welche Signale die deutsche Balkanpolitik aussendet. Ihre völkerrechtswidrige Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo fällt in Bosnien auf fruchtbaren Boden. Mit dieser Anerkennung haben Sie kroatischen, serbischen und bosniakischen Nationalisten in Bosnien geradezu in die Hände gespielt. Die Linke dagegen steht gegen diese völkerrechtswidrige Anerkennungspolitik. (Beifall bei der LINKEN) Diese Politik schürt immer nur neue Konflikte. Mit welchem Recht wollen Sie dem Anspruch der bosnischen Serben oder der serbischen Kosovaren auf einen eigenen Staat entgegentreten, wenn Sie gleichzeitig die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo anerkennen? (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das haben Sie immer noch nicht verstanden!) Es ist auch beschämend, dass die Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts für den sozialen Zusammenhalt von Bosnien-Herzegowina getan hat. Statt beispielsweise einen öffentlichen Dienst in Bosnien zu fördern, der diesen Namen auch verdient, wurde eine Privatisierungspolitik gefördert, von der vor allem die nationalistischen Kräfte aller Seiten profitiert haben. Die Linke steht gegen diese Förderung des Nationalismus. Es ist ein Skandal, dass von den Milliarden an Hilfsgeldern für Bosnien so wenig bei der Bevölkerung ankommt. (Beifall bei der LINKEN) Sie beschwören in Bosnien geradezu das völkerrechtliche Prinzip der territorialen Integrität, welches Sie zugleich im Kosovo mit Füßen treten. Sie warnen vor Separatisten und ethnischen Einzelinteressen in Bosnien und lassen keine Gelegenheit aus, um sich über die UN-Resolution 1244 oder die souveränen Grenzen Serbiens hinwegzusetzen, notfalls auch durch Gewaltanwendung der KFOR oder durch tatkräftige Unterstützung der Polizisten von EULEX. Die Linke steht dagegen für die Verteidigung des Völkerrechts. (Beifall bei der LINKEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Da müssen Sie selber lachen!) Die Linke kämpft gegen Ihre Politik der doppelten Standards, (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Doppelte Standards machen Sie sonst nur gegenüber Israel!) die schon so viel Unheil angerichtet hat. Die Linke ist auch gegen eine Politik der militärischen Lösungen und der Militärprotektorate. Deshalb lehnen wir diesen Bundeswehreinsatz ab. (Beifall bei der LINKEN - Michael Brand [CDU/CSU]: Wissen Sie eigentlich, wie viele Soldaten die Bundeswehr dorthin entsendet?) Während Sie gegenüber Serbien die Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zur Bedingung für einen EU-Beitritt machen, hofieren Sie mutmaßliche Kriegsverbrecher, wie diese Woche im Bundestag den Chef einer kosovarischen Todesschwadron, Xhavit Haliti. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wer war denn eigentlich damals bei Milosevic?) Was wollen Sie den Menschen auf dem Balkan damit signalisieren? Ich komme zum Schluss. (Peter Beyer [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) Die deutsche Balkanpolitik nach dem Prinzip "Teile und herrsche!" ist an Heuchelei nicht zu überbieten. Die Linke will, dass deutsche Außenpolitik endlich wieder Friedenspolitik wird. Setzen Sie dafür ein Zeichen! Ziehen Sie die Bundeswehr aus Bosnien ab! Beenden Sie Ihre Politik der doppelten Standards! Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Marieluise Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte gestatten Sie mir, eine Minute über ein anderes Land zu sprechen, bevor wir zu Bosnien kommen, nämlich über Belarus. Gestern sind in Minsk gegenüber Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljow Todesurteile ergangen, von denen wir nicht wissen, ob sie nicht vielleicht schon heute vollstreckt worden sind - zwei Todesurteile nach völlig zweifelhaften Prozessen nach einem ominösen Anschlag in der U-Bahn im vergangenen Frühjahr, von dem niemand weiß, ob die Spuren nicht eher zum KGB und in den Präsidentenpalast führen als zu diesen beiden Männern. Es gibt niemanden, der irgendeine Verbindung zu diesen beiden jungen Männern hat, die nach zwölf Stunden gestanden haben sollen. Ich möchte zunächst meinem Entsetzen über dieses Urteil Ausdruck verleihen, gegen das keine Revision zugelassen wurde, und außerdem von dieser Stelle für den Deutschen Bundestag Präsident Lukaschenko dringlich auffordern, von den Hinrichtungen abzusehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nun zu Bosnien: Wir sprechen heute über ein Mandat. Auch die Grünen werden der Verlängerung dieses Mandates, das immer mehr auch eine symbolische Funktion bekommt, zustimmen. Ich möchte aber auch auf die Stimmen aus Bosnien selber hinweisen, die uns davor warnen, dass wir zugunsten der innenpolitischen Botschaft, dass wir ein Mandat zu Ende bringen können, darüber hinwegsehen, dass die Situation krisenhafter ist, als wir es manchmal wahrhaben wollen. Das ist in etwa das, was ich schon vor einem Jahr gesagt habe. Der Kosovo zeigt uns, wie schnell in einer Situation, die wir für einigermaßen beruhigt halten, der Konflikt wieder aufbrechen kann. Insofern ist das Vorhalten einer gewissen Zahl militärischer Kräfte durchaus sinnvoll. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Wichtiger aber ist es, über die Politik in dem Land und über das zu sprechen, was notwendig ist. Wir hören ständig, es gehe um vermeintliche Konflikte zwischen drei Ethnien. Das erzählen uns vor allem immer wieder diejenigen, die von genau diesem Narrativ leben: die Führer der nationalistischen Parteien bzw. diejenigen, die nur davon leben, zu reklamieren, dass ihre Ethnie aus Angst vor der anderen Ethnie Schutz durch eine eigene Entität und durch eigene Staatsstrukturen brauche. Diese könnten deshalb niemals akzeptieren, dass es gemeinsame gesamtstaatliche Strukturen geben könnte. Denn das würde bedeuten, dass ihre Ethnie wieder untergebuttert würde und nicht mehr zum Zuge käme. Wir sind gerade in Cadenabbia mit Vertretern dieser Parteien zusammengetroffen. Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, dass wir aufhören müssen, immer wieder denen eine Bühne zu geben, die von genau diesem Narrativ leben. Die Macht dieser selbsternannten ethnischen Führer liegt darin, dass sie Nationalismus propagieren und damit darüber hinweggehen, dass es in Bosnien viele Menschen gibt, die sich nicht ethnisch zuordnen wollen und dies auch nicht können, weil sie gar keiner Ethnie angehören. Ich glaube, wir wären gut beraten, endlich den Kräften unsere Aufmerksamkeit zu schenken, die sich aus dem Würgegriff des Nationalismus befreien wollen, und ihnen zu sagen, dass Europa keine weiteren Grenzen bedeutet, sondern dass es Vielfalt in demokratischen Staaten mit Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger statt ethnischer Zuordnung, verbunden sogar mit dem Recht, sich gar keiner Ethnie oder Religion zuzuordnen, und natürlich auch die Überwindung nationaler Grenzen bedeutet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich habe gestern Vertreter der Initiative K 143 getroffen. Sie heißt K 143, weil sie aus NGOs besteht, die für die 143 bosnischen Kommunen stehen. Ihre Mitglieder interessieren sich nicht mehr für diese Debatte der ethnischen Führer; vielmehr fordern sie den Aufbau kommunaler Strukturen und von Institutionen, die Entscheidungen fällen, wirtschaftliche Entwicklung und den Wiederaufbau der Landwirtschaft und Ausbildungsmöglichkeiten und Perspektiven für ihre Jugend. Sie wollen also eine gesamtstaatliche Funktionalität und keinen ethnischen Nationalismus, verbunden mit dem Zwang, sich zu definieren. Das ist die Zukunft Bosniens. Auf diese jungen Leute sollte die Europäische Union ihr Augenmerk richten und nicht auf die nationalistischen Führer. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Jetzt noch ein Wort zum OHR, weil alle auf diesen Dauerbrenner, die entsprechende Debatte zwischen Herrn Stinner und mir, warten. Es ist richtig, dass die Performance des OHR nicht immer überzeugend ist. Aber es sollte uns doch stutzig machen, dass es gerade die Separatisten, Präsident Dodik und Herr Mitrovic, sind, die die Auflösung des OHR fordern, und nicht die jungen Leute von der Initiative K 143. Genau das sollte uns wirklich stutzig machen. Was haben wir denn noch in der Hand, wenn der OHR nicht mehr existiert, wenn wir - wie es die deutsche Diplomatie anstrebt - ihn "weghauen" und wir dann nichts mehr über die "Bonn Powers" durchsetzen können? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was wollen wir tun, wenn zum Beispiel Herr Dodik, wie angekündigt, ein Referendum durchführt? (Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) Ich warne vor dieser risikoreichen Strategie. Lassen Sie uns nicht etwas "weghauen", bevor wir eine gute und überzeugende Alternative haben. An dem Punkt sind wir noch nicht. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Peter Beyer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz oder auch gerade wegen der Routine, die bei der alljährlichen Debatte über die Verlängerung des Althea-Mandats eingekehrt ist, bleibt es geboten und unsere Aufgabe, die Notwendigkeit der weiteren Beteiligung an diesem Einsatz immer wieder aufs Neue zu hinterfragen und auch neu zu begründen. Denn unser Ziel muss es sein, dass die Operation Althea keine Dauereinrichtung wird. Es sollte absehbar das Jahr kommen, in dem eine weitere Mandatsverlängerung entbehrlich wird und wir uns eine Debatte, wie wir sie heute führen, ersparen können. Staatssekretär Kossendey hat an dieser Stelle vor drei Wochen den sicherheitspolitischen Rahmen für diesen Einsatz ausführlich skizziert und begründet. Das möchte ich hier jetzt nicht wiederholen. Ich erlaube mir einerseits, das bisher Erreichte kurz zu bilanzieren, und andererseits, auch einen Blick nach vorn zu werfen. Welche Situation treffen wir heute also in Bosnien und in Herzegowina an? Was hat die Operation Althea erreicht? Kurz: Wo stehen wir? Um einen sogenannten Frozen Conflict handelt es sich bei dem Konflikt in Bosnien-Herzegowina glücklicherweise nicht. Denn die militärische Karte ist für keine der im Land Einfluss ausübenden Gruppen eine Option. Das ist zu einem erheblichen Anteil ein Erfolg der EU, die sich nachhaltig engagiert und um Krisenbewältigung, Stabilitätstransfer und Konfliktbewältigung gekümmert hat. Dennoch ist die Lage im Land kompliziert, politisch instabil und auch festgefahren. In der Auseinandersetzung zwischen den Gruppen und Lagern dominiert kraftvolle Rhetorik. Der Frieden selbst kann in Bosnien-Herzegowina nur von innen heraus wachsen. So weit ist das Land heute, auch 16 Jahre nach Kriegsende, leider immer noch nicht. Innere Zerrissenheit und ethnische Spannungen gehören nach wie vor nicht der Vergangenheit an. Bis heute konnten über 100 000 Flüchtlinge nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Die Kriegszeit, die ethnischen Säuberungen - ein unschönes Wort -, die Not in den Flüchtlingslagern - all das ist immer noch sehr präsent. Das gesellschaftliche Gefüge in Bosnien-Herzegowina ist noch heute zuweilen sehr schwierig. Das zeigt exemplarisch der bisher gescheiterte Versuch der Akademie der Wissenschaften und Künste in Sarajevo, ein viersprachiges Lehrbuchprojekt voranzubringen, an dem 20 Autoren aus drei verschiedenen Ländern mitarbeiten. Ziel dieses Vorhabens ist es, die wunden Punkte der zuvor unter einem Dach lebenden Völker durch Dialog zu überwinden. Bisher haben die Bildungsministerien der Nachfolgestaaten Jugoslawiens Schulbücher immer nur dann genehmigt, wenn sie ihre eigene völkische Identität bestätigten. Objektive Geschichtsforscher haben es daher nach wie vor schwer, gegen die verbreitete Erhöhung der eigenen Nationalität anzukämpfen. Noch wird Althea also in Bosnien-Herzegowina gebraucht. Auch wenn die Kontingente sehr viel kleiner werden: Die Mission behält eine erhebliche symbolische Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger des Landes. Sie manifestiert das Interesse der Staatengemeinschaft, die Präsenz zeigt und sich engagiert. Meine Damen und Herren, die Frauen und Männer der Bundeswehr erledigen ihre wichtigen Aufgaben sehr gut. Gerade die Bundeswehrangehörigen genießen im Land - das hört man in den Gesprächen immer wieder - einen hervorragenden Ruf. Darauf können und dürfen sie stolz sein, und ihnen gebührt unser aller Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie geht es nun weiter in Bosnien-Herzegowina? Welchen Weg wird das 4,5-Millionen-Einwohner-Land auf dem westlichen Balkan nehmen? Das liegt - wie könnte es anders sein? - zuvörderst in den Kräften vor Ort. Nur sie selbst können wirkliche und nachhaltige Fortschritte erzielen. Wir können sie dabei begleiten. Zukunftsfest müssen sie das Land selbst machen. Die politischen Eliten sind dabei gefordert, eine gemeinsame Haltung zu entwickeln; denn bisher endet die politische Blockade immer erst dann, wenn das Büro des Hohen Repräsentanten eine Entscheidung auferlegt. Diese Praxis stellt keine tragfähige Strategie da. Im Gegenteil: Die politischen Akteure sehen es nur zu gern, wenn ihnen der Hohe Repräsentant die unpopuläre Kompromisssuche abnimmt. Aus unserer Sicht ist und bleibt es daher wünschenswert, dass am Ende des Prozesses die Mitgliedschaft Bosnien-Herzegowinas in der Europäischen Union steht. Man kann allerdings zuweilen Zweifel daran haben, ob die maßgeblichen politischen Kräfte des Landes noch ernsthaft hinter dem Projekt EU-Beitrittsperspektive stehen. Dass der Beitritt allerdings baldmöglichst erfolgen sollte, sehen wir so nicht. Bosnien-Herzegowina muss die Effizienz seiner Strukturen und der bisher komplexen Entscheidungsverfahren erheblich verbessern. Denn am Ende des Tages gelten für Bosnien-Herzegowina wie übrigens für alle anderen EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien: Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei strikter und vollständiger Erfüllung sämtlicher Kriterien. - Das ist die Voraussetzung. Es gilt der Leitsatz: Wer beitritt, muss beitragen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Althea. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7997, den Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/7577 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das noch keine Möglichkeit hatte, seine Stimmkarte abzugeben? - Das ist nicht der Fall. Nachdem nun auch die letzte Urne gefüllt ist, schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.3 Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele Fograscher, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rechtsextremismus vorbeugen - Unsere Demokratie braucht gute politische Bildung und eine starke Bundeszentrale für politische Bildung - Drucksache 17/7943 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. (Unruhe) - Damit das möglich wird, bitte ich all jene, die sich noch mehr für andere Dinge interessieren, den Plenarsaal zu verlassen, all jene, die zuhören wollen, sich zu setzen, und all jene, die miteinander reden wollen, dies anderswo zu tun. Es wäre sehr nett, wenn die Kollegen dort hinten neben der Regierungsbank es ermöglichten, dass hier weitgehend nebengeräuschfrei debattiert werden kann. (Michael Groschek [SPD]: Sie knobeln gerade den Außenministerposten aus!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Daniela Kolbe. (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine spannende Debatte. Es geht um politische Bildung. Man kann auf jeden Fall etwas lernen und wird nicht dümmer. Am Freitag, dem 11. November, hat die letzte Kuratoriumssitzung der Bundeszentrale für politische Bildung stattgefunden, sehr früh am Morgen in der Dependance der Bundeszentrale in Berlin. Wir haben uns über Web- 2.0-Angebote und über die Angebote unterhalten, die die Bundeszentrale für politikferne Schichten anbietet. Die lebendige Debatte hat gezeigt: Eigentlich wünschen wir uns mehr solcher Angebote und nicht weniger. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir haben auch über die Haushaltsdebatte gesprochen. Die Bereinigungssitzung war gerade vorbei, und fraktionsübergreifend mussten wir alle die schmerzhafte Erfahrung machen, dass sich trotz des einstimmigen Appells des Kuratoriums die Koalitionsfraktionen nicht erweichen ließen und dramatische Kürzungen beschlossen haben. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei allen Kuratoriumsmitgliedern bedanken. Ich empfinde die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit als sehr gut, sehr tiefgründig und auf wirklich hohem Niveau. Vielen Dank dafür. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Im Laufe des 11. November geschieht dann Unglaubliches. Es wird bekannt, dass in einer angezündeten Wohnung in Zwickau eine Waffe gefunden wird, eine Ceska. Es wird bekannt, dass diese Waffe die Waffe war, mit der neun Morde an ausländischen Kleinunternehmern begangen wurden. Die Erkenntnis, dass 13 Jahre lang eine rechtsterroristische Zelle unentdeckt durch Deutschland ziehen und Menschen erschießen konnte, trifft uns alle wie ein Schlag. Zehn Tote gehen auf das Konto dieser Rechtsterroristen. Ich persönlich war an diesem Wochenende wie in Schockstarre, aber allmählich ist bei mir die Erwartung gewachsen: Jetzt werden die Fraktionen doch erkennen, dass sie die Mittel für die Bundeszentrale nicht in dieser Weise kürzen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Immerhin gab es neue Erkenntnisse, und es ist etwas eingetreten, was niemand so erwartet hatte. An anderer Stelle hat das - ich nenne hier Fukushima - doch auch zu einer Änderung Ihrer Position geführt. Ich hätte mir gewünscht, dass in der zweiten und dritten Lesung des Haushaltes auch bei Ihnen eine solche Änderung der Haltung eingetreten wäre. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir hätten Ihnen Applaus gespendet für diesen Erkenntnisgewinn. Da können Sie sicher sein. Die Bundeszentrale ist die Instanz, die sich massiv und nachhaltig für eine lebendige Demokratie und für einen lebendigen demokratischen Diskurs in unserem Land einsetzt. Wer wollte in diesen Tagen bestreiten, dass wir einen solchen Diskurs und eine solche lebendige Demokratie dringend brauchen? Sie setzt sich explizit gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein bzw. arbeitet diese Themen auf, und zwar in beiden Säulen. Es gibt ja das Haupthaus, die Zentrale, und es gibt die Trägerförderung. Ich habe Ihnen ein Beispiel mitgebracht, das auf meinem Schreibtisch lag, als ich an meiner Rede gearbeitet habe. Es ist ein Abreißblock der Bundeszentrale zum Thema Vorurteile; er ist für Lehrer gemacht. Man kann ihn super verwenden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aktueller geht es nicht!) Schauen Sie ins Internet. Dort gibt es eine wunderbare Seite zum Thema Rechtsextremismus von der Bundeszentrale. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für CDU-Kollegen sehr geeignet!) Dort publizieren, auch wenn es Sie im Moment nicht interessiert, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Ihnen nahestehen. Das können Sie dort nachlesen. Die Bundeszentrale hat auch infrastrukturell sehr wichtige Projekte auf den Weg gebracht, nicht nur den Wahl-O-Mat. Ich nenne das Beispiel "Schule ohne Rassismus". Das ist ein ganz spannendes (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wichtiges!) Projekt. Es wurde von der Bundeszentrale entwickelt und wird glücklicherweise auch im Jahr 2012 noch finanziert, und zwar - das war eine sehr kurzfristige Entscheidung - aus Restgeldern des Bündnisses für Demokratie und Toleranz. Mitfinanziert wird auch jugendschutz.net. Dort gibt es ein Monitoring von Rechtsextremismus in unserem Land. Das kommt auch den Ermittlungsbehörden zugute. Die Frage ist: Kann das die Bundeszentrale noch weiter mitfinanzieren angesichts der vorgenommenen Kürzungen? Auch die mehr als 430 geförderten Träger der politischen Bildung beschäftigen sich mit dem Thema Rechtsextremismus. Hierzu zählen nicht nur die, die Sie als die üblichen bezeichnen würden. Ein Beispiel: Die politische Bildungsstädte Helmstedt - das ist ein Träger, der Ihnen sehr nahe stehen dürfte - hat dieses Jahr das Seminar "Rechtsextremismus - Gefahr für Gegenwart und Zukunft?" veranstaltet, und zwar in Kooperation mit dem Reservistenverband, Kreisgruppe Harz. Das heißt, das Thema wird breit diskutiert. Es wird breit von der Bundeszentrale gefördert. Der Umfang solcher Aktivitäten ist durch die massiven Kürzungen, die Sie vornehmen, infrage gestellt. Im nächsten Jahr sind es insgesamt 3,5 Millionen Euro weniger. Damit stehen fast 13 Prozent weniger bei der Zentrale selbst für Bücher, Veranstaltungen und dergleichen und fast 20 Prozent weniger bei der Trägerförderung zur Verfügung. Ich kann nur an Sie appellieren: Nehmen Sie diese Kürzungen zurück! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Kürzungen waren schon vor Bekanntwerden des Rechtsterrorismus komplett unverständlich und kontraproduktiv. Jetzt kann man sie nur noch als brandgefährlich und peinlich für Sie bezeichnen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gestern in der Fragestunde klang dann durch: Das ist doch nicht so schlimm; dann muss die Bundeszentrale eben umschichten; dann wird eben bei anderen Stellen gekürzt als beim Rechtsextremismus. - Ich finde das, ehrlich gesagt, ziemlich naiv. Die Bundeszentrale hat natürlich noch ganz andere Aufgaben als nur die Rechtsextremismusprävention. Sie soll die Euro-Krise erklären. Sie soll die Finanzkrise verständlich machen. Sie soll demokratischen Diskurs initiieren. Wo soll sie denn sparen angesichts der Kürzungen, die schon in den letzten Jahren vorgenommen wurden? Soll sie weniger im Internet präsent sein? Soll sie weniger Bücher oder "Schwarze Hefte", die viele von Ihnen vielleicht noch aus dem Studium kennen, auflegen? Soll sie sich weniger um die bildungsfernen Schichten kümmern oder weniger Projekte für Menschen mit Migrationshintergrund entwickeln? Soll es weniger Veranstaltungen zu aktuellen Themen geben? Soll sie vielleicht nicht ganz so professionell oder nicht ganz so unabhängig sein, wie sie es bisher war? Wo soll die Bundeszentrale bei der Trägerbezuschussung sparen? Das wären gravierende Einschnitte. Soll sie bei Schülerseminaren in der Gedenkstätte Hohenschönhausen oder bei Seminaren zur Integration und zur demokratischen Teilhabe sparen? Glauben Sie mir: Diese Kürzungen werden zu ganz schmerzhaften Einschnitten führen, die wir alle - auch Sie - spüren werden. Tolle Träger der politischen Bildung werden von der Landkarte verschwinden - auch solche, die Ihnen nahestehen, und auch solche aus Ihren Wahlkreisen. Ich kann nur sagen: Wir brauchen derzeit mehr politische Bildung und nicht weniger. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu brauchen wir Ressourcen. Wir brauchen Planungssicherheit. Das gilt auch für das Programm "Zusammenhalt durch Teilhabe", das Sie im Kampf gegen Rechtsextremismus in den neuen Ländern bei der Bundes-zentrale angedockt haben. Die Finanzierung hierfür läuft aus. Auch hier brauchen wir Planungssicherheit. Auch für die Träger brauchen wir Planungssicherheit, und zwar im Hinblick auf Finanzen und neue Richtlinien; die müssen endlich kommen. Im Haushalt wäre all das darstellbar. Es sind ja auch "nur" 3,5 Millionen Euro. Das Einzige, was dem entgegensteht - das sieht und hört man hier auch -, ist das fehlende Problembewusstsein bei einem Großteil der Koalition. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Es ging um die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Althea zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolutionen, Drucksachen 17/ 7577 und 17/7997. Abgegeben wurden 535 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 469 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 59, enthalten haben sich 7. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 535; davon ja: 469 nein: 59 enthalten: 7 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Hartmut Koschyk Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Dirk Becker Gerd Bollmann Klaus Brandner Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Manfred Nink Thomas Oppermann Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Axel Schäfer (Bochum) Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen-Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Ute Koczy Tom Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Harald Terpe Markus Tressel Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Wolfgang Neškovic Thomas Nord Petra Pau Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer (Köln) Dr. Ilja Seifert Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich Enthalten SPD Petra Hinz (Essen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Monika Lazar Beate Müller-Gemmeke Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hans-Christian Ströbele Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kolbe, es sei mir gestattet, am Anfang auf ein Verfahrensproblem aufmerksam zu machen. Wir haben in der letzten Woche den Haushalt 2012 verabschiedet. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hätten Sie ja unseren Anträgen zustimmen können!) Sie thematisieren jetzt einen Titel und fordern, verheerende Kürzungen schnellstmöglich zurückzunehmen, ohne irgendeinen haushaltstechnischen Vorschlag zu machen, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den letzten Jahren lagen ständig Haushaltsanträge vor! Sie haben alle abgelehnt!) aus dem hervorgeht, wie Sie sich das Ganze nach Verabschiedung des Haushalts vorstellen. Ich möchte - wenn Sie gestatten und mir Aufmerksamkeit schenken - deutlich machen, dass der Anlass, der zu dieser Debatte führt, uns alle umtreibt: die Nachrichten über rechtsterroristische Aktivitäten. Ich nutze gerne die Gelegenheit, um für die Bundesregierung ein klares Bekenntnis zur politischen Bildung im Allgemeinen und zur Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung im Besonderen abzugeben. (Zuruf von der SPD: Nicht nur Worte, sondern Taten!) Für die Bundeszentrale für politische Bildung ist die aktive Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus bzw. dem politischen Extremismus insgesamt eine wichtige, eine wesentliche Daueraufgabe. Als Bildungseinrichtung fragt sie nach Bildungszusammenhängen beim Entstehen extremistischer Einstellungen, Weltbilder und Haltungen. Sie fragt nach präventiven Möglichkeiten, extremistische Einstellungen zu vermeiden, nach Bildungswegen, um verfestigte extremistische Haltungen zu verändern, sowie nach Bildungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Kräfte, um die Auseinandersetzung mit extremistischen Einstellungen und Handlungen konstruktiv und erfolgreich zu bestehen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum kürzen Sie denn dann?) Der Fachbereich Extremismus widmet sich diesem Arbeitsfeld in enger Verzahnung mit weiteren Fachbereichen innerhalb, aber auch außerhalb der Bundeszentrale für politische Bildung. So weit das klare Bekenntnis zu den Aufgaben, welche die Bundesregierung für wichtig und zentral erachtet und die im Lichte der Ereignisse, die uns umtreiben, eine besondere Bedeutung bekommen. Daneben ist ein zweiter Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Das ist die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung, der wir uns im Jahr 2010 bei den Haushaltsplanungen - mit Blick auf die vom Verfassungsgesetzgeber eingeführte Schuldenbremse - zu stellen hatten. (Zuruf von der SPD: Aber Steuererleichterungen machen!) Meine Damen und Herren, ich darf darauf aufmerksam machen, dass die SPD in den Haushaltsberatungen gerade mit Blick auf die Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse - ich erinnere an die Reden von Carsten Schneider - eher mehr als weniger Konsequenz in Bezug auf Einsparungen gefordert hat. (Michael Groschek [SPD]: Politische Bildung ist Betreuungsgeld für die Demokratie!) Sie können davon ausgehen, dass wir uns im Bundesinnenministerium dieser Aufgabe mit großem Verantwortungsbewusstsein gestellt und die Kuratoriumsvoten (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ignoriert haben!) mit entsprechender Aufmerksamkeit und Sorgfalt geprüft haben. Ich warne davor, so zu tun - das wird auch in Ihren Zurufen deutlich -, als ob die nominelle Höhe des Haushaltstitels der Bundeszentrale für politische Bildung als ein gewissermaßen schlüssiger und abschließender Indikator für die Bedeutung der politischen Bildung gerade auch mit Blick auf die Extremismus-bekämpfung betrachtet werden könnte. Ich empfehle Ihnen, sich die Haushaltspläne seit 1998 und die Planungen für die zukünftigen Jahre anzuschauen. Dabei werden Sie feststellen, dass zwischen 1999 und 2000 - es ist bekannt, wer damals politische Verantwortung trug - der Titel von umgerechnet 41 Millionen Euro auf 36,8 Millionen Euro abgesenkt wurde. Ich behaupte nicht, dass die politische Bildung in der damaligen Situation als Beitrag zur Extremismusbekämpfung weniger ernst genommen wurde. Wir können aber nicht seriös diskutieren, ohne andere Programme zu berücksichtigen, die damals in anderen Häusern ins Leben gerufen wurden. Auch Umstrukturierungen müssen dabei berücksichtigt werden, die in einem Bereich wie dem der politischen Bildung immer wieder erforderlich sind. Ich weise darauf hin, dass wir - verbunden mit den Haushaltsentscheidungen, die Sie kritisieren - versucht haben, die Bundeszentrale für politische Bildung auch dadurch zu stärken, dass wir die Regiestelle des Bundesprogramms "Zusammenhalt durch Teilhabe" unter das Dach der Bundeszentrale für politische Bildung gestellt haben. Dabei geht es um insgesamt 18 Millionen Euro, die in die Arbeit der Bundeszentrale fließen. Schließlich haben wir hier auch die Geschäftsstelle des "Bündnisses für Demokratie und Toleranz" mit Blick auf Synergieeffekte eingegliedert. Ich möchte dazu einladen, über die Probleme fair und in gemeinsamer Verantwortung für die Bekämpfung des politischen Extremismus zu diskutieren. Lassen Sie mich auf drei der in Ihrem Antrag formulierten Forderungen konkret eingehen. Erster Punkt. Sie fordern die Überprüfung der Kopplung der Höhe des Budgets der Bundeszentrale für politische Bildung an die Höhe des Budgets der parteinahen Stiftungen. Verehrte Frau Kolbe, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Budgets der parteinahen Stiftungen in den letzten Jahren regelmäßig im parlamentarischen Verfahren geändert wurden (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Aber nach oben!) und dies keine Frage ist, die die Bundesregierung bei ihren Haushaltsansätzen zu berücksichtigen hat. Vielleicht sprechen Sie mit den Kollegen Ihrer Fraktion, die ein entsprechendes Votum abgegeben haben. Zweiter Punkt. Sie fordern ein Anschlussprogramm für das Programm "Zusammenhalt durch Teilhabe". Ich persönlich stehe dieser Forderung sehr aufgeschlossen gegenüber, will aber darauf aufmerksam machen, dass es noch zu früh ist, um über die Fortsetzung eines Programmes zu sprechen, das 2013 ausläuft. Ich betrachte diese Forderung aber auch als ein Kompliment für die Gestaltung dieses Programmes. Schließlich fordern Sie, "neue Richtlinien für die Trägerförderung der BpB" zu erlassen und "Rechtssicherheit hinsichtlich der Umsatzsteuer" zu schaffen. Ich kann Ihnen sagen, dass die neue Richtlinie für die Trägerförderung vorliegt und im Einvernehmen mit dem Bundesrechnungshof und dem Bundesfinanzminister erstellt wurde. Wir gehen davon aus, dass sie die rechtlichen Unsicherheiten bei der Umsatzsteuererhebung beseitigt. Diese Richtlinie muss nun allerdings mit den Ländern abgestimmt werden, die für den Steuervollzug zuständig sind. Ich hoffe, dass das so erfolgreich gelingt wie mit dem Bundesrechnungshof und dem Bundesfinanzministerium, sodass dieser Forderung spätestens ab Januar 2013 nachgekommen wird. Ich hoffe, ich habe verdeutlicht, dass wir das Anliegen, das Sie vorgetragen haben, durchaus ernst nehmen. Ich möchte Sie dazu einladen, darüber nicht in der Engführung zu diskutieren: Wie hoch ist der Haushaltstitel? Wie ernst wird das politische Anliegen genommen? Wichtig ist, dass man auch in Zeiten der Haushaltskonsolidierung politisch gestaltet. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nicht am falschen Ende sparen!) Das wollen wir gemeinsam tun. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Agnes Alpers hat jetzt für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Agnes Alpers (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 5 Millionen Euro sollen jetzt bei der Bundeszentrale für politische Bildung gekürzt werden: Millionen Euro weniger für Projekte, die die Teilhabe an Demokratie stärken, Millionen Euro weniger für Projekte, die aufklären und Zivilcourage stärken, gerade auch in den Regionen, in denen sich der braune Sumpf breitgemacht hat. Ich meine, das ist einfach nur skandalös. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Bergner, zur Klarstellung: Alle Oppositionsfraktionen haben Vorschläge für den Haushalt gemacht. Noch im Februar waren sich alle Mitglieder des Kuratoriums der Bundeszentrale für politische Bildung einig - das sind Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen -: Demokratie braucht politische Bildung. - Deshalb waren wir alle noch im Februar einstimmig gegen die Kürzungen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich erinnere an die Entschließung des Kuratoriums: Gerade in Deutschland sollte man nicht vergessen, dass die Demokratie ... tagtäglich neu gelehrt und gelernt, gestaltet und bewahrt werden muss. Wie wahr, meine Damen und Herren! Aber wie viel ist der Bundesregierung diese grundlegende politische Einsicht wert? Nichts, wie sich gleich zeigt. Denn Bundesinnenminister Friedrich sagt: Auch die Bundeszentrale für politische Bildung muss ihren solidarischen Beitrag zur Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse leisten; die Aufgaben der Bundeszentrale sind keine Pflichtleistung des Staates; die Kürzungen kann man nicht zurücknehmen, weil dies sonst negative Auswirkungen auf den Sicherheitsbereich hat. - Herr Friedrich, wie blind und ignorant muss man eigentlich in der gegenwärtigen Situation sein, um solche Aussagen zu treffen? (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tag für Tag gibt es Nachrichten über Nazi-Morde. Tag für Tag wird aber auch der Ruf nach einer stärkeren Zivilgesellschaft lauter. Wie soll es nun weitergehen? Es kann jedenfalls nicht weitergehen, indem man die einseitig gescheiterte V-Männer-Strategie weiter verfolgt, zumal wir jetzt hören, dass die V-Leute in der rechten Szene Nazis sind. Die Gelder, die Herr Bergner gerade im Zusammenhang mit der Haushaltskonsolidierung angesprochen hat, wurden bei der Bundeszentrale gekürzt. Aber sie wurden nicht für die Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse genutzt. Vielmehr flossen diese Gelder nachweislich direkt in den Topf für innere Sicherheit, und aus diesem Topf wurden und werden auch V-Männer bezahlt. Herr Bergner, das ist doch völlig paradox. (Beifall bei der LINKEN) Aus diesem Grunde fordern wir: Stoppen Sie den Wahnsinn! Schalten Sie endlich die V-Männer ab, und zwar sofort! Bringen Sie das Geld wieder dorthin, wohin es gehört - in die politische Bildung, in die Prävention und Aufklärung -, damit sich braunes Gedankengut nicht weiter breitmachen kann. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie wie vorhin mit dem Argument kommen, dass man - ich zitiere aus Ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage - "mit reduzierten Mitteln eine seriöse und qualitativ hochwertige ... Bildungsarbeit" machen kann, dann zeigt das nur, dass Sie einfach keine Ahnung haben. Wir als Linke bleiben dabei: Gute Bildung braucht auch eine gute Ausstattung. Vor welchen Herausforderungen steht jetzt die Bundeszentrale mit ihren 430 Bildungseinrichtungen? Bei wachsenden Aufgaben müssen sie mit weniger Mitteln zurechtkommen. Was sollen sie streichen: die Materialien für die Schulen, das neue Projekt für Menschen, die wenig Zugang zu Bildung haben, oder das Angebot, dass man über Facebook politische Fragen stellen kann? Bei den kleinen Bildungsträgern läuten die Alarmglocken, weil sie nicht wissen, ob es sie im nächsten Jahr noch geben wird. Ich meine, wir sollten uns bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre gute und wichtige Arbeit bedanken. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Bundesinnenminister Friedrich, im Namen aller Demokratinnen und Demokraten fordere ich Sie auf, endlich Verantwortung zu übernehmen. An politischer Bildung darf nicht gespart werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle stehen unter dem Eindruck dieser fürchterlichen rechtsterroristischen Taten. Natürlich fragt man sich in solchen Momenten: Woran lag es? Was hätten wir tun können? Was hätten Behörden tun können? Was hätten andere Demokraten tun können? Was hätte man strukturell aufarbeiten können? Wo liegen die Defizite? Diese Fragen sollten wir nicht zu schnell zu den Akten legen, sondern wir sollten darauf achten, dass wir eine genaue Aufklärung der Ursachen betreiben. Ich befürchte, wir werden dann aber feststellen, dass die Beantwortung dieser Fragen relativ schwierig ist. Es ist eben nicht so monokausal, wie es hier eben anklang: Ein bisschen mehr Bildung hier, ein bisschen mehr Unterstützung freier Träger dort, ein bisschen mehr Aufklärungsarbeit an dieser oder jener Stelle, und dann wird uns das Problem nicht wieder begegnen. Ein latenter Antisemitismus, der in Teilen der Bevölkerung in unserem Land leider nach wie vor herrscht, ist eben nicht dadurch zu bekämpfen, dass man an einzelnen Stellen etwas mehr draufsetzt. (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man hätte es sich einfach machen und sagen können: Ja, das war ein Fehler. Wir hätten etwas anderes machen müssen. - Aber ich sage Ihnen: Nein, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land erwarten von uns allen, dass wir Geld sparen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber an der richtigen Stelle! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sparen Sie doch beim Betreuungsgeld!) Viele Menschen sagen mir: Ihr müsst das Problem der Haushaltsverschuldung - es war unter anderem Peer Steinbrück, der uns Schulden in Höhe von 86 Milliarden Euro hinterlassen hat - lösen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Diese Menschen hätten wenig Verständnis dafür, wenn wir wie Ihr Kollege Schneider abstrakt sagten: "Wir müssen sparen", aber bei jedem Einsparvorschlag feststellten, dass es gerade an dieser Stelle doch nicht geht. - Ich mache es mir bewusst nicht einfach. Ich sage: Ja, auch das BMI musste sparen. Wir haben nicht nach der Rasenmähermethode gespart. Wir haben die freien Träger anders behandelt als die Bundeszentrale. Insofern können wir, glaube ich, zu dieser Entscheidung selbstbewusst stehen. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Alpers würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen? Dr. Stefan Ruppert (FDP): Gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Agnes Alpers (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich habe folgende Nachfrage: Sie haben gerade gesagt, dass wir konsolidieren müssen, dass wir die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten müssen, dass wir sparen müssen. Aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage wissen wir - das habe ich gerade schon erwähnt -, dass dieses Geld nicht zur Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse genutzt worden ist, sondern direkt von der Bundeszentrale für politische Bildung in den Bereich der inneren Sicherheit verschoben wurde. Was ist denn da eingespart worden? Lieber Herr Kollege, das stimmt nachweislich. Ich bitte Sie, dazu Stellung zu beziehen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Frau Kollegin, das Bundesministerium des Innern insgesamt musste einen Sparbeitrag leisten. Diesen hat das Bundesministerium des Innern geleistet. Man kann jetzt darüber reden, ob die Einsparungen an der richtigen oder an der falschen Stelle vorgenommen wurden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber reden wir ja gerade! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsche Stelle!) Wir sind der Meinung: Das war die richtige Stelle. Sie sind der Meinung: Das war die falsche Stelle. Sie sollten aber nicht so tun, als ob wir durch entsprechende Mittelaufwendungen dieses gravierende Problem, das wir in Deutschland haben, auch nur ansatzweise hätten lösen können. (Beifall bei der FDP - Sönke Rix [SPD]: Darum verschärfen Sie es?) Man sollte auch nicht so tun, als ob der Bund an dieser Stelle nicht tätig wäre. Wir haben mehrere Programme aufgelegt, zum Beispiel das Programm "Zusammenhalt durch Teilhabe". Bei vielen Antiextremismus-programmen ist es notwendig, zu schauen, ob sie so funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Man schaue sich die Programme vom Anfang der 90er-Jahre an: Vieles von damals wirkt aus heutiger Sicht ein wenig hilflos, weil man keine klare Vorstellung vom Extremismus hatte, weil man nicht genau wusste, was man bekämpft. Gerade bei der Arbeit gegen Extremismus ist es wichtig, immer wieder zu evaluieren und dann festzustellen, welche Tätigkeiten sinnvoll und welche nicht so sinnvoll sind. Wir stehen zu diesem Programm. Wir setzen große Hoffnungen in dieses Programm. Wir wollen es evaluieren, wenn es dazu an der Zeit ist, und dann - hoffentlich - fortführen. Ich bitte alle hier vertretenen Fraktionen, nicht zu schnell einzelne Lösungsansätze zu favorisieren; ich habe das heute schon einmal gesagt. Einige sagen, dass uns das NPD-Verbotsverfahren entlasten würde. Ich kann Ihnen aufgrund meiner Beschäftigung mit dem NPD-Verbotsverfahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht sagen, dass sich die mediale Aufmerksamkeit nach Stellung des Verbotsantrags erst einmal verringert hat. Das habe ich damals sehr genau verfolgt. Es war nicht so, dass die Menschen gesagt haben: Jetzt, da der Antrag gestellt ist, sind wir motiviert; wir engagieren uns weiter und stärken die Zivilgesellschaft. - Man hatte manchmal sogar das Gefühl, dass der eine oder andere den Eindruck hatte, dass es sich um einen symbolischen Akt handelt und man des Problems schon Herr werden könnte. Dabei gehen die Probleme in der Tat viel tiefer. Aus meiner Sicht brauchen wir eine bessere Analyse, eine bessere strafrechtliche Verfolgung, bessere Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Wenn wir wissen, woran es liegt, können wir Instrumente entwickeln, die dem entgegenwirken. (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Das passiert seit Jahren!) Das ist aber nicht so einfach, wie Sie es uns heute hier suggerieren wollen. (Beifall bei der FDP) Am Ende sage ich ganz persönlich: Wenn wir in der Tat feststellen sollten, dass die Bundeszentrale für politische Bildung die zentrale Schaltstelle für die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist, dann werden wir uns einer zusätzlichen Mittelaufwendung sicherlich nicht in den Weg stellen. Zuerst kommt aber die Analyse, und diesbezüglich stehen wir meiner Meinung nach erst ganz am Anfang. Darauf sollten wir mehr Zeit verwenden. (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Das stimmt!) Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss wirklich sagen: Ich habe selten so einen Unsinn gehört. Wenn es um die Analyse politischer Bildung geht, dann ist normalerweise völlig unstrittig, dass sie ein wesentliches Präventivmittel gegen Extremismus ist und der Demokratieförderung dient. Deshalb muss man den Bereich der politischen Bildung ausbauen, anstatt an dieser wichtigen Stelle zu knausern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Sie nehmen milliardenschwere Steuersenkungen vor, laufen allen Lobbyisten (Gisela Piltz [FDP]: Was ist mit der Solarlobby, Herr Kollege?) dieser Republik hinterher, aber knausern an dieser Stelle im Etat des Innenministeriums, an der es um 3,5 Millionen Euro geht. Das ist die völlig falsche Stelle. Es kann nicht sein, dass sich die Schuldenbremse letztlich als Bildungsinvestitionsbremse entpuppt. Das geht so nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sie haben am meisten gekürzt in Ihrer Regierungszeit!) Die unfassbare Mordserie der Neonazi-Terrorzelle ist ein erneuter schockierender Beleg für die aggressive Menschenfeindlichkeit des rechtsextremen Mobs in diesem Land. Es ist beschämend, dass konservative Politiker, allen voran Frau Ministerin Schröder, jahrelang - und auch heute noch - tausendfache Übergriffe durch Rechts-extreme verharmlost haben und verharmlosen und die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind waren. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Eine solche Gefährdung des friedlichen und freiheitlich-demokratischen Zusammenlebens darf sich nie wiederholen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE] - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sie haben schon das NPD-Verbotsverfahren verhunzt!) Demokratiefeindliche Ideologien, die Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit propagieren, müssen offensiv bekämpft werden. Zur Bekämpfung brauchen wir einen Ausbau sämtlicher präventiver Mittel. Dazu gehören nicht nur die Programme gegen Rechtsextremismus - wir haben die Aufstockung der entsprechenden Mittel gefordert; aber auch das hat Schwarz-Gelb leider abgelehnt -, sondern auch die politische Bildung aller Generationen. Politische Bildung ist Zukunftsvorsorge für unsere Demokratie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE]) Wer dem braunen Mob den Nährboden entziehen will, muss politische Bildung systematisch stärken. Demokratisches Bewusstsein fällt nicht vom Himmel, sondern muss dauerhaft gefördert werden. Alle Erfahrungen und Studien zeigen, wie gut politische Bildung funktioniert, um Menschen über den demokratischen Prozess zu informieren, sie zu aktivieren, am Gemeinwesen, am demokratischen Handeln zu partizipieren, gesellschaftliche Vielfalt als Chance zu schätzen, politische Zusammenhänge und gesellschaftliche Debatten zu reflektieren. Politische Bildung ist auch immer ein Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Aus all diesen Gründen ist politische Bildung für unsere Demokratie systemrelevant. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich möchte Ihnen, Herr Staatssekretär, und dem Minister noch einmal in Erinnerung rufen, dass alle Oppositionsfraktionen hier seit Jahren in Anträgen in den Haushaltsberatungen fordern, die Kürzung der Mittel zurückzunehmen. Es ist eine Frage des politischen Willens, ob diese Haushaltskürzungen zurückgenommen werden oder nicht. Es ist gelogen, wenn die Bundesregierung behauptet, beim Kampf gegen Rechtsextremismus werde nicht gekürzt. Sie wollen nur davon ablenken, dass Bundesinnenminister Friedrich im Windschatten von Ministerin Schröders Dauerdilettantismus die Axt an den Etat der Bundeszentrale für politische Bildung gelegt hat. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Bei den fraktionsübergreifenden Arbeiten im Kuratorium für politische Bildung haben wir alle gemeinsam gesagt, dass es keine Kürzungen der Mittel im Bereich der politischen Bildung geben darf. Daher muss man hier in der Plenardebatte umso deutlicher machen, dass Schwarz-Gelb der Bundeszentrale mit den massiven Kürzungen in den Rücken fällt. Es kann nicht sein, dass dieser Etat um 21 Prozent, um 3,5 Milliarden Euro, gekürzt wird. Das sind 3,5 Millionen Euro weniger für Bildungsangebote. Das ist in diesen Zeiten noch unanständiger, als es ohnehin schon wäre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Nur Sie haben noch mehr gekürzt!) Ich fordere Sie deshalb auf, diese Kürzungen schnellstmöglich zurückzunehmen; denn sie würden sich negativ auch auf die bundesweite Infrastruktur, auf die rund 430 Träger politischer Bildung, die überparteilich wertvolle politische Bildungsarbeit vor Ort fördern, auswirken. Wir brauchen eine systematische Aufwertung der politischen Bildung, nicht nur hinsichtlich der jungen Generation, sondern auch hinsichtlich der Erwachsenen. Denn die Themen Rechtsextremismus, Menschen- und Demokratiefeindlichkeit gehen uns alle an. Ich wünsche mir, dass von dieser Debatte ein geschlossenes Signal ausgeht, zumindest von den Mitgliedern des Kuratoriums der Bundeszentrale, - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - aber eben auch von möglichst vielen Fraktionen, dass die politische Bildung gestärkt werden muss und die Kürzungen bei nächster Gelegenheit zurückgenommen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Michael Frieser hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Michael Frieser (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass man über politische Bildung spricht, ist grundsätzlich gut, auch wenn für die Debatte nur eine halbe Stunde angesetzt ist. Ich will nur sagen: Schade an der heutigen Diskussion ist, dass der Anlass, der uns alle nicht nur nachdenklich stimmt, sondern der in allen Politikbereichen dafür sorgt, dass wir uns Gedanken, notwendigerweise Sorgen um die Organisation, die Schlagkräftigkeit und die Wehrhaftigkeit der Demokratie machen, mit Blick auf die Funktion der heutigen Debatte schon ein bisschen als Hebel herhalten muss. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir diskutieren das schon sehr lange!) Ich darf vielleicht auch sagen: Man tut sich überhaupt keinen Gefallen, wenn man diesen Ort und dieses Pult in dieser Art und Weise zur Plattform der Agitation macht, um gegen oder für etwas oder was auch immer - was nicht ganz klar ist - zu sein. Aber in jedem Falle geht eines nicht: die Fakten aus der Debatte über den Haushalt der Bundeszentrale für politische Bildung herumzudrehen und zu sagen, diese Bundesregierung hätte tatsächlich in der Frage der Extremismusbekämpfung gespart - das ist definitiv nicht wahr -; einmal abgesehen von den Vorwürfen, die Sie an Ministerin Schröder oder an Minister Friedrich richten. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die waren alle richtig!) Es ist in keinster Weise wahr, dass Aufwendungen für die Bekämpfung des Extremismus zurückgefahren worden wären. Auch das Kleinreden trifft nicht zu. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Schröder hat mehr Angst vor Deutschenfeindlichkeit als vor Rechtsextremismus!) Ich will auch zu dieser Fehleinschätzung, der Bundesinnenminister hätte hier eine Aufrechnung zwischen innerer Sicherheit und politischer Bildung vorgenommen, sagen: Ist das Budget beschlossen, dann muss der Minister für Deckung sorgen. In dieser Frage muss ich deutlich sagen - - (Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) - Die Frau Kollegin möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Frau Kollegin, ich würde diesen Gedanken gern erst zu Ende führen. Vielleicht finden wir dann noch Raum für die Zwischenfrage. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heißt das: im Moment nicht, aber dann vielleicht? - Sie geben ein Zeichen. Michael Frieser (CDU/CSU): Wenn man das Budget des Haushalts des Innenministeriums beschließt, man dann aber einen Austausch vornehmen möchte, muss man deutlich sagen, welche Haushaltmittel wofür genommen werden. Das kann ich bewusst falsch verstehen, wenn ich will. Ein solches Verhalten dient aber einem Ziel nicht, nämlich der Unterstützung der politischen Bildung. Frau Kollegin, bitte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Hendricks, das wäre jetzt der passende Zeitpunkt für Ihre Fragen. Bitte schön. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Danke schön, Frau Präsidentin. Danke schön, Herr Kollege Frieser. - Wir wollen doch bitte noch einmal gemeinsam den Gang der Geschichte darlegen. Im Februar dieses Jahres, also völlig unabhängig von dem Bekanntwerden der erschreckenden Mordtaten der Nazis, hat das gesamte Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung einen Appell an die Mitglieder des Haushaltsausschusses und an die Bundesregierung gerichtet, keine weiteren Kürzungen vorzunehmen, denn schon für das Jahr 2011 waren Haushaltskürzungen zulasten der Bundeszentrale für politische Bildung vorgenommen worden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch damals haben wir protestiert!) Die Mitglieder des Kuratoriums wollten parteiübergreifend Vorsorge treffen, dass dies nicht wiederum geschehen würde. Die Mitglieder des Kuratoriums haben dafür im Haushaltsausschuss bei der Mehrheit der schwarz-gelben Koalition keinen Rückhalt gefunden, und zwar auch bevor diese erschreckenden Mordtaten bekannt wurden. Denn die Beratungen zum Haushalt des Bundesinnenministeriums waren ja schon vorher im Gange. Zugegeben, die allerletzte Bereinigungssitzung war später, aber die Beratungen waren natürlich längst im Gange. Im Übrigen: Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, Herr Kollege Frieser, dass von Ihrer Koalition und auch von der Bundesregierung schon beabsichtigt war, die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus - also nicht nur die Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung, sondern auch die Mittel zur Bekämpfung des Rechtsextremismus - zurückzufahren? (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er schon wieder vergessen!) Im Gespräch der Fraktionsvorsitzenden nach Bekanntwerden dieser schrecklichen Mordtaten hat dann Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Kauder, eingelenkt. (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen!) Der Antrag der SPD lag schon vor; es war dann nicht mehr nötig, ihn zu stellen, weil Ihr Fraktionsvorsitzender nach Bekanntwerden der Mordtaten eingelenkt hatte. Wollen Sie dann bitte im Übrigen zur Kenntnis nehmen, dass die Oppositionsfraktionen im Innenausschuss - wie sich das gehört - selbstverständlich auch Vorschläge zur Deckung einer Erhöhung der Mittel auf die Höhe, wie sie bis 2011 zur Verfügung standen, gemacht hatten? Wollen Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass mehr als 400 freie Träger auf diese Mittel angewiesen sind und dass diese mehr als 400 freien Träger einen breiten gesellschaftlichen Konsens darstellen - über die Kirchen, die Gewerkschaften, die parteinahen Stiftungen und wen Sie sich alles vorstellen können? Bleiben Sie ruhig am Pult. Sie können mir ja gleich antworten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin Hendricks, auch Zwischenbemerkungen, die keine Fragen beinhalten, sind keine eigene Rede. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es wäre mir recht, wenn Sie das berücksichtigen würden. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Ja. Das Problem ist, dass der Kollege zwar vom Pult weggehen, aber auch seine Ohren zumachen kann; das kann ich nicht verhindern. Aber so, wie Sie es dargestellt haben, Herr Kollege Frieser, trifft es einfach nicht zu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Michael Frieser (CDU/CSU): Frau Kollegin Hendricks, lassen Sie mich bitte sagen: Wenn Sie Redezeit haben wollen, dann bewerben Sie sich in Ihrer Fraktion um Redezeit bei diesem Thema. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau!) Dann können wir über diese Frage ordnungsgemäß diskutieren. (Zurufe von der SPD: Antwort!) Ich habe darauf hingewiesen, dass es im Eindruck dieser wirklich niederschmetternden Erkenntnisse und Vorkommnisse durchaus einen politischen Konsens gab, was die Ausstattung freier Träger betrifft. Ich glaube, uns kann niemand vorwerfen, dass wir vonseiten der CDU/CSU-Fraktion und der Koalition hier in irgendeiner Art und Weise auf dem falschen Dampfer gewesen wären. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Das wart ihr!) Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass der Haushalt des Bundesministeriums des Innern natürlich gegen schmerzliche Widerstände so gestaltet worden ist. (Sönke Rix [SPD]: Ja, ja! Das sagen Sie!) Glauben Sie denn, wir als diejenigen, die in diesem Kuratorium Verantwortung tragen, hätten uns nicht mit den Kollegen auseinandergesetzt? Ich bitte Sie, in Ihren Beiträgen darauf zu achten, dass Sie nicht den Eindruck erwecken, es gehe hier ausschließlich um das Herunterfahren der Mittel zur Extremismusbekämpfung. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nein, nein, nein! Das habe ich nicht gesagt! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um Demokratieförderung!) Das ist definitiv nicht der Fall. Ich bitte Sie, durch Ihre Wortbeiträge auch nicht diesen Eindruck zu erwecken. Ich will auf die Schwerpunkte der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung hinweisen. Sie bestehen darin, politische Sachverhalte aufzuklären und zu fördern, die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken und das demokratische Bewusstsein zu festigen. Das sind die zentralen Punkte. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Aber dann dürfen Sie da doch nicht kürzen! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Sie kürzen also bei der Stärkung des demokratischen Bewusstseins, ja?) Ich bin dem Kollegen Ruppert dankbar, dass er deutlich gemacht hat: Es ist nicht die Bundeszentrale für den Kampf gegen Extremismus. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das sagt doch niemand!) Diesen Eindruck sollten wir auch nicht erwecken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte darauf hinweisen, dass man im Hinblick auf das Budget der Bundeszentrale für politische Bildung natürlich die Prioritäten ändern kann. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden am Thema vorbei!) Man kann auch einmal die Frage stellen, wo Umschichtungen machbar sind und ob man angesichts der ziemlich großen Veranstaltungsdichte nicht auch den einen oder anderen Beitrag erwarten kann. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch! Meine Güte!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, es gäbe jetzt noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lemme. Michael Frieser (CDU/CSU): Nein, danke. Ich würde diesen Gedanken gerne zu Ende führen. Ich bitte Sie, zu beachten, dass man in der gesamten Diskussion unter keinen Umständen den Eindruck erwecken sollte, als könne man Terroristen durch politische Bildung von ihren Taten abhalten. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt denn so etwas? - Sönke Rix [SPD]: Nein! Aber man kann dazu beitragen, dass der Boden nicht so fruchtbar ist!) Ich will deutlich sagen, dass politische Bildung Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist. Dies ist nicht nur ein wesentlicher Faktor der Aufklärung, sondern betrifft vor allem auch den Blick auf politisch Verirrte. Wir sollten unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, als seien wir durch das, was der Staat im Bereich politischer Bildung tun kann, in der Lage, terroristische Anschläge zu verhindern. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten eigentlich wissen, was bei der Bundeszentrale gemacht wird! - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erkläre Ihnen mal, wie das zusammenhängt!) Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen des gesamten Hauses, die organisatorischen Voraussetzungen, vor allem die der Dienste und der Sicherheitskräfte, zu stärken, um zu einem guten Ergebnis zu kommen, zur Aufklärung beizutragen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Man sollte an dieser Stelle nicht den Fehler machen, zu versuchen, den Menschen etwas Sand in die Augen zu streuen. Man sollte auch nicht versuchen, diese Debatte zu einem falschen Ergebnis zu führen, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Daran sollten Sie wirklich mal denken! - Sönke Rix [SPD]: Haben Sie schon einmal etwas von Nährboden gehört?) nur weil sie im Augenblick zur richtigen Diskussion passt. Damit tun wir der politischen Bildung und der Extremismusbekämpfung mit Sicherheit keinen Gefallen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben von politischer Bildung ja gar keine Ahnung! - Sönke Rix [SPD]: Das kann man nicht voneinander trennen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/7943 an die Ausschüsse, die Sie in der Tagesordnung finden, zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 45 a Absatz 2 des Grundgesetzes - Drucksache 17/7400 - Es ist vorgesehen, hierzu eine Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Michael Brand (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier heute über ein Thema, das mit vielen Toten und Verletzten sowie viel Trauer bei den Angehörigen der Opfer verknüpft ist. Dem sollten wir in der Debatte auch gerecht werden. Das Thema Luftschlag Kunduz ist wie der gesamte Einsatz in Afghanistan oder auch aktuell im Kosovo natürlich stark mit der sehr grundsätzlichen Frage verknüpft, wie und inwieweit wir unserer Bundeswehr in einem lebensbedrohlichen Einsatz Möglichkeiten einräumen, um sich gegen unmittelbar drohende Gefahren für Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten schützen und nötigenfalls Gewalt dabei anwenden zu können. Der Ernst der Frage und die Schwere des Vorfalls gebieten es, dieses Thema hier im Hohen Haus in aller Ruhe und aller Sorgfalt und auch im Respekt vor den Toten und im Respekt vor der Lage der Bundeswehr in einem schweren Einsatz zu erörtern. Für die Bundeswehr und ihren Einsatz in Afghanistan - das gilt für Einsätze generell - ist dieser Vorfall sicher in gewissem Ausmaß eine Zäsur. Nie zuvor haben Bundeswehrangehörige einen solchen Luftangriff befohlen, und nie zuvor ist ein solches Ausmaß an unschuldigen Toten zu beklagen gewesen. Dabei muss hier zweifelsfrei klargestellt werden: Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist vom Völkerrecht gedeckt. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ha!) Die Afghanen sind dankbar für den Schutz durch die Bundeswehr, die Bundeswehr hat das Recht und die Pflicht, ihren Schutzauftrag in Bezug auf die in Afghanistan zu leistende Aufgabe durchzusetzen, und sie hat das Recht und die Pflicht, Mörder, Terroristen und Attentäter von ihrem mörderischen Tun abzuhalten - und das auch mit militärischen Mitteln. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unmittelbar nach dem Luftschlag in Kunduz haben die Bundeskanzlerin, der damalige Außenminister Steinmeier und der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung den zivilen Opfern und deren Familien auch hier vor dem Hohen Haus ihre aufrichtige Anteilnahme ausgedrückt. Die Bundeskanzlerin hat in einer eigenen Regierungserklärung eine umfassende Aufklärung des Vorgangs angekündigt - und sie hat Wort gehalten. Wir als Deutscher Bundestag haben uns ebenso in der Pflicht gesehen, die Umstände eingehend zu untersuchen. Der Beschluss zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erfolgte aus gutem Grund im Konsens aller Fraktionen dieses Hauses. (Rainer Arnold [SPD]: Weil die Kanzlerin nicht aufgeklärt hat!) Der Ausschuss hat zentrale Fragen gestellt und beantwortet. Einige will ich herausgreifen. Die Fragen waren unter anderem: Wie sind die Regeln im Einsatz? Welche Regeln sind bei internationalen Einsätzen zu beachten? Was ist nachzujustieren? Hier gab es unmittelbar nach dem Luftschlag bereits Veränderungen, und es hat Klarstellungen gegeben. Es gab weitere Fragen: Wie kommen wir an verlässliche Daten? Wie sichern wir möglichst fehlerfreie Abläufe, vor allem beim Einsatz von schweren Waffen? Hier hat sich gezeigt, dass wir beim Thema Aufklärung in technischer und personeller Hinsicht einen klaren Nachholbedarf haben. Zudem war die Frage zu untersuchen: Wie kam es zu der tragischen Fehlinformation, dass die Personen um die gewaltsam gekaperten Tanklaster nicht ausschließlich gewalt- und terrorbereite Taliban waren? Es ist natürlich nie auszuschließen, dass es im Zusammenhang mit den menschlichen Quellen vor Ort, den einheimischen Spähern, auch das Risiko der Fehlinformation gibt. Dabei - auch das will ich sagen - bleibt diese Informationsgewinnung für die Beurteilung unerlässlich. Beim Luftschlag im September 2009 schien die Lage eindeutig. Es wurde mehrfach geprüft. Dass die Informationen dennoch falsch blieben, hat zu einer nochmaligen Überprüfung und Schärfung der Regeln und der internen Abläufe geführt. Wir haben im Untersuchungsausschuss auch die internen Kommunikationswege vom Einsatzort bis in die Spitze der zuständigen Ressorts, des Außenministeriums, das damals in SPD-Hand war - Frank-Walter Steinmeier -, und des Verteidigungsministeriums, untersucht. Hier ist es bekanntlich zu Fehlern gekommen, die auch zu entsprechenden Konsequenzen und Veränderungen in den Abläufen geführt haben. Nicht zuletzt waren der Fragenkomplex Einhaltung militärischer Vorgaben durch die Bundeswehr und das Zusammenwirken mit den afghanischen Partnern und den Partnern in der NATO und in der Schutztruppe ISAF von großer Bedeutung. Wir müssen ein klares Wort an den damaligen ISAF-Kommandeur richten. Ich will das tun: Es wäre richtiger gewesen, den ISAF-Partner Bundeswehr intensiver an der Aufklärung zu beteiligen. - Es war richtig, dass der damalige deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung und auch die Bundeskanzlerin mit deutlichen Worten vor einer Vorverurteilung warnten. Gerade in solch schweren Fällen muss gelten: erst aufklären, dann urteilen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können festhalten: Der Ausschuss hat sich die Arbeit nicht leicht gemacht. Trotz aller teils harter und auch polemischer Auseinandersetzungen und trotz massiver Kritik vor allem am Verhalten der SPD im Ausschuss nehme ich die SPD beim Wort. Es gilt das Wort des Kollegen Arnold, der sinngemäß formuliert hat: Wir wollen der Bundeswehr nicht in den Rücken fallen. Wenn das so ist, lieber Herr Arnold, und wenn das von weiten Teilen von SPD und Grünen so mitgetragen wird, können wir von hier aus den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zusichern, dass sie sich gerade auch dann auf dieses Parlament verlassen können, wenn die Situation kritisch wird. Wir lassen sie nicht im Stich, und wir werden uns nicht auf ihre Kosten profilieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir haben im Ausschuss vor allem die Frage untersucht, wie es trotz der obersten Priorität der Bundeswehr, nämlich Zivilisten nicht zu schädigen, genau dazu kommen konnte. Oberst Klein hat im Untersuchungsausschuss die dramatisch verschärfte Sicherheitslage klar gezeichnet. Er hat überzeugend das damalige Risiko beschrieben, dass der gekaperte Tanklaster als rollende Megabombe gegen die Bundeswehr genutzt werden könnte. Dazu lagen auch im Vorfeld klare Warnungen vor. Zudem wurde er mit einer kriegerischen Lage konfrontiert, in der die Bundeswehr in Gefechten gebunden wurde. Es gab Gefallene und Verletzte. Die Zahl der Kämpfe war massiv angestiegen. Viele im Ausschuss - auch ich persönlich - waren sehr beeindruckt bis schockiert über die Kriegsrealität, die sich in den deutschen Medien so nicht wiederfand und auch in den Lagebildern der militärischen Führung bis dahin nicht immer in der Deutlichkeit dargestellt wurde. Wie einfach machen es sich die, die Tausende Kilometer entfernt, von der warmen Stube aus, im Nachhinein alles besser wissen. (Zuruf von der FDP: So ist es!) Oberst Klein hat in seinen Handlungen und in seinem Vortrag einen integeren und sehr verantwortungsvollen Eindruck hinterlassen. Er ist auch ein Beleg für das hohe Maß an Umsicht und Verantwortungsgefühl, das die Kommandeure der Bundeswehr im Einsatz - von Afghanistan bis hin zum Kosovo - zeigen. Sie räumen sowohl dem Schutz der eigenen Truppe als auch dem Schutz der Zivilisten oberste Priorität ein. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Zynismus!) Bei aller Tragik der Ereignisse können wir im Ergebnis festhalten: Selbst in diesem schweren Einsatz - ich sage bewusst: unter Kriegsbedingungen - zeigt sich die Bundeswehr als eine hochverantwortliche, moderne Armee, die den hohen Ansprüchen an eine Einsatzführung gerecht wird, die wir als Deutscher Bundestag auch zu Recht anlegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dabei gilt der Grundsatz: Wer angreift, um zu töten, der muss mit unserer Verteidigungsbereitschaft rechnen. (Zuruf von der LINKEN) Wer die Lage in Afghanistan und in Pakistan analysiert, wer die Lage in Teilen Ostafrikas und vor der ostafrikanischen Küste betrachtet, der weiß: Sicherheit kann im Zeitalter des internationalen Terrorismus nicht mehr nur auf dem heimatlichen Territorium verteidigt werden. Auch das hat etwas mit unserem Einsatz in Afghanistan und mit dem Luftschlag und seiner ganzen Vorgeschichte zu tun. Viel ist im Untersuchungsausschuss über Themen und Nebenthemen geredet worden, die nichts mit dem Auftrag zu tun hatten. Auch das ist wahr. Ich will nur kurz, aber dafür umso klarer das Lieblingsthema der Opposition aufgreifen - ein Thema, das mit dem Luftschlag nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte -: die Angriffe auf den Minister, der zum Zeitpunkt des Luftschlags gar nicht im Amt war. Dazu stellen wir klipp und klar fest: Wer die Bundeswehr in den Einsatz schickt, der steht in der Verantwortung - auch in der Opposition. (Zuruf von der LINKEN: Vorerst gescheitert!) Wer dann auf der innenpolitischen Bühne - Tausende Kilometer vom Einsatz entfernt - ein unwürdiges Schauspiel abzieht, der hat einen Großteil seiner außen- und sicherheitspolitischen Glaubwürdigkeit verspielt. (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Reden Sie über Guttenberg?) Wir haben trotz dieser Obstruktion durchgesetzt, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir können mit einiger Genugtuung festhalten, dass nach fast zwei Jahren Ausschussarbeit wesentliche Teile der Forderungen bereits sehr zeitnah nach dem Luftschlag umgesetzt worden sind. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Brand, Herr Gehrcke wollte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Michael Brand (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Aber Sie haben mich gehört? Michael Brand (CDU/CSU): Ich komme jetzt zum Schluss. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Lassen Sie die Frage zu?) Für die CDU/CSU, für die Koalition und sicher auch für die große Mehrheit hier in diesem Haus stelle ich fest: Die Bundeswehr kann sich als Parlamentsarmee bei ihren gefährlichen und verantwortungsvollen Einsätzen für Sicherheit und Frieden auf die Unterstützung des Parlaments verlassen. Das gilt von Afghanistan über Somalia bis hin nach Bosnien und in das Kosovo. Wir stehen zu unseren Soldaten. Wir sagen ihnen auch heute Dank für ihre zum Teil sehr gefährlichen Einsätze. Das verdienen die Männer und Frauen, die im Einsatz sprichwörtlich Leib und Leben für unsere Sicherheit riskieren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Hervorragend!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Gehrcke bekommt das Wort zu einer Kurzintervention. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Brand, ich habe bis zum Schluss gewartet, ob Sie ein Wort, einen Satz, einen halben Gedanken der Trauer oder des Mitleids für die Opfer dieses Bombenangriffs finden, (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie waren am Anfang noch nicht da! - Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Waren Sie am Anfang noch nicht da?) ob nicht von diesem Parlament aus endlich ein Signal an die Menschen in Afghanistan gehen kann, deren Angehörige umgekommen sind: Wir trauern mit euch. Wir entschuldigen uns für das, was passiert ist. Sie haben kein einziges Wort für die Opfer gefunden. (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Sie haben nicht zugehört!) Das finde ich schändlich. Das finde ich bedauerlich. Das entspricht auch nicht der Würde dieses Parlaments. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Brand, möchten Sie antworten? - Bitte schön. Michael Brand (CDU/CSU): Herr Kollege Gehrcke, ich möchte Ihre Äußerung als unwahr zurückweisen. Sie waren ganz offensichtlich zu Beginn dieser Rede nicht anwesend. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Doch!) Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen - wenn Sie es schon nicht im Plenarsaal tun, dann lesen Sie es im Protokoll nach -, dass ich mit einer sehr differenzierten Position und auch mit dem Benennen der Opfer und mit Worten der Trauer der unschuldigen Opfer gedacht habe. Herr Gehrcke, Sie zeigen exemplarisch, was die Linkspartei in den letzten zwei Jahren in diesem Ausschuss veranstaltet hat. Ihnen ging es nicht um die Sache. Ihnen ging es um Propaganda. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Rainer Arnold das Wort für die SPD-Fraktion. Rainer Arnold (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, das war der folgenschwerste Waffeneinsatz der Bundeswehr, seit die Bundeswehr in unserem Auftrag bei internationalen Einsätzen engagiert ist: über 60 erwachsene Zivilisten und über 20 tote Kinder. Das ist eine Tragödie, Herr Kollege Brand, über die wir nicht mit diesem schneidigen, rechthaberischen und forschen Ton hinweggehen können und dürfen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jedes Menschenleben in Afghanistan ist so viel wert wie jedes Menschenleben der Welt. In diesem Sinn und mit diesem Maßstab haben Sozialdemokraten und auch andere in dem Ausschuss ihre Aufklärungsarbeit betrieben. Dies heißt auch im Sinn einer Parlamentsarmee, Herr Kollege Brand: Man fällt den Soldaten nicht in den Rücken, wenn man Fehler sorgfältig untersucht, auswertet (Michael Brand [CDU/CSU]: Genau das haben wir getan! Da gibt es keinen Widerspruch!) und daraus die Konsequenzen zieht und wenn man falsch als falsch benennt. Sie sind dazu nicht in der Lage. Dies wird den Opfern dieser tragischen Nacht nicht gerecht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Brand [CDU/CSU]: Haben Sie nicht zugehört?) Übrigens hat Ihre Kanzlerin damals am 8. September 2009 versprochen - ich zitiere -: Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls ... und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. Nichts ist passiert. (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Keine Aufklärung durch die Bundesregierung, nicht einmal die angemessene Entschädigung für die Opfer, wie sie in Afghanistan üblich ist. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist unwahr!) Deshalb war es notwendig, dass der Untersuchungsausschuss seine Arbeit geleistet hat, dass wir dort aufgearbeitet haben, wo die Regierung versagt hat. Das ging über viele Stunden. Das war eine große, auch nervliche Belastung für uns alle. Wir müssen das machen, das ist unsere Aufgabe. Ich möchte aber ein ausdrückliches Dankeschön an unsere Mitarbeiter und vor allen Dingen auch an alle Mitarbeiter im Ausschusssekretariat richten, die über viele Stunden, über 200, zusätzlich gearbeitet haben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser Einsatz wurde von der Spitze des Ministeriums als "militärisch-operativ angemessen" bezeichnet. Haben Sie, die Kollegen von der Koalition, nicht reflektiert, dass das ein gesuchter Begriff im Sinne von Schutz für Oberst Klein war? Dafür habe ich Verständnis. Ich erwarte sogar von der Führung, dass sie sich schützend vor ihre Untergebenen stellt. Das ist die eine Seite. Auch mir geht es so. Ich empfinde so, wie es in einem schönen Satz im Talmud geschrieben ist: Verurteile niemanden, bevor Du in seiner Lage warst. - Niemand wollte in dieser Nacht in der Lage von Oberst Klein gewesen sein. Deshalb geht es nicht um Verurteilen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben als Parlamentarier die Verpflichtung, diesen schwerwiegenden Einsatz zu beurteilen, die Fakten, auch wenn sie schmerzhaft sind, zu benennen. Dabei gibt es nichts herumzureden. Dieser Einsatz war ein schwerer Fehler. Er beruhte auf Fehleinschätzungen, was die Gefährdung durch die Tanklastzüge und eine Gefahr für das Camp angeht, die nicht bestanden hat. Schwere Regelverstöße waren aktenkundig, was in den Befragungen deutlich wurde. Das steht außer Frage. Es ist auch klar geworden: Ohne die Regelverstöße hätte Oberst Klein nicht die Legitimation zur Anforderung der Flugzeuge gehabt. All dies muss gesagt werden. Das heißt nicht, den Soldaten in den Rücken zu fallen; es ist vielmehr unsere Aufgabe, seriös aufzuklären. Im Gegensatz zu Ihnen haben die Grünen und wir den Begriff "lessons learned" sehr ernst genommen und auf einigen Seiten in dem 500 Seiten langen Bericht festgehalten, welche politischen Konsequenzen und operativen Folgerungen notwendig sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Parlamentarier haben allerdings nicht die Aufgabe, militärisch-operativ zu beurteilen. Wir haben die Aufgabe, nach politischen, ethischen und strategischen Maßstäben unser Urteil zu finden. Es geht nicht an, dass eine Bundeskanzlerin fast zwei Jahre nach dem schweren Vorfall in der Zeugenbefragung immer noch sagt: Ob er richtig oder falsch war, kommt auf den Blickwinkel an. (Michael Brand [CDU/CSU]: Zitieren Sie die Kanzlerin bitte richtig!) Nein, es gibt hier nur den politischen Blickwinkel. Dafür sind wir als Abgeordnete gewählt. Wir brauchen die Kraft und den Mut, dies auch deutlich zu sagen. Es geht noch weniger an, Herr Kollege Brand, dass der ehemalige Verteidigungsminister zu Guttenberg, vor den Sie sich gerade wieder schützend gestellt haben, das noch weiter auslegt, indem er sagt: Auch ohne Regelverstöße wäre der Einsatz zwingend gewesen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Dazu habe ich gar nichts gesagt!) Er hat dazu von niemandem Rat eingeholt. Im Gegenteil: General Schneiderhan hat ihn sogar gewarnt, ein bisschen vorsichtiger zu sein, und darauf hingewiesen, dass die Dinge wahrscheinlich komplizierter sind als angenommen. Er musste nachher sein Urteil korrigieren, weil der öffentliche Druck und auch der Druck aus dem Parlament größer wurden; denn jeder, der den ISAF-Abschlussbericht lesen konnte - auch zu Guttenberg sagt, er habe ihn gelesen -, kann zu keiner anderen Erkenntnis kommen, als dass der Einsatz falsch war und es schwere Regelverstöße gab. Dass Sie sich heute noch vor den Minister stellen, finde ich außerordentlich bemerkenswert. Denn die Geschichte in den letzten zwölf Monaten hat gezeigt: Es gibt Zweifel an der Seriosität, Wahrhaftigkeit und der Bereitschaft, Verantwortung gegenüber den beiden Personen zu übernehmen, nämlich Generalinspekteur Schneiderhan und Staatssekretär Wichert, die er entlassen hat. An den beiden gibt es keinen Zweifel. Es würde sich für Sie anbieten, zu lesen, was Volker Rühe, Ihr ehemaliger CDU/CSU-Verteidigungsminister, zu diesen Vorgängen festgestellt hat. Sie haben nichts davon aufgenommen. Sie haben Ihren Abschlussbericht so geschrieben, Herr Brand, dass ich den Eindruck habe, Sie sind ein Ultrafan von zu Guttenberg im Parlament. Sonst könnte man heute nicht so urteilen, wie Sie es tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben meiner Rede gar nicht zugehört!) Lassen Sie mich noch einige Sätze zu der Verantwortung des damaligen Ministers Jung sagen. Um es gleich vorweg klar zu artikulieren: Die Haltung von Minister Jung war letzten Endes konsequent. Sie verdient zumindest Respekt. Er hat angesichts der großen Dramatik und des Leids, das in Afghanistan geschehen ist, vergleichsweise kleine Fehler begangen. Er hat die Öffentlichkeit nicht schnell genug informiert. Vielleicht hat er auch nicht die Kraft gehabt, zu sagen: "Das ist politisch brisant; ab jetzt laufen alle Fäden bei mir zusammen", statt alle Abteilungen vor sich hinarbeiten zu lassen. Das waren seine Versäumnisse. Dafür hat er die Verantwortung übernommen. Dies halten wir ausdrücklich für in Ordnung. Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Spiegelstriche zum Thema "lessons learned" anmerken. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bei "ein paar Spiegelstrichen" werde ich unruhig. Rainer Arnold (SPD): Ich nenne nur noch einen Punkt, der uns als Sozialdemokraten besonders wichtig ist. Wir werden uns damit beschäftigen müssen, ob das deutsche Recht in allen Bereichen zu unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz passt. Wir werden uns auch damit beschäftigen müssen, ob die Arbeit der menschlichen Quellen, die der Arbeit des Bundesnachrichtendienstes sehr nahe ist, von der Bundeswehr so weiter geleistet werden soll und welche parlamentarische Kontrolle dafür notwendig ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Rainer Arnold (SPD): Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Arbeit ist wichtig. Die Frage ist aber, wie sie gemacht wird. Wir haben also mit dem heutigen Abschlussbericht keinen Schlussstrich zu ziehen. Mit dem heutigen Abschlussbericht sagen wir vielmehr: Vor uns liegt noch viel Arbeit in dem Sinne, aus Fehlern zu lernen, damit sich so etwas nach menschlichem Ermessen nicht mehr wiederholt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Joachim Spatz hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat stellte das Einsatzjahr 2009 mit den eigenen Opfern im April und den bedauernswerten zivilen Opfern am Kunduz-Fluss am 4. September 2009 einen Einschnitt in der Geschichte der Bundeswehr und auch der Bundesrepublik Deutschland dar. Spätestens mit diesem Einsatzjahr war klar, dass wir uns in Afghanistan - man kann das jetzt juristisch formulieren, aber ich sage es einmal so, wie es der normale Mensch empfindet - im Krieg befinden. Ich denke, vieles was danach an Konsequenzen folgte, bis hin zur Bundeswehrreform in der Gestalt, wie sie jetzt angegangen wird, ist der Tatsache geschuldet, dass man sich diesen Realitäten unausweichlich hat stellen müssen. Zur Beurteilung des Vorfalls am Kunduz-Fluss war es unumgänglich, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Deshalb wurde er auch - der Kollege Brand hat darauf hingewiesen - einstimmig eingesetzt. Als öffentliche Einrichtung muss sich die Parlamentsarmee genau wie die Polizei bei der Wahrnehmung ihrer Machtmittel einer kritischen Prüfung unterziehen. Deshalb bekennen wir uns auch dazu, dass sich das Handeln in diesem Fall der kritischen Prüfung durch einen Untersuchungsausschuss zu unterziehen hatte. Dabei hat aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch das Parlament die Aufgabe, diese Prüfung vor dem Hintergrund ihrer Verantwortung wahrzunehmen. Dazu muss ich schon sagen - da teile ich die Bewertung des Kollegen Brand -, dass das nicht in jedem Fall die alleinige Richtschnur gewesen sein kann, an der sich die Opposition orientiert hat. Bei uns standen auf jeden Fall die Sachaufklärung und das, was wir an Folgerungen für die weitere Tätigkeit der Bundeswehr daraus zu ziehen haben - mit dem Stichwort "lessons learned" wurde das schon erwähnt -, im Vordergrund. An der Stelle sei auch einmal erwähnt, dass die Koalition gemeinsam mit SPD und Grünen im Feststellungsteil unseres Berichtes einen Weg gefunden hat, wenigstens die Sachaufklärung auf einen gemeinsamen Stand zu bringen. Eigentlich war bis zum Schluss auch die Linke mit dabei, die sich dem dann aber ganz kurz vor Toresschluss entzogen hat. Als Beweggründe dafür eignen sich - darauf komme ich später bei einzelnen Punkten noch zurück - wohl nur andere als die gemeinsame Sachaufklärung. Hier hat anscheinend die Regie aus dem Backoffice dominiert. Wir als Koalition haben uns die Bewertung der Tätigkeit oder der Entscheidungen des Oberst Klein an diesem Tag nicht leichtgemacht. Wir sind zu dem Ergebnis gelangt, dass man nach Abschluss aller Untersuchungen zu dem Schluss kommen muss, dass die Entscheidung zwar militärisch nicht angemessen war - dazu bekennen wir uns auch -, dass er aber nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten, die ihm genauso unterstellt waren wie die zivilen Bediensteten, die im Lager dabei waren, gehandelt hat. Wie gesagt: Im Nachhinein, nach Vorliegen aller Informationen und mit großer Distanz kann man dieses Urteil fällen. Wenn es zu einer Fehlentscheidung gekommen ist, dann auch deshalb, weil damals die Aufklärungs-, Führungs- und Wirkmittel nicht zur Verfügung standen, die einem Kommandeur in Kunduz heute zur Verfügung stehen. Auch das ist klar: Hier wurde unmittelbar und schnell gehandelt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Vorwurf der parteipolitischen Inszenierung, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, muss Ihnen natürlich gemacht werden, nachdem der verantwortliche Minister, Dr. Jung, sehr zügig zurückgetreten ist. Dadurch, dass Sie sich nach diesem Rücktritt auf den ehemaligen Minister zu Guttenberg konzentriert haben, ist Ihre eigentliche Absicht doch mehr als offensichtlich. Die Bewertung des Vorganges rund um den ehemaligen Generalinspekteur Schneiderhan und den ehemaligen Staatssekretär Wichert zeigt doch, wes Geistes Kind Ihre Bewertung ist. Ich kann nur sagen: Den Eindruck, den die beiden Zeugen im Untersuchungsausschuss gemacht haben, jedenfalls auf mich, hat sehr glaubwürdig erscheinen lassen, was der Zeuge zu Guttenberg ausgesagt hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Da der Name Volker Rühe und der seines Nachfolgers gefallen sind, verbitte ich mir schon, dass sich Leute ein Urteil erlauben, die mit dem Untersuchungsausschuss und dem Untersuchungsgegenstand in keiner Weise zu tun hatten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sowenig wie wir an dieser Stelle ein Werturteil über die Personen oder deren Lebensleistung abgegeben haben, (Michael Brand [CDU/CSU]: So ist es!) so wenig kann ich diejenigen ernst nehmen, die sich ein Urteil über ein Verhalten in dieser konkret angesprochenen Sachlage herausnehmen, (Michael Brand [CDU/CSU]: Genau! Es ging nur um den Fall Kunduz!) obwohl sie in keiner Weise daran beteiligt waren. Das will ich hier schon noch einmal klarstellen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jetzt zu etwas anderem; das ist vor allem an die Linke gerichtet. Es geht um den Versuch, die Bundeswehr, Stichwort "Task Force 47", in eine bestimmte Richtung zu rücken, wodurch nahegelegt wird, dass sie gewissermaßen Listen von Targets abarbeitet oder Beihilfe zu Geheimoperationen leistet. Dergleichen ist noch nicht einmal im Ansatz belegbar gewesen. Es ist ein Unding, dass Sie das offensichtlich weiterhin behaupten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist die Strategie von Diffamieren und Propaganda!) Es gab nicht einmal einen Anfangsverdacht. Das Ganze ist nichts anderes als Diffamierung. Auch hier wird wieder der Versuch deutlich, diesen Einsatz, die Bundeswehr und ihre Führung an dieser Stelle zu diskreditieren. Man tut so, als ob sich unsere Soldatinnen und Soldaten zu solchem Tun - Geheimdienstoperationen entweder aus eigenem Antrieb oder im Auftrag anderer abzuarbeiten - hergeben. Das ist nicht der Fall. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es gab nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass es anders gewesen ist. Zu Ihrer Behauptung, der Luftschlag sei völkerrechtswidrig gewesen, kann ich nur sagen: Die deutsche Justiz, die über die Anklage gegen Oberst Klein zu entscheiden hatte, ist schlicht und ergreifend anderer Meinung. (Lachen des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) - Da können Sie lachen. Bei juristischen Meinungen gibt es natürlich immer unterschiedliche Auffassungen. Es gibt ja den Spruch: Drei Juristen, fünf Meinungen. (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Falsch!) Wenn es bei solchen Fragen von den zuständigen Institutionen eine Entscheidung gibt, ist es Aufgabe des Parlaments, das nicht zu ignorieren und nicht weiterhin zu behaupten, dass man völkerrechtswidrig unterwegs ge-wesen ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Alles in allem kann man sagen, dass die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses diejenigen Dinge zutage gefördert hat, die wir ändern mussten, sowohl im Einsatzgebiet selbst als auch in der Kommunikation des Bundesministeriums der Verteidigung; denn auch da waren offenkundig Unzulänglichkeiten vorhanden. Diese Änderungen sind weitgehend geschehen. Die Versuche, sowohl den Einsatz wie auch handelnde Personen in Misskredit zu bringen oder gar zu diffamieren, sind gescheitert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bombenangriff von Kunduz am 4. September 2009 war eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dass ein Bundeswehroberst den Befehl zu einem Luftangriff gibt, bei dem über 100 Menschen, darunter überwiegend unschuldige Zivilisten, umkommen sollten, lag außerhalb des Denkhorizonts der deutschen Öffentlichkeit. Das hat viele aufgeschreckt, viele entsetzt, und es ist gut, dass sich die Deutschen auch über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so schwertun, einer Politik zu folgen, die uns wieder zu militärischen Tätern macht. (Beifall bei der LINKEN) Man hat das auch "Kultur der Zurückhaltung" genannt. Für mich schließt das den Begriff der Empathie ein, das Mitgefühl mit den Opfern, deren Angehörigen und Freunden. Deshalb stand für uns, die Linke, aber auch für viele andere neben der Pflicht zur Aufklärung immer auch im Zentrum, dass die afghanischen Opfer der Bomben nicht vergessen werden, dass ein Schuldeingeständnis durch die Verantwortlichen erfolgt - bis heute nicht geschehen - und dass die betroffenen Familien, die in großer Armut leben, angemessen entschädigt wer-den - bis heute nicht geschehen. Leider wurde auch unser Vorschlag, am Jahrestag der Bombennacht von Kunduz hier im Bundestag der Toten zu gedenken, abgelehnt. Diese Wunde bleibt. Was die Öffentlichkeit damals aufgewühlt hat, waren nicht nur die Bomben, die Toten, Menschen, die sich quasi in Luft aufgelöst hatten, sondern es war auch der Umgang mit diesem Ereignis. Es war doch damals mit Händen zu greifen, dass die Wahrheit immer nur scheibchenweise ans Licht gekommen ist, dass Dinge vorenthalten werden sollten. Der Versuch, möglichst rasch zur Tagesordnung überzugehen, wäre auch fast gelungen, wenn nicht Nachrichtenmedien Ende Oktober mit neuen Enthüllungen nachgelegt hätten. Man muss sich daran noch einmal erinnern. Die Bundeskanzlerin hatte am 8. September 2009 hier im Bundestag versprochen, rückhaltlos und vollständig aufzuklären. Dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Wir sind durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses zu klaren Bewertungen gekommen. Wir sind davon überzeugt, dass der Luftangriff vom 4. September 2009 gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen hat und dass er deshalb nie hätte stattfinden dürfen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Michael Brand [CDU/CSU]: Sie wollen die Bundeswehr abschaffen! Das ist es doch!) Oberst Klein hätte alles tun müssen, um definitiv auszuschließen, dass sich am Angriffsort Zivilisten befinden. Davon kann aber keine Rede sein. Schon allein die Frage nach dem Verbleib des besonders schutzbedürftigen, weil verschleppten Lkw-Fahrers zu ignorieren, war fahrlässig. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist zynisch, was Sie hier erzählen!) Aber auch das stete Kommen und Gehen einer großen Zahl von Menschen, die Benzin aus dem Tanklastwagen abzapfen wollten, sprach gegen die Annahme, dies seien keine Zivilisten. Oberst Klein hätte vor dem Angriffsbefehl zwingend Tiefflugaktionen der Piloten anordnen müssen - ich rede vom Bürgerrecht -, um die Zivilisten auf der Sandbank vor einem Luftangriff zu warnen und ihnen die Gelegenheit zu geben, den Ort unverzüglich zu verlassen. Das sind völkerrechtliche Gebote. Das ist nicht geschehen, weil es ja gerade das Ziel des Bombenangriffs war, den lokalen Taliban-Führern und den vermeintlichen Aufständischen einen - so hieß es ja - "vernichtenden Schlag zu versetzen". Das war das Kalkül. Dass sich die Bundeswehrführung intern und in ihrer Beratung des damaligen Ministers dieses Kalkül zu eigen gemacht (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie wollen doch die Bundeswehr madig machen!) und damit den Luftschlag gerechtfertigt hat, hat die Sache wahrlich nicht besser gemacht, im Gegenteil. Das haben wir im Untersuchungsausschuss auch herausgefunden. Wir konnten uns auch in dieser Bewertung nicht zuletzt auf den NATO-Untersuchungsbericht stützen. Er enthält alle wesentlichen Fakten, auch klare Hinweise auf die gravierenden Regelverstöße durch Oberst Klein, und er macht keinen Hehl daraus, dass der Angriffsbefehl ohne unmittelbare Gefahr für die Bundeswehr und auch für afghanische Zivilisten sowie ohne ausreichende Klärung, wer durch die Bomben getroffen werden würde, nicht hätte gegeben werden dürfen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Zitieren Sie ihn bitte richtig!) Es ist ein Trauerspiel, dass dieser COMISAF-Bericht weiter topsecret ist, lieber Kollege Brand. Die Bundesregierung hat lange mit dem Finger auf die NATO gezeigt. Peinlich nur, dass durch den Untersuchungsausschuss herauskam - man kann es nachlesen -, dass das deutsch geführte PRT Kunduz auch daran beteiligt war, an der Geheimeinstufung festzuhalten. Das ist doch bemerkenswert. General Ramms, zeitweilig ranghöchster deutscher Offizier bei der NATO, war einer der Zeugen. Er hat ausgesagt, seine Schlussfolgerung nach der Lektüre des COMISAF-Berichts habe gelautet: Ich empfehle die gerichtliche und disziplinarische Untersuchung des Vorfalls. - Das war die Meinung eines führenden Militärs. (Joachim Spatz [FDP]: Das ist doch gemacht geworden! - Michael Brand [CDU/CSU]: Genau das ist passiert! Meine Güte! Sie haben doch ein Brett vor dem Kopf!) Wie ist die Bundesregierung damit umgegangen? Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Kämpfe und dieses Ereignisses am Kunduz-Fluss hat man die Weichspülterminologie aufgegeben. Seit Oktober 2009 sprechen wir von Krieg in Afghanistan. Man mag das als Anerkennung der Realitäten ansehen, aber es geht um mehr: Krieg und Kriegsopfer gehören zusammen, und wenn schon Krieg ist, dann ist auch mehr erlaubt, also auch verschärfte Angriffshandlungen. Einen Oberst, der gegnerische Kombattanten nach seinen eigenen Worten vernichten will, zu belangen, wird schwierig. Man konnte davon ausgehen, dass eine auch politisch aufgestellte Generalbundesanwaltschaft - davor brauchen wir die Augen nicht zu verschließen - schon für den Rest sorgen und hilfreich zur Seite stehen würde. Genau das ist in dem vorliegenden Fall passiert. Das Verfahren wurde nach fünf Wochen eingestellt. (Joachim Spatz [FDP]: Ja und? - Michael Brand [CDU/CSU]: Was soll das denn heißen? Was wollen Sie denn unterstellen?) Die Bundeswehr hat gegen Oberst Klein ein förmliches Disziplinarverfahren erst gar nicht eingeleitet. Hier scheint ein Grundmuster auf, das überaus kritikwürdig ist. Es mag sein, dass eine Staatsanwaltschaft der Meinung ist, eine strafrechtliche Verurteilung sei nicht zu erwarten. Aber die disziplinarische Würdigung ist etwas anderes, und sie darf nicht einfach an eine unterbleibende Strafverfolgung angehängt werden. Gravierende Verstöße gegen NATO-Regeln zum Beispiel - die liegen eindeutig vor - sind zu ahnden, wenn man nicht riskieren will, dass das schlechte Beispiel Schule macht. (Beifall bei der LINKEN) Es kann doch nicht sein, dass schlampiges Waffenreinigen geahndet wird (Michael Brand [CDU/CSU]: Was für eine Verharmlosung! Zynisch!) und ein tödlicher Waffeneinsatz, der in der heutigen Bundeswehrführung als Riesenfehler eingestuft wird, mit Beförderung belohnt wird. Das kann nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundeskanzlerin hat am 8. September 2009 davon gesprochen, dass durch Kunduz "wie in einem Brennglas" die "grundsätzlichen Fragen sichtbar" werden, "die wir uns seit Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan immer wieder stellen müssen". Wohl wahr. Dazu gehört auch die Frage, ob sich die Bundeswehr an einer solchen Form der offensiven Aufstandsbekämpfung beteiligen soll, wie sie im Norden stattfindet. Man hat seit Beginn 2009 gesagt, man müsse sich jetzt wehren. Dann kam Kunduz. Für die politischen Entscheidungsträger schien es dann vor allem darum zu gehen: Wie kann man den allzu bohrenden Fragen nach der Sinnhaftigkeit des Einsatzes an der Heimatfront begegnen? Das ist der kritische Punkt. Wenn die Hauptsorge ist, ob die Truppe noch angemessen kriegerisch funktioniert, und dies die Bedenken, ob die völkerrechtlichen und rechtlichen Schranken zur größtmöglichen Schonung der Zivilbevölkerung auch strikt beachtet werden, in den Hintergrund drängt oder überlagert, dann sind wir auf der schiefen Ebene. Deshalb gilt es an dieser Stelle, innezuhalten und umzukehren. Genau das ist es, was gemacht werden muss. Die entscheidende Schlussfolgerung, die die Linke aus dem 4. September 2009 zieht, lautet: Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Omid Nouripour das Wort. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen am 4. September 2009 zu Schaden gekommen sind. In den Berichten gibt es variierende Zahlen: bis zu 142. Wir wissen aber, dass viele Zivilistinnen und Zivilisten darunter waren und dass auch Kinder dort versehrt worden sind. Das ist der Grund, warum wir heute zu Recht sagen, dass es eine Zäsur war, nicht nur in der Geschichte der Bundeswehr, sondern auch beim Einsatz in Afghanistan, und das ist der Grund, warum es einen Untersuchungsausschuss gegeben hat. Wir fragen: Wie konnte es dazu kommen, dass ein solches Fehlurteil gefällt wurde? Wie ist die Politik danach mit diesem Fehler umgegangen? Welche Lehren ziehen wir daraus? Diese Fragen haben wir sehr lange miteinander erörtert. Es war nicht immer einfach. Aber ich finde unter dem Strich, dass dieser Ausschuss vieles erreicht hat. Wir haben viel über den Einsatz in Afghanistan gelernt, wir haben viel über Afghanistan selbst gelernt, und wir haben sehr viel über die Bundeswehr und das Bundesministerium der Verteidigung gelernt. Vieles war schleppend. Bei den meisten Akten war es am Anfang nicht einfach, sie zu bekommen. Die Bundesregierung hat aus unserer Sicht vieles nicht oder nur sehr langsam geliefert. Wir haben immer wieder mit der Mehrheit zu kämpfen gehabt. Nicht alle Auseinandersetzungen, die wir im Ausschuss hatten - ich schließe an dieser Stelle keine Fraktion aus -, waren sachlich. Ich finde, dass vieles nicht ernsthaft genug diskutiert wurde - ich persönlich meine, vor allem vonseiten der Koalition. Ich fand es auch nicht gut, wenn erst gesagt wurde, dass bestimmte Sitzungen öffentlich sein sollen, dann aber aus Gründen, die ich bis heute nicht nachvollziehen kann, anders entschieden wurde. Das zeugte nicht von Zuverlässigkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber noch einmal: Wir haben es geschafft, miteinander zu einem gemeinsamen Feststellungsteil zu kommen. Das ist gut. Das ist etwas mehr gewesen, als ich am Anfang erwartet hatte. Trotzdem kommen wir bei der Frage, wen man entlasten kann, zu einem anderen Ergebnis als die Ausschussmehrheit. Franz Josef Jung hat der Öffentlichkeit tagelang die Wahrheit verschwiegen, dass es zivile Opfer gegeben hat, obwohl das bereits am 4. September in internationalen Nachrichten bekannt geworden war. Bereits am 4. September gab es Meldungen über Kinder in Krankenhäusern in Kunduz. Die Bundeskanzlerin hat nicht widersprochen. Sie ist zwar für die Richtlinienkompetenz zuständig; sie ist aber in der Wahlkampfsituation abgetaucht. Sie hat versprochen, dass es ihrerseits vollständige Aufklärung geben werde. Ich selbst habe sie im Ausschuss gefragt, was nun ihr persönlicher Beitrag zur Aufklärung sei. Ihre Antwort war: Ich habe die Akten gelesen. - Ich finde, das ist für eine Bundeskanzlerin nicht besonders viel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Auswärtige Amt hat nicht widersprochen, sich aber wenigstens von den Äußerungen von Franz Josef Jung klug distanziert. Herr Kollege Spatz, bei Karl-Theodor zu Guttenberg fällt mir nur ein: ein Minister, drei Meinungen. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Anfangs gab es eine Bewertung, in der es hieß: militärisch angemessen und zwingend. Danach hieß es: Nein, das war falsch. Später hieß es: Es war politisch nicht angemessen, aber militärisch doch. - Wie er zu diesen Meinungswechseln kam, ist bis heute nicht wirklich klar. Er konnte uns das nicht sagen; er hatte halt den Überblick verloren. Die Herren Wichert und Schneiderhan können wir Grüne auch nicht entlasten. Sie sind Opfer eines Systems geworden, das sie jahrelang selbst im Ministerium installiert haben. Erlauben Sie mir bitte, noch einige Sätze zu Oberst Klein zu sagen. Er hat in einer unglaublich schwierigen Situation Fehler gemacht. Er hat in dieser Situation gegen Einsatzregeln verstoßen und das völkerrechtlich verankerte Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht eingehalten. Nun hat natürlich auch die Politik, die Soldaten und Soldatinnen entsendet, eine Fürsorgepflicht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, ich finde, es ist kein richtiges Verständnis von Fürsorge, wenn man Fehler einfach nicht benennt. Hinsichtlich des Disziplinarverfahrens würde ich mir nicht anmaßen, ein Ergebnis vorwegzunehmen. Das Problem ist jedoch die Begründung des BMVg. Die Begründung für die Einstellung des Disziplinarverfahrens lautete: Anhaltspunkte für ein Dienstvergehen haben sich nicht ergeben. - Das ist schlicht falsch. Für eine Beurteilung muss man die internationalen Berichte lesen, man muss die NATO-Ergebnisse lesen - und dann muss man einfach zu einem anderen Ergebnis kommen. Im Untersuchungsausschuss waren einige Menschen mit goldenen Sternen auf der Schulterklappe als Zeugen, bei denen ich mich gefragt habe, ob sie sich einfach immer wieder weggeduckt haben. Wir hatten aber auch sehr viele Soldaten als Zeugen im Ausschuss, die ein Musterbeispiel für Innere Führung waren. Die Frage ist: Welches Signal sendet die Führung des Ministeriums in Richtung der eigenen Soldatinnen und Soldaten aus, wenn es darum geht, was eigentlich Innere Führung ist? Ein permanentes Wegdrücken von Fehlern und die Haltung, auch das, was international bekannt ist, nicht zu thematisieren, ist kein gutes Beispiel, wenn man das Prinzip der Inneren Führung verankern will. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Koalitionsfraktionen wollten den Ausschuss bereits nach drei Monaten beenden. Zu dem Zeitpunkt war die Bundeskanzlerin noch gar nicht als Zeugin vernommen worden. Wir hatten viel Ärger miteinander. Nun kann man sagen, es sei ein bekanntes Spiel in Untersuchungsausschüssen, dass sich Koalition und Opposition auch in den Formalitäten beharken. Das Problem aber ist Folgendes: Wir haben am Ende mehrfach angeboten, uns gemeinsam hinzusetzen und einmal aufzuschreiben - der Kollege Arnold hat es gesagt -, was wir denn eigentlich aus dem Ganzen gelernt haben, damit wir schließlich gemeinsame Empfehlungen abgeben können. Sie haben sich diesem Gespräch verweigert. (Michael Brand [CDU/CSU]: Stimmt nicht!) Das ist sehr bedauerlich und zugleich ein Bärendienst, nicht nur für die Akzeptanz der Truppe, sondern auch für die Akzeptanz des Einsatzes in Afghanistan. Erlauben Sie mir, einige wenige Lektionen vorzutragen, die wir - Sozialdemokraten und Grüne - aufgeschrieben haben: Die Einsatzregeln der ISAF müssen den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz konsequent und systematisch vermittelt werden. Das gilt erst recht im Hinblick auf das Völkerrecht und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben können. Die Struktur der Feldlager, also der PRTs, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden. Es kann nicht sein, dass es formal eine Doppelspitze gibt, bei der allerdings der militärische Führer 1 000 Menschen unter sich hat, der zivile hingegen nur zwei. Hier muss die zivile Seite deutlich mehr tun, damit eine Doppelspitze auf gleicher Augenhöhe agieren kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bundeswehr braucht mehr Aufklärungsmittel. Es geht natürlich auch darum, dass Quellen anders geführt werden, auch beim Einsatz in Afghanistan. Es geht in erster Linie darum, dass das Prinzip der Inneren Führung konsequent vermittelt wird. Wenn Soldatinnen und Soldaten der Meinung sind, dass ein Befehl, der ihnen erteilt worden ist, nicht regelkonform ist - sei er völkerrechtlich zweifelhaft, sei er mit den Einsatzregeln nicht zu vereinbaren -, dann müssen sie dem wie selbstverständlich widersprechen. Das ist nicht immer selbstverständlich; das muss es aber werden. Im Ministerium gab es - der Kollege Spatz hat das zu Recht gesagt - eine mangelnde Krisenkommunikation. Sie sagten, dass es danach Änderungen gegeben habe; alles sei besser geworden. In dem Zusammenhang möchte ich an den Fall der Gorch Fock erinnern, bei dem man nicht das Gefühl hatte, dass irgendetwas gelernt worden war. Da hat man den Fehler, nämlich erst einmal alles beiseitezudrücken, was es an Fehlern gab, wiederholt. Wichtig wäre, dass die Bundeskanzlerin oder ab 2013 der nächste Bundeskanzler - meines Wissens sind bisher alle Gegenkandidaten Männer - (Joachim Spatz [FDP]: Ihr habt noch keinen!) Verantwortung für die Einsätze übernehmen. Die Bundeskanzlerin hat in der letzten Legislaturperiode - das gilt bis zu diesem Tag - das Wort "Afghanistan" hier im Deutschen Bundestag nur einmal verwendet. Das ist nicht ausreichend und kein Fall von Richtlinienkompetenz. Wichtig ist aber, dass der Einsatz - auch das hat der Kollege Arnold zu Recht gesagt - auf klarere rechtliche Grundlagen gestellt wird. Wir plädieren für ein Streitkräfteeinsatzgesetz. Bei der Beratung darüber werden wir uns wiedersehen. Wir haben nämlich Konsequenzen aus dem gezogen, was wir gelernt haben, und werden das Parlament in dieser Legislaturperiode weiterhin damit beschäftigen. Ich hoffe, dass wir dabei zu besseren gemeinsamen Ergebnissen kommen werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ein Untersuchungsausschuss ist ein Hilfsinstrument für das Parlament zur Sachaufklärung eines skandalisierten Sachverhalts. Er ist aber auch politisches Kampfmittel. Wir stellen fest, dass Untersuchungsausschüsse in letzter Zeit immer mehr zu einem politischen Kampfmittel und immer weniger zu einem Aufklärungsinstrument geworden sind. Wenn Sie es mir nicht glauben, kann die SPD das im Buch von Wiefelspütz auf Seite 30 nachlesen. Den Linken empfehle ich Badura in der Festschrift für Helmrich, Seite 191. (Michael Brand [CDU/CSU]: Ordentlich zitiert!) Im Rahmen einer politischen Kampfstimmung ist es normal, dass man sich einmal im Ton vergreift, dass man mit Unterstellungen und subtilen Behauptungen, die sich nicht bewahrheiten lassen, argumentiert und dass man aus diesen Unterstellungen Schlussfolgerungen zieht, die ebenfalls nicht stimmen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kauder, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Keul? Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Nein, sie kann eine Kurzintervention machen. - Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür, dass man im politischen Meinungskampf mit Unterstellungen arbeitet. Jedoch habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass man glaubt, die Generalbundesanwältin attackieren zu müssen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit den ungehörigsten Argumentationen, die ich jemals erlebt habe. Die Linken haben der Bundesregierung unterstellt, sie habe gewissermaßen Einfluss auf die Generalstaatsanwaltschaft genommen, damit diese das Verfahren einstelle. (Zuruf von der LINKEN: Ist das nicht so?) Da hört es auf. Eine objektive Behörde muss sich nicht gefallen lassen, dass behauptet wird, sie sei von einer Bundesregierung determiniert. Das stimmt nicht. Sie können es nicht beweisen, und deshalb dürfen Sie es auch nicht behaupten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es gehört sich auch nicht, der Generalbundesanwaltschaft zu unterstellen, sie habe oberflächlich gearbeitet und keinerlei militärpolitische Kenntnisse. (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Was ist denn mit den Zeugen, die vernommen worden sind, oder mit den Zeugen, die nicht vernommen worden sind?) Deshalb rate ich jedem, bei den Aufgaben eines Untersuchungsausschusses zu bleiben. Wir haben in diesem Untersuchungsausschuss durchaus etwas gelernt. Ein hohes Gericht hat Ihren Plan eines Showdowns durchkreuzt. Eine Gegenüberstellung von Guttenberg, Schneiderhan und Wichert, wie Sie sie wollten, ist von uns abgelehnt worden. Das Gericht hat uns recht darin gegeben, dass es sich nicht um ein Minderheitenrecht handelt, sondern dass die Mehrheit das ablehnen kann. Wir wollen keinen Showdown in Untersuchungsausschüssen. Ich empfehle, dass die Opposition in sich geht und darüber nachdenkt, ob es nicht besser ist, aus einem Untersuchungsausschuss wieder das zu machen, was eigentlich vorgesehen war, nämlich ein Instrument der Sachaufklärung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dieser Untersuchungsausschuss hat wieder einmal bestätigt: Wir müssen das parlamentarische Untersuchungsausschussrecht reformieren. Es gibt da zu viel Leerlauf, und es wird zu viel unnütz gemacht. (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Das ist richtig!) Man kann da einiges verbessern. Ich habe einen Gesetzentwurf in der Tasche; jeder kann daran mitarbeiten. (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nenne ich Hybris!) Es ist nämlich eine Aufgabe des Parlaments, sich funktionierende Regeln zu geben. Es darf nicht sein, dass Zeugen vernommen werden und am Ende in deren Aussagen etwas hineininterpretiert wird, was diese nicht hergeben. (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Wir brauchen mehr Öffentlichkeit! Dann kann man das nachlesen!) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer liest denn diese über 300 Seiten Abschlussbericht? (Michael Brand [CDU/CSU]: 580 Seiten!) - 580 Seiten, sagt der Kollege. Vielleicht kommen wir einmal dazu, das präziser und knapper zu formulieren, einen Bericht hinzubekommen und Sondervoten abzugeben, die Hand und Fuß haben. Nehmen Sie sich ein Beispiel am Bündnis 90/Die Grünen. Ein Kompliment: Sie haben ein Sondervotum abgegeben, das zwar nicht unsere Meinung widerspiegelt, aber sauber aufgebaut ist, im Ton moderat ist und einen Sprachgebrauch pflegt, wie wir ihn im Parlament und im Plenum gewohnt sind: nicht unter der Gürtellinie. Daraus können die anderen Fraktionen nur lernen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Kauder, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hänsel? Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Bitte schön. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist jetzt ungerecht!) Heike Hänsel (DIE LINKE): Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Kauder, Sie haben sich gefragt: Wer liest eigentlich diesen Untersuchungsbericht? Sind Sie sich eigentlich dessen bewusst, dass die Menschen in Afghanistan sehr genau schauen, was hier passiert, wer Verantwortung übernimmt und wie mit der ganzen Situation umgegangen wird? Wissen Sie eigentlich, dass immer mehr Menschen in Afghanistan auf die Straße gehen, um sich gegen genau solche Bombardierungen zu wehren, weil sie feststellen, dass nichts passiert und es nicht einmal einen Aufschrei gibt? Es ist nicht egal, was in diesem Untersuchungsbericht steht. Immer mehr Menschen in Afghanistan wenden sich gegen ein solches Vorgehen. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass heute hier oben auf der Besuchertribüne ein junger Afghane sitzt, der solche Demonstrationen organisiert und sagt: "Wir wehren uns gegen diese Bombardierungen", der mitbekommt, worüber wir hier diskutieren. Es ist nicht egal, was in einem solchen Bericht steht; es wird sehr genau auf jedes Wort geachtet, auch auf Ihre Worte und darauf, ob es hier ein Stück weit Empathie gibt oder Sie nur sachlich-technisch über diesen Untersuchungsausschuss reden. Ich bin froh, dass sich junge Afghanen dagegen wehren, und möchte Said Mahmood Paiz herzlich willkommen heißen. Herzlichen Dank, dass du da bist. (Beifall bei der LINKEN) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Liebe Kollegin, Sie vermitteln diesen jungen Menschen damit allerdings, auch in Deutschland gäbe es keine rechtsstaatlichen Prinzipien. Denn Sie, die Linken, waren es, die der Generalbundesanwaltschaft vorgeworfen haben, sie habe in einem äußerst bedenklichen, wenn nicht sogar rechtsstaatswidrigen Vorgang das Verfahren gegen Oberst Klein eingestellt. Sie dürfen den jungen Menschen in Afghanistan nicht vermitteln, dass die Generalbundesanwaltschaft "bedenklich" und "rechtsstaatswidrig" vorgeht - das tut sie nicht -; denn diese jungen Menschen wissen, was es heißt, nicht rechtsstaatlich behandelt zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sehen also, dass es durchaus seinen Sinn hat, auch über Prinzipien zu diskutieren. Vielleicht lernen Sie noch etwas daraus. Ich würde es mir und uns allen wünschen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Keul das Wort. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Kauder, wir haben heute mehrfach in der Debatte gehört, dass alle ein Interesse an Sachaufklärung hatten, an einer öffentlichen Aufklärung, wie sie uns die Kanzlerin versprochen hatte. Es sah beim Untersuchungsausschuss zu Beginn auch so aus, als seien wir da auf einem guten Wege. So hatten wir einen Kompromiss mit den Koalitionsfraktionen im Hinblick auf Geheimhaltungsbedürftigkeit und öffentliche Aufklärung gefunden; wir hatten einen Kompromiss gefunden, welche Zeugen öffentlich und welche nicht öffentlich vernommen werden sollten. Das war eine vernünftige Grundlage; sie bestand etwa zwei bis drei Monate. Ich möchte Sie heute fragen: Warum war es gerade Ihnen, die Sie nach zwei bis drei Monaten erschienen, so besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass dieser Ausschuss nie wieder öffentlich tagte und sämtliche Vernehmungen von Zeugen, egal ob schutzbedürftig oder nicht, nur noch im Geheimen stattfanden? Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben das Wort, Kollege Kauder. Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Frau Kollegin, schlicht und ergreifend deshalb, weil ich in das Grundgesetz geschaut habe. Schon der Verteidigungsausschuss tagt nicht öffentlich, aus gutem Grund: weil es da um militärische Informationen geht, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein sollen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn im Grundgesetz steht, dass schon der Verteidigungsausschuss bei solchen Sachverhalten nicht öffentlich tagt, warum soll dann ein Untersuchungsausschuss, bei dem es ans Eingemachte geht, auf einmal öffentlich tagen können? Vielleicht hätten Sie besser ein anderes Thema angesprochen: das ständige Durchstechen von geheimen Informationen an die Öffentlichkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit der Frage des Geheimnisverrates hat sich hier niemand befasst. Ich habe mir Mühe gegeben, eine Alternative anzubieten, aber Sie ignorieren sie völlig. Ich kann Ihnen sagen: Es kann nicht sein, dass geheimhaltungsbedürftige Informationen ständig nach außen dringen. Ich habe mich vor zwei Tagen beim Bundesverfassungsgericht dafür rechtfertigen müssen, dass es der Deutsche Bundestag nicht schafft, in Ausschüssen die Geheimhaltung zu wahren. In Bezug auf das Stabilitätsgesetz haben wir uns für ein Neuner-Gremium entschieden, weil wir zu dem Ergebnis gekommen waren, dass 41 nicht dichthalten können. Darüber müssen wir einmal nachdenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich nach den durchaus interessanten Rechthabereien des Kollegen Kauder einige Bemerkungen zum Untersuchungsausschuss als solchem machen. Es gab in der Öffentlichkeit und auch in der Bundeswehr gelegentlich die Meinung, man brauche diese parlamentarische Untersuchung nicht, sie sei Zeitverschwendung, da werde viel Lärm um nichts gemacht, und am Ende komme nichts heraus. Ich stelle fest: Das Gegenteil ist richtig. Nach gut anderthalb Jahren Arbeit kann niemand bestreiten, dass dieser Ausschuss notwendig war und dass der vorliegende Bericht die erste offizielle deutsche Darstellung der Ereignisse vom 3. und 4. September 2009 und der exekutiven Entscheidungen danach enthält. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) So etwas gab es nicht von der Bundesregierung, obwohl die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung "lückenlose Aufklärung" angekündigt hatte. Nichts hat sie vorgelegt. Dafür brauchten wir diesen Ausschuss, dafür gibt es jetzt diesen Bericht. Der Anlass war wichtig genug: die folgenschwerste militärische Operation in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit über 100 Toten, mit Kritik von vielen NATO-Partnern, mit einer eigenen hochnotpeinlichen NATO-Untersuchung, mit einem zur Ruhe gesetzten Generalinspekteur, einem entlassenen Staatssekretär und zwei verloren gegangenen Bundesministern. Das war nicht nichts. (Michael Brand [CDU/CSU]: Richtig!) Es war unsere parlamentarische Schuldigkeit, uns hier an die Arbeit zu machen. Solche Untersuchungsausschüsse sind aufwendig und deshalb selten. Aber allein die Möglichkeit, dass es einen Untersuchungsausschuss geben kann, hat eine Wirkung auf die Exekutive. Nicht nur die tatsächliche ständige parlamentarische Kontrolle, sondern die jeder-zeitige Möglichkeit dieser Kontrolle durch einen besonderen Ausschuss sollte als regulative Idee nicht unterschätzt werden. Gerade wenn wir immer von der Bundeswehr als Parlamentsarmee sprechen, sollten wir uns nicht vor der zusätzlichen Arbeit scheuen, und wir haben das auch nicht getan. Der nun vorliegende dicke Bericht enthält tatsächlich eine gemeinsame Bewertung: Der Luftschlag von Kunduz war ein schwerer Fehler; es hätte nicht dazu kommen dürfen. - Ich gebe zu, dass ich im Begründungsteil die Argumentation meiner Fraktion, der SPD, etwas schlüssiger finde als die Logik der Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und FDP. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das überrascht mich aber!) Die lautet etwa so: Der Bombenabwurf war falsch; aber alles, was dazu geführt hat, war richtig. Das klingt etwas paradox. (Michael Brand [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht richtig gelesen!) Aber ich will hier gar nicht unterschlagen, dass es gute Gründe dafür gibt, sich nicht immer ganz so sicher zu sein. Oberst Klein hat als Zeuge auf die Schwierigkeit hingewiesen, militärische Entscheidungen auf der Grundlage eines niemals vollständigen Lagebildes treffen zu müssen. Er hat vor dem Ausschuss ausgesagt und hinterher noch einmal zu den Fraktionsvoten Stellung genommen. Damit hat er in jeder Weise die Aufklärungsarbeit unterstützt. Ich will das betonen, weil es wichtig ist für das Vertrauensverhältnis zwischen Armee und Parlament nicht nur im Alltag, sondern auch, wenn tragische Ereignisse aufzuarbeiten sind. (Beifall bei der SPD) Am Ende seiner Stellungnahme schreibt Oberst Klein: ... vor dem Hintergrund der heutigen Kenntnisse muss ich die Folgen meiner Entscheidung als verhängnisvoll bezeichnen. So ist es, und soweit besteht gewissermaßen Übereinstimmung zwischen Militär und Politik. Zum Schluss noch ein Wort zum zurückgetretenen Verteidigungsminister, der gerade jetzt wieder in die deutsche Öffentlichkeit drängt. Er hatte sich ja ursprünglich dazu verstiegen, zu sagen, es habe so oder so zu dem Luftschlag kommen müssen. Im Ausschuss hat er zu Protokoll gegeben, er habe vorher selbst den geheimen NATO-Untersuchungsbericht durchgearbeitet. - Das geht nicht zusammen. Die NATO kommt zu dem Ergebnis, dass der Bombenbefehl nicht mit der Weisungslage und auch nicht mit der neuen Strategie der NATO in Afghanistan vereinbar gewesen ist. Hätte man aus dem COMISAF-Bericht zitieren dürfen, wäre das Gerede des Ministers schnell ad absurdum geführt worden. Aber: geheim! Auch andere hüten heute noch Guttenberg-Geheimnisse, auch manche Medien. Ich zitiere aus dem handschriftlichen Brief des entlassenen Staatssekretärs Wichert an seinen Minister vom 30. November 2009 - Zitat -: Im heutigen Spiegel und in anderen Presseorganen werden über General Schneiderhan und mich Lügen verbreitet. Besonders ärgerlich ist, dass dies unter Berufung auf Ihr "Umfeld" geschieht. (Michael Brand [CDU/CSU]: Ihre Äußerungen zeigen, dass es nur um die Sache geht, nicht um den Minister!) Darauf antwortet Guttenberg am 2. Dezember 2009, ebenfalls handschriftlich - Zitat -: (Florian Hahn [CDU/CSU]: Meinen Sie, dass das jetzt noch jemanden interessiert?) Sehr geehrter, lieber Herr Dr. Wichert, offenbar gibt es interessierte Kreise, die mit Setzen von vermeintlichen Zitaten und gezielten Unwahrheiten Unfrieden, ja Zwietracht säen wollen. Am 18. Dezember 2009 schreibt er noch einmal an Wichert - Zitat -: Mein bisheriges Verständnis war, dass über den Inhalt unseres persönlichen Gesprächs am 25. November 2009 keine Information der Öffentlichkeit erfolgt. Im Ausschuss hat der Zeuge Guttenberg in der ihm eigenen Art die Frage offengelassen, wer den Spiegel über den Verlauf des vertraulichen Gesprächs in seinem Büro informiert hat. Der Spiegel selbst weiß das natürlich, hat es aber damals nicht geschrieben. Dafür finden wir diese Woche dort einen schönen Satz. Er ist so schön, dass ich damit schließen will: Im Buch sagt er ... - Guttenberg - sein Verhalten in der Kunduz-Affäre sei von "absoluter Wahrhaftigkeit" geprägt gewesen, im Berliner Regierungsviertel gibt es wahrscheinlich keine fünf Leute, die das genauso sehen. Von diesen fünf - das füge ich hinzu - arbeitet keiner mehr im Spiegel-Büro. So gibt es überall Fortschritt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Florian Hahn für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Hahn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Untersuchungsausschuss sollte die Umstände des Luftschlages vom 3. und 4. September 2009 auf zwei Tanklastwagen aufklären, bei dem es zum tragischen Tod vieler Zivilisten kam, was wir immer bedauert haben. Das zu bezweifeln, ist, finde ich, unanständig. Ebenso ging es darum, die diesbezügliche Aufklärungs- und Informationspraxis der Bundesregierung und die Vereinbarkeit der gewählten Vorgehensweise mit nationalen und multinationalen politischen, rechtlichen und militärischen Vorgaben für den Einsatz zu untersuchen. Diese Aufklärung haben wir durch intensive Beweisaufnahme, durch Zeugeneinvernahme und detaillierte Informationskenntnisse erreicht. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass Oberst Klein auf Basis der damals vorliegenden Faktenlage nachvollziehbar gehandelt hat. Seine Entscheidung diente dem Schutz der ihm anvertrauten Soldatinnen und Soldaten. Daran habe ich, vor allem mit Blick auf die Sicherheitssituation damals und mit Blick auf seinen Auftritt im Ausschuss, keinen Zweifel. Keinen Zweifel habe ich zudem, dass es unter anderem nie zu diesem Luftschlag gekommen wäre, wäre erkennbar gewesen, dass so viele Zivilisten bei den Lastzügen gewesen sind. Oberst Klein hat sogar zu jedem Zeitpunkt versucht, zivile Opfer zu vermeiden. Darin liegt die besondere Tragik in diesem Fall. Die verschiedenen Verfahrensfehler und Verletzungen von Einsatzrichtlinien sind heute bekannt. Deshalb muss aus heutiger Sicht der Einsatz als nicht angemessen bezeichnet werden. Er hätte nicht durchgeführt werden dürfen. Es bleibt zudem festzustellen, dass sich die Bundesregierung korrekt verhalten und sich unverzüglich um die Aufklärung der Lage vor Ort gekümmert hat. (Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) Darüber hinaus haben die Kanzlerin, der Minister sowie die Bundesregierung von Anfang an ihr Bedauern und ihren Respekt gegenüber den unschuldigen Opfern zum Ausdruck gebracht. So weit zu den Fakten. Auch ich darf an dieser Stelle ein Dankeschön sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusssekretariats und des Ministeriums für die Vor- und Aufbereitung der Sitzungen und der Sitzungsunterlagen. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geheimschutzstelle!) Sie haben noch ein Stück mehr gearbeitet als wir. Ein herzliches Dankeschön! (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Abgesehen von der Faktenlage gibt es immer auch eine persönliche Bewertung eines solchen Untersuchungsausschusses. Hierbei kann ich meinen Ärger darüber nicht ganz verhehlen, dass wir uns in diesen bewegten Zeiten, in denen unsere Soldatinnen und Soldaten großen Gefahren ausgesetzt sind und sich die Bundeswehr in der größten Reform ihrer Geschichte befindet, über fast zwei Jahre in 79 Sitzungen durch knapp 350 Aktenordner zum Teil regelrecht gequält haben, (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: War das Zeitverschwendung, oder was?) und das oftmals nur, weil die Opposition es nicht lassen konnte, auch unter den kleinsten Stein mindestens fünfmal zu schauen, um zum Teil abstruse und abenteuerliche Theorien zu verfolgen. Wir hätten uns viele Sitzungen sparen können; denn das Ergebnis, das jetzt vorliegt, war schon lange absehbar. Das geringe Medieninteresse in den letzten Monaten ist ein Beleg dafür. Ich sage ganz klar: Als Demokrat und Parlamentarier habe ich vollstes Verständnis für die Notwendigkeit von Untersuchungsausschüssen. Ich halte sie für ein wichtiges Minderheitenrecht und für unverzichtbar. Aber dieses politische Instrument droht dann Schaden zu nehmen, wenn der Untersuchungsgegenstand in den Hintergrund und parteipolitisches Taktieren den Maßstab bildet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Was soll das denn jetzt?) Wir müssen uns auch fragen, ob es nicht beschämend war, wenn wir bei Zeugenbefragungen junge Soldaten manchmal stundenlang nicht nur befragt, sondern regelrecht ins Kreuzverhör genommen haben. Dieses Verhalten, das wir Parlamentarier dabei gezeigt haben, ist wahrlich keine Auszeichnung. Ich hoffe, dass dies das Bild, das die Soldaten von ihrem Parlament haben, nicht nachhaltig prägen wird. Beschämend fand ich auch den öffentlichen Umgang mit der Person Oberst Klein. Ich hoffe, dass es nicht Usus in unserem Land wird, dass wir militärische Führer auf diese Art und Weise an einen Pranger stellen und vorverurteilen. Ich hoffe, dass sich jetzige und künftige militärische Entscheidungsträger davon nicht abschrecken lassen und ihre Entscheidungen weiterhin so treffen, wie es die Situation erfordert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erschreckend war meines Erachtens auch, im Zuge des gesamten Verfahrens erleben zu müssen, was manche Kolleginnen und Kollegen unter Geheimhaltung verstehen. Nicht selten war die Sitzung noch in vollem Gange, da konnte man schon über die Ticker Details der Befragungen lesen. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das war schlimm!) Dies ist nicht nur unredlich und geschmacklos, sondern kann auch Zeugen gefährden. Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Instrument Untersuchungsausschuss sieht wahrlich anders aus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Hahn, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Keul? Florian Hahn (CDU/CSU): Das kann die Kollegin Keul am Schluss meiner Rede gerne machen. Fernab von den warmen Sitzungszimmern hier in Berlin befinden sich unsere Soldatinnen und Soldaten in einem Einsatz, der sie oftmals an die Grenzen ihrer Kräfte bringt und in dem sie großen Gefahren ausgesetzt sind. Vielleicht werden dort Entscheidungen unter anderen Voraussetzungen als im sicheren Büro getroffen. Ich will nichts verteidigen und nichts beschönigen; aber unsere Truppen haben ein Anrecht darauf, dass wir hinter ihnen stehen, dass wir Verständnis für ihre Anliegen und ihre Sorgen zeigen und dass wir uns in ihre Lage versetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass wir uns stärker in ihre Lage versetzen können, das haben der tragische Vorfall in Kunduz und die Diskussion darüber bewirkt. Deutschland musste plötzlich der Realität ins Auge sehen und erkennen, dass es sich hier um einen Einsatz handelt, in dem es tagtäglich zu Kampfhandlungen kommt. Karl-Theodor zu Guttenberg konnte daraufhin die Neubewertung des Einsatzes vornehmen. Seither sprechen wir unter anderem von einem kriegsähnlichen Zustand. Es ist wichtig, dass wir das Kind nun beim Namen nennen. Auch das gehört zu einer verantwortungsvollen Politik gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, aber auch gegenüber der Gesellschaft. Im Bewusstsein dessen, dass nicht jeder das bevorstehende Weihnachtsfest im Kreise seiner Familie feiern kann, dass viele Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind, wünsche ich ihnen und ihren Familien an dieser Stelle alles Gute und Gottes Segen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Entschuldigung, ich habe die Kurzintervention der Kollegin Keul vergessen. Die Aussprache ist geschlossen; aber bevor wir zur Abstimmung kommen, hat zu einer Kurzintervention die Kollegin Keul das Wort. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Hahn, Sie haben eben die Indiskretion bzw. die Weiterleitung von Informationen an die Presse angesprochen. Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Indiskretion aus dem Kreis der Kollegen - Sie haben uns als Kolleginnen und Kollegen angesprochen - gekommen ist? Die Staatsanwaltschaft hat das Strafverfahren wegen Geheimnisbruch immerhin mit der Begründung eingestellt, dass im Verteidigungsministerium und darum herum so viele Menschen Zugang zu diesen Akten haben, dass es aus Sicht der Staatsanwaltschaft schlicht nicht möglich war, herauszufinden, wo das Leck ist. Haben Sie einen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass diese Indiskretion aus dem Kreise der Parlamentarier gekommen ist? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Hahn hat das Wort. Florian Hahn (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Keul, vielleicht ist es naiv, aber die Tatsache, dass wir Meldungen zeitgleich oder - sagen wir einmal - mit einer Verzögerung von fünf Minuten in den Untersuchungsausschuss während einer geheimen Sitzung zum Teil mit Zitaten von Befragten hereingereicht bekommen haben, ist für mich Beweis genug, dass es eine solche Indiskretion von den Kolleginnen und Kollegen - entweder den Parlamentariern oder denen, die mit in diesem Raum saßen - gegeben haben muss. Anders kann ich mir das nicht vorstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7400, den Bericht des Verteidigungsausschusses als 1. Untersuchungsausschuss zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Doris Barnett, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die OSZE ausbauen und stärken - Drucksache 17/7824 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion. Uta Zapf (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir endlich einmal über die OSZE diskutieren; denn ich hatte ein bisschen das Gefühl, sie ist in Vergessenheit geraten. Dabei haben uns viele Ereignisse in der letzten Zeit gezeigt, dass es dringend erforderlich ist, die OSZE wieder zu stärken und zu befördern. Die Geschichte der OSZE bzw. des Vorläufers KSZE bis hin zur Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975 und darüber hinaus ist die Geschichte von Bemühungen, den Kalten Krieg zu überwinden. Auf Helsinki folgten fünf weitere Gipfel, die die KSZE und später die OSZE weiterentwickelten. Aber, liebe Freunde, seit 1999, nach dem Gipfel von Istanbul, stagnierte die Weiterentwicklung der OSZE. Vor mehr als einem Jahr, als wir uns intensiv mit den Vorbereitungen zu dem Gipfel von Astana beschäftigt haben, hatten wir einen gewissen Optimismus bezüglich der Weiterentwicklung. Es gab Hoffnungen auf einen erneuerten Prozess, der die OSZE stärken und beleben könnte, indem ein Aktionsplan verabschiedet würde, der in der Tat sehr ambitioniert war. Die Gipfelerklärung von Astana erschien uns als Lichtblick, bestätigte sie doch die Grundsätze der OSZE in allen Dimensionen. Die Schlussakte von Helsinki, die Charta von Paris und die Charta für europäische Sicherheit und damit die Grundprinzipien der drei Dimensionen der OSZE wurden bekräftigt. Einige von uns hatten das in der Klarheit sicherlich gar nicht erwartet. Die politisch-militärische Dimension sollte zu einer Sicherheitsgemeinschaft gefestigt werden. Vertrauensbildung, Transparenz, Abrüstung und die im sogenannten Korfu-Prozess diskutierten Vorschläge des russischen Präsidenten Medwedew sollten zu einem europäischen Sicherheitsvertrag fortentwickelt werden. Aus dem Kreis der Mitgliedstaaten kam im Vorfeld eine wirklich beeindruckende Fülle von Vorschlägen, um diesen Aktionsplan, auf den ich angespielt habe, zustande zu bringen. Dies ließ in der Tat einen positiven Schub zur Stabilisierung, zur Stärkung und zum Ausbau der OSZE erwarten. Allerdings ist es anders gekommen. Der Aktionsplan wurde nicht beschlossen. Damit war der Gipfel von Astana für mich ein ziemlicher Reinfall. Der bevorstehende Ministerrat im Dezember dieses Jahres sollte die Implementierung dieses Aktionsplans überprüfen. Bisher sieht es aber nicht so aus, als würde dies geschehen. Es sieht auch nicht so aus, als würde dort viel weiterentwickelt. Heute, kurz vor dem Ministertreffen der OSZE in Vilnius, wollen wir mit dem Antrag, den wir eingebracht haben, an die damalige Hoffnung anschließen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für die Umsetzung des in Astana vorgelegten Aktionsplans einzusetzen. Es geht tatsächlich um nichts Geringeres als um eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa. Zweifelsohne hat die sicherheitspolitische Dimension bis 1999 die größten Erfolge für Stabilität und Sicherheit bewirkt. Vertrauensbildende Maßnahmen, Manöverbeobachtungen und schließlich die konventionelle Rüstungskontrolle führten in Europa zu einer Stabilität und Sicherheit, die den Kalten Krieg überwunden hatte. Der KSE-Vertrag von 1990 führte zu substanziellen Abrüstungsschritten. Die Verifikationsmaßnahmen waren ein großer Beitrag zur Vertrauensbildung. In Istanbul wurde 1999 der neue, angepasste KSE-Vertrag, der sogenannte AKSE-Vertrag, beschlossen. Diesen haben allerdings nur Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine ratifiziert, aber kein einziger NATO-Staat. Es geht in Vilnius nicht nur um die Einigung über die Verstärkung der Krisenprävention. Es geht nicht nur um Frühwarnung, frühes Handeln und Mediation oder um Strategien der OSZE nach Konflikten. Nein, es geht mittlerweile auch darum, zwischen den Ländern der NATO und Russland und den Postsowjetstaaten wieder grundsätzlich Vertrauen zu schaffen, Vertrauen, dass man den schwer erarbeiteten Grundsatz der gemeinsamen Sicherheit wiederherstellen will. Was brauchen wir dazu? Der KSE- und der AKSE-Vertrag sind tot. Im Übrigen scheint auch der Open-Skies-Vertrag bedroht zu sein. Russland hat im Hinblick auf den KSE-Vertrag schon 2007 den Informationsaustausch eingestellt, und zwar aus Frust über die Nichtratifizierung des AKSE-Vertrages von 1999, über die Erweiterung und Nichteinbeziehung der baltischen Staaten in den Vertrag im Zusammenhang mit der Erweiterung der NATO, über die Pläne, neue NATO-Stützpunkte in Bulgarien und Rumänien einzurichten, und - sicher auch ein gewichtiges Motiv - wegen der geplanten US-Raketenabwehr. Jetzt, Mitte November dieses Jahres, haben auch die NATO-Staaten die Implementierung des KSE-Vertrages gegenüber Russland ausgesetzt. Willkommen zurück im Kalten Krieg? Das hoffe ich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber es ist sicher überaus dringend, das Vertrauen wiederzugewinnen. Im Entwurf zum Aktionsplan steht an erster Stelle die Absicht, eine euroatlantische und eurasische Sicherheitsgemeinschaft zu etablieren. Größere militärische Stabilität, Transparenz und Verlässlichkeit, Stärkung des Vertrauens und der Sicherheit werden eingefordert. Wir fragen die Bundesregierung: Was tun Sie, um den sogenannten Korfu-Prozess wiederzubeleben? Was tun Sie, um neue Lösungen bei der konventionellen Rüstungskontrolle zu beschleunigen? Es genügt nicht, damit zufrieden zu sein, dass durch den KSE-Vertrag von 1990 die Obergrenzen für die Anzahl offensiver Waffensysteme auf ein niedriges Niveau gesenkt wurden und bis heute auf einem noch niedrigeren Niveau geblieben sind. Es genügt auch nicht, dass sich Westeuropa nicht bedroht fühlt. Es geht darum, allen Teilnehmerstaaten gleiche Sicherheit zu bieten. Wir müssen verhindern, dass die Standards der konventionellen Rüstungskontrolle absinken. Heute sind diese Standards zum Beispiel durch die ungelösten Konflikte im OSZE-Raum in Gefahr, wenn etwa Aserbaidschan und Armenien diese zulässigen Obergrenzen wegen des Bergkarabach-Konflikts überschreiten und aufrüsten. Wir verpassen eine große Chance, wenn wir die Gelegenheit versäumen, das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu modernisieren, insbesondere durch die Einbeziehung neuer Kategorien wie Trägermittel - zum Beispiel Drohnen -, Rapid Reaction Forces - schnell verlegbare Truppen - und Marinestreitkräfte. Nach dem OSZE-Gipfel in Astana wurde dies alles eifrig diskutiert. Heute ist nicht viel davon übrig. Lassen Sie uns also nicht die Chance eines intensiven Dialogs mit Russland verspielen. Dieser Dialog darf natürlich nicht nur in der OSZE, sondern er muss auch woanders stattfinden, zum Beispiel im NATO-Russland-Rat. Wir müssen über Militärdoktrinen und Verteidigungsplanungen sowie über die Frage reden, wie wir gemeinsame Sicherheit wiederherstellen. Die Erkenntnis, dass Sicherheit nicht gegeneinander, sondern nur miteinander gewonnen werden kann, muss wieder Platz greifen. Sicherheit kann nicht militärisch gesichert werden. Alle drei Dimensionen der OSZE gehören dazu. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, dass die schönen Vorgaben des Astana-Aktionsplanes doch noch umgesetzt werden können. Danke sehr. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die OSZE ist immer noch auf der Suche nach ihrer Rolle. Sie ist eines der wichtigsten Foren für Sicherheit und Zusammenarbeit und umfasst ganz Europa. Ihre Reichweite erstreckt sich auf immerhin 56 Staaten und geht von Vancouver bis nach Wladiwostok. Nach der Auflösung der Blockbildung in Ost und West, die auch ein Ergebnis der Arbeit der OSZE war, hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa mit den sogenannten drei Dimensionen - der politisch-militärischen Dimension, der wirtschaftlich-ökologischen Dimension und der menschlichen Dimension - ihre Aufgaben erweitert. Die Diskussion über die Modernisierung der OSZE ist also in Gang gekommen. Das Problem besteht ein bisschen darin, dass sie noch immer in Gang ist. Die OSZE hat 17 Feldoperationen und sich dadurch insbesondere bei der Konfliktprävention, beim Krisenmanagement, bei der Überwachung von Menschen- und Minderheitenrechten, von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit und bei der Wahlbeobachtung Verdienste erworben. Deshalb wird sie auch weiter gebraucht. Bei dem Gipfel in Astana auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs im letzten Jahr wurden die Grundlagen der OSZE nochmals bekräftigt. Darüber hinaus wurde der Begriff "Sicherheitsgemeinschaft" eingeführt und versucht, Antworten auf neue Herausforderungen und Gefahren, wie den internationalen Terrorismus oder die Cybersicherheit, zu geben. Dieses Fernziel der Sicherheitsgemeinschaft müssen wir jetzt durch konkrete Schritte angehen. Ich sehe in diesem Zusammenhang vor allem Bedarf an einer stärkeren Koordinierung der OSZE mit den wichtigsten anderen internationalen Organisationen, die Sicherheit im euro-atlantischen und im eurasischen Raum gewährleisten, also mit EU, NATO und Europarat. Wir müssen neben dieser Koordinierung allerdings darauf achten, dass wir uns keine Duplizierung von Strukturen leisten. Die Sicherheitsorganisationen müssen komplementär arbeiten. Dabei muss der Grundsatz gelten: Die Stärkung der OSZE darf bei aller Wertschätzung ihrer Arbeit nicht zur Schwächung der NATO führen. Die NATO bleibt für Deutschland der zentrale Sicherheitsanker und das Bindeglied der transatlantischen Bündnispartner. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die NATO will die Zusammenarbeit mit der OSZE in drei Bereichen stärken. Es geht darum, den Ansatz vernetzter Sicherheit zu etablieren, neue sicherheitspolitische Herausforderungen anzunehmen - internationaler Terrorismus, Cybercrime, Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder Energiesicherheit -, und es geht darum, Erfahrungen im Bereich der Konfliktprävention und des Krisenmanagements auszutauschen. Der NATO-Generalsekretär hat dazu praktische Vorschläge zur Zusammenarbeit gemacht. Diese Ansätze sollten weiter verfolgt werden. Mit Blick auf die besondere Rolle der NATO für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kann allerdings die OSZE nicht der richtige Ort sein, um über Militärdoktrinen oder Verteidigungsplanung zu diskutieren. Das muss militärischen Bündnispartnern vorbehalten bleiben. Wir werden eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Sicherheitsorganisationen nur dann erreichen, wenn wir die Kernkompetenzen jeder Organisation stärken. Das ist der Weg, um Synergieeffekte zu erzielen. Die Europäische Union ist auf das Engste mit der OSZE verbunden. Die Mitgliedstaaten der EU stellen die Hälfte der OSZE-Mitglieder. Sie leisten zwei Drittel der OSZE-Beitragszahlungen. Es besteht eine enge Zusammenarbeit bei Konfliktprävention und in vielen anderen Bereichen. Einige Programme der OSZE werden gemeinsam von OSZE und EU finanziert, beispielsweise in der Wahlbeobachtung. Die Europäische Union ist in vielen Bereichen, etwa beim sicherheitspolitischen Dialog, innerhalb der OSZE engagiert. Frau Kollegin, Sie haben angesprochen, dass die Europäische Union in Astana die Verabschiedung eines Aktionsplans angestrebt hat. Das ist am Dissens über Regionalkonflikte gescheitert. Dennoch kann dieser EU-Aktionsplan Grundlage für die Weiterentwicklung zu dem Fernziel einer Sicherheitsgemeinschaft sein. Meine Empfehlung für die Zusammenarbeit zwischen OSZE und Europäischer Union ist, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um die diplomatischen Mittel der Europäischen Union mit denen der OSZE zu bündeln, insbesondere mit Blick auf diese regionalen Konflikte. Denn wenn Sicherheit unteilbar ist, dann muss es möglich sein, Konflikte wie in Transnistrien, Georgien oder Bergkarabach zu lösen, zum Beispiel auch mit einer OSZE-Präsenz vor Ort. Vielfältige Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit der OSZE bietet auch der Europarat. Seit 2004 besteht bereits eine gemeinsame Koordinierungsgruppe für Maßnahmen in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Kampf gegen den Menschenhandel, Schutz nationaler Minderheiten und Förderung von Toleranz und Nichtdiskriminierung. Es gibt durchaus Potenzial, die Zusammenarbeit auf weitere Bereiche zu erstrecken. Ich nenne hier nur Menschenrechtsschutz, Konfliktprävention und -nachsorge, stärkere Abstimmung der Feldmissionen beider Organisationen. Ich habe versucht, aufzuzeigen, wie man den Auftrag des letzten OSZE-Gipfels praktisch umsetzen könnte, eine Sicherheitsgemeinschaft zu bilden. Das kann gelingen, indem man an bestehende euro-atlantische Strukturen anknüpft, indem man die jeweiligen Stärken der betreffenden Organisationen akzentuiert und indem man gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Handlungsfelder identifiziert. Eine engere Kooperation von OSZE, EU, NATO und Europarat ist möglich, wenn jede Organisation ihre Kernkompetenzen einbringen kann. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa führt ein Schattendasein. Das hat sie eigentlich nicht verdient. Wir begrüßen daher den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD; denn er bietet uns die Möglichkeit, dass wir diese wichtige Organisation heute thematisieren, auch ganz offen und ehrlich über deren Probleme reden und Signale zu ihrer Stärkung aussenden. Deshalb wird unsere Fraktion diesem Antrag auch sehr gern zustimmen. Ich möchte an die Gründungsidee der KSZE erinnern; Frau Zapf hat darauf schon hingewiesen. Im Sommer 1973: Bruno Kreisky, Erich Honecker, (Zuruf von der FDP: Der Name musste fallen!) Helmut Schmidt, Gerald Ford - alle sitzen an einem Tisch und unterschreiben die Schlussakte von Helsinki. (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist eine Mischung!) Damals war der Gedanke, dass man Frieden durch Vertrauensbildung erhalten möchte, auch über Systemgrenzen hinweg. Man hat ferner seinen Willen zur Abrüstung demonstriert, um Kriegsgefahren zu vermeiden und Geldverschwendung zu begegnen. Frieden und Sicherheit durch Abrüstung und Vertrauensbildung nicht nur unter Verbündeten, das ist auch heute noch richtig. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte deshalb auch an die "Charta von Paris für ein neues Europa" erinnern. Im November 1990 hatte man den Versuch unternommen, mit dem Ende des Kalten Krieges die KSZE nunmehr in eine Organisation, die OSZE, umzuwandeln und das gemeinsame Haus Europa, wie es damals euphorisch hieß, zu gestalten. Die politische Linke, also nicht nur unsere Partei, hatte damals durchaus die Erwartung, dass mit dem Ende des Warschauer Vertrags auch dessen Pendant, die NATO, überflüssig wird. Hier ist auch ein Unterschied, der nicht überraschend ist, zum Kollegen Silberhorn: Ich glaube das immer noch. Die NATO als Militärbündnis des Westens, ausgedehnt bis an die Grenzen Russlands, schafft nicht mehr Sicherheit, im Gegenteil. (Beifall bei der LINKEN) Es kam leider anders. In den 90er-Jahren ist statt einer Friedensdividende eine neue weltweite Rüstungswelle gestartet worden, und nach 9/11 ist leider vergessen worden, dass Sicherheit gegenseitige Sicherheit ist und dass Vertrauensbildung auch vertrauensvolle Angebote braucht. Dabei ist die OSZE Opfer dieser Entwicklung geworden. Aktuell - auch darauf hat Frau Zapf Bezug genommen - muss man schon auf die Entscheidungen im KSE-Prozess hinweisen, also die kontroverse Debatte über den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa. Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage gefragt, was sie da eigentlich tut. Ich finde es nicht richtig, dass die Bundesregierung Vorreiter bei diesem Prozess geworden ist, auf den eben hingewiesen wurde. Dass 14 NATO-Staaten die Aussetzung der KSE-Verpflichtungen gegenüber Russland erklären, würde ich nicht Kalten Krieg nennen, aber es ist zumindest eine Trotzreaktion ohne Not zum Schaden der Abrüstung. Trotzdem macht die OSZE weiter wichtige Arbeit: Wahlbeobachtungen, Einsatz für Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Sie hat als zentrales Instrument zur Konfliktverhütung die Langzeitmissionen, die etwas militärisch "Feldmissionen" genannt werden, bei denen über 2 000 Menschen im Südkaukasus und in Zentralasien aktiv sind. All das ist wichtig und gut. Die OSZE sollte sich wieder stärker den großen Fragen widmen. Die Medwedew-Initiative zu einem neuen Sicherheitsvertrag für eine echte, neue europäische Sicherheitsarchitektur, im Korfu-Prozess aufgenommen, ist dafür ein guter Anlass und sollte nicht versanden. Der Astana-Gipfel - ich habe das bei mehreren Gelegenheiten erwähnt und meine Meinung dazu nicht geändert - hat, ehrlich gesagt, außer Nursultan Nasarbajew, dem Staatschef von Kasachstan, niemandem genützt. Ich hoffe, dass wir tatsächlich neue Impulse erreichen. Vielleicht leistet der vorliegende Antrag dazu einen kleinen Beitrag. Der Ausbau und die Stärkung der OSZE als zentraler gesamteuropäischer Sicherheitsorganisation mit Potenzial für Frieden und Konfliktprävention von Wladiwostok bis Vancouver ist weiter ein wichtiges und gutes Ziel. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag zu. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Djir-Sarai hat für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier liegt uns ein Antrag vor, der viele gute Ideen und Maßnahmen aufzeigt; das möchte ich an dieser Stelle ganz klar betonen. "Die OSZE ausbauen und stärken", das ist ein Ziel, das dem gesamten Deutschen Bundestag am Herzen liegen sollte. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat sich zu einem sehr wichtigen Forum für die gesamteuropäische Sicherheitszusammenarbeit entwickelt. Viele erfolgreiche Instrumente der zivilen Krisenprävention sind aus ihr hervorgegangen. Aber - da machen wir uns nichts vor - das sind häufig Erfolge der Vergangenheit. Der zweitägige Gipfel in Astana im vergangenen Jahr war seit elf Jahren wieder ein erstes großes und wichtiges Treffen. Trotzdem hat diese Konferenz die Krise der Organisation nicht aufgehalten. Der Gipfel in Astana hat den Sinkflug in die Bedeutungslosigkeit, wenn überhaupt, nur wenig aufgehalten. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Als die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit vor nunmehr 36 Jahren gegründet wurde, war Europa eindeutig in Ideologien und Allianzen geordnet. Heute hat jeder Staat seine eigenen Sicherheitsvorstellungen. Für die OSZE ist diese Entwicklung eine enorme Herausforderung. Die Diskussion über neue Sicherheitsstrukturen ist immens wichtig für das Überleben der Organisation. Sie ist aber auch eine große Chance, ihre alte Rolle zurückzugewinnen. Die Herausforderungen und Gefahren, die in heutiger Zeit lauern, brauchen diese Debatte. Sie brauchen einen neuen Sicherheitsdialog in der OSZE. Nur so kann sich die OSZE wieder zu einem wesentlichen Element gesamteuropäischer Sicherheit entwickeln. Ich stimme den Antragstellern in dieser Einschätzung vollkommen zu. Ich bin genau wie die Antragsteller der Meinung, dass eine stabile Sicherheit nicht ohne die Achtung der Menschenwürde und intakte demokratische Institutionen auskommen kann. Ich bin sehr froh, dass der Gipfel in Astana wenigstens eines erreicht hat: Alle Staaten haben sich erneut klar zu den Prinzipien der OSZE bekannt, und alle haben sich auch explizit zu der eben schon angesprochenen menschlichen Dimension der OSZE bekannt. Manche sagen, dass bei dem Gipfel viele Gelegenheiten verpasst wurden. Das mag so sein. Wenn wir realistisch sind, dann hat Astana gezeigt, dass immer noch viele Probleme tiefgründig verwurzelt sind. Russland wünscht sich Sicherheit, am besten unter eigener Regie, und verdächtigt die OSZE bis heute, über Menschenrechtspolitik vielschichtige westliche Interessen durchzusetzen. Wir sehen die Lage zu Recht völlig anders: Bei zählebigen Kleinkonflikten wie in Nagorny Karabach ist ein viel größeres Maß an Kompromissbereitschaft notwendig. Sicherheit und Stabilität funktionieren nur im Einklang mit Freiheit und Demokratisierung. Es war zu erwarten, dass sich beim ersten OSZE-Gipfel seit elf Jahren nicht alle Widersprüche direkt auflösen würden. Neue Gremien, neue Satzungen und neue Ausschüsse werden dabei die Probleme mit Sicherheit nicht lösen. Es wird sich jetzt zeigen müssen, ob alle Staaten tatsächlich hinter den Werten stehen, zu denen sie sich bekannt haben. Die OSZE darf nicht die Organisation der schönen Worte bleiben. Auch in der Realität müssen Demokratie, die Achtung der Menschenrechte und das friedliche Beilegen von Konflikten ernst genommen werden. Diese Werte dürfen nicht machtpolitischen Kalkülen untergeordnet werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zukunft kann für die OSZE nur bedeuten, dass sich alle Staaten mit Einsatz hinter diese Ziele klemmen. Dann muss es auch endlich vorangehen mit der Lösung von Gebietskonflikten, der Abrüstung und den Menschenrechten. Dazu sind Offenheit und ein fairer Dialog notwendig, der auch aufmerksames Zuhören einschließt. Die jetzige leichte Dynamik müssen wir in Richtung konkreter und zukunftsfähiger Schritte lenken. Wir brauchen Impulse für einen spürbaren Sicherheitsfortschritt in Europa, Impulse, die wir jedoch nicht allein durch Anträge im Parlament bekommen, welche die Bundesregierung zu Handlungen auffordern, die bereits im Gange sind. Gerade Deutschland kann und wird seinen Beitrag zu dieser Diskussion weiter leisten. Gerade Deutschland wird seinen Beitrag leisten, wenn es um die Stärkung der OSZE geht. Deutschland wird das politische Ziel der OSZE als einer Sicherheitsgemeinschaft nachdrücklich unterstützen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben bereits mehrmals gehört: Wer sich heutzutage noch mit der OSZE beschäftigt, bekommt meist die Frage gestellt: Hat sich das Thema nicht längst erledigt? Hat die OSZE noch eine Zukunft? Von Berlin über London bis Washington bekommt man immer wieder denselben Eindruck: Die Daseinsberechtigung der OSZE wird infrage gestellt. Was wollten wir mit unserem Antrag erreichen? Wir wollten sagen, dass sich auf jeden Fall diese Frage für uns nicht erledigt hat. Wir würden sie mit einem klaren Ja beantworten: Die OSZE hat nach wie vor ihre Daseinsberechtigung. Wir möchten das kurz erläutern. Die Institution der OSZE ist trotz der Auflösung der klassischen Blocksituation, die wir in den 70er- und 80er-Jahren hatten, wichtiger denn je. Aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind mittlerweile Mitglieder der OSZE geworden. Einige von ihnen sind dieser Organisation aber nicht freiwillig beigetreten, sondern haben die Mitgliedschaft qua Unabhängigkeit geerbt. Diese Staaten langfristig einzubinden, ist und bleibt eine der Kernaufgaben der OSZE. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir haben eben über Kunduz gesprochen. Wir sagen: Angesichts der Krise in Afghanistan, angesichts der unsicheren Lage in Pakistan, der permanent rivalisierenden und auseinanderdriftenden Kräfte in Zentralasien stellt die OSZE eine der stabilisierenden Institutionen in der Region dar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die OSZE - das ist interessant - als inter- und intraregionales Sicherheitskonstrukt dient derweil auch anderen Regionen als Vorbild für vertrauensbildende Maßnahmen. So spielen beispielsweise die Anrainerstaaten im südchinesischen Meer mit dem Gedanken, den großen Nachbarn China in Form einer OSZE-Struktur einzubinden, um dessen wachsende Vorherrschaft in dem gesamten Raum multipolar aufzufangen. Ich denke, dieses Beispiel zeigt, wie sinnvoll und nach wie vor aktuell diese Struktur ist. Deswegen müssen wir sie stärken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Uns Grünen liegt es allerdings nicht nur am Herzen, die sicherheitspolitische und damit die politisch-militärische Dimension der OSZE herauszustreichen, sondern wir haben in dem Antrag insbesondere die menschliche Dimension unterstrichen und wollen diese weiterentwickeln. Wir wollen deswegen das ODHIR-Büro, das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte, stärken und möchten vor allem für die Beauftragte für Medien- und Pressefreiheit ungehinderten Zugang zu allen Staaten sowie allen Einrichtungen in diesen Staaten gewährleisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Für uns stellt die OSZE nicht nur eine Sicherheits-, sondern vor allem eine Friedensgemeinschaft dar, deren Aufgaben, Abrüstung und Rüstungskontrolle, nicht ohne Weiteres durch andere Institutionen, wie zum Beispiel die NATO, übernommen werden können. Es geht längst nicht mehr nur um Abschreckung und Aufrüstung, sondern um ein kooperatives Sicherheitssystem. Daher werben wir für eine starke OSZE, damit zum Beispiel die Russische Föderation mit den USA und anderen westlichen Partnern auf Augenhöhe verhandeln kann, und zwar im Sinne einer gesamteuropäischen Sicherheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir haben eben auch schon gehört, dass viele der seit langem schwelenden Konflikte, also der Konflikt in Nagorny Karabach und um die Regionen Südossetien und Abchasien, ohne einen konstruktiven Beitrag Russlands nicht zu lösen sind. Wer also für eine friedliche Beilegung dieser Konflikte und die Schließung dieser immer noch offenen Wunden eintritt - das wird uns wahrscheinlich noch einige Zeit begleiten -, benötigt die OSZE heute dringender denn je. Ich habe mich gefreut, dass Sie alle diese Punkte in unserem Antrag herausgestrichen haben. Wir würden uns natürlich freuen, wenn wir diesen interfraktionellen Antrag noch etwas "aufhübschen" könnten. Sie sind herzlich eingeladen, sich noch weiter zu beteiligen. Wir nehmen auch Sie gern noch mit auf den Antrag drauf. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Den Beitrag des Kollegen Manfred Grund aus der Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll.4 Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7824 mit dem Titel "Die OSZE ausbauen und stärken". Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen - Drucksache 17/6644 - - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen - Drucksache 17/776 - - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen in Kommunikationsnetzen - Drucksache 17/646 - - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze - Drucksache 17/772 - Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) - Drucksache 17/8001 - Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Burkhard Lischka Christian Ahrendt Halina Wawzyniak Ingrid Hönlinger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden - Drucksachen 17/4427, 17/8001 - Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Burkhard Lischka Christian Ahrendt Halina Wawzyniak Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann es nicht oft genug betonen: Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern gehören zu den abscheulichsten Inhalten im Internet. Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz sind unter Strafe gestellt. Diese widerwärtigen Abbildungen müssen aus dem Internet verbannt werden - dauerhaft und nachhaltig. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hinter jeder Darstellung stehen eine reale Misshandlung von Kindern, fürchterliches Leiden und Schmerz. Die Bundesregierung hat sich deshalb dazu entschlossen, diese Inhalte vorbehaltlos zu löschen, national und in internationaler Zusammenarbeit, und auf Löschen statt Sperren zu setzen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die in der letzten Legislaturperiode verabschiedeten Sperrregelungen des Zugangserschwerungsgesetzes aufgehoben. (Beifall bei der FDP) Wir ziehen damit die Konsequenzen aus einer sehr intensiv geführten Debatte zur Wirkung und Auswirkung von Netzsperren. Die heutige Entscheidung, die hier auf Vorlage eines Gesetzentwurfes der Bundesregierung getroffen wird, ist ein wichtiger Bestandteil der Netzpolitik dieser Regierung. Selbstregulierung und Transparenz statt einer hochproblematischen Sperrinfrastruktur sind für uns die richtigen Antworten. (Beifall bei der FDP) Die Erfolge geben uns Recht: In Deutschland werden diese Inhalte heute binnen weniger Stunden gelöscht. Im Ausland tritt der Erfolg nach wenigen Tagen ein. 90 Prozent der kriminellen Seiten liegen auf Servern in den Vereinigten Staaten von Amerika, in der Russischen Föderation, in den Niederlanden und in Großbritannien. Über die Ergebnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo sehr viele dieser scheußlichen Seiten gehostet werden, konnte ich mich selbst vor kurzem bei meinem Besuch des National Center for Missing & Exploited Children in Washington überzeugen. Dort wird intensiv am Löschen gearbeitet, und zwar mit Erfolg. Die Zusammenarbeit dort ist gut. Genau das machen wir in Deutschland auch. In Deutschland ist es durch das Zusammenwirken der verschiedenen Stellen, die sich auf diesem Gebiet einsetzen, gelungen, dass innerhalb von einer Woche 70 Prozent der Inhalte gelöscht sind, nach zwei Wochen über 80 Prozent und nach vier Wochen nahezu alle. Die statistischen Angaben werden von Beschwerdestellen, die einen ganz wesentlichen Beitrag leisten, und auch vom Bundeskriminalamt unterschiedlich erhoben und sind deshalb auch nicht vollständig vergleichbar. Aus den Jahresberichten des internationalen Beschwerdestellennetzwerks Inhope ergibt sich, dass 75 Prozent der gemeldeten Seiten, wie eben gesagt, innerhalb von sieben Tagen gelöscht werden. Auch eco, der Verband der deutschen Internetwirtschaft, hat eine hervorragende Bilanz vorgelegt: Er weist für 2010 eine Löschquote von bis zu 91 Prozent innerhalb von zwei Wochen aus. Deshalb: Löschen statt Sperren ist der richtige Weg. Wir haben ihn in monatelangen Verhandlungen in der Europäischen Union durchgesetzt. Auch dort gibt es jetzt keine verpflichtenden Netzsperren, sodass wir nicht mehr befürchten müssen, eine solche EU-Richtlinie umsetzen zu müssen. Der von der Bundesregierung gewählte Weg ist damit frei. Die intensive Debatte der letzten Monate hat ergeben, dass Sperren gerade in technischer Hinsicht die schlechteren Lösungen sind: erstens, weil sie den Blick auf das eigentliche Ziel, nämlich die Löschung der Inhalte an der Quelle, vernebeln; zweitens, weil die kinderpornografischen Inhalte noch vorhanden, die Sperren aber leicht und ohne vertiefte technische Vorkenntnisse zu umgehen sind, und drittens, weil immer auch legale Inhalte versehentlich mit gesperrt werden können, weil also eindeutig über das Ziel hinausgegangen wird. Deshalb sind Sperren kein wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen diese Darstellung sexuellen Missbrauchs von Kindern, gegen diese kinderpornografischen Abbildungen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie ausnahmsweise mal recht!) Sie setzen ein netzpolitisch völlig falsches Signal. Einmal aus möglicherweise nachvollziehbaren Gründen eingerichtet, kann eine solche Sperrinfrastruktur dann aber natürlich auch für andere Zwecke eingesetzt werden. Ich bin froh, dass wir jetzt mit diesem Gesetzentwurf nach intensiver, nicht leichter Debatte mit einem intensiven Austausch der unterschiedlichen Argumente und Standpunkte zu einem richtigen Ergebnis gekommen sind und dass diese Sperrregelungen mit der heutigen Beschlussfassung aufgehoben werden. Das ist ein großer Erfolg und zeigt auch einen realistischen Blick für eine gute und ausgewogene Netzpolitik. Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der FDP - Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Lars Klingbeil hat für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Lars Klingbeil (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, das war ja ein deutlicher Beifall. Ich denke, dass wir heute hier im Parlament keine Debatte des Fingerzeigs führen sollten, sondern dass wir als Parlament selbst noch einmal reflektieren sollten, was wir die letzten zwei Jahre diskutiert haben. Es war ein weiter Weg bis zum heutigen Tag, ein weiter Weg, bis wir heute hier im Parlament die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes beschließen werden. In den letzten zwei Jahren haben wir eine intensive Debatte geführt. Dies war eine kontroverse Diskussion, die wir häufig sehr emotional geführt haben. Dass heute Einigkeit unter uns besteht, dass Netzsperren der falsche Weg sind, wenn es darum geht, Kinderpornografie im Internet zu bekämpfen, ist ein Erfolg. Diese Debatte - das will ich gleich zu Beginn in aller Deutlichkeit sagen - ist aber vor allem von außerhalb des Parlaments angestoßen worden, durch eine große Onlinepetition mit knapp 140 000 Unterzeichnern. Stellvertretend will ich Franziska Heine nennen, die damals diese Petition auf den Weg gebracht hat, und ich will gleich zu Beginn den vielen Unterstützern dieser Onlinepetition Dank sagen, die uns als Parlamentarier sachlich und fachlich am Ende überzeugt haben. Von diesem Engagement brauchen wir mehr in Deutschland. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir sind uns hier im Parlament darüber einig, dass der sexuelle Missbrauch und die sexuelle Gewalt an Kindern zu den schlimmsten Verbrechen gehören, die es gibt. Wir sind uns einig darüber, dass es keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung für solche Verbrechen, dass es keine Duldung solcher Verbrechen geben darf. Wir als Parlamentarier sind gefordert, nach den besten Wegen zu suchen, wie wir mit diesen Verbrechen umgehen können und wie wir sie wirksam bekämpfen können. Das ist auch genau das, worüber wir in den letzten zwei Jahren gestritten haben. Wir haben darüber gestritten, was die besten Wege sind, um mit diesen furchtbaren Taten umzugehen. Ich sage: Mit der heutigen Entscheidung darf dieser Weg nicht aufhören. Diese Frage muss uns weiter beschäftigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ursula von der Leyen war es, die als Ministerin in der Großen Koalition die Netzsperren durchgesetzt hat. Sie hat das mit Unterstützung meiner Partei getan. Ich will hier wie auch an anderen Stellen deutlich sagen: Ich bin dankbar, dass meine Partei erkannt hat, dass es ein Fehler war, auf die Netzsperren zu setzen. Wir haben schon vor über einem Jahr einen Aufhebungsantrag für das Zugangserschwerungsgesetz in das Parlament eingebracht. Ich weiß, dass es nicht an der FDP lag, dass es so lange gedauert hat, und ich bin froh darüber, dass nun die schwarz-gelbe Koalition, die Regierung, ein Gesetz vorlegt, dem wir alle zustimmen können und das dafür sorgt, dass Netzsperren hier in Deutschland nicht stattfinden werden. Wir haben als Gegner der Netzsperren immer betont, dass sie vor allem eines sind: Sie sind eine Symbolpolitik. Ein Stoppschild gegen Kinderpornografie im Internet, das klingt gut, das lässt sich gut vermarkten. Es hat aber zwei Jahre, in denen wir argumentiert haben, gedauert, um zu zeigen, dass dies der falsche Weg ist, und es hat zwei Jahre gedauert, bis wir eine Mehrheit dafür hatten, zu zeigen, dass Netzsperren eben keinen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet leisten können, dass sie wenig effektiv sind, dass sie ungenau sind, dass sie sogar kontraproduktiv sein können, weil sie technisch leicht zu umgehen sind, und dass nebenbei - die Ministerin hat es angesprochen - eine Infrastruktur aufgebaut wird, die sogar verfassungsrechtlich sehr bedenklich ist. Als Gegner der Netzsperren haben wir auch immer deutlich gemacht, dass es Alternativen gibt. Wir haben immer betont, dass wir einfordern, dass kinderpornografisches Material im Internet gelöscht wird. "Löschen statt Sperren" war die Aussage, mit der viele Menschen vor zwei Jahren angetreten und in die Debatte eingestiegen sind. Heute sehen wir, dass es der richtige Weg war, nicht auf symbolische Stoppschilder zu setzen, und dass es richtig war, einzufordern, dass das Material von den Servern gelöscht wird. Zahlreiche Anhörungen im Rechtsausschuss, im Unterausschuss "Neue Medien", in den Fraktionen, aber auch viele andere Gremien haben immer wieder bestätigt: Dieser Weg ist richtig. Es gab aber Argumente, die immer wieder angeführt wurden. Es gab zum Beispiel das Argument, man könne das Material nicht löschen, weil sich die Server in Staaten befänden, die weit weg von hier seien und mit denen wir keine Kooperation hätten. Auch dieses Argument konnten wir in den zwei Jahren dieser Debatte widerlegen. Wir sehen: Die Mehrzahl der Server steht in den USA, in Russland und in Westeuropa, auch in Deutschland. Da ist es doch für niemanden verständlich, dass es hier keine internationale Kooperation der Strafermittlungsbehörden gibt. Genau hier haben wir in den letzten zwei Jahren Druck gemacht. Wir haben darauf gedrungen, dass die Meldeverfahren effizienter und die Löschbemühungen international besser werden. Eco, der Verband der deutschen Internetwirtschaft, sagt heute, dass innerhalb kürzester Zeit 90 Prozent der Seiten gelöscht werden können. Das ist auch ein Verdienst von Parlamentariern, die immer wieder Druck gemacht haben, dass der Weg des Löschens gegangen wird. Auch wenn wir bei über 90 Prozent sind, kann uns das nicht reichen. Wir müssen weiter Druck machen. Wir müssen die Löschbemühungen weiter steigern. Ich will hier etwas Wasser in den Wein gießen; denn ich hätte mir schon gewünscht, dass die vereinbarte Evaluierung der Löschbemühungen von der Bundesregierung durchgeführt worden wäre und dass sie uns Hinweise gegeben hätte, was man hätte besser machen können, gerade da wir gemeinsam feststellen, dass unser Weg noch nicht zu Ende ist und wir noch besser werden müssen, was das Löschen angeht. Wir haben in den zwei Jahren einer kontrovers geführten Diskussion viel Zeit verloren. Dabei gibt es viele Instrumente, die auf der Hand liegen, aber die wir in den letzten zwei Jahren nicht genutzt haben. Wenn es zum Beispiel darum geht, dass wir das Löschen verbessern und dass wir die internationale Kooperation ausbauen, wenn es darum geht, unsere Behörden auch mit ausreichendem Material, technischem Know-how und mehr Personal auszustatten, und wenn es etwa um Schwerpunktstaatsanwaltschaften geht, dann haben wir zwei Jahre in der Debatte verloren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorgelegt, wie wir den Ursprung des Ganzen, den Missbrauch von Kindern, bekämpfen können. Ich fordere die Regierung auf, aktiver zu werden. Unsere Unterstützung, die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion, werden Sie dabei haben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Am Ende will ich etwas zur generellen Diskussion sagen. Ich habe schon zu Beginn gesagt, dass es eine emotionale Diskussion war. Ich empfinde keine Genugtuung am heutigen Tag, aber ich will doch sagen: Vor zwei Jahren musste ich mir als Gegner von Netzsperren so manche Argumentation anhören, die lautete: Wenn du nicht für Netzsperren bist, dann unterstützt du Kinderpornografie. Dann willst du nichts gegen Kinderpornografie machen. - Ich will all denen hier im Parlament, aber auch außerhalb des Parlaments danken, die immer wieder dagegen argumentiert haben. Am Ende haben wir recht behalten. Mit der heutigen Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes bekommen wir recht. Wir sollten keine Genugtuung empfinden, aber wir sollten uns als Parlament fragen, wie wir so manche Debatte in den letzten zwei Jahren geführt haben und ob so mancher Populismus angebracht war. Wir werden weitere Diskussionen in den nächsten Monaten haben, etwa wenn es um die Vorratsdatenspeicherung geht. Einige kennen meine Position dazu. Ich warne aber auch hier: Wer gegen die Vorratsdatenspeicherung ist, ist nicht gegen eine effiziente Strafverfolgung. Lassen Sie uns in uns gehen und uns fragen, ob wir nicht gerade netzpolitische Debatten auf einem seriöseren und sachlicheren Niveau führen können. Ich glaube, die Diskussion über Netzsperren hat uns hier im Parlament vorangebracht. Das ist so etwas wie der Startschuss zu einer digitalen Diskussion, die wir hier im Bundestag begonnen haben. Viele weitere Diskussionen werden folgen. Netzpolitik bedeutet nicht, Twitter und Facebook zu benutzen, sondern die Umbrüche einer digitalen Gesellschaft zu begreifen. Wenn die Diskussion über Netzsperren in den letzten zwei Jahren dazu beigetragen hat, dass wir in den kommenden Jahren seriöser diskutieren und andere Argumente ernst nehmen, dann hat diese ganze Diskussion eine erfolgreiche Seite gehabt. Ich freue mich, dass wir heute einstimmig das Zugangserschwerungsgesetz aufheben, und danke Ihnen für das Zuhören. (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Ansgar Heveling hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Gesetz mit einer sehr breiten Mehrheit im Parlament verabschiedet wird, so deutet dies auf den ersten Blick auf einen größtmöglichen Konsens in der Sache hin. So wie es nach der gestrigen Beschlussfassung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages aussieht, werden wir gleich im Anschluss an die Beratungen in zweiter und dritter Lesung mit dieser breiten Mehrheit das Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen beschließen. Wenn also die Sache so läuft, dann empfiehlt es sich eigentlich tunlichst, nicht aus der Reihe zu tanzen, das Gemeinsame und Einende zu beschwören, den gemeinsamen Erfolg in den Mittelpunkt zu stellen und dann das Thema bloß schnell zum Abschluss zu bringen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dann machen wir es doch!) Ich habe mich dennoch bei meinem Wortbeitrag dagegen entschieden. Ich habe mich dagegen entschieden, weil ich zwar glaube, dass der angesprochene Konsens in dieser Sache von allen wirklich ernsthaft gewollt ist, ich ihn dennoch an manchen Stellen für etwas vordergründig halte. Ich habe mich nicht dazu entschieden - das sei vorweg gesagt -, weil es noch fundamentale Erwägungen gibt, die gegen diese konkrete Gesetzesentscheidung sprechen; auch nicht, weil ich irgendjemandem hier in diesem Parlament die Bemühungen um den Konsens in der Sache absprechen möchte. Alle - das meine ich an dieser Stelle ausdrücklich so - sind um ein gutes Ergebnis bemüht. Schließlich habe ich mich nicht - eindeutig nicht - deshalb dagegen entschieden, weil es an diesem Gesetz irgendein Jota mit Vehemenz zu verteidigen gäbe. Wie soll ein Parlament auch ein Gesetz verteidigen, das auf Initiative einer Regierung eingebracht wurde, die kurz nach dem Abschluss des parlamentarischen Verfahrens nichts Eiligeres zu tun hatte, als sich schleunigst wieder davon zu distanzieren? Insofern bleibt dieses Gesetz ein Lehrstück, ein Lehrstück dafür, was passiert, wenn Gesetze im Zuständigkeitsgestrüpp einer Regierung wachsen. Seinerzeit bei der Entstehung des Gesetzes hat das eigentlich federführende Ministerium nicht die Feder geführt. Ein anderes Ministerium hat sich dann die Zuständigkeit aus der Verfassung herbeikonstruiert. Schließlich hat ein gänzlich unzuständiges Ministerium die Debatte beherrscht. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind ja mal erleuchtende Einsichten!) Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist Murks, und das muss man auch so bezeichnen dürfen. (Beifall bei der FDP) Vor allem aber zeigt es, dass der alte Grundsatz "Was auch immer du tust, handele klug und bedenke das Ende" dabei von vorne bis hinten außer Acht gelassen wurde, mit Folgen über das Gesetzesvorhaben hinausgehend. Das hat der Sache, dem einenden Ziel: Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen im Internet, in keiner Weise gedient. Im Gegenteil: Ganz andere Fragen haben die Sache selbst vollkommen aus dem Blick gedrängt. Des Weiteren hat es Regierung und Parlament gleichermaßen nicht im besten Licht erscheinen lassen. Denn natürlich wirft es über das einzelne Ereignis hinausgehende verfassungsrechtliche Fragen auf, wenn ein von der Regierung eingebrachtes Gesetz, das vom Parlament beschlossen, im ordnungsgemäßen Verfahren in Kraft gesetzt und nicht vom Verfassungsgericht aufgehoben worden ist, von der Exekutive nicht angewendet wird. (Zuruf von der SPD: Das stimmt!) Schließlich darf man sich angesichts dessen über entsprechende Gegenwehr nicht wirklich wundern. Was will man anderes erwarten, wenn man den Gegnern durch sein Verhalten zusammen mit einem Gesetz die Bedienungsanleitung zum Widerstand quasi frei Haus mitliefert? Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist das eine, das konkrete Gesetz und seine Unzulänglichkeiten zu beleuchten. Das alles rechtfertigt - das sei nochmals klargestellt - ohne Frage dessen Aufhebung. Dahinter steht aber eigentlich etwas ganz anderes. Das lässt für mich den Eindruck des Konsenses etwas vordergründig erscheinen; vordergründig deshalb, weil wir Gefahr laufen, eine andere dringend notwendige Debatte durch die Einigkeit heute ein wenig auszublenden, die Frage nämlich: Darf sich der Staat, und wenn ja, wie, im Internet bewegen? Die bloße Aufhebung eines Gesetzes gibt darauf keine Antwort. Sie erweckt möglicherweise sogar einen falschen Eindruck, jedenfalls dann, wenn man daraus herauslesen möchte, dass das Internet ein eingriffsfreier Raum zu sein habe. In der Diskussion um das Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen verschob sich jedenfalls schnell der Schwerpunkt der Auseinandersetzung weg von der Frage der Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen im Internet hin zu viel fundamentaleren Gesichtspunkten. Rasch bekam die öffentliche Diskussion eine Richtung, die so gar nichts mit dem Thema Kinderpornografie zu tun hatte. Das Stichwort "Zensur" rückte in den Vordergrund. Dieser Begriff sollte fortan auch die Diskussion beherrschen. Man mag an dem Gesetz - vieles auch zu Recht - kritisieren, aber mit Zensur hatte es doch nichts zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) So bleibt für mich die bange Frage: Welches Staats- und Gesellschaftsbild haben diejenigen im Kopf, die mit Verve "Zensur" gebrüllt haben, um das Gesetz zu Fall zu bringen? Denn da geht es wohl um mehr als um die Frage der Tauglichkeit des Mittels Internetsperren. Es geht offensichtlich um die grundsätzliche Haltung zu staatlichen Eingriffen zur Abwehr von Straftaten. Gesetzmäßigkeit, Rechtsschutzgarantie und Verhältnismäßigkeit, also Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, sind die klassischen Instrumente des Rechtsstaates zur Limitierung von Eingriffen. Wer diese Mechanismen aber aufgeben möchte, redet entweder dem überstarken Staat das Wort oder einem Staat, für den unter dem Diktum vorgeblicher "Freiheit" der Ausgleich divergierender Grundrechte - etwa die Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, für deren Sicherheit zu sorgen - gleichgültig zu sein hat. Das aber ist meiner Ansicht nach ein Verständnis von Freiheit, das mit der Gefahr behaftet ist, sich in letzter Konsequenz gegen sie selbst zu richten. Heinrich Wefing, der Publizist, hat im Juli 2009, also auf dem Höhepunkt der Debatte um die Verabschiedung des Gesetzes, in der Zeit - diese Publikation ist nun vollkommen unverdächtig, das Kampfblatt rechtskonservativer Law-and-Order-Sheriffs zu sein - einen bemerkenswerten Beitrag verfasst. Er schreibt dort unter anderem: Eine Sperrseite, die den Zugang zu einer Webseite mit - ohnehin verbotener - Kinderpornografie verhindern oder wenigstens erschweren soll, kann also juristisch gar keine Zensur sein. Sie ist Teil des Versuchs (wie erfolgversprechend auch immer), die Verbreitung der gesellschaftlich geächteten Kinderpornos zu unterbinden. Hier "Zensur" zu schreien ist entweder Ahnungslosigkeit. Oder Polemik. Auf das grundgesetzliche Verbot der Zensur jedenfalls kann sich nicht berufen, wer gegen die Internetsperren kämpft. Aber was tun die Ajatollahs anderes? Die chinesischen Parteikader oder ägyptischen Sittenwächter, die sich jede Zeile eines Lyrikers vorlegen lassen, missliebige Webseiten abschalten und jede abweichende Meinung unterdrücken? (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ebendrum!) Es gehört zum ideologischen Glutkern der Debatte um die Kinderporno-Sperren, dass deren Kritiker den kategorialen Unterschied zwischen einem offenen System wie dem der Bundesrepublik und einer Diktatur wie in China oder Iran partout nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Sperrung von Internetseiten, die verbotene Kinderpornografie verbreiten, haben frei gewählte Abgeordnete eines freien Parlaments beschlossen. Es gibt darüber eine völlig ungehinderte, vor Emotionen vibrierende, wüst hin und her wogende Diskussionen in Artikeln, Leserbriefen und in der Onlinewelt. Und unabhängige Gerichte werden die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes innerhalb kurzer Zeit überprüfen. Nichts davon in China, nichts davon in Iran. Genau das ist der Punkt, um den es eigentlich wirklich geht. Das ist die Debatte, die auch wir hier zu führen haben und in der wir klare Standpunkte beziehen müssen. Anbiedern und hinterherlaufen, das ist meiner Ansicht nach jedenfalls an dieser Stelle der falsche Weg. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich darf zur Illustration dazu auf eine Replik zu dem gerade zitierten Artikel hinweisen, die meiner Ansicht nach gar keiner weiteren Kommentierung bedarf. In seinem Blog hat der ehemalige Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Dirk Hillbrecht, Wefings Hinweis auf den Bundestag als frei gewähltes Parlament mit frei gewählten Abgeordneten entgegengehalten - ich darf das zitieren, wobei ich ausdrücklich darauf hinweise, dass ich es zitiere und mir keinesfalls zu eigen mache -: Und - ich ergänze: "es sind"; gemeint sind wir - ganz ähnliche frei gewählte Abgeordnete eines ganz ähnlichen frei gewählten Parlamentes, wie es 1933 das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" verabschiedet hat. Meine Kolleginnen und Kollegen, das ist es, was mir Angst und Bange macht. Es ist nicht das Internet mit seinen tollen Chancen und Möglichkeiten. Es ist vielmehr die Staats- und Gesellschaftsvorstellung von Menschen, die die Idee des Internets für eine Ideologie okkupieren wollen, eine Ideologie, mit der - so stand es am vergangenen Freitag in der FAZ - "Internet-Anarchisten, jene Fanatiker von Freiheit und Anonymität, ... die aus sträflichem Unwissen oder verantwortungslosem Populismus die wahre Freiheit zugrunde richten." Diese Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir führen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen sie führen, weil wir jetzt noch Zeit, Gelegenheit und Entscheidungsfreiheit dazu haben. Ich mache mir Sorgen um die Freiheit; ich mache mir Sorgen darum, dass meine Freiheit durch den Staat ausreichend und vor allem überall gewährleistet wird. Wenn wir die Debatte führen und vor allem wenn wir zu der Entscheidung kommen, dass der Staat auf rechtsstaatlicher Grundlage in der digitalen Welt genauso handlungsfähig sein muss wie in der analogen, dann können wir heute auch das Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen beschließen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Justizministerin! Es ist schon viel gesagt worden: Wir entscheiden heute darüber, ein Gesetz aufzuheben, welches seinerzeit in blindwütigem Aktionismus angeblich - ich betone: angeblich - zum Kampf gegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch von Kindern erlassen worden ist und über welches gesagt worden ist - ich mache mir das Zitat zu eigen -: Deshalb komme ich zu folgendem Schlusssatz ...: Das einzig Gute, was man über Ihr Gesetz sagen kann, ist, dass es offensichtlich gut gemeint sein könnte; aber das Zugangserschwerungsgesetz erreicht seinen Zweck nicht und enthält Risiken und Nebenwirkungen, vor denen man nur dringend warnen kann. (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) Das ist ein Zitat des von mir sehr geschätzten Kollegen Dr. Stadler, inzwischen Staatssekretär, vom 18. Juni 2009; das ist fast zweieinhalb Jahre her. Zu den erwähnten "Risiken und Nebenwirkungen" gehörte die Befürchtung der Einführung einer vom Bundeskriminalamt kontrollierten Struktur zur Überwachung des Internets ohne rechtsstaatliche Kontrolle. Das waren die Befürchtungen: totale Überwachung und Sperrung von unliebsamen Websites; China ließ grüßen. Deswegen hat sich Frau von der Leyen letztlich den Spitznamen "Zensursula" eingehandelt. Nachdem das Gesetz dann verabschiedet war und der Bundespräsident es nach langem Zaudern endlich unterschrieben hatte, wurde es per Ministerialerlass nicht angewendet. Ein vom Parlament beschlossenes, verabschiedetes Gesetz wurde - auch wenn man noch so viele Bedenken dagegen hatte - per Ministerialerlass nicht angewendet: ein Zustand, der aus rechtsstaatlicher Sicht überhaupt nicht haltbar war. Daher hat die Linke, die von Anfang an gegen dieses, wie wir uns heute alle einig sind, sinnlose Gesetz war, Anfang 2010 beantragt, dass höchstumstrittene Gesetz aufzuheben; das ist auch schon fast zwei Jahre her. Inzwischen haben auch die anderen Fraktionen der Opposition entsprechende Anträge eingebracht, um diesen rechtswidrigen Zustand zu beenden. Immerhin, Ende Juli 2011, circa ein Jahr nach der Anhörung im Rechtsausschuss zu dieser Rechtslage, legte auch die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, um dieses vor über zwei Jahren beschlossene Gesetz endlich aufzuheben. Es hat anderthalb Jahre gedauert, bis sich die Regierungskoalition endlich der Meinung der Linken angeschlossen hat, (Lachen bei der FDP) nicht zuletzt auf Druck der Onlinepetition mit gut 134 000 Mitzeichnungen. Wie oftmals dauert es bei dieser Koalition etwas länger. Aber immerhin: Links wirkt. (Beifall bei der LINKEN) Ich denke, unser Antrag, der vorsieht, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Es drohte gerade langweilig zu werden!) - das ist das Schöne: Wenn Sie hier aufjaulen, dann habe ich den richtigen Ton getroffen, (Sebastian Blumenthal [FDP]: Sie sind ja auch ein Experte in diesem Bereich!) peinlich würde es, wenn Sie applaudieren würden -, die Berichtspflichten noch genauer zu definieren und enger einzugrenzen, um die Strafverfolgung der Täter und das Löschen der Seiten noch effektiver zu gestalten und zu beschleunigen - das muss oder sollte zumindest unser aller Ziel sein -, wird über kurz oder lang eine Mehrheit finden. (Sebastian Blumenthal [FDP]: Da spricht der Fachmann!) - Ja, ich spreche aus staatsanwaltlicher und aus richterlicher Sicht, da haben Sie recht. - (Sebastian Blumenthal [FDP]: Das macht mir Angst! - Heiterkeit bei der FDP) Es dauert halt ein bisschen, bis die Regierung es be-greift. - Es ist gut, wenn Sie vor Staatsanwaltschaft und Gericht Angst haben. Aber - jetzt mache ich Ihnen noch mehr Angst - als überzeugter Lutheraner sage ich: (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Auch das noch!) Die Linke wirkt, Gott sei Dank! Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN - Sebastian Blumenthal [FDP]: Gott sei Dank nicht! Unterirdisch! - Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Zeiten sind vorbei, dass man vor einem Staatsanwalt Angst hat!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Kollege Dr. Konstantin von Notz das Wort. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Kollege Heveling, ich habe Ihre nachdenklich vorgetragene Rede genau verfolgt. Sie hatten zwölf Minuten Zeit; man wird ganz neidisch, wenn andere so viel Zeit haben. Ich habe deutlich weniger. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Und verplempern sie gerade!) Ihr Vortrag relativiert sich leider, wenn Sie die ganze Zeit über Sperren und Zensur sprechen, aber die wesentliche Forderung derjenigen, die sich gegen dieses Gesetz gewehrt haben, nämlich "Löschen statt Sperren", einfach ausblenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn diese Worte in zwölf Minuten nicht einmal fallen, ist der ganze Vortrag leider "Thema verfehlt". Insofern kann ich sagen: Sie haben diese zwölf Minuten vergeudet. Heute ist ein guter Tag; denn das Zugangserschwerungsgesetz wird endlich zurückgenommen, wir haben zwei Jahre darum gerungen. Heute ist aber auch ein wichtiger Tag für all diejenigen, die sich gegen Netzsperren und Stoppschilder, die letztlich ein hoch ineffektives Mittel sind, Herr Kollege, engagiert haben, und auch für all diejenigen, die für "Löschen statt Sperren" gekämpft haben, dafür, dass man vor Straftaten keine spanischen Wände aufstellt, sondern dass man die Seiten löscht. Deswegen freue ich mich, dass wir dieses Gesetz zurücknehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Gegner des Gesetzes - deswegen ist das auch demokratietheoretisch ein schöner Tag - (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das ist entlarvend!) haben die besseren Argumente gehabt und sich durchgesetzt. Zunächst haben sie 134 000 Menschen von Ihren Argumenten überzeugt - die zweitgrößte Petition in der Geschichte des Deutschen Bundestages -, und dann haben sie dafür gesorgt, dass das von der Großen Koalition verabschiedete Gesetz am Anfang dieser Legislaturperiode ausgesetzt wurde. Man muss an dieser Stelle deutlich sagen - ich weiß, dass das viele hier im Haus kritisch sehen -, dass es verfassungsrechtlich ausge-sprochen problematisch ist, Gesetze par ordre du mufti auszusetzen. Das ist ein eher untypisches parlamentarisches Verhalten. (Burkhard Lischka [SPD]: Einmalig!) Letztlich wird es heute zurückgenommen. Deswegen an dieser Stelle auch von uns einen herzlichen Dank an die digitale Bürgerrechtsbewegung, allen voran an den AK Zensur und die Petentin Franziska Heine. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich erspare uns allen eine Wiederholung der Diskussion der letzten zwei bis drei Jahre im Detail, also über das, was über die Netzsperren gesagt wurde, und all die Aussagen, dass es sich dabei um eine "Brückentechnologie" handelt, und viele haben immer wieder durchscheinen lassen, dass man eigentlich doch lieber gegen Urheberrechtsverstöße im Netz vorgehen wollte. Auch auf-grund des Abstimmungsverhaltens einiger in der Union gestern in den Ausschüssen und die offenkundige Tolerierung dieses Verhaltens durch die Fraktionsspitze kann ich mir eine Sache aber nicht verkneifen. (Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Wir sind tolerant!) Wer im Jahr 2011 im Bereich der Netzpolitik glaubhaft agieren möchte und gleichzeitig Netzsperren fordert, der denkt wahrscheinlich auch, Atomkraft sei eine Ökoenergie. Wir haben viele Anhörungen durchgeführt, in denen wir ganz viele Fachleute angehört haben. Deswegen schmälert Ihr Abstimmungsverhalten - nicht das von allen, aber von einigen - nach all den Anhörungen und guten Argumenten, die wir in den letzten Jahren gehört haben, zwar nicht den Beschluss, den wir heute fassen, aber den Glauben an die Einsichtsfähigkeit zahlreicher Kollegen der Union. Ich bin froh, dass wir heute fraktionsübergreifend, auch mit den Stimmen der Union, zur Zurücknahme dieses Instruments kommen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Arbeit jetzt im Grunde erst beginnt. Wir wissen aus den Anhörungen, was wir tatsächlich brauchen: Wir brauchen erstens ein besseres Zusammenspiel der privatwirtschaftlichen Kräfte und der Strafverfolgungsbehörden, zweitens eine verbesserte internationale Zusammenarbeit und drittens eine bessere technische und personelle Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden; denn unser Ziel muss es sein, dass die staatlichen Stellen genauso schnell und erfolgreich löschen, wie die privaten es längst tun. Missbrauch, der im Internet zweifellos auf widerwärtigste Weise dokumentiert wird, findet eben nicht im Internet statt. Er findet jeden Tag statt: in Schulen, in Internaten, in kirchlichen Einrichtungen, in Sportvereinen, aber vor allen Dingen auch im familiären Umfeld. Wir müssen das Problem dort bekämpfen, wo es entsteht. Ich kann nur an Sie appellieren, dass wir uns jetzt gemeinsam diesen Aufgabenfeldern zuwenden. Die Opposition ist voll dabei. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir haben eine mehrdimensionale Strategie gefordert und ein Konzept gegen den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen vorgelegt. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in diesem Haus nicht nur diesen Antrag gemeinsam beschließen, sondern ab jetzt auch gemeinsam diese Konzepte verfolgen. Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Lieber Kollege Dr. von Notz, der Präsidentenwechsel hat Ihnen noch ein paar Sekunden Redezeit mehr eingebracht. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr erfreulich! Herzlichen Dank!) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aufhebung von Sperrregelungen bei der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6644 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Wer stimmt dagegen? - Eine Stimme aus den Reihen der Union. Stimmenthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Eine Stimme wie in der vorigen Abstimmung. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen. (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Keiner. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/776 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Keiner. Enthaltungen? - Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen in Kommunikationsnetzen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/646 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/ Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8001, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/772 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Rechtausschusses auf Drucksache 17/8001 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4427 mit dem Titel "Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden" für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenpro-be! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist somit einstimmig angenommen worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Richard Pitterle, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Deutsch-französische Initiative zur Bekämpfung der Euro-Krise und zur Regulierung der Finanzmärkte starten - Drucksache 17/7884 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Der erste Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Axel Troost. - Bitte schön, Kollege Dr. Axel Troost. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag ist ein historischer und ein guter Tag. Erstmals bringen an einem Tag die französischen Linken in der französischen Nationalversammlung und die deutschen Linken im Deutschen Bundestag einen inhaltsgleichen Antrag zur Bekämpfung der Euro-Krise und zu Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte ein. (Beifall bei der LINKEN - Manfred Zöllmer [SPD]: Plagiate sind nicht zulässig! - Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: AxelPlag!) Dieser Antrag wird am nächsten Dienstag, am 6. Dezember, auch noch von den tschechischen Linken im tschechischen Parlament eingebracht werden. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Oh!) In der kurzen Redezeit, die ich habe, möchte ich nicht auf den Feststellungsteil eingehen, in dem wir gemeinsam herausstellen, welchen Anteil die deutsche Wirtschaftspolitik mit ihrem Setzen auf Export und Handelsbilanzüberschüsse an der Euro-Krise hat. Ich will mich in meiner Rede auf die wesentlichen fünf Punkte in unserem gemeinsamen Antrag beschränken. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Sechs!) Erstens geht es um die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Darauf sollte man nicht bis zum Endlostag warten. Vielmehr sollten die Länder Frankreich und Deutschland sie schnellstmöglich einführen. Über den Antrag ist bereits heute Morgen in der Nationalversammlung diskutiert worden. Der für Europapolitik zuständige Minister Leonetti hat in die Debatte eingegriffen und der französischen Linken gesagt, sie solle uns ausrichten, wir sollten die Bundesregierung einmal fragen - das tue ich jetzt gerade; vielleicht kann sie auch zuhören -, was sie davon hält, wenn Deutschland und Frankreich in einer Koalition der Willigen damit beginnen würden. Wahrscheinlich kennt er die deutschen Verhältnisse und hat deshalb gesagt, dass wir die Bundesregierung fragen sollen und nicht die beiden sie tragenden Fraktionen. Nach der Anhörung gestern im Finanzausschuss zur Finanzmarkttransaktionsteuer kann man nur vermuten, dass Heckenschützen nach wie vor mit aller Macht versuchen, die Einführung zu verhindern. Zweitens geht es um die europaweite Einführung einer Sondervermögensabgabe für natürliche Personen mit einem Privatvermögen von mehr als 1 Million Euro. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Hiermit soll sichergestellt werden, dass die Profiteure der Krise an den entstandenen Kosten beteiligt werden. Drittens geht es - Herr Kollege Brinkhaus, hier habe ich in der Tat die Punkte fünf und sechs zusammengefasst - (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ah!) um die Reregulierung der Finanzmärkte. Um es einfach zu sagen: Es geht um ein Verbot von ungedeckten Leerverkäufen und Kreditversicherungen sowie um ein Verbot des Hochfrequenzhandels. Es geht auch darum, alle Käufe und Verkäufe von Produkten über geordnete Handelsplattformen wie Börsen zu führen und nicht, wie bisher, unreguliert zu lassen. (Beifall bei der LINKEN) Viertens - das steht insbesondere in Frankreich an, aber möglicherweise auch in Deutschland - geht es darum: Wenn wir eine Rekapitalisierung der Banken mit öffentlichen Mitteln brauchen, dann muss sichergestellt sein, dass für diese öffentlichen Mittel auch eine dauerhafte Mehrheitsbeteiligung des Staates am Kapital dieser Banken gewährleistet wird - damit also nicht das passiert, was in Deutschland bei der Commerzbank passiert ist - und dass der Staat dann dafür sorgt, dass aus den Zockerbanken Banken bzw. Dienstleister für die Ersparnisbildung und die Kreditvergabe werden. (Beifall bei der LINKEN) Fünftens fordern wir die Einführung eines europäischen Fonds für eine soziale, solidarische und ökologische Entwicklung, damit die Länder des Südens überhaupt eine Chance haben, aus der Schuldenkrise herauszukommen. Heute Morgen waren im Finanzausschuss Kollegen aus Griechenland. Es ist völlig klar - dies wird eigentlich von niemandem bestritten -, dass diesen Ländern in einem Prozess von 10 bis 20 Jahren geholfen werden muss. Das geht nur mit einem solchen Fonds, der dann auch Zugang zum Geld der Europäischen Zentralbank hat, um das entsprechend zu finanzieren. Ich glaube, mit dieser Initiative haben wir noch einmal einen Maßstab gesetzt. Wir hoffen, dass auch die anderen Fraktionen, was die Zusammenarbeit im europäischen Umfeld angeht, versuchen werden, Kontakt mit ihren entsprechenden Parlamentariern aufzunehmen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Troost, Sie haben Verständnis, dass ich natürlich nicht die Redezeit aus Frankreich oder aus Tschechien hier mit anrechne. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich sah es!) - Gut. Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. - Bitte schön, Kollege Brinkhaus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt ein bisschen mehr Redezeit, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dreimal so lange!) also werde ich mich auch eingehend mit Ihrem Antrag beschäftigen, Herr Troost. Erst einmal ist es ja zu begrüßen, dass Sie einen Antrag zusammen mit Ihren Kollegen aus Frankreich einbringen. Sie haben aber leider nicht das Copyright; das haben die Kollegen von der SPD, die das nämlich auch schon einmal gemacht haben. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Aber an einem Tag parallel diskutiert jeweils im Plenum!) Einmal ganz unabhängig vom Inhalt des Antrags ist das insofern wirklich eine ganz gute Sache, weil ich glaube, dass wir uns in dem europäischen Prozess, in dem wir uns momentan befinden, als deutsches Parlament neu definieren müssen. Ich glaube, dass die Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Entscheidungsfindung viel zu kurz kommt. Wir müssen uns da mehr einbringen. Wenn wir uns da mehr einbringen wollen, dann schaffen wir das nur, wenn wir das zusammen machen. Insofern ist dieses Vorgehen gut. Das ist aber auch das einzig Gute an Ihrem Antrag. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber immerhin!) Sie werden verstehen, dass ich den Rest nicht so gut finde. Der Antrag ist so gegliedert, wie alle Oppositionsanträge gegliedert sind. Im ersten Teil findet sich die übliche Regierungsbeschimpfung, bei Ihnen - das ist der Sonderfall - noch angereichert mit ein wenig marxistischer Folklore. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Na ja!) Der zweite Teil enthält dann das Vorschlagspaket. Sie haben ja schon die Punkte von sechs auf fünf heruntergebeamt. Der dritte Teil enthält die Begründung. Da ist Ihnen die Luft ein bisschen ausgegangen, weil Sie von Ihren sechs Vorschlägen nur drei begründet haben. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Das mag auch für sich sprechen. Kommen wir jetzt einmal zu Ihren einzelnen Vorschlägen in chronologischer Reihenfolge: Der erste Vorschlag war, einen Fonds aufzulegen. Darin ist irgendetwas mit Solidarität, Ökologie, Gerechtigkeit und ähnlichen Geschichten enthalten. Dazu kann man nur sagen: Gibt es schon. Es gibt mehrere Fonds auf europäischer Ebene, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen. Ich vermute aber einmal, dass Sie auf diese untaugliche Weise etwas anderes adressieren wollten, etwas, was auch uns betrifft, nämlich dass die Konsolidierung in Europa die eine Säule ist, die unsere Zukunft beeinflussen wird. Die andere Säule ist, dass wir tatsächlich nicht nur über Haushaltskonsolidierung nachdenken können und müssen, sondern dass wir uns auch damit beschäftigen müssen, wie die betroffenen Länder wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, fangen Sie doch mal an, Herr Troost!) Nur, Herr Troost, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist wahrscheinlich ein untaugliches Mittel, dies mit einem amorph formulierten Fonds anzugehen. Kommen wir zum zweiten Punkt. Sie möchten, dass die Banken, die gestützt werden, quasi verstaatlicht werden. Das heißt, dass der Staat eine Mehrheitsbeteiligung übernimmt und dann - zweiter Schritt - dafür sorgt, dass sich diese Banken darauf konzentrieren, die Wirtschaft und die Gesellschaft mit Krediten zu versorgen. Hier gibt es zwei Fehlannahmen. Die erste Fehlannahme ist, dass staatliches bankliches Handeln nicht unbedingt besser ist als privates bankliches Handeln. Das haben wir am Beispiel der WestLB und auch einiger anderer Landesbanken sowie unserer Tochtergesellschaft IKB gesehen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber die Privaten sind auch nicht besser! Insofern nützt das auch nichts!) Die zweite Fehlannahme ist, dass es die einzige Aufgabe von Banken ist, die Kreditversorgung sicherzustellen. Banken haben noch ganz andere Funktionen. Sie sind Zahlungsmittelversorger, sie führen eine Fristentransformation durch, und sie machen vor allen Dingen eines, was Sie wahrscheinlich als fürchterlich schäbig erachten: Sie sichern Risiken ab. Dafür braucht man Derivate, und zwar aus ganz realwirtschaftlichen Gründen. Insofern läuft das, was Sie hier fordern, fehl. Der dritte Punkt ist die Finanztransaktionsteuer. Da muss man sagen: Wie neu und innovativ ist diese Idee! Es ist so, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Finanztransaktionsteuer vorgelegt hat. Von der Unionsfraktion wird übrigens ausdrücklich begrüßt, dass das so gemacht wird. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja! Das hat man ja in der Anhörung gemerkt!) Allerdings haben wir gestern in der Anhörung erfahren - das hat mit Verschwörungstheorien oder damit, dass da Heckenschützen zugange waren, nichts zu tun -, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie haben nur keinen der Schützen gefragt!) dass es wohl doch nicht so einfach ist, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, wie Sie es sich immer denken, nach dem Motto: Wenn wir jetzt die Finanztransaktionsteuer einführen, ist der Hunger auf der Welt bekämpft, ist der Klimawandel aufgehalten und sind sämtliche Haushalte saniert. Das funktioniert so nicht. (Nicolette Kressl [SPD]: Hat sich die Unionsfraktion eigentlich inzwischen positioniert?) Die Finanztransaktionsteuer, meine Damen und Herren, hat ganz viel mit Technik zu tun. Man muss sich sehr viele Fragen stellen und überlegen: Wer ist das Steuersubjekt? Wer ist das Steuerobjekt? Wie sieht es mit der Bemessungsgrundlage aus? Wie sieht es mit den Tarifen aus? Wie sieht es mit der Steuererhebung aus? (Manfred Zöllmer [SPD]: Ja! Dann machen Sie das doch mal!) All das sind Fragen, die auch im Vorschlag der Europäischen Kommission noch nicht zufriedenstellend beantwortet sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dafür wollten wir die Anhörung ja haben! - Nicolette Kressl [SPD]: Hat sich die Position der Bundesregierung inzwischen etwa geändert?) Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt in Ihrem Opus magnum, das Sie auf den Weg gebracht haben. Sie wollen eine Vermögensabgabe für Millionäre. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja!) Ich finde es klasse, dass Sie diese Forderung hier adressieren. Sie haben das wohlgefällige Nicken der Grünen und auch der SPD an dieser Stelle vom Rednerpult aus sicherlich zur Kenntnis genommen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das wusste ich schon vorher!) Wenn wir über das Thema Vermögensabgabe reden, dann sollten wir auch über alle anderen steuerpolitischen Pläne reden, die von der linken Seite des Parlaments verfolgt werden. Da geht es nicht nur um die Vermögensabgabe, sondern auch um eine höhere Erbschaftsteuer, eine höhere Einkommensteuer und eine Substanzbesteuerung im Rahmen der Gewerbesteuer. (Beifall bei der LINKEN - Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Enteignung! - Manfred Zöllmer [SPD]: Und bei Ihnen sind es höhere Schulden!) Daran zeigt sich wieder einmal: Unsere Seite des Parlaments steht für eine kontinuierliche, gemäßigte Steuerpolitik. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Oh ja! Genau!) Ihre Seite des Parlaments steht für eine Steigerung der Steuereinnahmen bis zum Exzess. Aufgrund Ihres sozialistischen Weltbildes kann man vielleicht noch nachvollziehen, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Oh ja!) dass Sie sagen: Die bösen Reichen werden jetzt geschröpft. - Nur, das Problem an der ganzen Sache ist, dass es nicht nur um die "bösen Reichen" geht, sondern dass die meisten Steuern, die ich gerade genannt habe, in irgendeiner Art und Weise mit Produktivvermögen - das heißt auch mit Arbeitsplätzen - zusammenhängen. Erklären Sie uns doch bitte einmal, wie die Liquidität, die auf diese Art und Weise aus den Betrieben herausgezogen wird, ersetzt werden soll, und das in Zeiten, in denen wir von Unternehmen fordern, ihre Eigenkapitalquoten zu steigern, und in denen die Kreditversorgung vielleicht nicht mehr so sicher ist, wie sie es einmal war. Insofern freuen wir uns als christlich-liberale Koalition wirklich darauf, diese steuerpolitische Auseinandersetzung in den nächsten anderthalb Jahren mit Ihnen zu führen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Diese Auseinandersetzung führen wir gern!) Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass die Menschen in diesem Land sehen, was Sie wirklich wollen. Es ist eine unheilige Allianz, die auf der linken Seite dieses Saales sitzt. Insofern ist es gut, dass Sie Ihre Pläne einmal benannt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommen wir zu einer weiteren Forderung, die Sie erheben. Sie sagen: Wir müssen die Leerverkäufe verbieten. Da frage ich mich, liebe Kollegen von den Linken: Wo waren Sie im Mai und Juni letzten Jahres, als wir genau das gemacht haben? Diese christlich-liberale Koalition war die erste Koalition in der Geschichte Deutschlands, die genau dieses Thema angepackt hat, und zwar sehr umfänglich. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ja! Auch in Europa!) Wir haben ungedeckte Leerverkäufe von Aktien und Staatsanleihen verboten. Wir haben dafür gesorgt, dass Credit Default Swaps, also Kreditversicherungen, nur genutzt werden, um solche Risiken abzusichern, die tatsächlich mit Krediten unterlegt sind; (Manfred Zöllmer [SPD]: Ja! Die Lage wird ja auch von Tag zu Tag besser!) das wird von Ihnen, meine Damen und Herren, gemeinhin unterschlagen. Wir haben der BaFin ein scharfes Schwert an die Hand gegeben. Wir haben der BaFin nämlich gesagt: Ihr könnt alle Instrumente vom Markt nehmen, die die Systemstabilität gefährden. - Das ist also schon gemacht worden, Herr Troost. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: In Frankreich nicht! Das ist ja ein gemeinsamer Antrag!) - In Frankreich nicht. Jetzt kommen wir zu einem wichtigen Punkt, Herr Troost. Wenn Sie sagen: "In Frankreich nicht", (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja!) dann könnten Sie in Ihrem Antrag doch vielleicht auch einmal dezent darauf hinweisen, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber das ist doch ein gemeinsamer Antrag! Das ist ja das Problem!) dass Deutschland vorangegangen ist und dass sich der Rest Europas momentan an der Blaupause, die wir auf den Weg gebracht haben, orientiert. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Oh! In Europa gibt es eine deutsche Blaupause!) Dementsprechend nehme ich mit Freude zur Kenntnis, dass Sie in der Sozialistischen Internationale - sorry, in der Kommunistischen Internationale - in Europa dafür werben werden, dass dieses Gesetz auch in anderen europäischen Ländern Einzug hält. Ich kann den Kollegen von der SPD nur empfehlen, sich genauso zu verhalten. Es gibt ja irgendwo auch eine grüne europäische Bewegung; vielleicht bekommen die das auch hin. Manchmal kann man auch von uns lernen. Das ist eine Sache, die uns wirklich gut gelungen ist. Sie war bahnbrechend, genauso wie übrigens auch einige andere Gesetze, zum Beispiel das Banken-Restrukturierungsgesetz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dann haben Sie noch adressiert, dass Sie den Hochfrequenzhandel bekämpfen müssen. Damit sind Sie auch ein bisschen hinter der Zeit; denn auch dieses Thema ist nicht neu. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Auch alte Sachen müssen bekämpft werden!) Jetzt komme ich zum letzten Punkt in Ihrem Antrag. Der ist ja geradezu rührend formuliert: Der OTC-Handel soll geschlossen werden. Die Vorstellung ist: Ich habe einen Laden und schließe den ab; ich schließe den OTC-Handel. Ganz ehrlich: Der OTC-Handel wird reguliert werden. Es gibt die EMIR-Initiative auf europäischer Ebene. Diese Initiative wird maßgebend von der deutschen Bundesregierung unterstützt, ist also auch mit deutschem Input auf den Weg gebracht worden. Ich denke einmal, dass wir hier viel weiter sein werden als viele andere Rechtssysteme in dieser Welt; (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wann denn?) denn in diesen Rechtssystemen gibt es diese Regelung noch nicht. Wir als christlich-liberale Koalition nehmen uns zusammen mit unseren europäischen Partnern genau dieses OTC-Handels an, und wir werden dafür sorgen, dass das transparent ist. Wir werden hier eine Menge erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ja abenteuerlich!) Ich komme zu Ihrer letzten Forderung. Das ist das Rührendste und Naivste, was ich überhaupt gesehen habe. Sie wollen den Ratingagenturen verbieten, Staatsanleihen zu raten, nach dem Motto: Das Ergebnis gefällt uns nicht, deswegen verbieten wir es ihnen. Sie müssen sich einmal überlegen, ob Rating vielleicht auch etwas mit Meinungsfreiheit zu tun hat und ob wir nicht in einer Welt leben, in der sich beispielsweise asiatische oder amerikanische Investoren fragen, was eine Ratingagentur zu der Staatsanleihe sagt, die sie kaufen wollen. Nach dem Vorschlag der Linken ist es dann so, dass gesagt wird: Nein, dazu können wir nichts sagen, weil uns das verboten worden ist. - Sie glauben doch wohl nicht, dass es dann noch irgendeinen Investor aus Übersee geben wird, der in europäische Staatsanleihen investiert. Das ist der Gipfel der Naivität. (Manfred Zöllmer [SPD]: Wollen sie ja jetzt schon nicht! - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was ist denn jetzt? Die flüchten doch alle!) Jetzt komme ich langsam zum Ende meiner Ausführungen, und ich fasse das Ganze noch einmal zusammen: (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ach, das muss nicht sein!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist schön und begrüßenswert, dass Sie europäische Initiativen starten. Es ist auch schön und begrüßenswert, dass Sie versuchen, auf internationaler Ebene etwas zu erreichen. Aber auch für Vorschläge, die man zusammen mit dem französischen und, wie ich gerade gehört habe, dem tschechischen Parlament macht, gibt es gewisse Mindeststandards. Zu diesen Mindeststandards gehört - das muss man sich vielleicht einmal überlegen -, dass man seine Vorschläge ordentlich begründet - und das nicht nur an drei Stellen - und dass man diese ganzen Dinge auch in einen vernünftigen Zusammenhang stellt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Was ist mit Ihrem gemeinsamen Antrag?) Sie wissen, meistens halte ich meine Reden hier ohne Papier. Das fällt mir normalerweise auch leicht, weil hinter jedem Antrag, der hier eingebracht wird, eine Geschichte, ein Zusammenhang, eine Logik steht. Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ich mich heute Nachmittag auf diese Rede vorbereitet habe, hatte ich wirklich Schwierigkeiten, ihre zusammenhanglos aneinandergereihten Vorschläge irgendwie logisch zu ordnen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist doch ganz altes Zeug!) Dementsprechend war es nicht ganz leicht, diese Rede hier vorzubereiten, weil kein System ersichtlich ist. Damit komme ich zu dem, was die christlich-liberale Koalition macht. (Manfred Zöllmer [SPD]: Sie wollten doch zum Schluss kommen!) Wir haben ein System und machen systematische Vorschläge. Vor allen Dingen machen wir Kärrnerarbeit, das heißt, wir schauen uns die Gesetze an und beschäftigen uns mit den Details und damit, dass Gesetze im Bereich der Finanzmarktregulierung untereinander abgestimmt sein müssen. Das ist nicht immer populär und viel Arbeit. Sie von der Opposition machen hier Schauanträge. Diese Schauanträge helfen uns überhaupt nicht weiter. Das ist Folklore - nichts weiter. Nicht nur weil dieser Antrag schlecht vorbereitet und geschrieben worden ist, sondern weil wir auch inhaltlich nicht mit ihm übereinstimmen, werden wir diesen Antrag mit Freuden ablehnen. (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Abstimmung steht heute überhaupt nicht an! - Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Es ist alles gesagt! Wir können zur Abstimmung kommen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten Kollege Manfred Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! "Und jetzt?", fragte der Spiegel in dieser Woche die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Euro-Krise. Eine Antwort haben wir bisher nicht erhalten. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Morgen früh kommt die Regierungserklärung!) Eines können wir jedenfalls feststellen: Die sogenannte Euro-Krise verschärft sich von Woche zu Woche. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Von Tag zu Tag!) Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank spricht bereits von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Doch nicht der Euro ist gescheitert, gescheitert ist die Krisenstrategie dieser Bundesregierung. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auf Spiegel Online stellte Herr Münchau, immerhin ein Experte für diese Fragen, in dieser Woche fest - ich zitiere einmal wörtlich -: Die Chance auf eine bezahlbare Euro-Rettung ist vertan - und schuld ist die Bundeskanzlerin. Angela Merkel wird uns alle ruinieren, weil sie mit ihrem Zaudern die Krise verschärft. Jetzt hat sie nur noch zwei politische Optionen: Bankrott oder Ruin. Ich will nicht hoffen, dass Herr Münchau mit seinen Schlussfolgerungen richtig liegt, aber bei der Beschreibung des Krisenmanagements dieser Bundesregierung liegt er richtig, da hat er recht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Bundesregierung lief der Krise immer hinterher. Als der Baum schon brannte, räsonierte man immer noch darüber, ob man nicht lieber elektrische Kerzen statt Wachskerzen nehmen sollte. (Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir erinnern uns doch alle noch daran, wie sich die Bundeskanzlerin von der Bild-Zeitung als eiserne Lady hat feiern lassen. Ihr Motto: Kein Geld für Griechenland! Dann doch Geld für Griechenland. Aber keinen Cent mehr, so Kollege Fricke von der FDP. (Harald Koch [DIE LINKE]: Nur einmalig!) Da hatte er ja völlig recht; denn kurze Zeit später ging es nun wirklich nicht um Cents, sondern um zusätzliche Milliarden. Die Halbwertszeit der gebrochenen Beschwichtigungssprüche der Bundesregierung liegt schon jetzt unterhalb von einem Monat. Eine so miserable Krisenstrategie hat dieses Land, hat der Euro wirklich nicht verdient, und diese Stümperei geht leider immer noch weiter. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Harald Koch [DIE LINKE]: So viel zur Kärrnerarbeit!) Schauen wir uns ganz kurz die Situation bei der EFSF an. Hier hieß es zuerst: Niemand hat die Absicht, den Fonds zu hebeln. Zwei Tage später war klar: Er soll gehebelt werden, und es gab zwei Varianten. Jetzt zeigt sich, dass man die Rechnung wohl ohne die Investoren gemacht hat. Sie sind offenkundig nicht bereit, mitzuspielen. Diesen Eindruck hatten wir bei dem Besuch des Finanzausschusses in Luxemburg bereits vor zwei Wochen. Jetzt haben wir einen Rettungsfonds, der offensichtlich seine Aufgabe nicht erfüllen kann, weil zu wenig Geld im Topf ist. Da fragt man sich: Wo ist eigentlich der Plan B der Bundesregierung? Gibt es ihn? Man stellt fest: Es gibt keinen. Alle denkbaren Alternativen werden von der Bundesregierung mit Ekel, Abscheu und Empörung abgelehnt. Man will nun mit Vertragsänderungen den Krisenbrand löschen - mit Vertragsänderungen, die mehrere Jahre zu ihrer Umsetzung brauchen. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!) So wird die Bundesregierung ungewollt zum Totengräber des Euro. (Zuruf von der FDP: Also, Herr Zöllmer, entwaffnen Sie mal ein bisschen!) - Ja, in der Tat, warten Sie ab. Es gibt inzwischen selbst Minister, die das in Talkshows nicht mehr ausschlie-ßen. - Die Bundeskanzlerin ist auf dem Weg, zur großen "Buhfrau" in Europa zu werden. Das wundert einen auch nicht angesichts dessen, dass von ihr die Forderung verbreitet wird: Am deutschen Stabilitätswesen soll die Welt genesen. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal was zu dem Antrag der Linken! - Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das wäre nett für Herrn Troost, wenn Sie etwas zu dem Antrag sagen würden!) "Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen", hat Herr Kauder als CDU-Fraktionsvorsitzender freudestrahlend auf dem CDU-Parteitag verkündet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten heute Morgen ein Gespräch mit griechischen Abgeordneten. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da ist ja jetzt mal ein aktueller Bezug drin!) Ein griechischer Kollege sagte: Wir Deutsche müssten uns entscheiden, ob wir ein deutsches Europa oder ein europäisches Deutschland wollen. Da hat der Mann wirklich recht. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Das hat er nicht gesagt! - Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Da war ich auch dabei, das ist so nicht richtig! - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das hat er so gesagt!) - Das hat er wörtlich so gesagt. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ihre Griechischkenntnisse sind wohl nicht so gut, Herr Zöllmer!) Jetzt wollen wir uns einmal dem Antrag der Linken zuwenden. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ihre Redezeit ist um!) Jetzt wollen die Linken eine neue deutsch-französische Initiative, sozusagen "Mercozy reloaded", Deauville II. Wir haben eben schon einmal gesagt, dass Plagiate unzulässig sind. Das sollten Sie sich eigentlich in diesem Zusammenhang überlegen. Natürlich ist die deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa von großer Bedeutung. Aber es muss um Zusammenarbeit gehen, nicht um Hegemonie und nicht um Unterordnung. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt! Das ist richtig!) Jetzt wenden wir uns dem Antrag der Fraktion Die Linke etwas präziser zu. (Zurufe von der CDU/CSU: Endlich! - Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt ist die Redezeit allerdings abgelaufen! - Heiterkeit) Was wollen Sie uns mit diesem Antrag sagen? Meine These ist: Sie wollen einfach darüber hinwegtäuschen, dass Ihre Fraktion in Bezug auf Europa völlig gespalten ist. Wenn man den Antrag liest, wird das sehr schön deutlich; denn Einleitungsteil und Forderungsteil haben überhaupt nichts miteinander zu tun. Im Einleitungsteil heißt es markig: Der Euro ist gescheitert, und das Sixpack der EU sei - so wörtlich - "ein nicht hinzunehmender Angriff auf die Grundprinzipien der Demokratie". Jetzt würde der kundige Leser natürlich erwarten, dass die Linken im Rahmen der Forderungen Alternativen zum Euro vorschlagen. Liest man die Forderungen - der Kollege Brinkhaus hat sie eben hier seziert -, findet man nur das Übliche und in diesem Zusammenhang gar nichts. Das ist Ihr Problem. Offenkundig haben sich die Europafeinde im ersten Teil verbal austoben dürfen, und die Realos haben sich dann im zweiten Teil bei den Forderungen durchgesetzt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, es ist noch viel komplizierter! - Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) - Sehr schön. - Wer soll Ihren Antrag eigentlich ernst nehmen, wenn sich aus Ihrer Analyse überhaupt keine Schlussfolgerungen ziehen lassen? Man kann zusammenfassend sagen: Die Linken wissen nicht, was sie europapolitisch wollen, aber das mit ganzer Kraft. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nee, nee!) Das Gleiche gilt für den Bereich der Krisenursachendiagnose. Laut Ihrem Antrag sind die deutschen Exporte schuld an der Krise. Wörtlich heißt es: Das bedeutet, dass der deutsche Exportboom und die wachsenden Schuldenberge in Griechenland ... zwei Seiten derselben Medaille sind. Herr Kollege Troost, Sie waren doch dabei, als der griechische Kollege heute Morgen gesagt hat: Wir Griechen haben über unsere Verhältnisse gelebt. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das hat er jetzt tatsächlich gesagt! - Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das andere hat er auch gesagt!) - Das hat er gesagt. Das war auch richtig. - Diese Schulden ermöglichten es Griechenland, deutsche Produkte zu kaufen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Beides!) Was wollen Sie eigentlich den deutschen Arbeitnehmern sagen, deren Arbeitsplätze vom Export abhängen? Bei mir in der Region wird bis zu 70 Prozent der Produktion exportiert. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es geht um Exportüberschüsse!) - Das ist letztendlich der Export. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, das sind die mangelnden Importe!) - Herr Kollege Troost, hören Sie doch einmal zu, was Ihre Parteivorsitzende, Frau Lötzsch, an dieser Stelle in der letzten Woche in der Haushaltsdebatte ausgeführt hat. Ich darf wörtlich zitieren: Deutschland ist auf den Export in andere EU-Länder dringend angewiesen. Ein drastischer Rückgang der Exporte würde uns heute noch härter treffen als im Jahr 2008. Da hat sie recht. Aber was gilt denn nun bei Ihnen? (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sind auch wieder zwei Seiten einer Medaille! Wir wollen mehr Importe!) Vielleicht können Sie erst einmal intern Ihre Position klären, bevor Sie uns hier Anträge vorlegen. Machen Sie doch erst einmal Ihre Hausaufgaben, dann können wir über die Ergebnisse diskutieren. Jetzt noch eine Schlussbemerkung an die Adresse der Bundesregierung. Es muss endlich Schluss sein mit der verfehlten Krisenpolitik. Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass die Politik der kleinen Schritte bei der Euro-Krise gescheitert ist. Was wir brauchen, ist ein vernünftiges Krisenmanagement, das den Herausforderungen wirklich gerecht wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Volker Wissing. Bitte schön, Kollege Volker Wissing. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Volker Wissing (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben jetzt in jeder finanzpolitischen Debatte, dass sich die Sozialdemokraten hier hinstellen und der Bundesregierung vorwerfen, sie hätte von Anfang an entschlossener bei der Stabilisierung der Euro-Zone handeln müssen. Herr Kollege Zöllmer, das, was Sie sagen, wäre erträglich, wenn es nicht ein kleines Problem in dem Verhalten der Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang gäbe. Wir haben, als wir das Euro-Rettungspaket für Griechenland geschnürt haben, hier im Deutschen Bundestag eine sozialdemokratische Fraktion erlebt, die gezaudert hat, die sich nicht zu Europa bekannt hat und die mit ihrer kraftvollen Enthaltung nicht wusste, wohin sie will. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Oh Gott!) Als wir die ersten Stabilisierungsmaßnahmen auf den Weg gebracht haben, haben sich die Sozialdemokraten in ganz Europa blamiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 15 Monate dasselbe! - Weitere Zurufe von der SPD) - Sie müssen sich schon die Dinge anhören, die Sie falsch gemacht haben. - Deswegen sollten Sie sich hier nicht hinstellen und anderen sagen, dass sie engagierter und couragierter hätten vorgehen müssen. Sie haben an der entscheidenden Stelle gezaudert und sich nicht zu Europa bekannt. Das werden Sie in der Geschichte der Euro-Stabilisierung nicht mehr los. (Nicolette Kressl [SPD]: So doof!) Zur Steuerpolitik - das ist hier schon angesprochen worden - haben die Grünen auf ihrem Parteitag erklärt: Es muss massive Steuererhöhungen geben. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das war die Rede vom letzten Mal!) Wir brauchen die Einnahmen aus Steuererhöhungen für alles Mögliche. Die Sozialdemokraten freut das sehr. Auch sie klatschen bei Forderungen nach Steuererhöhungen starken Beifall. Zugleich beantragen Sozialdemokraten und Grüne im Bundesrat eine Senkung des Steuersatzes für Ausflugsschifffahrten. (Zurufe der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Sie müssen einmal der Öffentlichkeit erklären, wie das zusammenpassen soll. Nun zur Linken. Es ist schon interessant: Wir haben in Europa eine Staatsverschuldungskrise. Die Haushalte sind nach dieser schweren Wirtschafts- und Finanzkrise in einem schrecklichen Zustand. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nach den Bankenrettungen!) Die Schuldenstandsquoten liegen jenseits des Erträglichen. Dann sagen die Linken: Wir brauchen in Europa jetzt keine Haushaltskonsolidierung, sondern wir brauchen einen Fonds für soziale, solidarische und ökologische Entwicklung, der mit neuen Schulden finanziert werden soll. Sie müssen einmal der Bevölkerung erklären, wie man in dieser Situation mit einer so albernen Lösung einen Beitrag zur Stabilisierung leistet. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zurufe des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Auf die Frage, woher das Geld für Ihren merkwürdigen Fonds kommen soll, bleiben Sie jede Antwort schuldig. Wollen Sie es sich an den Kapitalmärkten leihen? Wie wollen Sie mit zusätzlichen Schulden für zusätzliche Staatsausgaben das Vertrauen in die Euro-Zone zurückgewinnen? Das ist völlig irreal. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es geht nicht um zusätzliche Schulden! Es geht um Umschuldung!) Ihr Antrag passt eher zu einer Märchenstunde, als dass er irgendeinen Beitrag zur Stabilisierung der Situation leistet; der Kollege Brinkhaus hat schon darauf hingewiesen. Wenn Sie behaupten, die Lösung des Problems der Finanzmärkte könne darin liegen, dass man private Banken verstaatlicht und zu öffentlichen Banken macht, ignorieren Sie völlig, dass gerade die öffentlichen Banken, die Landesbanken in Deutschland, ein größeres Problem darstellten. Deswegen sollten Sie mit diesem Märchen aufhören. Das mag zwar zu Ihrer Ideologie passen, aber es passt nicht in die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie stecken Milliarden in private Banken und lassen die dann mit öffentlichen Geldern weitermachen!) Dann kommen Sie mit dem nächsten Märchen, der Finanztransaktionsteuer. Sie können mit einer Finanztransaktionsteuer nicht diese Staatsverschuldungskrise lösen. Sie können sie nur lösen, indem Sie die Haushaltskonsolidierung vorantreiben und eine neue Stabilitätsarchitektur in Europa errichten. Genau das tut die Bundeskanzlerin mit der vollen Unterstützung der Koalitionsfraktionen, und dabei verfolgt sie einen ganz stringenten Kurs, was nicht einfach ist. Wenn Sie sich die Mühe machen würden, die schwierigen Verhandlungen auf europäischer Ebene zu verfolgen, statt solche Anträge zu schreiben, dann würden Sie sehen, wie erfolgreich die Bundesregierung vorankommt. Das ist nicht einfach. Aber mit einem klaren Kompass, einem klaren Kurs und einem klaren Bekenntnis zu Europa, und zwar einem stabilen Europa, kommt die Bundesregierung hervorragend voran. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lisa Paus? (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die hat doch gleich Redezeit! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt redet sie noch einmal! - Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD]: Sehr demokratisch seid ihr! - Weiterer Gegenruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Oh! Das um 21.36 Uhr, Frau Kressl!) Dr. Volker Wissing (FDP): Ja, gerne. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Wissing, Sie haben gerade die Finanztransaktionsteuer angesprochen. Da mir bisher nicht bekannt ist, welche Meinung Sie zu dem vorliegenden Entwurf der Kommission zur Einführung der Finanztransaktionsteuer haben, und mir bisher auch nicht bekannt ist, dass Sie sich aktiv dafür einsetzen, dass in Europa eine Finanztransaktionsteuer eingeführt wird, bitte ich Sie, meine folgenden Fragen zu beantworten: Wie bewerten Sie den aktuell vorliegenden Entwurf? Welche Schritte müssen Ihrer Meinung nach gegangen werden, damit wir in Europa tatsächlich die Finanztransaktionsteuer bekommen? Welchen Beitrag leistet die FDP-Fraktion dazu? Dr. Volker Wissing (FDP): Zunächst einmal wissen Sie genau, welche Haltung die FDP-Fraktion einnimmt. Denn CDU/CSU und FDP haben im Deutschen Bundestag - ich gehe davon aus, dass Sie die Themen verfolgen, die hier beraten werden - einen gemeinsamen Antrag verabschiedet, in dem wir eindeutig sagen, dass wir die Einführung einer Finanztransaktionsteuer auf der Ebene der EU 27 unterstützen. Das ist die Haltung der FDP-Fraktion. Jetzt gibt es Vorschläge, die beinhalten, eine solche Steuer auch unterhalb der Ebene der EU 27 einzuführen. Wir sind skeptisch, weil wir die Befürchtung haben, dass, nachdem wir, die CDU/CSU und die FDP, im Gegensatz zu Ihnen in Deutschland eine sehr starke Finanzmarktregulierung betrieben haben - Sie haben die Märkte dereguliert -, bei Einführung einer solchen Steuer die Finanztransaktionen aus Deutschland in weniger regulierte Märkten abwandern. Das kann nicht klug sein; denn wir sehen voraus, dass wir dann die globalen Finanzmarktrisiken schnell wieder im eigenen Land hätten. Deswegen ist es wichtig, Frau Kollegin, dass Sie nicht vorschnell die Einführung einer Finanztransaktionsteuer nur in wenigen Ländern fordern, beispielsweise in Deutschland und Frankreich, wie die Linke es tut, und damit das Risiko eingehen, dass die Finanztransaktionen vom dank CDU/CSU und FDP regulierten deutschen Markt (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ogottogott!) in weniger regulierte Märkte abwandern. Sie haben nun darauf gedrungen, dass im Finanzausschuss eine weitere Sachverständigenanhörung zu diesem Thema stattfindet. Dort hat man wieder Bedenken gegen diese Steuer geäußert, weil es administrative Schwierigkeiten gibt, die Gefahr von Verlagerung besteht und viele andere Fragen offen sind. (Manfred Zöllmer [SPD]: Weil man was zahlen muss!) Wenn diese Steuer nicht in allen Ländern eingeführt wird und die Besteuerung nach dem Sitzlandprinzip erfolgt, stellt sich beispielsweise die Frage, wie man dann die Informationen von den Ländern bekommt, in denen die Transaktionen stattfinden. Sie machen sich leider nicht die Mühe, die Auswirkungen Ihrer Vorschläge auf die Bundesrepublik Deutschland zu überdenken. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich frage Sie!) Wir müssen aber verantwortlich handeln. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Nachdem uns die Finanzmärkte von Rot-Grün in desolatem Zustand hinterlassen worden sind - unter anderem wegen der von Rot-Grün vorgenommenen Deregulierung -, (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) können wir in Europa leider nicht so holzschnitzartig Finanzmarktpolitik machen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deshalb handeln wir genau so, wie wir handeln. Wir machen das strukturiert und lassen uns auf die komplexen Dinge ein. Wir setzen nicht wie Sie einen Vorschlag nach dem anderen zu Steuererhöhungen in die Welt. Keine seriösen Beiträge zur Haushaltskonsolidierung, aber Steuern erhöhen! (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie sind doch auch für die Finanztransaktionsteuer! - Zurufe von der SPD) Zu Ihrer Sondervermögensabgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken. Sie bringen in dieser Krise keinen vernünftigen Vorschlag, wie man auf der Ausgabenseite sparen und den Haushalt konsolidieren kann, aber gleichzeitig einen Vorschlag nach dem anderen zu neuen Staatsausgaben, die dann durch zusätzliche Steuereinnahmen finanziert werden sollen. Dazu kann ich nur feststellen: Bei einer Umsetzung Ihrer Vorschläge würde alles schlimmer, die Schuldenkrise würde verschärft, die wirtschaftliche Situation von Unternehmen und Privaten in Deutschland würde sich verschlechtern und Arbeitsplätze würden gefährdet. Welchen Fortschritt das bringen soll, müssen Sie den Menschen in Deutschland und auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Sie gewählt haben, erst noch erklären. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: 300 Milliarden Euro Schuldenzuwachs allein durch die Bankenrettung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen endlich auch damit aufhören, die Realität völlig auszuklammern; das tut leider auch die SPD. Dabei wissen Sie, Herr Kollege Zöllmer, doch, dass CDU/CSU und FDP in Deutschland die Avantgarde bei der Finanzmarktregulierung in Europa darstellen. Wir haben die Dinge sehr schnell aufgegriffen. Inzwischen folgt uns Europa, und das ist gut. Wir werden jetzt die Vorschläge abwarten, die von der Kommission kommen, und diese dann national umsetzen. (René Röspel [SPD]: Wenn Sie Ihre Rede vor einem Jahr gehört hätten! Er wird noch nicht einmal rot!) Denn Vorhaben, die die Kommission aufgegriffen hat und derzeit in eine Richtlinie umsetzt, dürfen wir - das wissen Sie ganz genau - national gar nicht mehr aufgreifen. Deshalb kommen Sie leider mit Ihrer Forderung, wir sollten endlich die Finanzmärkte regulieren, zu spät. Wir haben das schon getan. Das, was Sie sich jetzt an zusätzlichen Dingen noch haben einfallen lassen, haben wir schon auf europäischer Ebene vorangetrieben. Wir müssen jetzt warten, bis die Richtlinie kommt. Dann werden wir sie umsetzen. Wir regulieren die Finanzmärkte in Deutschland. Ihre Hinterlassenschaften haben wir, soweit es ging, bereits beseitigt. Wir werden weiter regulieren, nicht nur im nationalen Alleingang, sondern auch mit unseren europäischen Partnern. Wir haben für Stabilität gesorgt. (Manfred Zöllmer [SPD]: Ach ja, das ist Stabilität?) Das, was Sie verursacht haben, wird sich nicht wiederholen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Volker Wissing. - Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Lisa Paus. Bitte schön, Frau Kollegin. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wissing, Sie sagten gerade: "Wir haben für Stabilität gesorgt." Das kann ich heute, am 1. Dezember 2011, in der Form nun wirklich nicht feststellen. Im Gegenteil, wir befinden uns heute wieder in einer sehr zugespitzten Lage. Wir mussten gestern alle miteinander wahrnehmen, dass es zur Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte wieder einmal notwendig war, dass die Zentralbanken eine konzertierte Aktion durchführten. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ja, weil Sie den Stabilitätspakt gebrochen haben! Das ist doch die Basis für alles!) Offenbar ist es so, dass der Interbankenmarkt schon wieder fast vollständig ausgetrocknet ist. Bei der Europäischen Zentralbank werden zurzeit wöchentlich 270 Milliarden Euro geparkt. In normalen Zeiten sind es 10 Milliarden Euro. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt kommt die grüne Alternative dazu!) Heute findet parallel zu der Sitzung hier eine Grundsatzrede des französischen Präsidenten zur Schuldenkrise statt. Wir stehen am Vorabend einer Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel - wieder einmal im Zusammenhang mit einer Zuspitzung der Krise, wieder einmal in Vorbereitung des nächsten Krisengipfels. Man fragt sich, der wievielte es eigentlich ist. Wir haben hier eine Debatte, sozusagen einen Schlagabtausch, erlebt, der sich im üblichen Rahmen bewegt hat. Damit will ich mich jetzt nicht mehr aufhalten, zumal ich dazu gar nicht die Zeit habe. Außerdem besteht morgen früh noch einmal Gelegenheit dazu, die gegensätzlichen Positionen in allen Details auszubreiten. Deshalb von meiner Seite zu Ihrem Antrag nur so viel: Darin ist nicht alles falsch, aber, liebe Linksfraktion, wer die Euro-Krise bekämpfen will, ohne einen einzigen Satz bzw. einen einzigen Vorschlag zur Senkung der Staatsverschuldung zu machen, der wird nicht erfolgreich sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ohne Senkung der Staatsverschuldung wird es wohl nicht gehen, liebe Linkspartei. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sehen wir anders!) Das haben wir jetzt noch einmal bestätigt bekommen. Das ist aber wirklich jenseits der Debatte. Man muss schon sparen und investieren. An einer Senkung der Staatsverschuldung kommen wir nicht vorbei. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Kann ich Ihnen auch wissenschaftlich erklären!) Ich möchte trotzdem am Ende dieser Debatte versuchen, zumindest potenzielle Gemeinsamkeiten zu finden. Davon gibt es nicht viele. Schon bei der Überschrift des Antrages könnte man mit der Suche anfangen. Grundsätzlich sehe ich zwei Gemeinsamkeiten: Es ist erstens richtig, eine deutsch-französische Initiative zu fordern - ich sage das trotz unserer Kritik an vielem, was wir von "Merkozy" erleben mussten -, da dieses Europa nur gerettet werden kann, wenn Frankreich und Deutschland es gemeinsam vorantreiben; das sollte in diesem Hause eigentlich unstrittig sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich verstehe vor diesem Hintergrund nicht, wie Herr Kauder auf einem CDU-Parteitag sagen kann: Europa spricht ab heute Deutsch. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann müssen Sie den zweiten Halbsatz auch sagen! - Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Also, zweiter Halbsatz!) Deutschland und Frankreich sollten vielmehr an einem Strang ziehen. Dann kommt es zumindest zu Deutsch-Französisch und nicht zu Deutsch allein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine zweite Forderung, bei der wir eigentlich an einem Strang ziehen sollten, ist tatsächlich die nach Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Auf diesem Gebiet ist lange wenig passiert. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Noch nie so viel wie mit Wolfgang Schäuble als Finanzminister!) Darüber hat es auch in Frankreich eine durchaus kontroverse Diskussion gegeben. Wir von der Opposition hatten jedenfalls den Eindruck, dass es im Sommer zu einem Durchbruch gekommen ist. Wir Grüne haben auch sehr positiv zur Kenntnis genommen, wie die CDU/ CSU-Fraktion agiert hat, als Herr Semeta im Finanzausschuss gewesen ist. Wir dachten: Es geht jetzt voran; jetzt gibt es einen konkreten Vorschlag der EU-Kommission. - Dieses Vorgehen wurde grundsätzlich begrüßt, und zwar nicht nur auf Regierungsebene. Erstmals hat dieses Haus die Bundesregierung nämlich aufgefordert, diesen Vorschlag aktiv zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass er nicht wieder im Sande verläuft, sondern umgesetzt wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin Lisa Paus, der Kollege Dr. Wissing möchte Ihre Redezeit verlängern. Gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Die haben sich vorher abgesprochen!) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, das ist nett. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön, Herr Dr. Wissing. Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Kollegin Paus, wenn die Öffentlichkeit Ihnen zuhört, stellt sie sich die Frage, weshalb es zu den Zeiten, als die Grünen zusammen mit den Sozialdemokraten in Deutschland regiert haben, weder einen Vorstoß gab, die Finanztransaktionsteuer auf nationaler Ebene einzuführen, noch einen Vorstoß der rot-grünen Bundesregierung, die EU-Kommission zu veranlassen, Vorschläge für eine solche Steuer zu machen. Würden Sie der Öffentlichkeit bitte erklären, was die Gründe dafür sind? Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein Grund war sicherlich, dass wir damals noch nicht die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 hatten. Ich kann Sie aber beruhigen: Meine Fraktion, die Fraktion der Grünen, hat sich schon damals dafür eingesetzt, dass die Finanztransaktionsteuer eingeführt wird, und sie hat diese Forderung auch entsprechend in der Koalition eingebracht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir dachten jedenfalls, das Ganze sei auf gutem Weg, und deswegen hatten wir gewisse Hoffnungen an diese Anhörung gestern geknüpft. Aber wir wurden wirklich enttäuscht. Das war eine volle Rolle rückwärts der Koalition, und das ist grob fahrlässig. Die Koalition hat nicht nur fast ausschließlich Gegner der Finanztransaktionsteuer eingeladen, sondern auch nur diese befragt, (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben nur Befürworter eingeladen! Wir haben uns kritisch damit auseinandergesetzt!) und das in einer Art und Weise - Herr Präsident, ich komme zum Schluss -, dass ein negativer Standard gesetzt wurde. Die erste Frage von Herrn Flosbach ging an einen Vertreter der Kreditwirtschaft und lautete: Wie bewerten Sie den Kommissionsvorschlag? Direkt die Frösche gefragt (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Eine halbe Stunde gefragt!) und gleich die entsprechende Antwort bekommen: Es gibt eine Vielzahl von Problemen; das geht gar nicht. - Aha, was für eine Überraschung! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Paus, Sie haben mir gerade etwas versprochen; vielleicht erinnern Sie sich. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. - Mein vorletzter Satz. Die FDP machte in gleicher Manier weiter. Sie fragte Professor Kaserer: Ist der Finanzsektor unterbesteuert? Antwort: Nein. - In dieser Art und Weise fand die ganze Anhörung statt. Das gibt es eigentlich gar nicht. Das war echte Arbeitsverweigerung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN - Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nur weil es einem nicht passt, was geantwortet wird! So geht es auch nicht!) Deswegen fordere ich Sie hier und jetzt noch einmal auf: Ändern Sie Ihren Kurs! Das, was Sie machen, gibt dieser Regierung keine Rückendeckung, sondern bewirkt das Gegenteil. Machen Sie endlich voran! Arbeiten Sie konkret an der Umsetzung der Finanztransaktionsteuer! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Drucksache auf Vorlage 17/7884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Sie sind also damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Drucksache 17/6643 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) - Drucksache 17/7994 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Michael Hartmann (Wackernheim) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ulla Jelpke Josef Philip Winkler Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen5. - Sie sind damit einverstanden. Die Namen der entsprechenden Kolleginnen und Kollegen liegen hier im Präsidium vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7994, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6643 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moratorium jetzt - Dringliche Klärung von Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts - Drucksachen 17/6321, 17/7934 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann René Röspel Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dr. Petra Sitte Sylvia Kotting-Uhl Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag ist ein neuerliches Beispiel für die destruktive Haltung der Grünen. Alles muss erstmal gestoppt, verhindert oder beendet werden. Dieses Vorgehen der Grünen ist bundesweit bekannt. Und auch heute werden wir uns wieder damit beschäftigen müssen. Ich empfehle Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sich einmal sachlich mit dem Thema auseinanderzusetzen und eine konstruktiv-kritische Haltung einzunehmen. Dem wird Ihr Antrag nicht gerecht. Aus folgenden Gründen: Erstens: Sie fragen in Ihrem Antrag nach den Zeitverzögerungen durch Lieferschwierigkeiten in Japan. Die Antwort: Inzwischen konnte eine Teillieferung der japanischen Komponenten durch Südkorea übernommen werden. Dies begrenzt die Verzögerung auf ein Jahr. Somit wird die Fertigstellung nicht 2019, sondern 2020 erfolgen. Deshalb das ganze Projekt abzulehnen, ist absurd. Zweitens: Sie verlangen in Ihrem Antrag Verbesserungen bei den Managementstrukturen der europäischen Agentur Fusion for Energy und eine transparente Ausschreibungs- und Vergabepraxis. Zu Recht verlangen Sie dies. Die Bundesregierung hat hier den richtigen Ansatz gewählt und auf Verbesserungen gedrungen. Mittlerweile wurden, wie Sie in Ihrem Antrag korrekt schreiben, das Management ausgetauscht und Kontroll- und Überprüfungsmechanismen installiert. Außerdem wurde ein Projektbegleiter etabliert, der die Auftragsvergabe kontrolliert und auch das Controlling verbessert. Insgesamt wurden die Gremien personell erheblich umbesetzt. Die Forderungen der Bundesregierung sind dabei weitestgehend umgesetzt worden. Daran müssen wir weiter arbeiten. Ihre pauschale Abschaffungs- und Verhinderungsstrategie ist dabei wenig hilfreich. Drittens: die Auftragsvergabe. Zu Recht beschweren Sie sich in der Begründung Ihres Antrages darüber, dass deutsche Unternehmen bisher nur Aufträge im Wert von 28 Millionen Euro erhalten haben. Auch das ist jedoch kein Grund, das ganze Projekt beenden zu wollen. Im Gegenteil: Wir müssen uns für mehr Transparenz bei der Auftragsvergabe einsetzen und deutsche Unternehmen zur Beteiligung an Ausschreibungen auffordern. Mittlerweile gibt es bereits positive Meldungen. So konnten deutsche Unternehmen auch bei Ausschreibungen der internationalen Vertragspartner, also unabhängig von Fusion for Energy, erfolgreich Aufträge akquirieren. Viertens: die Kosten. Es ist richtig, die Kosten sind gestiegen. Aber: Durch ein Moratorium, wie von Ihnen gefordert, würden die Kosten noch weiter steigen. Ein Projekt zu verzögern, spart nie Geld, im Gegenteil: Es wird nur immer teurer. Außerdem müssen wir auch der Realität Rechnung tragen. Natürlich war es sinnvoll, den europäischen Beitrag nicht zuletzt auf Intervention der Bundesregierung auf 6,6 Milliarden Euro zu deckeln. Aber es handelt sich hier schließlich um Spitzentechnologie mit höchsten Qualitätsansprüchen. Was nützt es, wenn wir die Kosten reduziert haben, der Reaktor am Ende aber nicht funktioniert? Zur seriösen Debatte um die Kosten gehören selbstverständlich auch die richtigen Zahlen. Natürlich will ich Ihnen nicht unterstellen, dass Sie die Kosten aufbauschen. Aber bei dem Finanzierungsvorschlag der Kommission, den Sie in Ihrem Antrag erwähnen, geht es nicht darum, 460 Milliarden Euro aus dem 7. Forschungsrahmenprogramm zu nehmen; es geht nur um 460 Millionen. Der Unterschied zwischen Milliarden und Millionen sollte Ihnen schon bekannt sein. Nur dann kann man sich auch kritisch zu den Kosten äußern. Fünftens: Sie versuchen in der Begründung Ihres Antrags, die Kernfusion mit der Kernspaltung gleichzusetzen und sprechen auch von einer Endlagerproblematik. Auch hier sollten Sie den Unterschied kennen: Kernspaltung und Kernfusion sind zwei völlig unterschiedliche Technologien bzw. Verfahren. Eine Endlagerproblematik gibt es bei der Kernfusion nicht. Sechstens: Durch die Entwicklung der Kernfusionstechnologie entstehen Innovationen und Entwicklungen, die ohne diese Forschung kaum zustande gekommen wären. Zahlreiche technologische Nebenprodukte und Spin-off-fähige Entwicklungen sind durch die Kernfusion entstanden. Dazu zählen Entwicklungen im Bereich der Supraleiter, der Prallplatten, der Materialforschung, der Fabrikationsprozesse, der Halbleitertechnologie, der Gesundheitsforschung, der Mikrowellentechnologie, der Magnettechnologie, der Hochleistungsbremsen, der Luft- und Raumfahrt und vieles mehr. Siebtens: Es handelt sich hier um ein großes internationales Forschungsprojekt. Beteiligt sind außer der Europäischen Union auch China, Indien, Japan, Südkorea, Russland und die USA. Ein Projekt von dieser Größe und Bedeutung erfordert internationale Zusammenarbeit. Deshalb ist Verlässlichkeit gegenüber den internationalen Partnern wichtig. Im Übrigen wurde der ITER-Vertrag in der rot-grünen Regierungszeit ausgehandelt. Die Grünen hätten damals die Chance zum Ausstieg gehabt. Zumindest aber hätten Sie verhindern können, dass der Vertrag gar keine Ausstiegsmöglichkeiten für Euratom vorsieht. Stattdessen haben Sie diesem Vertrag zugestimmt. Und heute wollen Sie davon nichts mehr wissen. So geht es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Die wesentlichen im Antrag aufgeworfenen Fragen sind damit beantwortet. Aus diesem Grund können wir den Antrag der Grünen gut begründet ablehnen. Die Strategie der Bundesregierung, die Defizite konstruktiv zu beseitigen, ist allemal erfolgversprechender als die Strategie der Grünen, gleich alles hinzuschmeißen. Darüber hinaus möchte ich der Grünen-Fraktion etwas mehr Technologiebegeisterung nahelegen. Niemand verlangt von den Grünen, dass sie technikverliebte Piraten werden, aber ein bisschen mehr Offenheit könnte nicht schaden. Bei der Kernfusionsforschung handelt es sich um bahnbrechende Grundlagenforschung. Ich empfehle Ihnen daher eine Besichtigung des Versuchsreaktors Wendelstein 7-X in Greifswald. Es ist einfach faszinierend, wie deutsche Forscher hier einen Fusionsreaktor nach dem Stellarator-Prinzip aufbauen und bei jedem einzelnen Schritt auf keinerlei Erfahrung zurückgreifen können, weil es noch nie vorher ausprobiert wurde oder überhaupt möglich war, so etwas aufzubauen. Die fortschrittlichste Technologie der Welt verbunden mit höchster Präzision und begleitet von den besten Wissenschaftlern der Welt: Das ist ein faszinierendes Beispiel für bahnbrechende Forschung. Besuchen Sie Greifswald! Ich kann es Ihnen nur empfehlen. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind davon überzeugt, dass die Fusionstechnologie viele Zukunftschancen bietet. Lassen Sie uns deshalb das ITER-Projekt weiterhin konstruktiv, aber kritisch begleiten! Florian Hahn (CDU/CSU): In meinem Wahlkreis in Garching befindet sich seit 1971 die größte Forschungsanlage für Kernfusion in Europa, das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, auch IPP genannt. Das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik ist nicht nur das größte Forschungsinstitut auf diesem Gebiet, es bearbeitet im Bereich der deutschen Fusionsforschung gemeinsam mit den Instituten in Karlsruhe und dem Forschungszentrum Jülich alle relevanten Fragestellungen, die auf dem Weg zu einem Fusionsreaktor zu lösen sind. Alle dort erzielten Ergebnisse fließen in die Planung des internationalen Testreaktors ITER mit ein. Das IPP verfügt hier also über ungeheures Wissenspotenial, das es zu nutzen und zu fördern gilt. In Garching arbeiten derzeit 650 hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Aufgabe, physikalische Grundlagen zu entwickeln, um Energie aus der Verschmelzung von Atomkernen zu gewinnen. Nach dem Vorbild der Sonne wird hier versucht, eine Kernfusion von schweren und überschweren Wasserstoffkernen zu bewirken. Dabei könnte sehr viel Energie gewonnen werden. Der Vorteil dabei ist, dass die benötigte Brennstoffmenge viel geringer ausfallen würde als bei der Kernspaltung. So wäre eine schnelle Abschaltung des Reaktors, ohne Kettenreaktion oder ähnlichen Leistungsanstieg wie bei der Kernfusion, die zum "Durchgehen" des Kraftwerks führen könnte, gewährleistet. Übrig bliebe bei einer Abschaltung das Edelgas Helium zurück, das nicht radioaktiv ist und für industrielle Zwecke genutzt werden kann. Die Forschungsanlage in Garching ist für das ITER-Projekt Vorreiter. Es hat das "ITER Design", das heißt -, die Form und die Magnetfelder des Versuchsreaktors entwickelt. Das Forschungskraftwerk ITER soll in Zukunft zeigen, dass ein Energie lieferndes Fusionsfeuer möglich ist und somit die Kernfusion kommerziell nutzbar gemacht werden kann. Gelänge dies, könnten wir damit für die Zukunft auf eine sichere, umweltfreundliche und unerschöpfliche Energiequelle zurückgreifen. Vorteil dabei wäre, dass bei der Kernfusion kein umweltschädliches CO2 und kein radioaktiver Müll entstehen würden. Damit wäre also in der Konsequenz auch das leidige Problem der Endlagerung gelöst. Ein weiterer Vorteil: Solche Anlagen nehmen wesentlich weniger Platz in Anspruch als Solar- oder Windkraftanlagen und wären viel effizienter als alle derzeitigen Szenarien. Fakt ist auch, dass die Fusion das Speicherproblem lösen könnte, für das bis heute immer noch keine konstruktive Lösung gefunden wurde. Zudem würden Fusions-kraftwerke in die vorhandene Struktur der Stromerzeugung passen. Wir haben die Energiewende eingeläutet, und damit sollten wir auch konsequent und verantwortungsvoll in alle Richtungen forschen. Ideologische Scheuklappen, wie sie vorzugsweise die Kolleginnen und Kollegen der grünen Opposition tragen, sind hier fehl am Platz. Die Kernfusion kann hier als sichere und saubere Alternative dienen. Die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Die asiatischen Länder sind auf diesem Gebiet auf dem Vormarsch. In den letzten Jahren wurden neue Fusionsexperimente in China, Korea, Indien und Japan gebaut. Als ITER-Partner haben diese Länder Zugang zu allen Technologien, die beim ITER-Aufbau benötigt und entwickelt werden. China beispielsweise plant, bereits im Jahr 2016 mit dem Bau eines Fusionskraftwerks zu beginnen. Es soll 2025 in Betrieb gehen und auch die Finanzierung scheint bereits gesichert. Hier dürfen Deutschland und Europa auf keinen Fall den technologischen Anschluss verlieren. Denn Energieforschung ist weitaus mehr als ein Instrument nationaler Politik. Hier gilt es, die europäischen Anstrengungen zu bündeln. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass mit der Fusionstechnik ein Quantensprung im neuen Energiezeitalter beginnen wird. Kernargument im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen für ein Moratorium ist die Finanzierung des Projektes. Die ITER-Finanzierung teilen sich EU, USA, Japan, Russland, China, Indien und Südkorea. Sie wissen doch, Forschungsprogramme kosten immer erst einmal Geld, viel Geld. Das ist überall so. Die Bundesregierung ist dennoch darauf bedacht, dass die Kosten auf europäischer Ebene nicht aus dem Ruder laufen. Deshalb wurden auch die Kosten entsprechend auf 6,6 Milliarden Euro gedeckelt. Die Fusionsforschungsarbeiten in Deutschland und Europa und das Internationale Fusionsexperiment ITER stehen für eine funktionierende internationale Zusammenarbeit in der Energieforschung. Das wollen und können wir nicht durch ein Moratorium, wie im Antrag der Grünen gefordert ist, aufs Spiel setzen: erstens weil wir nicht alleine sind und weil es sich hier um eine internationale Kooperation handelt, in der wir als zuverlässiger Partner nicht wegfallen dürfen. Zum Zweiten ist Deutschland auch nur mittelbar an dem Projekt beteiligt, denn Euratom ist der eigentliche Vertragspartner. Drittens wären Moratoriumskosten oder gar Ausstiegskosten immens hoch, ohne dass etwas erreicht würde. Deutschland hätte sich hier einmal wieder ins finanzielle und technologische Abseits katapultiert, seinen technologischen Vorsprung verspielt und wichtige Standorte verloren. Dies wird es mit uns allerdings nicht geben. Deutschland muss ein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleiben! René Röspel (SPD): Die Debatte um ITER hat sich im Deutschen Bundestag, wie es die Kollegin Petra Sitte einmal ausdrückte, zu einem wahren "Dauerbrenner" etabliert. In regelmäßigen Abständen diskutieren wir in diesem Hause die Themen Fusionsforschung, ITER und seit kurzem auch vermehrt Euratom. Bei ITER handelt es sich um ein gemeinsames Projekt von EU, Japan, Russland, USA, China, Indien und Südkorea zum Bau und Unterhalt eines Fusionsforschungsreaktors. In diesem Reaktor sollen die Mechanismen, die die Sonne aus menschlicher Sicht zu einer unerschöpflichen Energiequelle machen, mit einem Fusionsreaktor auf die Erde geholt werden. Nach aktuellem Stand werden die Baukosten für ITER auf über 15 Milliarden Euro geschätzt, was eine Verdreifachung der ursprünglichen Kosten bedeutet. Ein Teil der Mehrkosten ist durch Inflation und steigende Rohstoffpreise bedingt. Weitere Gründe für die Kostensteigerungen sind neue Erkenntnisse, insbesondere zur Steigerung der Sicherheit des ITER sowie offenbar Missmanagement. Für die EU bedeutet dies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden Euro, im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei Vertragsunterzeichnung vereinbart waren; ein Betrag, der auf 6,6 Milliarden Euro gedeckelt werden soll. Heute diskutieren wir den hier vorliegenden Antrag der Grünen bereits zum zweiten Mal. Seit der ersten Lesung im Juni hat sich leider an der finanziellen Problematik bei ITER wenig geändert. Die bisherigen Treffen zwischen den Vertretern des Rates und des Europäischen Parlaments sind ohne Erfolg verlaufen. Der aktuell von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Finanzkompromiss für die Jahre 2011 bis 2013 ist bisher noch strittig. Das Europäische Parlament vertritt die Position, dass der europäische Forschungshaushalt (Rubrik 1 a) nicht noch stärker für ITER belastet werden darf. Diese Meinung teilen wir als SPD-Bundestagsfraktion. Neben dem Europäischen Parlament haben aber auch im Europäischen Rat mehrere Länder ihren Unmut über den Vorschlag geäußert. Am heutigen 1. Dezember tagt der sogenannte Trilog erneut zu dem Kompromiss. Ergebnisse sind mir bisher noch nicht bekannt. Es bleibt also weiterhin unklar, wie die fehlende Summe von 1,2 Milliarden Euro für die nächsten Jahre gegenfinanziert werden soll. Wir haben diese Problematik im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung immer wieder gemeinsam diskutiert. Wichtig war für uns Sozialdemokraten dabei die klare Aussage der Bundesregierung, dass die Obergrenze der Gesamtkosten von 6,6 Milliarden Euro nicht überschritten werden darf. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie in dieser Frage nicht einknickt. Weniger vehement verteidigt diese Regierung aber das 7. Forschungsrahmenprogramm, FRP. Nach einem einstimmigen Ratsbeschluss können bis zu 660 Millionen Euro durch Umschichtung innerhalb der Rubrik 1 a, aus der das Forschungsrahmenprogramm finanziert wird, für ITER eingesetzt werden. In unserem Antrag "Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung - Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zugunsten des Einzelprojekts ITER" haben wir dafür eine rote Linie gezogen. Nicht gespart werden darf aus unserer Sicht zum Beispiel beim Europäischen Forschungsrat oder bei Programmen für erneuerbare Energien. Welche Projekte hingegen für diese Regierung unantastbar sind, darüber schweigt sie sich bisher leider aus. Die finanzielle Problemlage wird in dem uns vorliegenden Antrag der Grünen ausführlich dargestellt. Diesen Teil der Analyse teilen wir Sozialdemokraten ausdrücklich. In meiner Rede vom 30. Juni bin ich auf diesen Teil des Antrages bereits intensiv eingegangen. Aber wie in meiner Rede ebenfalls dargestellt, sehen wir Sozialdemokraten das Mittel des Moratoriums in diesem Fall als ein untaugliches Instrument. Denn eine akute Gefahr für Leib und Leben besteht, anders als beim Atommoratorium, bei ITER nicht. Außerdem weiß jeder Häuslebauer, dass mit einer Bauunterbrechung leider kein Kostenstopp einhergeht. Verträge müssen vielmehr eingehalten und Gehälter weiter gezahlt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, aufgrund von Kostenexplosionen ein Instrument vorzuschlagen, das weitere Kosten verursacht, macht keinen Sinn. Ein Moratorium ist für ITER deshalb das falsche Mittel. Aber die gewünschte Diskussion haben Sie ja trotzdem erreicht. Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch ein anderes Thema ansprechen. Denn bei den Debatten um die Fusionsforschung kommen immer wieder Behauptungen und Vergleiche auf, die ich so allerdings auch nicht stehen lassen möchte. Bei aller gerechtfertigten Kritik an dem Bau von ITER: Man darf Kernspaltung - gemeinhin Atomkraft genannt - und Kernfusion nicht in denselben Topf werfen. Zum Beispiel wäre eine Katastrophe wie in Fukushima oder Tschernobyl - nach heutigem Wissensstand - bei einem Fusionsreaktor nicht möglich. Zur Fusion benötigt man eine konstant enorm hohe Energiezugabe. Diesen Energiefluss lang genug zu halten ist bisher das technische Problem. Fällt diese Energiezuführung weg, zum Beispiel bei einem Unfall, bricht auch die Fusion ab. Denn anders als bei der Atomkraft ist bei der Fusionstechnologie eine unkontrollierte Kettenreaktion unmöglich. Ich sehe deshalb nicht die von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, beschriebene gesellschaftliche Ablehnung - analog zur Atomkraft - bei der Fusionstechnologie. Wenn man mal nachfragt, wissen die meisten Menschen noch gar nicht, was sich genau hinter der Fusionstechnologie verbirgt. Das sollte sich ändern. Abgelehnt wird das ITER-Projekt bisher vorwiegend aufgrund finanzieller Erwägungen. Dies impliziert aber nicht eine grundlegende Ablehnung der Fusionstechnik. Als SPD-Bundestagsfraktion sehen wir die Fusionsforschung als ein spannendes Feld der Grundlagenforschung. Für die notwendige Energiewende wird diese Technik aber definitiv zu spät kommen. Deshalb treten wir für eine Deckelung der Kosten und einen Ausbau der erneuerbaren Energien ein. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Alle Jahre wieder beschäftigen wir uns mit dem Wunsch der Grünen, aus dem ITER-Projekt auszusteigen. Im April 2010 haben sie beantragt, den ITER-Vertrag zu kündigen. Das hat die Mehrheit des Deutschen Bundestages vor der Sommerpause 2010 abgelehnt. Im Juni 2011 haben sie ein ITER-Moratorium gefordert, mit diesem Antrag beschäftigen wir uns heute nochmals abschließend. Mit einer weiteren Variante im kommenden Jahr rechnen wir bereits fest. Die Grünen sprechen in ihren Anträgen aktuelle und wichtige Fragen an, zum Beispiel die erheblichen Mehrkosten oder die Folgen der japanischen Erdbebenkatastrophe in Fukushima. Im Grunde geht es aber immer um ihre grundsätzliche Ablehnung des ganzen Projektes und der Kernfusionsforschung überhaupt. Es ist ihr gutes Recht, dagegen zu sein. Probleme lassen sich mit dieser Haltung aber eher nicht lösen. Die Energieversorgung ist ein drängendes Problem. Sie ist die Grundlage für die Erhaltung des Lebensstandards, den wir uns in Deutschland erarbeitet haben. Das Thema Energieversorgung beschäftigt uns seit Jahrzehnten, und es ist kein Ende absehbar. Viele Möglichkeiten wurden erwogen, manche Wege ausprobiert, und immer wieder zeigt die Erfahrung: Jede Technologie birgt Chancen und Risiken, jeder Fortschritt zeitigt auch unvorhergesehene Folgen, Vor- und Nachteile sind die zwei Seiten einer Medaille. Es ist so banal, wie es klingt - das gilt auch für ITER. In ihren Anträgen weisen die Grünen auf Fehlentwicklungen und Risiken hin. Dass wir darüber debattieren, ist richtig und wichtig. Wenn die Kosten explodieren, wenn der Zeitplan nicht eingehalten wird, wenn neue technologische oder sicherheitsrelevante Probleme auftreten, müssen wir darauf reagieren, das ist überhaupt keine Frage. Das Wichtigste ist aber die Frage nach dem Ziel, denn es geht ja um die Sicherung der Energieversorgung in der Zukunft. Die Gretchenfrage lautet deshalb: Kann der Kernfusionsreaktor ITER ein Beitrag zur Sicherung der zukünftigen Energieversorgung sein oder kann er das nicht? Die Grünen verneinen diese Frage und lehnen deshalb das ITER-Projekt ab. Wir Liberale halten die Nutzung der Kernfusion zur Stromerzeugung im industriellen Maßstab nach wie vor für eine faszinierende und vor allem für eine realisierbare Möglichkeit. Nach unserer Überzeugung lohnt es sich, hier weiter zu forschen. Wir gehen davon aus, dass die Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn sowie mit den USA, mit Russland, Japan, China, Indien und Südkorea die beste Gewähr für einen Erfolg dieses Projektes bietet. Wir weisen außerdem darauf hin, dass deutsche Forschungsinstitute an ITER stark beteiligt sind, zum Beispiel das Institut für Plasmaphysik in Garching, die Max-Planck-Gesellschaft und die Helmholtz-Forschungszentren Karlsruhe und Jülich. Forschungs- und Entwicklungsaufträge für die deutsche Industrie und die deutsche Fusionsforschung sind ein Aspekt, der auch zu bedenken ist. Die Probleme mit der Finanzierung sind allerdings gravierend. Für die Mehrkosten in den nächsten zwei Jahren wird derzeit auf europäischer Ebene eine Lösung ausgehandelt, sie werden aber auf jeden Fall aus dem EU-Haushalt bestritten. Die Verbesserung von Kontrollmechanismen und Managementstrukturen ist auf gutem Weg. Ob nach der Katastrophe in Fukushima auch am französischen Standort Cadarache Sicherheitskonzepte angepasst werden müssen, wird von Experten geprüft. Man sieht, die Probleme, die die Grünen in ihrem Antrag formulieren, sind bekannt und werden bearbeitet. Wir Liberalen plädieren dafür, die Kernfusionsforschung weiter voranzutreiben und wir setzen uns dafür ein, dieses wichtige Projekt zum Erfolg zu bringen. Den vorliegenden Antrag lehnen wir daher ab. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Debatten zum geplanten Fusionsreaktor ITER kommen einem vor wie "Die unendliche Geschichte". Und wer dieses berühmte Jugendbuch gelesen hat, der weiß, dass die Handlung größtenteils in einer nichtrealen Welt namens Fantasien spielt. In einer ähnlichen Welt scheinen die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen zu leben, die immer wieder die heile und vollkommene Welt der Fusionsenergie preisen, so etwa der Kollege Dr. Murmann in der ersten Debatte zum vorliegenden Antrag: "Wenn diese Technik Marktreife erlangt, ist die Kernfusion eine sichere, saubere, nahezu unerschöpfliche und nachhaltige Energiequelle, die zudem noch grundlastfähig ist." Dieser Glaubensgrundsatz gilt bereits seit den 60er-Jahren, und immer dauert es nur noch 30 bis 40 Jahre bis zur Marktreife der Technologie. Wenn das Wörtchen "wenn" nicht wär! Aber die Frage ist doch nicht, ob wir das Wünschenswerte ersehnen, sondern ob wir das Notwendige tun, wenn man sich die äußerst komplizierten Verhandlungen der Weltklimakonferenz in Durban ansieht, wenn man sich ansieht, dass wir mit unserer Art der automobildominierten Mobilität zwei Drittel des geförderten Erdöls einfach verbrennen, dass der Klimawandel zuerst in den ärmsten Länder der Erde massive Schäden verursacht - etwa in Bangladesch, Myanmar und Honduras. Wenn man sich also ansieht, dass die industrialisierte Welt trotz aller guten Absichtsbekundungen keine wirksame Antwort auf das Klimaproblem gefunden hat, dann muss man ein unsicheres Projekt wie ITER zugunsten des Notwendigen auf den Prüfstand stellen dürfen. Nun steht nicht nur die praktische Seite des Projekts vor immer neuen Hürden, sondern auch die finanzielle. Vergangene Woche konnten sich Rat und Parlament erneut nicht darüber einigen, wie die allein bis 2013 fehlenden 1,3 Milliarden Euro aufgebracht werden sollen. Heute sitzen Vertreterinnen und Vertreter beider Seiten wieder zusammen. Die Bundesregierung hat sich, so war es auch in der Presse zitierten internen Berichten zu entnehmen, klar geäußert: Andere Bereiche im EU-Haushalt müssen bluten, darunter auch die Etats für Forschung und Innovation. Bitte sagen Sie, liebe Frau Forschungsministerin, dann mal konkret, was Sie aus dem laufenden Forschungsrahmenprogramm für verzichtbar halten, damit Ihre Abwägungsentscheidung hier im Parlament transparent wird. Sagen Sie bitte dazu, dass auch deutsche Interessen an einer Rückzahlung von Agrarüberschüssen in dieser Entscheidung eine Rolle spielen. Die Probleme bei ITER treiben die europäische Energieforschung insgesamt in eine absurde Schieflage: Der Europäische Verband für Windenergie rechnete jüngst aus, dass die Atomenergie, darunter die Fusionstechnik, mit mindestens 1,3 Milliarden Euro in 2012 durch die EU gefördert werden soll, während für alle anderen Energieträger inklusive Kohle lediglich 355 Millionen zur Verfügung stünden, darunter lächerliche 24 Millionen für die Windenergie. 80 Prozent der Mittel gehen in risikobehaftete Atomtechnologien. Ist das die Prioritätensetzung, mit der wir schnell und nachhaltig einen Ausbau und vor allem die Netzintegration der erneuerbaren Energien erreichen können? Insbesondere im Bereich der Wärmeerzeugung, aber auch im Verkehrssektor sind wir weit von den angestrebten Ausbauzielen entfernt. 2050 wollen wir 80 Prozent weniger CO2 ausstoßen. So spannend die Fusionsenergie ist, sie wird nichts zur Erreichung dieses Ziels beitragen. Ebenso wenig hilft sie bei der Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise, die in vielen Ländern Arbeitslosigkeit und Armut bringt. Die dezentralen erneuerbaren Energien haben in Deutschland gezeigt, dass sie ein Jobmotor sein können, wenn sie richtig gefördert werden. Wir wären gut beraten, diese Erkenntnis auch in die Beratungen auf der europäischen Ebene einzuspeisen, anstatt immer nur weitere Rettungsschirme und Sparprogramme zugunsten von Kapitalanlegern zu verlangen. Im Buch von der unendlichen Geschichte muss der Held seinen starken Willen einsetzen, um aus der Fantasiewelt in die reale Welt zurückkehren zu können und nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Dieser starke Wille zur Vernunft sollte auch uns leiten. Das Projekt ITER muss der hier geforderten grundsätzlichen und ergebnisoffenen Überprüfung unterzogen werden. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der International Thermonuclear Experimental Reactor, ITER, ist ein prestigeträchtiges Projekt der Grundlagenforschung. Wenn der ITER zur Grundlagenforschung zählt und hier die Freiheit der Wissenschaft im Vordergrund steht, ist es unredlich, gleichzeitig damit zu werben, man könne mit "ITER unendlich viel Strom produzieren". Auch nach intensiven Forschungsbemühungen seit den 1930er-Jahren steht bei der Kernfusion bisher in den Sternen, ob mit der Technologie jemals Energie produziert werden kann. Zusätzlich muss bei einer lösungsorientierten Forschung die Frage erlaubt sein, warum am ITER mit Tokamak-Design festgehalten wird, wenn die deutsche Fusionsforschung und die USA lieber auf den Stellarator setzen. Die Kosten bei ITER explodieren. Thomas Klinger, der IPP-Direktor und Wendelstein-Projektleiter des Fusions-Stellarators in Greifswald, attestiert dem ITER eine Neigung zum "Plasma-Ausbruch". Herr Klinger sollte wissen, wovon er redet, schließlich ist Wendelstein 7-X das weltweit größte und modernste Experiment seiner Art. Auch ohne das Milliardengrab ITER blieben also die Superlative wie auch die Vision von Energie aus irdischer Sonnenkraft für die, die glauben, das zu brauchen. Das ITER-Projekt wird keine Lösung für die Energieprobleme der Zukunft sein, selbst wenn ITER im Jahr 2050 - und das wäre selbst für die Befürworter des Projekts ein optimistischer Zeithorizont - tatsächlich mehr Energie liefern als verbrauchen würde. Denn die Nachhaltigkeitsziele, die wir für den Erhalt einer lebenswerten Erde bis dahin erreichen müssen, sind heute bereits formuliert. Für dieses Ziel sind andere Maßnahmen erforderlich als ein Versprechen, im Jahr 2050 "unendlich viel Energie" produzieren zu können. Die Industrienationen müssen es bis 2050 längst geschafft haben, mit einem wesentlich geringeren Energiebedarf auszukommen. Die Weichen zum klimaverträglichen Wirtschaften müssen heute gestellt werden. Dazu gilt es die Energiewende zu realisieren und Wege zu finden, Einsparung und Energieeffizienz endlich zu praktizieren. Bis 2050 muss eine Umstellung der Energieproduktion auf 100 Prozent erneuerbare Energien erfolgt sein. Haben wir das Ziel erreicht, brauchen wir keine Massen von Energie mehr, die zudem noch immens teuer sein wird. Auch für die heutigen Entwicklungs- und Schwellenländer ist die Kernfusion mit ihrer reaktorbedingten zentralen Struktur keine Option. Die Investitionen für den Bau der komplizierten Fusionsreaktoren werden sie auch nicht bezahlen können. Der ITER bleibt ein Unikum. Einzigartig ist bei ITER auch die vertraglich vereinbarte Idee, die einzelnen Komponenten auf verschiedenen Erdteilen produzieren zu lassen und dann am Standort Cadarache zusammenzubauen. Bei allen daraus für die Forschungszusammenarbeit resultierenden wertvollen Erkenntnissen ist zu konstatieren: Was den Zeitplan und den Kostenrahmen angeht, ist dieses Experiment international bereits gründlich gescheitert. Anders lassen sich die immensen Kostensteigerungen des 2007 in Kraft getretenen Vertrages - auf das Dreifache - nicht deuten. Noch ist Zeit, den Großteil der heute auf 16 Milliarden Euro geschätzten Baukosten sinnvoller auszugeben. Schließlich ist auch nach anderthalb Jahren Kenntnis der Finanzierungslücke von "gedeckelten" 1,3 Milliarden Euro allein für die Jahre 2012 und 2013 noch nicht klar, wie die Finanzierung der Mehrkosten nun erfolgen sollte und welche Auswirkungen dies auf die nationalen Haushalte und die Forschungsförderung der EU hätte. Neuerdings sollen 572 Millionen Euro aus dem Agraretat 2011 für die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen kommen. Auch die Verwaltungsausgaben - Rubrik 5 im EU-Haushalt 2011 - sollen um 243 Millionen Euro geschrumpft werden. Damit bleibt es aber noch immer bei einer Umschichtung von 460 Millionen Euro aus dem Forschungsetat. Zumindest ist jetzt klar, welche anderen Forschungsprogramme darum fürchten müssen, für ITER um 100 Millionen Euro reduziert zu werden. Es wird die gemeinsamen Technologieinitiativen treffen. Gekürzt werden zum Beispiel ARTEMIS, also die Forschung an intelligenten Kleinstrechnersystemen in Schlüsselbereichen, ENIAC, also das Forschungs- und Entwicklungsprogramm der EU für die Nanotechnologie, Clean Sky, also die Entwicklung von rasch einsetzbaren umweltfreundlichen Luftfahrttechnologien, SESAR, also die Forschung für das Flugverkehrsmanagement der Zukunft und nicht zuletzt die Initiative "Innovative Arzneimittel". Zur Einhaltung des Kostendeckels wurde beteuert, dass man die Managementprobleme bald im Griff habe. Das Prestigeprojekt ist allerdings auf einer Ebene angesiedelt, auf der es bisher keine Kontrollmechanismen gibt. Es wäre ja widersinnig, wenn das ITER-Council beschließen würde, sich selbst und seine Aufgabe abzuschaffen. Zumindest die EU versucht, sicherzustellen, dass effektive Kontrollmechanismen und funktionsfähige Managementstrukturen beim gemeinsamen Unternehmen F4E geschaffen werden. Dazu soll jetzt auch die "Stelle des Direktors des europäischen gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusionsenergie" neu besetzt werden. Immerhin besteht die Hoffnung, dass, wenn schon Milliarden in ein Experiment mit ungewissem Ausgang investiert werden, wenigstens der Rücklauf mit Vertragsabschlüssen für die Industrie der Mitgliedstaaten klappt. Wir meinen: Forschungs- und Technologieförderung geht besser und günstiger als über ITER. Schon aus Haushaltsverantwortung gehört das Projekt begraben. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7934, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6321 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Montenegro zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksachen 17/7768, 17/7809, 17/7769, 17/8012 - Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Peer Steinbrück Oliver Luksic Thomas Nord Viola von Cramon-Taubadel Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen.6 - Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 17/8012 zu drei Anträgen zu Stellungnahmen des Deutschen Bundestages gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/7768 mit dem Titel: "Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Montenegro zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7809. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7769. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und Bünd-nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention - Drucksache 17/6804 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) - Drucksachen 17/7950, 17/8043 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Aumer Martin Gerster Björn Sänger Richard Pitterle Dr. Gerhard Schick Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde für die Aussprache vorzusehen. - Sie sind damit einverstanden. Das ist so beschlossen. Ich darf darauf hinweisen, dass wir im Anschluss noch eine Reihe weiterer Abstimmungen durchzuführen haben. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster in dieser Debatte hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Aumer das Wort. Bitte schön, Kollege Peter Aumer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Aumer (CDU/CSU): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute ein Gesetz, über das im Kern im ganzen Haus Einvernehmen besteht. Wir diskutieren über Geldwäsche und Geldwäscheprävention. Ich glaube, wir haben bei den Debatten im Ausschuss und den Berichterstattergesprächen gemerkt, dass wir uns im Ziel einig sind. Es gibt in dem einen oder anderen Punkt divergierende Meinungen. Aber das Ziel ist das Gleiche, nämlich dass man den Gefahren der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung entgegenwirkt. Gerade in einer Zeit zunehmender Globalisierung und zunehmender Verflechtungen im internationalen Bereich ist es wichtig, dass man Regelungen trifft, um die Unterstützung terroristischer Maßnahmen durch illegale Finanzierungen zu unterbinden. In diesem Gesetz soll vor allen Dingen auch der Bereich der Kriminalität im E-Geld-Geschäft unterbunden werden. Geldwäsche bedeutet, dass illegal erwirtschaftetes Geld zum Beispiel aus Drogenhandel in den legalen Wirtschafts- und Finanzkreislauf fließt oder gar Terrorismus und viele andere kriminelle Aktivitäten finanziert werden. All das wollen wir nicht. Die Bekämpfung der Geldwäsche ist etwas, was uns nicht nur in Deutschland eint, sondern auch von vielen anderen Staaten in dieser Welt mitgetragen wird. Deswegen hat man eine gemeinsame Organisation gegründet, die FATF, die sich dieser Problematik im internationalen Bereich annimmt. Wir diskutieren heute vor allem die Auswirkungen der Prüfung Deutschlands durch die FATF. Durch diese Prüfung sind einige Defizite aufgedeckt worden, die wir in Deutschland beheben müssen. Aus dem FATF-Bericht habe ich mir zwei Zitate herausgesucht, die verdeutlichen, warum wir diesen Gesetzentwurf vorlegen. Das eine Zitat lautet: Viele Indikatoren deuten darauf hin, dass Deutschland anfällig für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ist, auch aufgrund seines großen Wirtschafts- und Finanzplatzes sowie seiner strategischen Lage in Europa und einer starken internationalen Verflechtung. Das zweite Zitat, das einen Lösungsansatz in sich birgt, lautet: Wichtige Faktoren, dass Deutschland das Risikoprofil für Geldwäsche reduzieren kann, sind seine starke rechtliche Tradition, die Rechtsstaatlichkeit, das politische Umfeld und eine effektive Finanzaufsicht. Ich glaube, wir haben an vielen Dingen, die ja zum Teil auch bei der Anhörung genannt wurden, gemerkt, dass die Schlussfolgerungen der FATF richtig sind. Wir werden gemeinsam mit großer Mehrheit die Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einige Zahlen, die aktuell vom Bundeskriminalamt veröffentlicht worden sind, zeigen, wie hoch das Gefahrenpotenzial der Geldwäsche in unserem Land ist. Im Jahre 2010 stieg die Zahl der Verdachtsfälle um 22 Prozent auf insgesamt 11 042; das ist vor allem einer verstärkten Sensibilisierung der Betroffenen zu verdanken. Bei 44 Prozent dieser Meldungen wurden Straftaten konkret nachgewiesen. Etwa 90 Prozent der Verdachtsmeldungen wurden von Finanzinstituten gemeldet. Andere Institutionen und Personen, für die wir heute Regelungen treffen, sind für die Gefahren der Geldwäsche noch nicht so stark sensibilisiert, vor allem nicht die Güterhändler. Ein anderer wesentlicher Punkt: Die Internetkriminalität nimmt verstärkt zu. Allein im Jahr 2010 hatten wir in Bayern 22 900 Fälle, von denen 500 dem Bereich der Geldwäsche zugerechnet werden konnten. Mit diesem Gesetz werden, wie vorher schon angesprochen, die Empfehlungen des FATF-Berichts umgesetzt. Die Dritte EG-Geldwäscherichtlinie, über die im Moment in Europa diskutiert wird, wird sicherlich in dieses Gesetz einfließen. Frau Paus, Sie haben eben das Zitat von Volker Kauder kritisiert: Europa spricht deutsch. - Dieses Zitat kann man sicherlich in vielerlei Facetten deuten. Mit dem Gesetz zur Geldwäsche, das wir heute beschließen werden, sind wir sicherlich auch Vorbild in Europa. Zumindest wir in Deutschland ziehen Konsequenzen und erlassen Regelungen, die schärfer sind als in anderen europäischen Ländern. Wir haben das Unsere zu tun und das Ganze umzusetzen. Hier hapert es sicherlich noch - deswegen schütteln Sie sicherlich den Kopf, Herr Dr. Schick -, aber es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieser Umsetzung gerecht zu werden und die Feinjustierung vorzunehmen. Zu den wesentlichen Punkten, die wir in diesem Gesetz geändert haben - im Vergleich zum Regierungsentwurf der Bundesregierung haben wir einige Entschärfungen vorgenommen -, gehören vor allem die Regelungen im E-Geld-Bereich. Die Schwellenwerte wurden verändert. Durch die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie ist das in Deutschland bereits Gesetz geworden. Bisher galt Null als Schwellenwert. In vielen Gesprächen - auch mit Unternehmen aus der Wirtschaft - hat man jedoch festgestellt, dass man im E-Geld-Bereich die Möglichkeit gewährleisten muss, ohne Identifizierungen zu arbeiten. Wir haben uns darauf geeinigt, einen Schwellenwert von jeweils 100 Euro pro Monat bei nicht aufladbaren und wiederaufladbaren Karten einzuführen. Das ist ein Wert, der nicht geldwäscherelevant ist, der aber trotzdem die Möglichkeit bietet, ohne Identifizierung im Geldverkehr - im Internet und bei anderen Zahlungsmöglichkeiten - tätig zu werden. Wir haben durch ein Pooling-Verbot sichergestellt, dass mehrere Karten nicht zusammengefasst werden können; das birgt sonst ein größeres Risikopotenzial in sich. Darüber hinaus haben wir sichergestellt, dass beim Cash-out ab einem Schwellenwert von 20 Euro eine Identifizierungspflicht besteht. Der E-Geld-Emittent muss die technische Umsetzbarkeit dessen gewährleisten, was wir gesetzlich vorgeben. Mithilfe der BaFin und der Aufsichtsstrukturen in unserem Land muss dafür gesorgt werden, dass diese Identifizierungsvorschriften eingehalten werden. Ein weiterer wichtiger Punkt, der in diesem Gesetz stark verändert worden ist, ist die Bestellung des Geldwäschebeauftragten. Hier weichen unsere Änderungsvorschläge sehr stark von dem ab, was die Bundesregierung vorgelegt hat. Wir verfolgen natürlich dasselbe Ziel, für Geldwäsche stärker zu sensibilisieren und das Bewusstsein - auch in Unternehmen im Nichtfinanzsektor - zu schärfen. Wir wollen aber nicht, dass in unserem Land zusätzliche Bürokratie aufgebaut wird und dass die Unternehmen zusätzlich belastet werden. Das ist ein Anliegen, mit dem wir als Regierung angetreten sind. Dies wird durch die Änderungen der Regelung zur Bestellung eines Geldwäschebeauftragten gewährleistet. Die bisher vorgesehene Regelung, die an die Anzahl der Arbeitnehmer anknüpft, entfällt. Die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten ist bei Nichtgüterhändlern nur dann erforderlich, wenn der Verpflichtete Finanzunternehmer oder Betreiber einer Spielbank ist. Die anderen Verpflichteten werden hiervon grundsätzlich freigestellt. Jedoch obliegt es den Aufsichtsbehörden, die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten anzuordnen. Das ist vor allem bei den Personengruppen erforderlich, bei denen ein hohes Geldwäsche-risiko vorhanden ist: bei Edelmetallhändlern, bei Unternehmen, die mit Schiffen, Kfz und Flugzeugen handeln, oder in Branchen, bei denen die Aufsichtsbehörden der Ansicht sind, dass dort ein Geldwäschebeauftragter installiert werden sollte. Dem kann nicht nur die christlich-liberale Koalition, sondern dem können sicherlich auch die anderen Fraktionen in diesem Hohen Hause zustimmen. Weiterhin haben wir Regelungen für sogenannte politisch exponierte Personen auf den Weg gebracht, also für Personen, bei denen großes Risikopotenzial besteht. Das gilt insbesondere für diejenigen, die ihr Amt im Ausland ausüben. Die Regelung sieht ein zweistufiges System vor, das normale und erhöhte Sorgfaltspflichten vorsieht. Normalen Sorgfaltspflichten unterliegen die inländischen Abgeordneten wie die Bundestagsabgeordneten und die Europaabgeordneten. Erhöhten Sorgfaltspflichten unterliegen diejenigen, die ihr Amt im Ausland ausüben. Sie werden verstärkt kontrolliert. Ich möchte noch einmal kurz auf die wesentlichen Punkte eingehen. Mit diesem Gesetz zur Geldwäscheprävention haben wir einen weiteren Schritt getan in Richtung einer verstärkten, zusätzlichen Optimierung des Kampfes gegen Geldwäsche, der vor allem der organisierten Kriminalität vorbeugt, der aber nicht unnötig Bürokratie schafft. Das ist ein wesentliches Ziel, dem wir mit dem Gesetz, das wir heute mit großer Mehrheit dieses Hauses verabschieden werden, sicherlich näherkommen werden. Es muss uns gemeinsam gelingen, dass Bund und Länder verstärkt Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche auf den Weg bringen. Wir haben bei den Berichterstattergesprächen - dabei saßen auch Ländervertreter mit am Tisch - gemerkt, dass uns das Ziel eint und wir einen gemeinsamen Weg gehen. Ein wesentliches Element - das steht zwar nicht im Gesetz, ist aber vereinbart - ist, dass wir als Bundestag beim Forum für Geldwäscheprävention mitarbeiten dürfen. Das ist uns vom BMF zugesagt worden. Das ist, glaube ich, ein schönes Signal, gemeinschaftlich dem Ziel der Geldwäscheprävention näherzukommen. Ein weiteres zusätzliches Element, das auf Vorschlag der Oppositionsparteien eingeführt worden ist, besteht darin, nach drei Jahren eine Evaluierung dieses Gesetzes vorzunehmen. Wir wollen uns dann gemeinsam ansehen, wie die Regelungen wirken und ob man dem Ziel gerecht geworden ist, der Geldwäsche in unserem Land vorzubeugen. Ich bitte Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren: Stimmen Sie diesem Gesetz zu, damit wir gemeinsam dem Ziel, das wir uns gesetzt haben, nämlich der Geldwäsche vorzubeugen, gerecht werden können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr gut zusammengefasst!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Peter Aumer. - Als Nächster hat unser Kollege Ingo Egloff für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte schön, Kollege Ingo Egloff. (Beifall bei der SPD) Ingo Egloff (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Sachen Medienaufmerksamkeit ist Geldwäsche sicherlich kein Gewinnerthema. Darüber wird eher selten berichtet. Vielleicht ist es auch unangenehm für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, sich damit zu befassen. Der Zeitpunkt der Debatte zeigt, dass das Interesse wahrscheinlich eher gering ist. Dennoch ist das Problem - darauf hat der Kollege Aumer zu Recht hingewiesen - in Deutschland akut. Die FATF hat uns das ins Stammbuch geschrieben. Die Bundesrepublik ist ein ökonomisches Schwergewicht mit einem starken Finanzsektor, international stark vernetzt und geografisch zentral gelegen. Das sind auch aus krimineller Sicht Standortvorteile, um illegales Vermögen anzulegen. Ein Anfang Oktober veröffentlichter Bericht über die organisierte Kriminalität in der Europäischen Union stellt fest, "dass die organisierte Kriminalität in einigen Mitgliedstaaten Politik, öffentliche Verwaltung und legale Wirtschaft tiefgreifend und massiv unterwandert hat". Es wird befürchtet, "dass es denkbar ist, dass eine ähnliche Unterwanderung auch in den übrigen Ländern der Europäischen Union stattgefunden und dadurch die organisierte Kriminalität an Macht und Einfluss gewonnen hat". Es wäre naiv, anzunehmen, dass Deutschland nicht ebenfalls Ziel derartiger Bestrebungen dieser Kreise ist. Deswegen ist es, glaube ich, wichtig, heute gemeinsam ein Signal zu setzen, dass wir uns mit aller Macht dagegen stemmen wollen, dass Deutschland zu einem Ort wird, an dem Leuten, die kriminelle Motive haben, gestattet wird, ihr Geld hier sozusagen sauber zu machen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Weg zu diesem Gesetz war ein wenig schwierig. Es hat viele Berichterstattergespräche gegeben. Kaum hatte das Vorhaben das Licht der Öffentlichkeit erblickt, hagelte es Kritik aus den Reihen der Wirtschaft, aber auch von Verbraucherorganisationen und Datenschützern. Einwände kamen auch aus den Reihen der Länder. Das Problem besteht darin, dass die Länder in erheblichem Maß für die Umsetzung der gesetzlich vorgesehenen Aufsicht zuständig sind. Deswegen ist es, glaube ich, gut, dass wir uns Zeit genommen haben, über das Gesetz intensiv zu beraten. Außerdem ist es gut - der Titel des Gesetzes lautet ja "Gesetz zur Optimierung der Geldwäscheprävention" -, dass wir das Wort "Optimierung" ernst genommen und uns gemeinsam bemüht haben, etwas Sinnvolles hinzubekommen. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich beim Kollegen Aumer für die faire und konstruktive Zusammenarbeit und beim Bundesfinanzministerium dafür bedanken, dass es uns jederzeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Ein auf Prävention angelegtes Gesetz wie das Geldwäschegesetz kann nur dann Wirkung zeigen, wenn es gelingt, die Menschen auf dem vorgesehenen Weg mitzunehmen und sie zu überzeugen, dass die mit dem Gesetz verbundenen Maßnahmen notwendig und effizient sind; sie müssen auch verständlich und anwendbar sein. Gerade im Nichtfinanzsektor gibt es hier Defizite. 2010 - darauf hat der Kollege Aumer hingewiesen - gab es 11 000 Verdachtsanzeigen bei der FIU. Davon kamen 92 Prozent aus dem Finanzsektor. Das heißt, nur 8 Prozent kamen aus dem Nichtfinanzsektor. Aber auch Spielbankbetreiber, Makler, Anwälte und Betriebe, die mit hochwertigen Gütern wie Schmuck, Luxusuhren und teuren Autos handeln, müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass ihre Geschäfte für Geldwäscher attraktiv sind. Wenn aus dem zahlenmäßig starken Bereich der Güterhändler 2010 nur 33 Verdachtsanzeigen gekommen sind, dann offenbart das meines Erachtens eine gefährliche Schieflage. Wir haben hier gesagt: Verdachtsanzeigen sind nicht gleich Strafanzeigen. Ich hoffe, damit haben wir die Schwelle für diejenigen, die einen Verdacht haben, herabgesetzt, sodass sie - wozu sie gesetzlich verpflichtet sind - leichter den Weg zu den Behörden finden und sagen, was vielleicht nicht in Ordnung ist. Gleichzeitig ist es wichtig, die beschlossenen Regelungen auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen und die internationalen Standards zielgerichtet weiterzuentwickeln. Schließlich ist die Umsetzung der Anti-Geldwäsche-Richtlinie und des entsprechenden Gesetzes für die Unternehmen häufig mit arbeits- und kostenintensiven Prüfverfahren verbunden. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn man bestimmte Vorgänge genau analysieren und Missbrauch verhindern will, dann muss man eben genauer hinschauen. Deswegen war unser Bestreben bei diesem Gesetz, einerseits so effektiv wie möglich zu sein und andererseits überflüssige Bürokratie zu vermeiden. (Beifall bei der SPD) Ich denke, es hat durchaus seine Berechtigung, dass bestimmte Dinge vonseiten der Wirtschaft, der Banken und der Versicherungen sowie politisch exponierter Personen kritisiert worden sind. Im Forum für Geldwäscheprävention müssen wir auf die Wirksamkeit der Maßnahmen achten, aber auch darauf, ob Aufwand und Output in einem angemessenen Verhältnis stehen. Es wird in Zukunft unsere Aufgabe sein, gemeinsam mit dem Ministerium und den entsprechenden Behörden darauf zu achten, dass hier kein Missverhältnis entsteht. Wir dürfen uns nicht mit der Aussage beruhigen, wir hätten doch alles getan, obwohl die Maßnahmen in Wahrheit gar nicht effektiv sind, weil sich überhaupt keine neuen Erkenntnisse ergeben. Vielmehr verursacht man dann im Zweifelsfall nur erhebliche Kosten bei den Unternehmen, die diese Maßnahmen umsetzen müssen. Der Kollege Aumer hat bereits die Bestimmungen zum E-Geld angesprochen. Ich denke, dass wir mit den Schranken, die wir eingezogen haben - auch mit der 100-Euro-Grenze - ermöglichen, auch im unteren Bereich Geldkarten ohne Identifikation zu nutzen. Der Schwellenwert von 100 Euro und das damit verbundene Pooling-Verbot sind unseres Erachtens wirksame Maßnahmen, um auf der einen Seite unnötige Bürokratie zu vermeiden und auf der anderen Seite die Nutzung dieser Karten, beispielsweise im Bereich von Sportstadien, auch in Zukunft zuzulassen. Auf die Regelung zur Bestellung eines Geldwäschebeauftragten haben Sie bereits hingewiesen, Herr Kollege Aumer. Es ist richtig, vom Gefahrenpotenzial und nicht von der Anzahl der Mitarbeiter auszugehen; denn auch die Geschäfte von Leuten, die vielleicht nur vier Mitarbeiter beschäftigen, können ein hohes Gefahrenpotenzial bergen. Uns kommt es darauf an, diesen Gefahren zu begegnen. Deswegen ist der Ansatz, den wir hier gemeinsam gefunden haben, richtig. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]) Lassen Sie mich noch auf Folgendes hinweisen: Der Onlinebereich entwickelt sich weiter. Im nächsten Jahr wird das Bundesland Schleswig-Holstein Onlineglücksspiele zulassen. Wir haben im Berichterstattergespräch auch darüber geredet und sind übereingekommen, dass wir uns das sehr genau anschauen und hier die Notwendigkeit besteht, im Hinblick auf Geldwäsche präventiv tätig zu werden; auch das ist ein Bereich, in dem kriminelle Aktivitäten möglich sind. Deswegen sind wir verpflichtet, zu kontrollieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, insgesamt handelt es sich hier, wie immer bei der organisierten Kriminalität, um das alte Hase-und-Igel-Spiel. Wir müssen versuchen, vorn zu sein. Arbeiten wir weiterhin gemeinsam daran! Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ingo Egloff. - Jetzt spricht für die Fraktion der FDP Kollege Björn Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Björn Sänger (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße auch den Kollegen Fricke auf der Tribüne. Vizepräsident Eduard Oswald: Das heißt, die Abgeordneten stellen 50 Prozent der Zuhörer. (Heiterkeit) Björn Sänger (FDP): Vollkommen richtig, Herr Präsident. - Das Thema Geldwäsche erfreut sich zu Recht einer großen Beliebtheit, auch zu diesem späten Zeitpunkt am Abend. Das ist richtig; denn Geldwäsche - es ist mir wichtig, das gleich zu Beginn festzuhalten - ist ein krimineller Akt. Es handelt sich dabei um Einnahmen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität - zum Teil aus widerlichen Vortaten wie Drogen- und Menschenhandel sowie Umwelt-delikten - oder um einen Vorgang, nicht versteuertes Einkommen weißzuwaschen. Auch das ist ein krimineller Akt; denn am Ende werden die ehrlichen Steuerzahler belastet. Wenn alle ehrlich ihre Steuern abführen würden, müssten sie insgesamt weniger entrichten. Deswegen ist die Geldwäschebekämpfung notwendig. Darüber besteht im Parlament breiter Konsens. Wir wollen die Vorgaben der FATF und der EU erfüllen und auch Schaden von der deutschen Wirtschaft abwenden, damit unser Land nicht auf bestimmten Listen der OECD erscheint. Gleichzeitig haben wir ein grundsätzliches Problem. Wir leben in einer Marktwirtschaft mit Bargeldverkehr. Es gibt Wirtschaftsbereiche, in denen es völlig normal ist, dass mit Bargeld gezahlt wird. Die entsprechenden Branchen sind gefährdet. Denn wie soll der Einzelhändler beispielsweise im Schmuckbereich erkennen, ob vor ihm ein Geldwäscher steht? Es könnte möglicherweise auch ein zukünftiger Stammkunde sein, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zufällig zahlt er in bar!) der gerade zum ersten Mal in das Geschäft kommt und eine hohe Summe in bar zahlt. Es geht darum - die Bundesregierung hat das freundlicherweise zugesagt -, weiterhin aufzuklären; denn unser Ziel ist es, die Geldwäsche zu bekämpfen. Wir müssen in der Wirtschaft Akzeptanz schaffen. Das ist uns dahin gehend gelungen, dass wir die sehr bürokratischen Vorgaben zur Bestellung eines Geldwäschebeauftragten entschlackt haben. Wir räumen der Aufsicht nun, was die Gesamtwirtschaft angeht, einen weiten Ermessensspielraum ein. Sie soll sich an Betriebsgröße und Gefahrengeneigtheit des jeweiligen Betriebes orientieren. In gefährdeten Branchen - Handel mit hochwertigen Maschinen, Gebrauchtwagenhandel, Schmuck- und Juwelenhandel - muss es einen engen Ermessensspielraum geben. Es ist wichtig, dass die Aufsicht ein entsprechendes Fingerspitzengefühl entwickelt. Ich bin mir sehr sicher, dass die Länder das entsprechend umsetzen werden. Wir haben mit den Regelungen zur Bestellung eines Geldwäschebeauftragten gemeinsam eine sehr gute Lösung erarbeitet. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Das zweite große Problem bei der Bekämpfung der Geldwäsche stellen die E-Geld-Produkte dar. Dieser Bereich ist für Geldwäsche anfällig. Man kann mithilfe der Cash-out-Funktion zu Bargeld kommen, mit mehreren Karten Beträge poolen - zumindest bislang - und auch Mittel ins Ausland abziehen. Aber die E-Geld-Produkte sind auch ein Teil einer boomenden Wirtschaft, einer digitalen Welt und Ausdruck eines veränderten Konsumverhaltens. Es besteht der berechtigte Wunsch der Konsumenten, in der Internetwelt mit einem Produkt, das ähnlich wie Bargeld funktioniert, zu zahlen und den einen oder anderen Kauf anonym zu tätigen. Wir haben eine Lösung gefunden, indem wir die E-Geld-Produkte gleichstellen. Das heißt, wir unterscheiden nicht mehr zwischen aufladbaren E-Geld-Produkten und einmaligen E-Geld-Produkten. Wir haben vereinbart: Bei einem aufladbaren Betrag von bis zu 100 Euro pro Kalendermonat - ich denke, das ist ein vernünftiger Schwellenwert; auch in der Realwirtschaft werden Rechnungen bis zu dieser Grenze in der Regel mit Bargeld beglichen - muss man sich nicht identifizieren. Man kann dieses Produkt also flexibel nutzen. Gleichzeitig haben wir ein Pooling-Verbot vorgesehen. Es gibt keine Möglichkeit mehr, Bargeld, das den Schwellenwert von 20 Euro übersteigt, von der Karte herunterzuziehen. Ferner haben wir Level Playing Fields für alle Emittenten erreicht. Es gab einen Aufschrei der Lobby. Ich fand es schon putzig, als ich in großen Zeitungen las, dass man aufgrund dieser Lösung keine Reise mehr für 1 200 Euro im Internet buchen könne. Man müsse quasi ein Jahr lang monatlich 100 Euro auf die Karte laden und sparen, bevor man im Internet eine solche Reise buchen könne. Dazu muss ich sagen: Diejenigen, die das vortragen, haben es nicht verstanden. Das ist auch intellektuell grenzwertig. Erstens. Ich kann mich im Internet ganz einfach identifizieren und kann dann auch mehr als 100 Euro pro Kalendermonat aufladen. Dann habe ich im Prinzip ein Guthabenkonto. Bei jedem normalen Girokonto muss man sich bei der Bank identifizieren. Zweitens. Es wäre relativ blödsinnig, eine Reise anonym im Internet zu buchen. Der Reiseveranstalter sollte schon wissen, wen er mitnimmt. Wenn man die Buchung anonym vornimmt, ist das schlechterdings nicht möglich. Fazit: Wir haben mit diesem Gesetz für alle Bereiche eine sinnvolle Lösung gefunden. (Beifall bei der FDP) Wir haben einen breiten Konsens. Aufgrund der vorgesehenen Evaluierung - das ist der Ausblick - werden wir dieses Gesetz weiter begleiten, um es noch besser zu machen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Richard Pitterle. Bitte schön, Kollege Richard Pitterle. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unter Geldwäsche versteht man die Einschleusung illegal erwirtschafteten Geldes in den legalen Wirtschaftskreislauf, erwirtschaftet zum Beispiel durch Drogen-, Waffen- oder Frauenhandel. Wie sieht es in Deutschland aus? Ich zitiere aus dem Handelsblatt vom 8. November dieses Jahres: Was die Schweiz und Liechtenstein für Steuerhinterzieher sind, ist Deutschland für Geldwäscher: ein Paradies. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Und das um halb elf! Gutenachtgeschichten!) Das muss sich ändern, schon allein deshalb, weil die Dimension immens ist. Geldwäscheexperten gehen davon aus, dass allein in Deutschland zwischen 40 und 60 Milliarden Euro aus kriminellen Handlungen gewaschen werden. Dass die Geldwäsche bekämpft werden muss, steht also außer Frage. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten, dann, weil wir ihn für verbesserungsbedürftig halten. Erster Punkt. Nach dem Gesetzentwurf sind die Spielgerätebetreiber von den Melde-pflichten ausgenommen, obwohl uns die Fachleute sagen, dass dort Tag für Tag in großem Stil Geld gewaschen wird. Zweiter und wichtigerer Punkt. Unternehmen, die mit Gütern handeln, können von Behörden verpflichtet werden, einen Geldwäschebeauftragten zu bestellen; das ist hier schon gesagt worden. Dieser Beauftragte hat die Pflicht, den Behörden zu melden, wenn er den Verdacht hat, dass es im Umfeld seines Betriebes zu Geldwäsche kommt. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist jedoch, dass die Koalition im Gesetz dem Beauftragen keinen Sonderkündigungsschutz gewährt. Mit Sicherheit wird es passieren, dass der Geldwäschebeauftragte in Loyalitätskonflikte gegenüber dem Arbeitgeber kommt. Da hat er im Betrieb den Verdacht, dass einer der Kunden sein Geld illegal erwirtschaftet hat und es nun durch Einkauf von Waren und Dienstleistungen des Betriebes waschen will. Aber der Geschäftsführer sagt ihm, dass er nichts melden soll, weil er sonst diesen wichtigen und zahlungskräftigen Kunden verliert. Wenn sich der Beauftragte dann so verhält, wie wir es von ihm erwarten, und den Verdacht meldet, dann muss er um seinen Arbeitsplatz fürchten. Das ist absolut unakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) Es geht beim Kündigungsschutz für den Geldwäschebeauftragten gar nicht mal so sehr um Arbeitnehmerfreundlichkeit. Dass ich diesbezüglich von der Koalition keine Unterstützung erwarten kann, ist mir klar. Aber da ich unterstelle, dass es uns allen darum geht, ein effektives Instrument zur Geldwäschebekämpfung zu haben, geht es doch darum, diesen Beauftragten mit einer Konfliktfähigkeit auszustatten, damit er das leisten kann, was wir alle von ihm erwarten. Der Abfallbeauftragte, der Emissionsschutzbeauftragte, der Datenschutzbeauftragte, alle haben einen Sonderkündigungsschutz, weil der Gesetzgeber wusste, dass sie bei ihrer Aufgabenerfüllung in Interessenkonflikte kommen können, die nicht zulasten der gesetzlichen Aufgabenerfüllung gelöst werden sollen. Warum wollen Sie den Beauftragten für Geldwäsche schlechterstellen? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund. Auch Empfehlung 16 der FATF besagt, dass der Beauftragte vor negativen Folgen seiner Tätigkeit zu schützen ist. Daher sagen wir: Ein Sonderkündigungsschutz für Geldwäschebeauftrage ist unerlässlich. (Beifall bei der LINKEN) Ein gutes Gesetz nutzt nicht viel, wenn nicht sichergestellt ist, dass es zur Anwendung kommt. Auch da liegt vieles im Argen. Weniger als 1 Prozent der in Deutschland gewaschenen Gelder sind bislang beschlagnahmt worden, sagt uns Jürgen Stock, Vizepräsident des Bundeskriminalamts. Es hapert an der Umsetzung in den Ländern. Ich zitiere erneut das Handelsblatt: Auch heute regiert in den Ländern das Chaos: In jedem Bundesland ist eine andere Behörde zuständig. Zudem sind die Aufsichtsbehörden hoffnungslos unterbesetzt. Ich habe leider nichts dazu gehört, wie Sie das ändern wollen. Wer die Geldwäsche effektiv bekämpfen will, muss mehr tun, als nur Gesetze ändern, er muss auch staatliches Handeln organisieren. Ich werde aufgefordert, zum Schluss meiner Rede zu kommen. Schließen möchte ich mit Johann Wolfgang von Goethe: Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Kollege Pitterle. - Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard Schick. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss dieser Debatte will ich begründen, warum wir diesem Gesetzentwurf trotz unserer kritischen Perspektive auf Ihr Handeln insgesamt in diesem Bereich zustimmen. Man muss sich bei einem Gesetz, das seit 18 Jahren nicht umgesetzt wird, fragen, ob eine Verschärfung überhaupt Sinn macht. Denn wenn es in seiner alten Fassung nicht greift, wird es in seiner neuen möglicherweise auch nicht greifen, wenn es erneut Umsetzungsmängel gibt. Wir sehen jetzt ein paar Ansatzpunkte dafür, bei der Umsetzung ein Stück voranzukommen. Wir haben versucht, genau das beim Gesetzgebungsprozess ins Zentrum zu rücken. Wir wollen jetzt die Möglichkeiten schaffen, als Parlamentarier in Zukunft stärker auf die Umsetzung zu achten; denn da besteht eines der größten Defizite. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein großes Problem ist, dass auf Landesebene unterschiedliche Institutionen zuständig sind. Nehmen wir als Beispiel den Bereich der Immobilienmakler. Hierfür ist in Bayern das Innenministerium zuständig, in Baden-Württemberg das Regierungspräsidium, in Rheinland-Pfalz die Kreisverwaltung und in Berlin die Senatsverwaltung für Wirtschaft. In jedem Bundesland ist eine andere Behörde zuständig, sodass niemand weiß, wer wofür zuständig ist. Die einzelnen Behörden agieren auch völlig unterschiedlich. Bisher funktioniert die Umsetzung des Gesetzes - einige Beispiele, die dies deutlich zeigen, sind schon genannt worden - insbesondere im Finanzbereich nicht. Das Gesetz wird kaum angewendet, weil die einzelnen Verwaltungen kein Interessen daran haben und weil die verpflichteten Händler bisher überhaupt nicht aufgefordert werden, systematisch zur Lösung dieses Problems beizutragen; teilweise verfolgen sie auch entgegengesetzte Interessen. Wir haben deswegen erstens großen Wert darauf gelegt, dass wir als Abgeordnete in dem neu geschaffenen Geldwäscheforum wirklich mitwirken und darauf achten können, dass das Nebeneinander und das Nichthandeln der Behörden an dieser Stelle beendet wird. Wir in Deutschland müssen Geldwäscheprävention endlich ernst nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens ist uns wichtig - auch hier sind wir vorangekommen; die Bundesregierung hat uns hierzu im Ausschuss Zusagen gemacht -, dass es eine Evaluierung geben wird, und zwar durch eine Institution, die selber nicht mit der Umsetzung beauftragt ist. Es wird also jemand überprüfen, ob das, was wir hier tun, wirklich greift. Das wird sehr wichtig sein; denn wir müssen damit rechnen, dass die FATF Deutschland erneut abmahnen wird. Nach der schallenden Ohrfeige im letzten Jahr, wo ganz viele kritische Punkte vor allem aufgrund der Umsetzungsmängel genannt worden sind, ist nach Verabschiedung des Gesetzentwurfes nicht unbedingt damit zu rechnen, dass wir sofort ein positives Votum bekommen. Vielmehr wird in den nächsten Jahren eine intensive Weiterentwicklung dieses Gesetzes notwendig sein. Ich will noch kurz auf den Änderungsantrag eingehen, den die Linkspartei vorgelegt hat. Ich muss sagen: Die Tatsache, dass beide Redner von den Koalitionsfraktionen nicht dazu Stellung genommen haben, zeigt - genauso im Ausschuss -: Ihre Gegenargumente sind denkbar schwach. Es ist einfach nicht einzusehen, dass der Beauftragte für den Datenschutz gesetzlich geschützt ist, aber beim Geldwäschegesetz ein entsprechender Schutz verweigert wird. Wenn man die Umsetzung sicherstellen will, dann muss man dafür sorgen, dass die Zuständigen ihre Arbeit wirklich machen können. Das verweigern Sie an der Stelle. Das wird ein Defizit bleiben, an dem wir nach wie vor dranbleiben müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Trotzdem ist dieses Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ich möchte es hier ganz deutlich sagen: Es ist ein Schritt, der ein paar Defizite abbaut. Zu einer wirklich konsistenten Gesamtstrategie von Bund und Ländern in Deutschland braucht es aber noch wesentlich mehr, da braucht es eine andere Prioritätensetzung und auch ein anderes Engagement im Bundesministerium der Finanzen. Was es an der Stelle jedoch nicht braucht, ist, dass man an einer anderen Stelle, nämlich zum Beispiel mit einem Steuerabkommen mit der Schweiz, denjenigen, die in Deutschland Geldwäscheprävention leisten sollen, auch noch die Hände bindet. Dies muss schon zusammenpassen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. Ich schließe die Aussprache. Zur Abstimmung liegt eine Erklärung von unserem Kollegen Norbert Schindler nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vor.7 Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Optimierung der Geldwäscheprävention. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/7950 und 17/8043, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6804 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8015 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Das sind die Linksfraktion, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Daðdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine Normalisierung der Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba - Drucksachen 17/3188, 17/4273 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Egon Jüttner Dr. Rolf Mützenich Marina Schuster Sevim Daðdelen Hans-Christian Ströbele b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Freilassung der "Miami Five" - Drucksache 17/7416 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): Mit ihrem Antrag "Für eine Normalisierung der Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba" möchte die Fraktion Die Linke erreichen, die Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba zu normalisieren. Die erste Lesung zu diesem Antrag fand bereits vor über einem Jahr statt. Dieses eine Jahr ist für verfolgte und inhaftierte Menschen und deren Angehörige eine lange Zeit. Bedauerlicherweise hat sich in dieser Zeit die Situation der Menschen auf Kuba nicht zum Positiven geändert. Es besteht daher kein Grund, dem Antrag der Linken zuzustimmen und unsere Position gegenüber dem Regime auf Kuba zu ändern. Wir haben es noch immer mit einem der totalitärsten Systeme der westlichen Hemisphäre zu tun, in dem die bürgerlichen und politischen Rechte stark eingeschränkt sind. Regierungskritiker werden inhaftiert; freigelassene Häftlinge berichten, dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Die kubanische Bevölkerung leidet nach wie vor unter erheblichen Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. Es gibt weiterhin keine Pressefreiheit. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist genauso stark beschnitten wie das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Nach wie vor hindert die Einschränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und politisch engagierte Bürger an der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher Aktivitäten. Kurz nachdem wir im Oktober vergangenen Jahres zum ersten Mal über den Antrag der Linken beraten haben, fand in Straßburg die Verleihung des vom Europäischen Parlament verliehenen Sacharow-Preises für geistige Freiheit statt. Preisträger war der unabhängige Journalist und politische Dissident Guillermo Farinas. Er war der dritte kubanische Regimekritiker seit 2002, der diesen Menschenrechtspreis erhielt. Wie im Falle seiner beiden Vorgänger blieb auch sein Stuhl bei der Preisverleihung leer, weil die kubanischen Behörden sich weigerten, ihm die Ausreise zu genehmigen. Meine Damen und Herren von den Linken, haben Sie dies nicht zur Kenntnis genommen? Sind Sie sich der Wirkung Ihres Antrages auf Menschenrechtsverteidiger in der ganzen Welt eigentlich bewusst? Erwarten Sie tatsächlich, dass Menschen, die auf Kuba ihr Leben für ihre Freiheit aufs Spiel setzen, Verständnis dafür haben, dass der Deutsche Bundestag ein so undemokratisches und menschenverachtendes System wie das kubanische mit einer "Normalisierung der Beziehungen", wie Sie dies fordern, belohnt? In Kuba hat die Bevölkerung keinen Zugang zu unabhängigen Informationsquellen. Die Behörden sperren nach wie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern und Journalisten, die der Regierung kritisch gegenüberstehen. Sobald regierungsabweichende Publikationen im Internet erscheinen, werden die Urheber unwürdiger Verfolgung ausgesetzt. Ein sehr interessantes Dokument aber hat die staatliche Presse der kubanischen Öffentlichkeit nicht vorenthalten, nämlich das Geburtstags-Glückwunschschreiben Ihrer beiden Parteivorsitzenden, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst, an den Mann, der die Verantwortung für 50 Jahre Unterdrückung, Folter, wirtschaftlichen Niedergang und Unfreiheit in allen Lebensbereichen trägt. Dem "lieben Genossen Fidel Castro" versichern Ihre beiden Spitzengenossen ihre "unverbrüchliche Freundschaft und Solidarität mit dem kubanischen Volk". Sie sprechen von "beispiellosen sozialen Errungenschaften" und von Kuba als "Beispiel und Orientierungspunkt für viele Völker der Welt". Wer einen brutalen Diktator so verherrlicht, der beleidigt die Tausenden und Abertausenden Gefangenen und Gequälten dieses Gewaltregimes. Mit Kuba als Beispiel und Orientierungspunkt für viele Völker der Welt können Sie bestimmt nicht die arabischen Staaten gemeint haben, in denen reihenweise gegen diktatorische Herrschaftsstrukturen aufbegehrt wurde und noch aufbegehrt wird. Wenn Sie sich auf Länder wie Nordkorea oder einige afrikanische Staaten beziehen, dann geht es den Kubanern vergleichsweise gut. Hier muss man sich aber dann die Frage stellen, ob dies der Maßstab eines demokratischen Parlaments, einer demokratischen Regierung und demokratischer Parteien sein kann. Motor des Eintauschens des "Gemeinsamen Standpunktes" der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gegen ein bilaterales Abkommen mit Kuba war die spanische Regierung. Sie stand, wie die Abstimmung im Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen der Union in Luxemburg im Oktober des vergangenen Jahres zeigte, damit aber ziemlich allein. Mit der überwältigenden Abwahl der Regierung Zapatero am Sonntag vergangener Woche hat die kubanische Regierung ihren einzigen Fürsprecher unter den Regierungen Europas verloren. Deutschland und die Europäische Union stehen an der Seite des kubanischen Volkes. Das zeigt das vielfältige Engagement der Europäischen Union in Kuba. In den 20 Jahren von 1993 bis 2013 werden insgesamt mehr als 200 Millionen Euro EU-Mittel nach Kuba geflossen sein, um die Not der dortigen Bevölkerung zu lindern. Die Europäische Union hat sich immer flexibel gezeigt, wenn Naturkatastrophen die Karibikinsel heimgesucht haben. Ich bin mir sicher, dies wird auch weiterhin der Fall sein. Es ist bedauerlich, dass nicht das gesamte Hohe Haus an der Seite des notleidenden kubanischen Volkes steht. Es ist beschämend, wie die Linke sich in Solidaritätsbekundungen mit den politischen Führern des unterdrückten kubanischen Volkes übt. Wir von der CDU/CSU lehnen den Antrag der Linken ab und befinden uns damit in guter Gesellschaft mit den Regierungen in Europa. Wir lehnen es ab, die Situation auf Kuba schönzureden. Es sind aufseiten Kubas keine Anhaltspunkte zu erkennen, die ein Entgegenkommen Europas rechtfertigen würden. Die Menschenrechtssituation ist nicht besser als vor einem Jahr. Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in dem Antrag der Linken gefordert wird, wäre unseres Erachtens das falsche Signal an die kubanische Führung. Wir werden deshalb dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Mit ihren Anträgen zu den Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba beweist die Fraktion der Linken wieder einmal mehr, dass sie in der heutigen Zeit noch nicht ganz angekommen ist. Ohne die Öffnung Kubas hin zu einem rechtsstaatlichen und demokratischen System werden die existenziellen Probleme dieses Landes nicht gelöst. Insbesondere die weit verbreitete Armut und die hohe Zahl der Arbeitslosen im Land können durch das politisch wie wirtschaftlich gescheiterte kubanische Modell nicht überwunden werden. Zwar sind vereinzelt marktwirtschaftliche Ansätze im Wirtschaftssystem Kubas zu verzeichnen. So können in manchen Bereichen private Investoren eigene Unternehmen gründen. Doch sind sie wirklich frei von jeglicher staatlicher Kontrolle? Wer glaubt, dass sich ein kommunistisches und planwirtschaftliches System unter Fortdauer derselben politischen Führung und Ideologie seiner Machtmitteln ohne Druck entledigen wird, täuscht sich. Eine Neuausrichtung der kubanischen Politik ist nicht erkennbar. Die Frage stellt sich also, weshalb die Europäische Union ihre Politik des gemeinsamen Standpunkts aufheben sollte. Weil Kuba wieder einmal politische Gefangene freigelassen hat? Dass sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung dies begrüßen, steht außer Frage. Allerdings muss man sich dabei vor Augen führen, aus welchen Gründen diese Menschen überhaupt erst inhaftiert wurden und welche Umstände zu ihrer Freilassung geführt haben. Diese 52 Personen haben ihre Meinung frei geäußert. Das war ihr "Vergehen". Solche sogenannten Gesinnungshäftlinge gehörten in Kuba schon seit Fidel Castro zum politischen Alltag. Nun gilt es das schlechte Image des Landes aufzupolieren und auf dem internationalen Parkett Schäden zu begrenzen. So will das Land demonstrieren, dass die Lage der Menschenrechte doch "gar nicht so schlecht ist, wie immer behauptet wird". Dieses Mittels hat sich Kuba in den vergangenen 50 Jahren immer wieder bedient, um internationale Spannungen abzubauen. Hinzu kommt, dass die 52 Dissidenten ja nicht einfach freigelassen wurden. Nein, sie wurden direkt nach Spanien abgeschoben. Damit verloren sie auch de facto die kubanische Staatsbürgerschaft. Eine Rückkehr in ihre Familien ist ihnen also verwehrt. Man muss eben auch einmal hinter die Kulissen schauen, meine Damen und Herren von der Linkspartei. Dann sieht man auch den Rest der Geschichte. Aber das ist dann das, was man eigentlich gar nicht sehen will. Um einen Standpunkt zu ändern, muss man aber zuerst die ganze Wahrheit begutachten. Erst dann ist ein objektives Urteil darüber möglich und sinnvoll. Die Behauptung in Ihrem Antrag, der Gemeinsame Standpunkt der EU aus dem Jahre 1996 verstoße gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot der Charta der Vereinten Nationen, ist natürlich nicht haltbar. Wie viele andere Nationen setzt sich auch Deutschland für die Demokratie und die Achtung der Menschenrechte ein. Das Hauptziel des Gemeinsamen Standpunkts der Europäischen Union gegenüber Kuba, das wir daher vollumfänglich mit befürworten, heißt daher nicht ohne Grund: Förderung einer friedlichen Entwicklung zu einer pluralistischer Demokratie, Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Sie selbst begrüßen in Ihrem Antrag ausdrücklich die Freilassung der 52 Dissidenten. Sie wollen sich also eigentlich für die Wahrung von Menschenrechten einsetzen. Wie passt das denn dann zu Ihrer Auffassung, eine Forderung nach der Gewährleistung derselben Rechte für alle Menschen sei ein unrechtmäßiger Eingriff in die staatliche Souveränität eines Landes? Ist das nur dann der Fall, wenn eine Regierung dafür eintritt, die nicht von kommunistischen Überzeugungen geleitet wird und keine Glückwunschschreiben an ehemalige Diktatoren schickt? Im Übrigen gilt auch hinsichtlich Ihrer Forderung nach einer Freilassung der sogenannten Miami 5 das oben Gesagte: immer den Gesamtkontext betrachten. Die unter dieser Bezeichnung bekannt gewordenen fünf Kubaner wurden inhaftiert. Das ist soweit richtig. Allerdings kann man nicht davon sprechen, dass sie in den USA "gefangen gehalten" werden, um aus Ihrem Antrag zu zitieren. Die Betroffenen waren in den USA einem rechtsstaatlichem Verfahren unterworfen. Das heißt, sie hatten frei gewählte Verteidiger und einen unabhängigen Richter. Zudem durchliefen sie ein faires Verfahren mit der Möglichkeit, gegen die Urteile in Berufung zu gehen. Nun büßen sie ihre Haftstrafen ab, für die sie wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum Mord verurteilt wurden. Ob - im Gegensatz dazu - in Kuba überhaupt rechtsstaatlich geführte Prozesse abgehalten werden, und, wenn ja, wie viele, wäre in diesem Zusammenhang die spannendere Frage. Ich widme mich jetzt aber abschließend den Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba. Diese Beziehungen sind innerhalb der EU am ausgeprägtesten mit Spanien, was zum einen in der gemeinsamen Geschichte und Kultur wurzelt, aber auch in verwandtschaftlichen Beziehungen. Zum anderen liegt das an wirtschaftlichen Interessen. Spanien investiert hauptsächlich in der kubanischen Tourismusbranche. Solche - nennen wir es - Sonderinteressen bestehen bei den anderen EU-Mitgliedstaaten nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Dennoch ist es auch nicht so, dass die Europäische Union kein großes Interesse an den Belangen der kubanischen Bevölkerung hätte. Die EU engagiert sich im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in beachtlichem Umfang. Allein für die Jahre 2008 bis 2010 erfolgten finanzielle Hilfen in Höhe von über 57 Millionen Euro zur Behebung von Schäden nach den Wirbel stürmen des Jahres 2008 sowie für Vorbeugemaßnahmen. Diese kamen unterschiedlichen Sektoren zugute, wie zum Beispiel der Nahrungsmittelversorgung, dem Bereich Arbeit und Soziales oder dem Umweltschutz. Für die Folgejahre 2011 bis 2013 wurden wieder 20 Millionen Euro eingeplant. Es gibt jedoch keinen Grund, die aktuelle europäische Haltung zu ändern. Neben den elementaren Grundbedürfnissen eines Menschen ist für ihn das Wichtigste die Respektierung seiner Grundrechte. Die Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern, sich im eigenen Land und über die Grenzen hinaus frei bewegen zu können, sich eine eigene, frei gewählte Lebens- und Arbeitsgrundlage zu schaffen, ist für jeden Menschen wichtig. Solange ein Staat diese Rechte seiner Bürger nicht garantieren kann oder will, existiert für einen demokratisch und rechtsstaatlich ausgerichteten Staatenverbund wie die Europäische Union keine Grundlage für intensivere Beziehungen zu diesem Land. Klaus Barthel (SPD): Der heute zu entscheidende Antrag zu den Beziehungen der EU zu Kuba ist über ein Jahr alt, hat aber leider kaum an Aktualität eingebüßt. Gleiches gilt für den neueren Antrag zur Freilassung der "Miami Five", der im Grunde nur wiederholt und ausführt, was bereits im ersten Antrag stand. Deshalb ist die Versuchung groß, dieselbe Rede wie am 7. Oktober 2010, also vor 14 Monaten, noch einmal zu halten. Alles stimmt noch. Die Geschichte der "Miami Five" wartet noch immer auf ein gutes Ende. Vier der fünf sind noch in Haft, einer nach langer Haft unter Auflagen entlassen. Alle Solidaritätskampagnen, alle Rechtswege, alle Gnadengesuche blieben erfolglos. Selbst der jedem Schwerstkriminellen gestattete Kontakt mit Angehörigen war und ist weiter eingeschränkt und erschwert. Alle, die diese Vorgänge noch irgendwie rechtfertigen und verteidigen wollen, frage ich: Was wäre wohl weltweit los, wenn es umgekehrt wäre? Wenn US-Amerikaner in Kuba oder sonst wo derart behandelt würden, wenn rechtsstaatliche Prinzipien auf diese Art mit Füßen getreten würden? Keine Frage: Die "Miami Five" müssen endlich freigelassen werden. Der Appell des Antrags der Linken an die Bundesregierung, sich für die Freilassung der noch vier Gefangenen der "Miami Five" einzusetzen, für die Ausreise des fünften und für Besuchsrechte, dürfte jedoch kaum zu realisieren sein. Eine solche Einmischung in die US-Justiz oder Appelle an den US-Präsidenten kann die Bundesregierung mit schlichten formalen Vorwänden abtropfen lassen. So leicht sollten wir die Sache nicht abtun lassen. Politische Wege, die festgefahrene, wenn auch intern immer umstrittenere Kuba-Politik der USA noch weiter zu isolieren, stünden der Bundesregierung allerdings durchaus offen. Damit sind wir beim Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba. De facto stützt und legitimiert dieser die US-Blockade-Politik, indem er Sanktionen und Boykotte gegenüber Kuba enthält - seit nunmehr 15 Jahren. Anlass für diese EU-Sanktionen waren seinerzeit Inhaftierungen und verschärfte Repression gegen Oppositionelle in Kuba. Konnte man sich schon damals über Sinnhaftigkeit und Angemessenheit dieser Maßnahmen trefflich streiten, so ist heute dieser Gemeinsame Standpunkt endgültig überholt. Auf Vermittlung der Katholischen Kirche Kubas sind die Inhaftierten mittlerweile frei. Eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten - darunter zahlreiche konservativ regierte - drängt schon seit längerem auf eine Korrektur der europäischen Kuba-Politik. Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten ignorieren den Gemeinsamen Standpunkt und sind mit vielfältigen Aktivitäten auf der Insel präsent. Die Bundesrepublik gehört zu den wenigen Staaten, die den Boykott aufrechterhalten und gleichzeitig in der EU eine Korrektur des Gemeinsamen Standpunktes blockieren. Inzwischen ist in Kuba ein interessanter "Anpassungsprozess" im Gang. Beobachter sprechen von relativ weitreichenden, vor allem wirtschaftlichen Reformen. Auch wenn ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen kann: Es lohnt sich, diesen Prozess viel stärker zu beachten und zu analysieren. Der Punkt ist: Gerade diejenigen, die von der kubanischen Regierung gebetsmühlenartig die Freilassung von Gefangenen und innere Reformen verlangen, ignorieren die positiven Veränderungen. Sie scheinen damit den Verdacht zu bestätigen, es gehe ihnen weder um Menschenrechte noch Reformen, sondern lediglich um Machtdemonstrationen gegen eine missliebige Regierung. Im Ergebnis erweisen sie Kuba und der Bundesrepublik in dreifacher Hinsicht einen Bärendienst: Die wirtschaftliche Entwicklung und die kulturelle Vielfalt in Kuba werden gebremst. Bundesregierung und EU lassen diejenigen in Kuba, die neue Wege gehen wollen und die, wie zum Beispiel auch die Katholische Kirche, den Dialog suchen, im Regen stehen. Die Staaten Lateinamerikas arbeiten gerade an einer Integration Kubas in die regionalen Bündnisse und wollen die Isolierung der Insel beenden. Die Bundesrepublik bleibt bei der künftigen Entwicklung Kubas außen vor und schadet damit ihrem Ansehen in der gesamten Region. Die SPD-Bundestagfraktion fordert also die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU für eine grundlegende Korrektur des Gemeinsamen Standpunktes einzusetzen. Dies wäre auch ein Schritt, die eigene "Lateinamerika-Strategie" irgendwo einmal ernst zu nehmen und mit Leben zu füllen. Dort kann man unter anderem lesen: "Wir wollen unser Gewicht in die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen einbringen, um für Kohärenz der europäischen Position zu sorgen und die strategische Partnerschaft zwischen unseren Regionen zu stärken und lebendig zu halten." Und an anderer Stelle heißt es nach einer Aufzählung der großen politischen und geografischen Vielfalt der Region: "Nötig sind deshalb auch neue Formate der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technologischen, ökologischen und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, die auf die Besonderheiten der einzelnen Länder eingehen." (Zitate aus "Deutschland, Lateinamerika und die Karibik: Konzept der Bundesregierung", Berlin 2010) Überall wimmelt es von Dialog, von Menschenrechten, Zusammenarbeit und wirtschaftlicher Entwicklung. Von Druck, Boykott, der Hinnahme und faktischen Stützung von Blockaden lese ich nichts. Wer wirklich mehr Öffnung und Liberalität, wer die positiven Veränderungen in Kuba unterstützen will, muss den konfrontativen Geist und die diskriminierende Praxis, die im offiziellen EU-Standpunkt enthalten sind, aufgeben. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass bereits vor mehr als einem Jahr die Bundesregierung auf meine entsprechenden Fragen in der Fragestunde vom 10. November 2010 (Drucksache 17/3619) mitgeteilt hat, dass es ihre Linie sei, "ergebnissoffen die Optionen einer Neuausrichtung der EU-Kuba-Politik zu prüfen". Darüber werde sie dem Bundestag berichten. Da ist doch nach so langer Zeit die Frage erlaubt: Was ist seither geschehen, zu welchen Erkenntnissen ist die Bundesregierung im Zuge ihrer Prüfungen gelangt und welche Schlüsse zieht sie daraus? Vielleicht erfahren wir ja heute mehr, sonst fragen wir noch einmal in geeigneter Form nach. Wir fordern also die Bundesregierung zu nicht mehr und nicht weniger auf, als das von ihr selbst beschlossene Lateinamerika- und Karibik-Konzept ernst zu nehmen und umzusetzen. Zurück zu den Anträgen: Wir halten aber auch die im "Linken"-Antrag enthaltene unvermittelte Vermischung von EU-Standpunkt und dem Thema "Miami-Five" für verfehlt. Schade, dass die "Linke" das nicht korrigieren wollte. Aus dem hier Dargestellten ergibt sich, dass die SPD-Bundestagsfraktion sich zum Antrag 17/3188 (EU-Standpunkt) enthält, weil wir einen neuen gemeinschaftlichen EU-Standpunkt anstreben und den Bilateralismus überwinden wollen, aber das Grundanliegen teilen. Marina Schuster (FDP): "Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter" - so etwa äußerte sich der Staats- und Regierungschef Kubas Raúl Castro im Dezember vergangenen Jahres vor der kubanischen Nationalversammlung. Selbst Fidel hat davor einräumen müssen, dass das alte System des kubanischen Sozialismus, des Sozialismus unter Palmen, nicht mehr funktioniert. Gestatten Sie mir, dies aus liberaler Sicht zu untermauern: Es hat noch nie funktioniert. Aber: Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Im April dieses Jahres hat der jahrelang aufgeschobene VI. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas getagt. Große Reformpläne wurden per Parteibeschluss ratifiziert. Vor diesem Hintergrund stellen sich mir drei Fragen. Erstens. Wurden auf diesem VI. Parteitag effektive Reformen in Gang gesetzt, um das Land zu öffnen oder - in den Worten Raúl Castros - um "das sozialistische Modell zu aktualisieren"? Zweitens. Sind die angekündigten Reformen nur leere Versprechungen, oder hält Raúl Castro anders als Fidel diesmal Wort und setzt seine Worte in die Tat um? Angekündigt wurden tiefgreifende Veränderungen: mehr Markt und weniger Staat, die Kürzung von Staatsausgaben, schmerzhafte Entlassungen, der Abschied flächendeckender Subventionierungen, mehr Raum für Kleingewerbe, mehr Autonomie für Staatsunternehmen sowie für Gewerkschaften und Selbstständige. Die Regierung Raúl Castros muss sich an der Durchführung dieser Reformen sowie an dem Erfolg derselben messen lassen. Die dritte Frage ist nun die Wichtigste: Sind die Reformen tiefgreifend genug und werden sie so konsequent durchgeführt, dass eine Änderung der deutschen und europäischen Linie notwendig ist? Lassen Sie mich die dritte Frage als erste beantworten: Für mich bleibt es beim Nein, auch wenn die Bewertung nach dem VI. Parteitag differenzierter ausfallen muss. Denn - um die erste Frage zu beantworten - es wurden zwar tiefgreifende Reformen angekündigt; allerdings ausschließlich im wirtschaftlichen und nicht im politischen Bereich, das heißt bei den politischen und bürgerlichen Freiheiten. Inwiefern die Reformbemühungen umgesetzt werden und in einem weiteren Schritt Erfolg haben - um die zweite Frage zu beantworten -, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auszumachen. Es wäre deshalb verfrüht, die bilaterale und europäische Linie, die sich im Gemeinsamen Standpunkt niederschlägt, zu ändern, wie dies im Antrag der Linksfraktion gefordert wird. Denn im politischen Bereich sowie im Bereich Einhaltung und Durchsetzung von Menschenrechten sind keine Änderungen angekündigt und ebenso wenig zu erwarten. Und trotzdem, Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, besteht unsererseits - auch durch den zweigleisigen Ansatz des Gemeinsamen Standpunkts - Bereitschaft zum Dialog, um die schwierigen Wirtschaftsreformen zu begleiten und Kuba diesbezüglich zu unterstützen. Gleichzeitig kann und darf aber nicht unser Ziel sein, die kubanische Führung zu belohnen, indem wir den Gemeinsamen Standpunkt aufgeben. Denn der Missstand im politischen sowie im menschenrechtspolitischen Bereich ist weiterhin gravierend. Oppositionelle werden immer noch schnell als Söldner des Imperialismus diffamiert. Obwohl man die Freilassung der 75 Inhaftierten des Schwarzen Frühlings als positives Zeichen werten darf, sprechen andere Zahlen ganz andere Worte. Im September 2011 wurden mehr als 560 Dissidenten vorübergehend festgenommen - die größte Festnahme-Welle seit 30 Jahren. Man ist nun nur dazu übergegangen, unterhalb der Schwelle langer Haftstrafen oder prominenter Fälle, die international Aufmerksamkeit bewirken, repressive Maßnahmen durchzuführen. Der autoritäre Charakter des Systemerhalts durch physische Drangsalierung, Kurzzeitverhaftungen und Einschüchterung ist dabei gänzlich unstrittig. Seit dem arabischen Frühling sind mehr Ressourcen auf den Repressionsapparat verwendet worden als jemals zuvor. Auch das Internet ist Teil davon. An dieser Stelle möchte ich auch gern nochmals betonen, dass Freilassung nicht gleichzusetzen ist mit Exil. Letzteres ist nämlich das Schicksal der politischen Gefangenen des Schwarzen Frühlings, die in Spanien um Asyl ersuchen mussten. In dem Antrag der Linksfraktion gibt diese an, dass die Zusammenarbeit mit Kuba ein großes Potenzial hätte im Bereich Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Leider verkennt die Linksfraktion die Realität: Kuba hat nicht einmal den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert. Außerdem hat Kuba selbst im Jahre 2003 die bilaterale Zusammenarbeit sowohl im kulturellen und bildungspolitischen als auch im entwicklungspolitischen Bereich ausgesetzt. In ihrem zweiten Antrag fordert die Linksfraktion eine Freilassung der "Miami Five", von denen mittlerweile noch vier in amerikanischer Gefangenschaft sind. René González war im Oktober mit drei Jahren auf Bewährung, in denen er die USA nicht verlassen darf, aus der Haft entlassen worden. Die schwerwiegende Anklage in den USA lautete für alle fünf auf Spionage. Die fünf Angeklagten waren 2001 in einem rechtsstaatlichen Verfahren nach internationalen Rechtsstandards in dem Rechtsstaat USA für schuldig erklärt und rechtmäßig verurteilt worden. Unmittelbar nach der Freilassung von René González im Oktober hatte die USA Kuba den Vorschlag unterbreitet, René González gegen Alan Gross auszutauschen. Alan Gross war im April von einem kubanischen Gericht zu 15 Jahren Haft wegen "Vergehen gegen die Unabhängigkeit und Integrität des Staates" verurteilt worden und ist nun in Havanna inhaftiert. Diesen Vorschlag hatte Kuba ausgeschlagen. Die USA und Kuba befinden sich in der Frage der Freilassung bzw. Überstellung von Gefangenen in Kontakt. Der Antrag der Linksfraktion ist dahin gehend obsolet. In der Frage des Besucherrechts stimme ich jedoch mit den Antragstellern überein. Dies genügt jedoch nicht, dem Antrag zuzustimmen. Uns muss es darum gehen, Kuba auf dem Weg in eine freie und demokratische Zukunft zu unterstützen, um das Leid der kubanischen Bevölkerung endlich zu beenden. Es gilt deshalb, die vorsichtigen positiven Zeichen zu sehen, aber gleichzeitig die negativen Signale nicht auszublenden. Der zweigleisige Ansatz, der bereits seit 1996 mit dem Gemeinsamen Standpunkt auf bilateraler und europäischer Ebene gefahren wird, folgt genau dieser Maßgabe. Heike Hänsel (DIE LINKE): "Wenn Hilfsorganisationen, Behörden oder die Uno im Kampf gegen die Cholera in Haiti mehr Ärzte und Krankenschwestern brauchen, rufen sie nicht in Washington oder Brüssel an, sondern in Havanna." So steht es im aktuellen Spiegel zu lesen. Es wird ausdrücklich das kubanische Engagement in der medizinischen Zusammenarbeit mit anderen Entwicklungsländern gewürdigt und gleichzeitig aber auch auf die ideologische Verbohrtheit des Westens hingewiesen, wenn es darum geht, dieses Engagement finanziell zu fördern. Niebel spricht ja gerne von trilateraler EZ und von Süd-Süd-Kooperation. Die Linke wirbt dafür, die erfolgreiche Süd-Süd-Kooperation Kubas mit anderen lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern zu unterstützen. Norwegen hat es vorgemacht, als es nach dem Erdbeben in Haiti die kubanischen Ärztebrigaden finanziell unterstützt hat, die dort seit vielen Jahren arbeiten und die wichtiger Anlaufpunkt für Helferinnen und Helfer aus aller Welt waren. Voraussetzung dafür ist, endlich vom unsäglichen sogenannten Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba abzurücken. Die EU braucht einen neuen Ansatz, eine echte Kooperation mit diesem Land, das für den Aufbruch in Lateinamerika, für die sozialen und demokratischen Fortschritte und für die Integrationsprozesse dort eine wichtige Rolle spielt. Kuba ist nicht mehr der isolierte Paria-Staat. Das heißt nicht - heißt es ja übrigens auch nicht in der Zusammenarbeit mit anderen Ländern -, dass die EU die Augen verschließen soll, wenn bürgerliche Freiheitsrechte verletzt werden. Das heißt aber durchaus, dass der Einsatz Kubas für die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte anerkannt und auch unterstützt wird. Die EU kooperiert mit Ländern wie Mexiko und Kolumbien, in denen Journalisten und Gewerkschafter ihres Lebens nicht sicher sind, wo im Drogenkrieg und bei der sogenannten Aufstandsbekämpfung Tausende ihr Leben lassen. Aber mit Kuba wird nicht kooperiert, weil sich das Land beharrlich weigert, sich dem Kapitalismus preiszugeben. Für diejenigen, die in Kuba politische Repression erleiden, verbessert sich durch die Blockadehaltung der EU und der Bundesregierung nichts. Wo hingegen respektvoll verhandelt wird, können Verbesserungen erreicht werden, wie das Beispiel der spanischen Bemühungen vor einem guten Jahr gezeigt hat. Dass die EU und die Bundesregierung mit zweierlei Maß an das Thema Menschenrechte und Kuba herangehen, zeigt sich auch im Umgang mit den fünf Kubanern, die seit 1998 in den USA gefangen gehalten werden. Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar und René González Sehwerert hatten exilkubanische Terrorgruppen in den USA infiltriert, um Attentate auf ihr Land zu verhindern. Dafür gebührt ihnen höchster Respekt. Die US-Justiz hat sie indes unter dem Vorwurf der Spionage zu hohen Haftstrafen verurteilt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich für die Freiheit der fünf einsetzt. Aber wir erkennen keinerlei Bemühungen. Dabei bestätigen weltweit Menschenrechtsorganisationen und auch die UNO, dass Verhaftung, Prozessverlauf und Haftbedingungen rechtsstaatlichen Standards völlig entgegenliefen. Seit Jahren dürfen zum Beispiel die Ehefrauen ihre Männer nicht im Gefängnis besuchen. Wir freuen uns, dass René González Sehwerert nun zumindest aus dem Gefängnis entlassen wurde. Dass er allerdings nach wie vor die USA nicht verlassen und nicht in sein Heimatland ausreisen darf, ist nicht hinnehmbar und eine Verlängerung dieses unfassbaren Justizskandals. Die Bundesregierung will ihre internationale Politik an den Menschenrechten ausrichten? Hier hätte sie etwas zu tun. Die Fraktion Die Linke fordert gemeinsam mit vielen Menschen weltweit: Freiheit für Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo Hernández Nordelo und Ramón Labañino Salazar und die freie Ausreise für René González Sehwerert! Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dem Antrag der Linken, den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba aufzugeben, kann kein ernsthafter Menschenrechtsverteidiger zustimmen, auch nicht einer wie ich, der Kuba und die Kubaner mag. Der Gemeinsame Standpunkt stellt keinen Boykott Kubas dar, wie die Linke sagt, und er zielt auch nicht auf einen Systemwechsel, obwohl der an der Zeit wäre. Der Standpunkt beinhaltet keine Sanktionen, wie die Linke behauptet, sondern fordert eine Intensivierung des Dialogs und der Zusammenarbeit. Es geht der EU um "Achtung der Menschenrechte", "Verbesserung des Lebensstandards der kubanischen Bevölkerung" sowie Stärkung von Demokratie in Kuba. Vor allem der letzte Punkt sei eine unrechtmäßige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates und ein Bruch der UN-Charta, behauptet die Linke. Zur Erinnerung für die Linke: Nach § 1 der kubanischen Verfassung ist Kuba eine Demokratie, nach § 3 geht die Macht vom Volke aus. Wo ist also der Bruch der UN-Charta, von dem der Antrag fabuliert, wenn man Demokraten und Demokratie in Kuba fördern will? Dass dies Ziele der EU sind - und zwar nicht nur in den Beziehungen zu Kuba, sondern in allen auswärtigen Beziehungen -, wird doch hoffentlich in diesem Haus nicht zur Debatte gestellt. Die kubanische Regierung macht es sozial engagierten Menschen und Menschenrechtsverteidigern schwer, aufseiten Kubas zu sein. Ja, die Erfolge in den Bildungs- und Gesundheitssystemen, der Ausgleich zwischen den sozialen Schichten, das schnelle und uneigennützige Engagement der Ärzte Kubas im Ausland, zum Beispiel in Haiti - so betrachtet wäre Kuba in der Tat ein Vorbild, nicht nur in der Region. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Kubaner ist zehn Jahre höher als die der übrigen Lateinamerikaner, sogar höher als die in den USA. Das sind wichtige Errungenschaften, die man gerade in meinem Alter zu schätzen weiß. Auf der anderen Seite steht aber eine massive und planmäßige Beschneidung der politischen Menschenrechte und der Freiheit der Kubaner, stehen willkürliche Verhaftungen von Menschenrechtsverteidigern und eine von oben verordnete Erstarrung aller sozialen und politischen Prozesse im Land. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen kann man nicht gegen gute Gesundheitsversorgung aufwiegen. Die sozialen und kulturellen Rechte, um die es in Kuba vergleichsweise gut steht, darf man nicht gegen die politischen und individuellen Menschenrechte ausspielen. Menschenrechte sind unteilbar! Kein Staat kann sich auf einzelne Rechte stützen und dann sagen, dass der Rest bei ihm nicht zählt. In Kuba gibt es keine Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, kein Recht auf einen fairen Prozess vor Gericht, keine Versammlungsfreiheit, Menschen werden wegen ihrer politischen Meinung ins Gefängnis geworfen, die Haftbedingungen sind menschenunwürdig. Auch wenn die Schulen in Kuba gut sind: Die Menschen in Kuba sind nicht frei. Und wer nach Freiheit ruft, wird unterdrückt, seiner Würde beraubt und mundtot gemacht. Daran haben auch die jüngsten Entlassungen von politischen Gefangenen nichts geändert. Es ist ja nicht so, als gäbe es nun keine politischen Gefangenen mehr: Dissidenten werden vielleicht nicht mehr jahrelang, sondern immer nur wieder für kurze Zeit inhaftiert, dann freigelassen, dann wieder für einige Tage und Wochen inhaftiert, wieder freigelassen, inhaftiert und so weiter. Das zermürbt und treibt diejenigen, die sich für Menschenrechte und soziale Verbesserungen engagieren, ins Exil. Jetzt wollen die Señores Presidentes Raúl y Fidel Castro die Wirtschaft liberalisieren. Sagen sie. Prima. Aber eine wirtschaftliche Öffnung ohne Öffnung des politischen Raums ist kein Fortschritt für die Menschen. Auch diese Maßnahme wird die systematische Enttäuschung aller alten und neuen Freunde Kubas nur fortsetzen. Dass die Regierung dort beharrlich und immer wieder alle Chancen verspielt, das Land freier und lebenswerter für die Kubaner zu machen, ist mir unbegreiflich. Auch ich habe die kubanische Revolution damals vor mehr als 50 Jahren mit meinen größten Hoffnungen und Idealen begleitet. Che Guevara ist noch heute vielen jungen Menschen Symbol für Solidarität und selbstloses Eintreten für die Freiheit, auch wenn sie das Leben kostet. Fidel Castro hat die Linke in bewegten Worten zum 85. Geburtstag gratuliert und die "Errungenschaften des sozialistischen Kubas" gepriesen. Ich sage nicht minder bewegt zu Fidel in Anlehnung an die Worte des Generals Moncada in "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez, einem der getreuesten Freunde des Comandante de la Revolución: "Lo que me preocupa es que de tanto odiar a los militares, de tanto combatirlos, de tanto pensar en ellos, has terminado por ser igual a ellos. Y no hay un ideal en la vida que merezca tanta abyección." Und ich füge hinzu: "La historia no te absolverá." Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4273, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3188 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 22 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7416 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung der Sonderzahlung - Drucksache 17/7631 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) - Drucksache 17/8007 - Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein) Michael Hartmann (Wackernheim) Dr. Stefan Ruppert Frank Tempel Dr. Konstantin von Notz Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/8011 - Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider (Erfurt) Otto Fricke Roland Claus Katja Dörner Alle Reden, die uns hierzu gemeldet worden sind, gehen zu Protokoll.8 Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Wiedergewährung der Sonderzahlung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8007, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7631 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Fraktion der Sozialdemokraten und die Linksfraktion, also alle miteinander. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Stephan Kühn, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN Elberaum entwickeln - Nachhaltig, zukunftsfähig und naturverträglich - Drucksachen 17/4554, 17/7681 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Dr. Matthias Miersch Horst Meierhofer Sabine Stüber Dorothea Steiner Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Ulrich Petzold (CDU/CSU): Wenn es wirklich das Ziel des Antrags war, eine Elbestrategie unter Einbeziehung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln, so ist das Ziel meilenweit verfehlt worden. Darauf weist schon das Abstimmungsergebnis in unserem Ausschuss hin. Letztendlich standen Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Antrag allein da und fanden nicht einmal bei einer einzigen anderen Fraktion Unterstützung. Die Absagen waren zwar höflich verklausuliert, ließen aber an Deutlichkeit keine Zweifel offen. Schon allein dem Anspruch des Antrags, für alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu sprechen, kann man eine gewisse Anmaßung nicht absprechen. Repräsentieren Wirtschafts- und Schifffahrtsverbände sowie die angrenzenden Landwirte oder gar die Kommunen keine gesellschaftlich relevanten Gruppen? Dass die Schifffahrtsverbände, aber auch Wirtschaftsvereinigungen und die IHK eher nicht zu den Ansprechpartnern der Grünen gehören, ist mir wohl bewusst. Nur, es geht nicht, dass man behauptet, im Namen aller relevanten Gruppen zu sprechen, und die Wirtschaftsverbände außen vor lässt. Nun kann man da noch von Berührungsängsten sprechen. Aber dass die Grünen nicht einmal vor solch einem Antrag mit den betroffenen Kommunen sprechen, erschüttert mich geradezu. Haben denn die Grünen in den neuen Bundesländern gar keine kommunalen Wurzeln? Sind deren Vertreter in Stadt- oder Gemeinderäten so wenig relevant, dass mit ihnen nicht mehr gesprochen wird, oder haben diese Vertreter dort auch schon jeglichen Kontakt außerhalb ihrer Klientel verloren? Erlauben Sie mir bitte, dass ich beispielhaft nur einmal die beiden Anliegerkommunen Aken und Magdeburg herausgreife, um mich nicht dem Geruch der Parteilichkeit auszusetzen, indem ich mich nur auf Parteifreunde in meinen Aussagen beschränke. Mit dem SPD-Bürgermeister Müller aus Aken hat eine der wesentlichen Autoren des Antrags, unsere Kollegin Kurth, wohl kaum gesprochen. Seine wörtlichen Ausführungen zu dem Antrag möchte ich lieber hier nicht öffentlich zitieren. Zitieren kann ich aber wohl aus dem Brief des Beigeordneten für Kommunales, Umwelt und allgemeine Verwaltung der Stadt Magdeburg, Herrn Holger Platz, den er uns im Auftrag des SPD-Oberbürgermeisters Trümper am 14. Oktober geschrieben hat: "Die Hochwasserpartnerschaft Elbe - ein Zusammenschluss mehrerer Kommunen zwischen Geesthacht und Tschechien - befürchtet, dass dies (deutliches Zurückfahren der Unterhaltungsmaßnahmen) dazu führt, dass in einzelnen Streckenbereichen das Hochwasserrisiko deutlich erhöht wird. Insbesondere dort, wo gegenwärtig die Unterhaltung durch Entnahme von Geschiebe gewährleistet wird, sind Aufsandungen zu befürchten, die nicht nur der Schifffahrt, sondern auch dem Gewässerabfluss nicht zuträglich sind." Das Zitat dürfte wohl kaum mit dem Antrag in Übereinstimmung zu bringen sein. Es ist daher auch nur konsequent, wenn sich die SPD im Ausschuss zu dem Antrag der Stimme enthalten hat. Konsequenter wäre natürlich eine Ablehnung gewesen, doch man will wohl dem Lieblingskoalitionspartner nicht zu große Schmerzen zufügen. Nach dem Debakel von Stuttgart 21 ist das wohl verständlich. Doch nicht nur die Abstimmung zu Stuttgart 21 zeigt, wie schief die Grünen damit liegen, wenn sie meinen und öffentlich immer wieder lautstark proklamieren, die Meinung des Volkes zu vertreten. Das INFO-Meinungsforschungsinstitut aus Berlin, das sehr stark mit dem Max-Planck-Institut zusammenarbeitet, hat in Sachsen-Anhalt eine repräsentative Bevölkerungsbefragung zur infrastrukturellen Entwicklung durchgeführt, zu der mehr als 1 000 Personen befragt wurden. Erlauben Sie mir, dass ich daraus zitiere: Drei Viertel der Befragten, genau 74 Prozent sind der Meinung, dass die Schifffahrt auch künftig für Transporte und Tourismus möglich sein sollte. Nur 21 Prozent waren der Ansicht, dass die Flüsse renaturiert werden sollten. Jeweils mehr als drei Viertel der Wähler von CDU, SPD und Linkspartei geben ein positives Votum zur Binnenschifffahrt ab, aber auch 65 Prozent der Wähler von Bündnis 90/Die Grüne. Selbst bei Ihren eigenen Wählern, meine Damen und Herren von den Grünen, wollen nur ganze 35 Prozent, dass unsere Flüsse renaturiert werden. Eine größere Ohrfeige für einen solchen Antrag und insbesondere für die Aussage, dass man für alle relevanten Gruppen spricht, kann man wohl kaum bekommen, wenn noch nicht einmal die eigene Basis dahinter steht. Man kann sich natürlich seine relevanten Gruppen auch selbst wählen und schönreden, doch dann ist man von der Brecht´schen Aussage, dass sich die Regierung ein neues Volk wählen sollte, nicht mehr weit entfernt. Oder nach Pippi Langstrumpf: "Ich bastle mir `ne Welt, so wie sie mir gefällt". Nun habe ich ja in den Gesprächen, die wir zu dem Antrag seit Februar dieses Jahres geführt haben, und in den Beratungen unseres Ausschusses mehr als genug darauf hingewiesen, dass eine so renommierte Einrichtung wie das Biosphärenreservat Mittelelbe bereits in einem Beitrag von 2009 darauf hingewiesen hat, dass es umweltschonende Möglichkeiten der Unterhaltung der Elbe für die Nutzung durch die Schifffahrt gibt, die sogar mit ökologischen Verbesserungen verbunden sind. Das Biosphärenreservat weist nach, dass es Möglichkeiten gibt, Buhnen so zu rekonstruieren und mit Verbesserungen zu versehen, dass sie sowohl den Bedingungen für eine schifffahrtliche Nutzung als auch ökologischen Erfordernissen genügen, dass die Sohlenerosion und somit das Eingraben der Elbe in den betroffenen Gebieten sehr wohl gestoppt werden kann. Dazu muss man jedoch auch Maßnahmen zur Erhöhung der Sohlenrauhigkeit akzeptieren, die durchaus auch der Flussfauna entgegenkommen. Auch Leitwerke können, wie an den Elbe-Kilometern 225, 228 und 251 geschehen, "gut an die sensiblen ökologischen Bedingungen angepasst werden", wie die Biosphärenreservatsverwaltung bestätigt. Das versieht sie mit einem besonderen Dank an das Wasser- und Schifffahrtsamt in Dresden, dem ich mich hier auch noch einmal ausdrücklich anschließen möchte. Wer jedoch aus ideologischen Vorbehalten jeden Stein in der Elbe als "Steinigung" bezeichnet, hat es immer noch nicht begriffen, dass der ökologische Umbau der Unterhaltungsmaßnahmen längst begonnen hat. Schon längst arbeiten das Biosphärenreservat und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung Hand in Hand, wenn es darum geht, Uferbefestigungen aus Stein dort zu entfernen, wo es geht, aber auch dort auszubessern, wo es erforderlich ist. Insofern stimmen die Ausführungen der SPD-Fraktion in der Berichterstattung auch nicht, dass wir uns zum ersten Mal intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Ich persönlich kann Ihnen nur bestätigen, dass ich bereits im Jahr 1991 gemeinsam mit dem letzten DDR-Verkehrsminister Horst Gibtner in der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost hier in Berlin war und hier in Verbindung mit dem Bundesverkehrsministerium festgelegt wurde, dass es keinen Ausbau der Elbe geben wird. Seitdem begleite ich dieses Thema und wundere mich immer wieder über den Unsinn, der scheinbar mit politischem Kalkül und mit konstanter Unkenntnis veröffentlicht wird. Das Biosphärenreservat berichtet in der Veröffentlichung aus dem Jahr 2009 auch sehr schön über die Chronologie der Veränderungen bei der Wasserstraßenunterhaltung an der Elbe: vom Forschungsprogramm "Elbeökologie" aus dem Jahr 1993, der Elbe-Erklärung aus dem Jahr 1996 bis hin zu den Erkenntnissen aus Unterhaltungsmaßnahmen, die dann insbesondere nach 1996 gemeinsam von Biosphärenreservat und Wasser- und Schifffahrtsamt Dresden gewonnen wurden. So brachte der zweijährige Unterhaltungsstopp nach dem Elbe-Hochwasser von 2002 keine wirklich neuen Erfahrungen, da die seit 2001 arbeitende Bund-Länder-Arbeitsgruppe in einem Unterhaltungsplan schon vieles bedacht hatte. Auch der Gedanke, die Auswirkungen der Klimaveränderung auf die Elbe zu untersuchen, ist beileibe nicht neu. Das Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt hat im November 2009 zwei Unternehmensberatungen damit beauftragt, alle aktuellen Studien zur Schiffbarkeit von Elbe und Saale zusammenzutragen und auf eventuelle Defizite in der Forschungslage zu untersuchen. Die Studie wurde im Rahmen des Projektes LABEL im Central-Europe-Programm von den Unternehmen LUB Consulting GmbH und Uniconsult durchgeführt. Es war dabei nicht der Auftrag, zu überprüfen, ob die Aussagen der begutachteten Studien richtig oder falsch sind, sondern lediglich zu untersuchen: Mit wie viel Nachweisen in welcher wissenschaftlichen Qualität sind welche Aussagen der Studien untermauert? "Politische" Dokumente wie Konzepte von Bundes- oder Landesverwaltungen flossen dabei ganz bewusst nicht in die Untersuchung ein. So wurden insgesamt 69 Studien und Forschungsprojekte ausgewertet. Bei der sehr nüchterne Analyse war für mich interessant, dass immer wieder festgestellt wurde: "Die kritischen Aussagen basieren häufig auf aktuellen Daten, gehen jedoch von falschen Annahmen aus...", "Ein eindeutiger Trend lässt sich seriöserweise nicht ableiten...", "Kritische Positionen arbeiten teilweise mit falschen Annahmen oder nehmen bewusst ungünstige Transportmengenvergleiche vor." Dagegen steht dann: "Gleichwohl wird die Plausibilität der befürwortenden Aussagen signifikant höher bewertet." Waren da vielleicht einige Studien nicht doch mit einem klaren politischen Auftrag versehen oder von Auftragnehmern ausgeführt worden, die von vornherein klar zuzuordnen waren? Wenn dann in der Berichterstattung der Grünen besonders darauf abgehoben wird, dass durch den Klimawandel bedingt die Unterhaltungsziele nicht erreicht werden, muss man deutlich sagen, dass von 21 Studien, die dazu eine Aussage treffen, 14 davon ausgehen, dass der Klimawandel zu einer Verschlechterung der Schifffahrtsverhältnisse auf der Elbe führt. Jedoch die 7 Studien, die genau dieser Aussage nicht folgen, weisen durch umfangreichere Daten, eindeutigere und bessere Quellen und eine höhere Plausibilität in ihren Schlussfolgerungen nach, dass die Folgen des Klimawandels nicht so einfach vorhersehbar und von einem hohen Unsicherheitsfaktor gekennzeichnet sind. Die Evaluierung aller Studien stellt dann auch fest: So gehen bei geografisch kleinräumigen Vorhersagen, wie für das Elbstromgebiet, "die Vorhersagemodelle teilweise sehr weit auseinander und sind daher nur bedingt als Entscheidungsgrundlage anzusehen." Eine so apodiktische Aussage zur Auswirkung des Klimawandels auf die Schiffbarkeit der Elbe wie in der Berichterstattung der Grünen ist dann doch eher unsolide. Als Kind der Region, das in Wittenberg an der Elbe geboren ist, in Magdeburg studiert hat und immer die Elbe oder einen ihrer Zuläufe vor Augen hatte, kann ich Ihnen nur sagen: Magdeburg, Dessau/Wittenberg und Dresden/Riesa waren seit Jahrhunderten bedeutende wirtschaftliche Räume an der Elbe. Wer diesen Kulturraum Otto des I., Hugo Junkers, Martin Luthers und Johann Friedrich Böttchers mit der unteren Oder oder dem Bayerischen Wald auf die gleiche Stufe stellen und auf Naturtourismus trimmen will, hat kein Gespür für die Region. Es war schon eine große Sorge der Region, dass im Rahmen der Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung die Ober- und Mittelelbe nur noch in das Ergänzungsnetz des Bundeswasserstraßennetzes eingeplant werden könnte. Indem jetzt im Gespräch ist, die Elbe in die mittlere der vorgesehenen drei Schifffahrtsstraßenkategorien einzustufen, kann auch von einer weiterhin sachgerechten Unterhaltung ausgegangen werden. So sind die Befürchtungen der Binnenschiffer und der Sportbootbesitzer, aber auch Sorgen um einen ordnungsgemäßen Hochwasserabfluss und um eine weitere Sohlenvertiefung der Elbe, die mich erreichten, auch gerade dank des Einsatzes der Landesregierungen der Elb-anrainer wohl endgültig vom Tisch. Vielmehr werden einer strategischen Entwicklungsplanung an der Elbe sichtbare Vorgaben gemacht. Die Elbregion ist längst keine naturbelassene Landschaft mehr, sondern eine Kulturlandschaft, die eigene touristische Konzepte benötigt. Die Tourismusverbände, die Kommunen, aber auch die Wirtschaftsverbände arbeiten schon lange an nachhaltigen, naturverträglichen Konzepten für die Zukunft der Elbregion. "Das Schöne mit dem Nützlichen verbinden", diese Devise des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau, der durch sein Dessau-Wörlitzer Gartenreich an der Elbe weltberühmt wurde, ist schon längst der Wahlspruch der Region und die Grundlage aller - von der Gartenreichsverwaltung über das Biosphärenreservat und die Kommunen bis hin zu den Wirtschaftsverbänden. Selbstverständlich können auch da die Grünen ihre Ideen einbringen, doch sie sollten nicht so tun, als hätten sie das Rad neu erfunden. Dr. Matthias Miersch (SPD): Die Elbe ist einer der schönsten Flüsse Deutschlands, und ihre Aue ist durch die urigen, großen Feuchtwälder und eine weitreichende extensive landwirtschaftliche Nutzung eine Perle im Inventar unserer Naturlandschaften. Gerade die Auwälder sind wichtiger Lebensraum für seltene Pflanzen und Tiere, sie sind geprägt durch eine hohe Artenvielfalt. Ich nenne da nur den Elbebiber, Seeadler und den sehr seltenen Schwarzstorch. Auch der Weißstorch gehört dazu, sein vermeintlich hohes Vorkommen ist zu großen Teilen den Anstrengungen der ehrenamtlich engagierten Naturschützer zu verdanken, die permanent bemüht sind, diesen Vögeln ihr Habitat zu erhalten und zu pflegen. In weiten Strecken zeigt die Elbe immer noch den Charakter eines frei fließenden Flusses mit großem ökologischen Wert. Der natürliche Charakter ist eigentlich geprägt durch ständige Änderungen in seinem Lauf, durch die Bildung neuer Schleifen, durch Abschneiden alter Schleifen, die sich in Seen verwandeln. An einer Stelle bricht Ufer weg, an anderen Stellen werden Sandbänke angeschwemmt und sind Nahrungs- und Bruthabitate für Flussregenpfeifer und Co. Dieser grundsätzlichen Bedeutung der Elbe muss immer Rechnung getragen werden. Dieses Ökosystem ist schon seit langem durch menschliche Eingriffe geprägt, sie durch eine menschlich geprägte Kulturlandschaft. Sie ist deutlich verkürzt worden, durch Buhnen und Deiche ist ihr Lauf befestigt worden, ihre Fließgeschwindigkeit hat sich im Laufe der Schiffbarmachung erhöht. Damit einhergegangen ist eine Veränderung der Landschaft und der Lebensräume entlang der Elbe. Das Flussprofil wurde enger. Das bedeutet: Ufer wurden steiler, weniger Fläche wird bei Hochwasser überschwemmt, Nebenarme, Kiesbänke und Inseln verschwanden. Kurz: Lebensräume haben sich verändert. Nach der Vereinigung Deutschlands keimten sofort Pläne, den lange vergessenen Fluss zur genormten Wasserstraße weiter auszubauen. Viele Fürsprecher in den Verbänden verhinderten dies und setzten einen Kompromiss durch, der bis heute gehalten hat und für den wir weiter stehen. Richtig ist: Die Elberegion profitiert vom Naturraum Elbe. Der Tourismus ist ein wichtiges Standbein, Arbeitsplätze sind im Tourismus entstanden. Richtig ist aber auch: Die Elbe hat eine Bedeutung als Wasserstraße, insbesondere als Hinterlandverbindung für den Hamburger Hafen und im weiteren Verlauf etwa für die Häfen in Magdeburg, in Roßlau und Bernburg. Die Binnenschifffahrt kann für die Elbe-Region ein Wirtschaftsfaktor sein, wenn es gelingt, die verschiedenen Interessen von Naturschutz, Naherholung und Industrie zusammenzubringen. Es stimmt, die reine Menge der transportierten Güter auf der Elbe nimmt ab. Gleichzeitig ändert sich aber auch die Art der Güter, die transportiert werden. Neben Massengüter- und Containerumschlägen nehmen zunehmend hochwertige Transporte von Sperrgütern einen hohen Stellenwert ein. Turbinen, Transformatoren, Generatoren, Kompressoren, Schiffskörper von Küstenmotorschiffen und Teile für Windkraftanlagen sind als Sondertransporte kaum anders zu bewegen als über den Verkehrsträger Wasserstraße. Es ist klar: Wir stehen dafür, nicht nur den Status quo zu erhalten. Wir wollen den ökologischen Zustand der Elbe verbessern, weil wir den Wert des Lebensraumes Elbe kennen, weil wir ein wirtschaftliches Potential im Tourismus an der Elbe und weil wir die Ziele und Verpflichtungen der Wasserrahmenrichtlinie hochhalten. Diese definiert die ökologischen Mindestanforderungen, sie fordert explizit eine Verbesserung des ökologischen Zustandes. Letztes Jahr wurde im Lödderitzer Forst damit begonnen, Deiche zurückzuverlegen. Der alte Deich soll 800 Meter zurück verlegt werden, auf fast 1 000 Hektar kann sich die Elbe in Zukunft bei Hochwasser ausbreiten. Das bringt in diesem Bereich eine neue Zukunft für Auwälder, für Auewiesen, für die Artenvielfalt. Insgesamt sollen bis 2020 durch solche Projekte 3 000 Hektar an Überschwemmungsgebiet der Elbe zurückgegeben werden. Dies ist ein wichtiger Schritt. Ziel muss es sein, der Elbe mehr Raum zu geben und flachere, heterogene Ufer zuzulassen. Dies ist notwendig, um die Elbe dynamischer zu machen, um den Lebensraum Ufer wiederzugewinnen, um Auen zu sichern. Und: Ich glaube auch, dass wir hier noch deutlich ambitionierter werden können. Aber: Ich schließe daraus nicht, dass wir uns von der Schifffahrt auf der Elbe verabschieden müssen, auch wenn es die Alternativen Bahn und den Elbeseitenkanal gibt, über die ernsthaft nachgedacht werden muss und die auch genutzt werden sollten, bevor der Fokus sich auf die Elbe richtet. Es stimmt: Lange Jahre wurden Flüsse unter reinen wirtschaftlichen Aspekten gesehen. Sie wurden der Schifffahrt angepasst. Wir müssen umdenken: Wenn wir die Schiffbarkeit der Elbe erhalten wollen, muss sich die Schiffbarkeit an den Notwendigkeiten der Herstellung des guten ökologischen Zustandes orientieren. Das ist möglich, daran habe ich keinen Zweifel. Das bedeutet, wir müssen uns genau anschauen: Welche Güter werden auf der Elbe transportiert? Welche Potenziale gibt es? Wo liegen die Engpässe - auf der Elbe oder im Hamburger Hafen? Sind die Kanäle eine Alternative? Wo gibt es dort Engpässe? Können diese behoben werden? Können andere Schiffe eingesetzt werden? Wie verändert sich der Fluss im Zuge des Klimawandels, wie viel Wasser wird er in 20 Jahren führen? Wir müssen schauen, wo wir die Flussdynamik verbessern können. Wo können wir Deiche zurückverlegen? Welche Altwasser können wieder angeschlossen werden? Wo bringen neu entwickelte alternative Buhnen einen Vorteil gegenüber den bereits existierenden? Kann man Buhnen zum Beispiel an den Innenseiten von Flussbiegungen zurückbauen? Ich finde die Untersuchungsergebnisse zu den Absenkbuhnen sehr interessant. Diese Buhnen lassen neben der Fahrrinne weitere Strömungskanäle zu. Die Untersuchungen haben ergeben, dass bautechnisch realisierte Absenkungen im Mittelbereich von Buhnen genauso wie unbeabsichtigte Buhnendurchrisse zu einer messbar größeren Lebensraumvielfalt im Vergleich zur Regelbuhne führen. Auch die Heterogenität der Uferböschungen nimmt zu. Auch wenn der Effekt nicht überschätzt werden darf, sollte überlegt werden, wie man diese Erkenntnis für die Elbe nutzen kann. Schifffahrt und Lebensraum Elbe sollten neu zusammengebracht werden. Es geht aus meiner Sicht darum, die Elbe in einem Zustand zu sichern, der nicht über ein klar definiertes Maß an Schiffbarkeit hinausgeht. Dieses müssen wir klar definieren. Es geht genauso darum, die Naturlandschaften zu erhalten. Es geht darum, die Lebensräume für die Kraniche, Störche und andere Populationen, die in Größenordnungen wieder zurückgekehrt sind, zu erhalten. Auch das muss in einer Zieldefinition klar enthalten sein. Ich weiß um den Spagat, der notwendig ist, die Binnenschifffahrt zu erhalten und gleichermaßen die Naturlandschaften zu schützen und, wenn möglich, auch wieder herzustellen. Dieser Spagat ist nicht einfach. Er ist aber notwendig. Sowohl im Tourismus als auch in den Häfen arbeiten Menschen an der Elbe. Lassen Sie uns diese Arbeitsplätze nicht gegeneinander ausspielen. Horst Meierhofer (FDP): Als Vorsitzender der parlamentarischen Gruppe "Frei fließende Flüsse" habe ich große Sympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Deshalb begrüße ich grundsätzlich Ihre Initiative. Das Flussgebiet Elbe ist heute eine der ökologisch wertvollsten Flusslandschaften, und das, obwohl vor 1990 die Elbe mit der Saale im Wettbewerb um den Titel "dreckigster Fluss Mitteleuropas" stand. Mittlerweile bestehen gerade entlang der Mittelelbe wieder zahlreiche Biosphärenreservate, Naturparks oder Naturschutzgebiete. Und trotzdem: Die Klassifizierung der mittleren Elbe in mäßig und stark veränderte Flussabschnitte zeigt auf, dass noch viel zu tun ist. Zwischen Saale und Mulde sind viele Altwässer unzureichend an das Elbwasser angebunden. In der Folge droht vielen Feuchtgebieten die Verlandung. Gerade in Sommermonaten droht der Sauerstoffgehalt der Elbe zu kippen. Diese Problematik ist erkannt: Gute Wasserqualität ist nur mit dem Erhalt und der Wiederherstellung der hydromorphologischen Gegebenheiten erreichbar. Die starken Schäden durch die letzten Hochwasser sind noch nicht vollständig beseitigt. Mit dem "Rahmenkonzept Unterhaltung" ist die Bundesregierung hier aktiv. Es besteht weiter Handlungsbedarf. Schnellschüsse bringen uns dabei aber nicht weiter. Fluss- und Auenschutz kann nur durch jahrelange Kärrnerarbeit erreicht werden. Hierfür arbeiten wir! Man muss aber auch konstatieren, dass neben den Maßnahmen der Bundesregierung auch die Länder gefragt sind. Mit der wasserwirtschaftlichen Unterhaltung hat der Bund hier eine Verantwortlichkeit, die bereits weit über verkehrliche Aufgaben hinausgeht. Wir dürfen von den Bundesländern erwarten, dass die Themen Sohlenstabilisierung oder die Errichtung von Längs- und Querbänken - die notwendig ist für unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten - von den Bundesländer aktiv betrieben werden. Die Verantwortung für derartige Maßnahmen liegt klar bei den Ländern. Ein weiteres Problem stellte auch die 1960 errichtete Staustufe Geesthacht dar. Die Durchlässigkeit der Staustufe für Fische war und ist umstritten. Mit der neuen zweite Fischtreppe, die im September des letzten Jahres fertiggestellt wurde, könnte nun theoretisch sogar der Stör wieder heimisch werden. Wir wollen wie Sie ebenfalls keine weiteren Staustufen in der Elbe. Die FDP hat sich bereits in ihrem Wahlprogramm von 2009 dazu klar geäußert. Auch die geplante Staustufe in Tschechien ist nicht im Interesse Deutschlands und der Elbe insgesamt. Der Auenschutz ist für die FDP zentral. Erst in der vergangenen Woche hat beispielsweise die bayerische FDP beschlossen, in jeder Dekade mindestens ein Auenschutzgroßprojekt mit mindestens zehn zusammenhängenden Flusskilometern zu verwirklichen. Einfach, wirkungsvoll und realistisch. Das ist auch die Marschroute für die Elbe. Nicht nur der Naturschutz, auch der Schutz der Menschen vor Hochwassern erfordert gezielte Renaturierungsmaßnahmen. Dazu gehören auch Deichrückverlegungsmaßnahmen - wohl wissend, dass diese nur gemeinsam mit den Anwohnern möglich sind. In vielen Punkten sind wir also nicht so weit voneinander entfernt, auch wenn Ihr Antrag an manchen Stellen schwammig oder etwas unrealistisch ist. Ihrem Antrag ist zu entnehmen, dass Sie eine Verbesserung der Schiffbarkeit generell mit Argwohn verfolgen. Meines Erachtens kann eine Verbesserung der Schiffbarkeit in engem Rahmen durchaus ermöglicht werden, allerdings nur durch Unterhaltungsmaßnahmen. Die kategorisierte Kritik an der Schifffahrt ist aus unserer Sicht übertrieben. Auch an anderer Stelle möchte ich auf eine Ungenauigkeit hinweisen. Sie sprechen einerseits davon, dass das Problem Wasserknappheit angegangen werden sollte, ihres Erachtens durch den Stopp von Ausbaumaßnahmen. Wasserknappheit ist für die mittlere Elbe ein massives Problem. Die Diagnose ist sicherlich richtig. Sie verkennen beim Stopp von Ausbaumaßnahmen jedoch, dass auch Ausbaumaßnahmen existieren, die im Interesse des Flusses, ja sogar lebensnotwendig sind. Die von mir angesprochene Sohlenstabilisierung oder die Errichtung von Längs- und Querbänken sind nur Beispiele. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie sagen: Ausbau schlecht, ökologische Unterhaltung gut. Wir müssen uns voraussichtlich darauf einstellen, dass die Elbe nicht dauerhaft einen Mindestwasserstand erreichen wird. Ich glaube, von dieser Zielstellung sollten wir absehen. Das Bundesverkehrsministerium wird die Bundeswasserstraßen nach Kategorien einteilen und diese nach ihrem Verkehrsaufkommen bewerten, soweit scheint die Sachlage klar. Eine Kanalisierung der Elbe steht demnach ganz sicher nicht an, und das ist eine gute Nachricht. Die Elbe wird davon profitieren. Sabine Stüber (DIE LINKE): Erinnern Sie sich noch an das große Elbe-Hochwasser von 2005? Die Dresdner Altstadt stand damals mit ihren einmaligen Kulturschätzen unter Wasser. Danach sollte alles anders werden, wie nach jedem der sogenannten Jahrhunderthochwasser, die immer häufiger auftreten. Der Klimawandel hat uns auch mit den Flüssen fest im Griff. Weil wir in den letzten hundert Jahren die Flüsse immer weiter ausgebaut haben, ist der materielle Schaden enorm hoch. Dabei ist die Elbe noch einer der naturnahen Flüsse. Zumindest auf 400 Kilometern im Mittellauf ist sie ohne Kanalisierung und wenig verbaut. Wer auf dem Elbe-Radweg unterwegs ist, fährt hier durch die schönste Auenlandschaft. Die Extremwetterlagen werden in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Das bedeutet: noch häufiger Hochwasser. Aber genauso wird es extremes Niedrigwasser geben, wie wir es in diesen Tagen gerade erleben. Daran müssen wir uns nicht gewöhnen, daran müssen wir uns anpassen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns generell für eine naturnahe Entwicklung der Flüsse entscheiden. Das bedeutet Umdenken. Andere Wege suchen, ist immer ein hartes Stück Arbeit, auch wenn das Ziel klar ist. Das dauert und braucht Partner. Wenn wir uns die Elbe ansehen, dann können wir feststellen, dass es schon eine Menge von Einzelbausteinen gibt. Der Antrag der Grünen tut das Seinige dazu. Da können wir Linken in vielem zustimmen. Aber wir meinen, dass es an der Zeit ist, das Puzzle zusammenzusetzen. Ein Flusskonzept, davon war schon nach dem Hochwasser 2005 die Rede. Nun ist es offensichtlich so weit. Sei einigen Tagen liegen Eckpunkte für ein Gesamtkonzept für die Elbe im deutschen Flussraum vor. Jetzt geht es darum, aus den Eckpunkten ein strategisches Gesamtkonzept zu entwickeln. Das wird nur mit einem breiten gesellschaftlichen Beteiligungsprozess gehen. Es gibt viele verschiedene Nutzungsinteressen. Wir werden sicher noch öfter darüber diskutieren. Vorab zwei Punkte zu den Grünen-Forderungen. Die Schifffahrt auf der Elbe abzuschaffen, werden wir nicht unterstützen, aber wir fordern flussangepasste Schiffstypen. Die Bundesregierung hat zwei Investitionsförderprogramme für die Modernisierung der Binnenschiffsflotte. Das teilte sie auf unsere Kleine Anfrage hin mit. So weit, so gut. Aber sie teilte auch mit, dass sie flussangepasste Schiffstypen stärker fördern würde, wenn es dafür zusätzliches Geld im Haushalt gäbe. Das kann nicht sein, es dürften nur noch und ausschließlich flussangepasste Binnenschiffe mit öffentlichem Geld gefördert werden. Dann wird ein Schuh daraus. In Magdeburg wurde ein Container-Leichter als Prototyp für die Elbe entwickelt. Das sind unternehmerische Aktivitäten, die unterstützt werden sollten. Im Punkt Hochwasserschutz stimmen wir mit den Grünen überein. Warum hat der vorbeugende Hochwasserschutz für uns Linke eine so hohe Priorität? Der Hochwasserschutz wird so preiswerter, und gleichzeitig kann das Ökosystem Flusslandschaft aufatmen. Bei Lenzen wurde der Elbdeich auf einer Länge von 7,4 Kilometern zurückverlegt. Damit wurden zusätzliche Überflutungsflächen geschaffen und dem Fluss 420 Hektar Aue wiedergegeben. Der Rhythmus der Elbe hat mit Überflutung bei Hochwasser und Trockenheit bei Niedrigwasser in wenigen Jahren eine lebendige Auenlandschaft geschaffen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Kolleginnen und Kollegen: Setzen Sie sich aufs Fahrrad und schauen Sie sich das an! Dann wissen Sie, was ich meine. Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Antrag, der nach langer Debatte nun endlich hier abschließend behandelt wird, haben wir einen umfassenden Vorschlag für die Entwicklung des Elbe-Raums vorgelegt. Die Elbe ist einer der letzten großen freifließenden Flüsse Europas, und die Flusslandschaft Elbe ist einzigartig in ihrer Vielfalt. Der Erhalt dieser besonderen Landschaft ist uns ein wichtiges Anliegen. Aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der Region haben wir im Auge. Während viele Politikerinnen und Politiker vor Ort vor allem auf Binnenschifffahrt als Wirtschaftsfaktor setzen, öffnen wir den Blick und zeigen neue und alternative Entwicklungsmöglichkeiten auf. Denn für uns hat der Schutz der Natur- und Kulturlandschaft Elbe oberste Priorität. Es darf unter keinen Umständen einen weiteren Ausbau der mittleren und oberen Elbe geben. Statt einseitig weiter darauf zu hoffen, dass ein Ausbau der Elbe endlich den seit der Wiedervereinigung vergeblich erwarteten Wirtschaftsaufschwung für die ElbeRegion bringt, wie es CDU, FDP und große Teile von SPD und Linke tun, müssen endlich die wirklichen Potenziale der Region entwickelt werden. Genau dies tun wir mit unseren Vorschlägen. Wir skizzieren, wie eine nachhaltige, zukunftsfähige und naturverträgliche Entwicklung des Elberaums aussehen kann, die Ökonomie und Ökologie zum Vorteil der Region verbindet. Der wirklich zukunftsfähige Wirtschaftsfaktor der Region ist die touristische Nutzung der Natur- und Kulturpotenziale im Elbe-Raum. Schon jetzt hat der Tourismus in der Region zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen und noch immer gibt es ein großes Entwicklungspotenzial. Für natürlich notwendigen Gütertransport besteht kein Mangel an alternativen Transportmöglichkeiten. Die Schiene bietet eine umweltfreundliche und verlässliche Alternative für den Güterverkehr. Im Mittelpunkt der zukünftigen Entwicklung der Elbe-Region muss der Erhalt der einzigartigen Flusslandschaft mit all seinen positiven Funktionen für Mensch und Natur stehen. Hierzu bedarf es eines gemeinsamen Vorgehens der Politik in Bund und Ländern unter Einbeziehung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Auch die Bundesregierung hat vor dem Hintergrund der angestoßenen Diskussion zur Zukunft der Elbe angekündigt, nun endlich eine Gesamtstrategie für den Elberaum vorzulegen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Aber leider gibt es bisher, wie beim Minister Röttgen ja üblich, nichts außer schöne Sonntagsreden. Auch auf Nachfrage ließ sich nichts Genaueres über die Inhalte der Strategie erfahren. Nur Allgemeinplätze wie: "Im Gesamtkonzept sollen die unterschiedlichen Ansprüche an die Elbe gleichberechtigt einfließen; die schifffahrt-liche Nutzung des Gewässers weiterhin ermöglicht und die Grundlagen des Naturhaushaltes weiterentwickelt und verbessert werden." Wahrscheinlich ist auch der Bundesregierung klar, dass diese Ziele sich zum Teil widersprechen und es ein starkes Konfliktpotenzial gibt. Jedoch scheint sie sich, anders als wir, davor zu scheuen, diese Konflikte zu benennen und Lösungsvorschläge zu machen. Der Staatssekretär im Verkehrsministerium Enak Ferlemann hingegen erklärt permanent der Binnenschifffahrtslobby in Deutschland, aber auch im Nachbarland Tschechien, welch rosige Zukunft die Binnenschifffahrt auf der Elbe hat. Wie er das ohne eine Vertiefung erreichen will, kann er nicht erklären. Auch gaukelt er weiter freudig Tschechien vor, dass es kein Problem sein wird, die versprochene und für die Wirtschaftlichkeit der tschechischen Staustufe notwendige Mindesttiefe von 1,60 m dauerhaft zu erreichen. Dieses Ziel wird aber seit Jahren deutlich verfehlt. Auf Nachfragen von uns muss selbst Ferlemann zerknirscht zugeben, dass eine Mindesttiefe für die Elbe nicht garantierbar ist. Ja, was denn nun, liebe Bundesregierung? - Seien Sie doch endlich ehrlich und geben Sie das Phantomziel von 1,60 m Mindesttiefe ganzjährig auf! Folgen Sie dem Vorschlag ihrer eigenen Experten, die Elbe zukünftig ins Nebennetz einzuordnen! Da gehört sie nämlich hin. Wenn Sie sich dazu durchringen können, ist eine gute Grundlage geschaffen, um gemeinsam Ideen und Konzepte für die Zukunft der Elbe-Region zu diskutieren. Dazu haben wir erste Anstöße in unserem Antrag gegeben. Kern des Antrages ist es, die Entwicklung einer Strategie unter Einbeziehung aller relevanten Gruppen anzustoßen. Auch wir haben noch keine abschließende Patentlösung für die Zukunft des Elbe-Raums. Aber wir benennen die Konflikte, wir bestimmen die Rahmenbedingungen und Ziele einer solchen Strategie. Die gemeinsame Entwicklung von detaillierten Konzepten muss jetzt folgen. Für diese Ansätze unseres Antrages gab es ja auch durchaus viel Lob im Umweltausschuss, mal abgesehen von der CDU/CSU-Fraktion; viele Kolleginnen und Kollegen meinten, der Antrag enthalte durchaus sinnvolle Passagen und man müsse das Thema weiterdiskutieren. Leider konnte sich keiner von ihnen zu einer Zustimmung durchringen. Aber wir nehmen das Angebot zur weiteren Diskussion gerne an. Wir erwarten bald auch vonseiten der Bundesregierung und aller anderen Fraktionen im Bundestag entsprechende Vorschläge. Nur so können wir gemeinsam ein gutes Konzept für eine nachhaltige Zukunft der Elbe-Region entwickeln. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7681, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4554 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 17/6764 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) - Drucksache 17/7991 - Berichterstattung: Abgeordneter Markus Kurth Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/8003 - Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Bettina Hagedorn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz (Herborn) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.9 - Sie sind alle damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7991, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6764 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bahnpreiserhöhung stoppen - Drucksache 17/7940 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns hier vor. Ulrich Lange (CDU/CSU): Preiserhöhungen, egal welcher Art, werden von den Verbrauchern negativ gesehen. Deshalb wurde die Preiserhöhung der Deutschen Bahn in der Öffentlichkeit mit Kritik bedacht. Auf diesen Zug will die Linke aufspringen, ohne wirklich auf Argumente einzugehen oder die wirtschaftlichen Aspekte zu beleuchten. Ja, es ist richtig, dass die Deutsche Bahn AG ihre Preise erhöht, aber dies geschieht nicht überzogen, sondern moderat. Nach dem Verzicht auf eine Preiserhöhung im Fernverkehr im vergangenen Jahr hebt die Deutsche Bahn zum 11. Dezember 2011 die Preise im Fernverkehr um durchschnittlich 3,9 Prozent an. 3,9 Prozent für zwei Jahre - diese Erhöhung bewegt sich im Rahmen der Inflationsrate. Im Nahverkehr beträgt die Anhebung durchschnittlich 2,7 Prozent. Auch hier bewegt sich die DB wiederum im Rahmen der Inflationsrate. Berücksichtigen wir dann noch, dass der Preisbrecher Energie einen großen Teil der Betriebskosten bei der DB ausmacht, zeigt sich, dass die Erhöhung durchaus akzeptabel ist. Dies zeigt sich auch im Vergleich mit den Nahverkehrsverbünden. Hier schneidet die DB mit ihrer Preiserhöhung sogar gut ab, da sie sich weit unterhalb der Preisentwicklung der großen Verkehrsverbünde bewegt hat. Die Preise bei der DB sind in Summe seit 2002 wesentlich geringer gestiegen als bei den öffentlichen Verkehrsverbünden. Während die Preise bei den Verkehrsverbünden im Zeitraum von 2002 bis 2012 um 37 Prozent gestiegen sind, sind die Preise bei DB Regio um circa 30 Prozent und die Preise bei DB Fernverkehr nur um circa 15 Prozent gestiegen. Uneingeschränkt zu begrüßen ist die Entscheidung der DB, Kundengruppen mit kleinem Geldbeutel nicht stärker zu belasten. Deshalb bleibt die Jugend Bahn- card 25 mit einer einmaligen Bearbeitungsgebühr von 10 Euro und Gültigkeit bis einschließlich des 18. Lebensjahres preisstabil. Das Gleiche gilt auch für die ermäßigte Bahncard 25 für Schüler, Studenten und Senioren für 39 Euro in der 2. Klasse. Erfreulich ist auch, dass im Fernverkehr auf eine Verteuerung der Sparpreise verzichtet wurde. Somit gibt es den Sparpreis unverändert für die einfache Fahrt ab 29 Euro in der 2. Klasse und für Kurzstrecken bis 250 Kilometer ab 19 Euro - gültig für Reisen im ICE oder Intercity/Eurocity. Der moderate Anstieg der Fahrpreise wird auch künftig dazu führen, dass die Bahn weiterhin allen eine komfortable, umweltgerechte und vor allem preisgünstige Mobilität ermöglichen wird. Und die Bahn ist und bleibt sozial. Die DB hat im Vergleich zu anderen touristischen Anbietern besonders günstige Angebote für Familien. Im Gegensatz zu den Airlines fahren Kinder bis 14 Jahre in Begleitung ihrer Eltern bei der DB kostenlos. Pro Jahr befördert die DB beispielsweise im Fernverkehr über 4 Millionen Kinder kostenlos. Die Linken führen einen Wust an Zahlen an, um die DB bewusst zu diskreditieren. So lässt das in der Darstellung gewählte Bezugsjahr 2003 völlig außer Acht, dass kurz zuvor im Dezember 2002 im Rahmen der Einführung des neuen Preissystems die Normalpreise erheblich um circa 12 Prozent gesenkt wurden. Betrachten wir also die Preisentwicklung in der letzten Dekade seit 2001, dann ergibt sich eine durchschnittliche Preisentwicklung der Bruttopreise von rund 16 Prozent, eine Steigerung, die in etwa der Inflation entspricht. Die Linken nehmen in ihrem Antrag nur Bezug auf die Preissteigerung beim Normalpreis. Dies bildet aber nur eine geringe Nachfrage im Preisportfolio der DB ab. Die DB Fernverkehr hat seit 2004 den Anteil an hochrabattierten Angeboten durch kontinuierlichen Aufbau der Sparpreise von circa 10 Prozent auf circa 40 Prozent erhöht. In Summe gewährt die DB hohe Ermäßigungen gegenüber dem Normalpreis zum Beispiel im Fernverkehr von durchschnittlich über 50 Prozent, vor allem für Zielgruppen wie Familien und Pendler. Die Linken unterstellen der DB Willkür. Das ist es aber nicht. Die DB hat den Auftrag, ihre Fahrzeugflotte auf einem guten, ja einem erstklassigen Stand zu halten. Dass dies in der Vergangenheit nicht immer geklappt hat, ist unbestritten. Aber wir müssen der DB doch auch die Einkommensmöglichkeiten zugestehen, die Gelder einzunehmen, die notwendig sind, ihre Betriebskosten zu decken und in neue Züge zu investieren. Gerade die Linken als Nachfolger der PDS sollten doch wissen, was passiert, wenn nicht ausreichend investiert wird, wenn nur von der Substanz gelebt wird. Während der SED-Diktatur wurde die Bahn doch vor die Wand gefahren und zu einem absolut unzuverlässigen Fortbewegungsmittel degradiert. Sie als direkte Nachfolgepartei haben mit zu verantworten, dass die Weichen damals in die Sackgasse und nicht auf zukunftsorientierte Investitionen gestellt wurden. Auf der anderen Seite können wir natürlich von der DB erwarten, dass die Zuverlässigkeit der Zugverbindungen zunimmt. Seit Dr. Peter Ramsauer das Bundesverkehrsministerium und Dr. Rüdiger Grube den DB-Konzern übernommen haben, haben sich die Verhältnisse bei der Bahn wesentlich verbessert. Die unter Rot-Grün gestarteten Bemühungen, die DB unter allen Umständen gewinnbringend an die Börse zu bringen, hat der Leistungsfähigkeit der Bahn geschadet, hat ihrem Ruf geschadet. Unter Schröder und Mehdorn wurden alle Reserven abgebaut. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Aber die DB baut langsam die abgebauten Kontrollinstanzen und Reparatureinheiten auf, hat für den zu erwartenden Winter Maßnahmen getroffen, wie zusätzliche Enteisungsanlagen und Sicherungen bei den Weichen. Aber es muss uns klar sein, dass abgebaute Kontroll- und Reparatureinheiten nicht von heute auf morgen wieder aufgebaut werden können. Im Bahnbereich wird in Jahrzehnten geplant, bestellt und agiert. Kurzfristige Änderungen sind kaum erfolgreich. Konzernchef Grube hat gezeigt, dass er gewillt ist, die frühere Leistungsfähigkeit und die geschätzte Zuverlässigkeit der Bahn wiederherzustellen. Hierfür braucht er nicht nur ein wenig Zeit, sondern auch die notwendigen Einnahmen. Die von der Bahn durchgeführte Preiserhöhung ist moderat und angemessen. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag der Linksfraktion ist schlicht und ergreifend eines: populistisch. Mit ihrem Antrag kritisiert die Linksfraktion die Ankündigung der Deutschen Bahn AG, zum 11. Dezember 2011 die Fahrpreise im Fern- und Nahverkehr zu erhöhen. Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, bei der DB AG auf einen Verzicht auf diese Erhöhung hinzuwirken. Natürlich möchte niemand Preiserhöhungen. Kein Mensch will mehr bezahlen - egal wofür. Doch die Frage ist hier, um welchen Preis dies möglich wäre. Denn durch diesen Antrag wird deutlich, welches Verständnis die Linksfraktion von einer Bahn in Deutschland hat: Die Linke wünscht sich eine Staatsbahn, in der die Politik die Entscheidungen diktiert - bis hin zur Festlegung der Fahrpreise. Doch es war immer das Ziel aller Fraktionen im Deutschen Bundestag, die Bahn aus dem politischen Geschacher herauszuholen. Daher hat der Bundestag vor sehr langer Zeit beschlossen, aus der Bahn eine Aktiengesellschaft zu machen. Auch die linke Seite des Plenums hat diese Politik nicht nur getragen, sondern ist gerade in der Zeit sozialdemokratischer Verkehrsminister dabei sogar über das Ziel hinausgeschossen: Die extreme Fokussierung auf einen Börsengang hat die Bahn viel Reputation gekostet. Dennoch: Wenn Politik ständig bei der Bahn "hineinfummeln" würde, wäre der Schaden größer als der Nutzen. Auch die öffentliche Anhörung zur Bahnstruktur, welche wir im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am 19. Oktober 2011 durchgeführt haben, hat deutlich belegt: Die Bahnreform von 1994 war die absolut richtige Entscheidung. Das war auch unter den Sachverständigen unstreitig. Mit Recht genießt die deutsche Bahnreform international ein hohes Ansehen. Ihr primäres Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, hat sie erreicht, und zudem hat sie auch noch für eine Entlastung des Bundeshaushaltes gesorgt. So stieg etwa die Verkehrsleistung auf der Schiene im Personenverkehr im Zeitraum zwischen 1994 und 2010 von gut 65 Milliarden Personenkilometern auf 83 Milliarden Personenkilometer. Auf der anderen Seite ist im gleichen Zeitraum die nominelle jährliche Belastung des Bundeshaushaltes von 20 Milliarden Euro auf etwa 17 Milliarden Euro gesunken. Im Vergleich dazu stieg in Großbritannien der betreffende Wert im gleichen Zeitraum um 99 Prozent und in Frankreich um 18 Prozent. Auch der Wettbewerb funktioniert auf dem deutschen Schienenmarkt immer besser. Die Bundesnetzagentur überwacht als unabhängige und mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattete Regulierungsbehörde die Markteintrittsbedingungen. Zudem hat die DB AG seit der Bahnreform in der Zeit von 1994 bis 2010 im Durchschnitt jährlich knapp 1 Milliarde Euro an Eigenmitteln in die Infrastruktur investiert. Unabhängig davon ist Ihr Antrag nicht seriös. Sie benennen als Referenzjahr das Jahr 2003, ohne jedoch zu erwähnen, dass es im Dezember 2002 im Rahmen der Einführung des neuen Preissystems eine Absenkung der Fahrpreise um rund 12 Prozent gegeben hatte. Richtigerweise sollte also der Betrachtungszeitraum auf das Ausgangsjahr 2001 erweitert werden. Dabei wird deutlich, dass die Bruttopreise im Durchschnitt nur um insgesamt 16 Prozent gestiegen sind. Diese Entwicklung liegt im Rahmen der Inflation. Sie sind mit Ihrem Antrag also haarscharf an der Wahrheit vorbeigeschossen, bestimmt nur unabsichtlich und aus Versehen. In der Sache bietet sich auch ein Vergleich zu den Verkehrsverbünden an: Dort sind die Preise zwischen 2002 und 2011 um 37 Prozent angestiegen, während die Preise bei der DB Regio im gleichen Zeitraum um etwa 30 Prozent und bei der DB Fernverkehr um rund 15 Prozent gestiegen sind. Ein weiterer Punkt: Sie nehmen in Ihrem Antrag lediglich Bezug auf die Steigerungen der Normalpreise. Damit lassen Sie außer Betracht, dass bereits seit mehreren Jahren ein breites Angebot stark rabattierter Fahrkarten besteht. Viele der Bahnkunden nutzen diese Sparpreise, die auch ohne Vorliegen einer Bahncard verfügbar sind. Bei aller auch berechtigten Kritik an der Bahn: Am Ende schreiben auch Sie in Ihrem Antrag, dass die Nutzerakzeptanz immer weiter gestiegen ist und die Personenkilometer von Jahr zu Jahr anwachsen. Ich bin gespannt, wie sich die Preiserhöhungen darauf auswirken werden. Denn die Bahn steht sehr wohl im Wettbewerb: nicht nur zu privaten Konkurrenten, gerade im Regionalverkehr, sondern auch zum Flugzeug und zum Auto. Gerade beim Auto gibt es auch immer mehr neuartige Angebote: Man nehme nur die vielen Internetangebote, durch die eine Nutzung von Fahrgemeinschaften sehr viel attraktiver wird. Nicht zuletzt würde aber insbesondere die Freigabe von Buslinienverkehren für viel mehr Wettbewerb im Fernverkehr sorgen und vor allem für sozial schwächere Menschen ein deutliches Plus an Mobilität bringen. Doch das blockiert die linke Hälfte dieses Hauses gerade im Bundesrat. Ich finde das absurd. Ich frage mich, wie Sie Ihren Wählern eigentlich erklären wollen, warum gerade Sie preiswerte Fernverkehrsangebote verhindern. Wohlhabende Menschen haben auch heute schon eine hohe Mobilität. Aber gerade für sozial schwächere bedeuten die preiswerten Buslinienverkehre ein echtes Plus an Mobilität. Und dieser intermodale Wettbewerb würde auch Druck auf die Preisgestaltung der Deutschen Bahn AG ausüben. Auch das ist unser Modell. Eine kluge Lösung, bei der durch den Staat der richtige Rahmen gesetzt wird. Staatsintervention ist hingegen nicht einmal eine schlechtere Alternative - es ist gar keine. Martin Burkert (SPD): Der 11. Dezember wird ein schwarzer Tag für die Verkehrswende in Deutschland. Denn da erhöht die Deutsche Bahn AG die Preise für Fahrkarten im Nah- und Fernverkehr, für Platzreservierungen über das Internet sowie für die BahnCards. Sparpreise werden gestrichen, Bedienzuschläge werden mehr und der Mitfahrerrabatt wird begrenzt. Für die Bürgerinnen und Bürger ist das - verständlicherweise - schwer nachzuvollziehen. Ich nenne nur drei Beispiele: Da hören sie - erstens -, dass die Deutsche Bahn AG in diesem Jahr einen Rekordgewinn von mehr als zwei Milliarden Euro einfahren wird. Warum werden also die Fahrpreise erhöht, wenn das Unternehmen so viel Gewinn macht? Da haben sie - zweitens - das Chaos im Winter, die kaputten Klimaanlagen im Sommer oder die Verspätungen und Zugausfälle vor Augen und fragen sich: Warum werden die Fahrpreise erhöht, wenn die Qualität nicht gestiegen ist? Und da fragen sich die Bürgerinnen und Bürger - drittens -, wie sie ausgerechnet eine Preiserhöhung dazu motivieren soll, sich nicht für das Auto oder das Flugzeug zu entscheiden, sondern auf die Bahn umzusteigen. Bahnfahren muss billiger werden in Deutschland, denn die Menschen brauchen Alternativen im Verkehrsbereich. Eine Alternative zum Auto ist das Bahnfahren. Für eine verkehrspolitische Wende muss vonseiten der Bundesregierung aber wirksam eingegriffen werden: Ich fordere die Bundesregierung auf, einen Bahngipfel zur Umsetzung von billigeren Fahrkarten einzuberufen. Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen für günstigeren und zuverlässigeren Schienenverkehr umzusetzen. Als Eigentümerin der Deutschen Bahn AG ist die Bundesregierung an erster Stelle gefordert. Wir müssen der Bahn wieder einen Vorrang bei den Verkehrsträgern einräumen - und zwar in vielen Bereichen. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei nennen: Wir müssen endlich mehr in die Infrastruktur investieren. Ich wünsche mir für eine Verkehrswende ein klares Bekenntnis zur Bahn und die Zusage des Bundes, deutlich in die Infrastruktur zu investieren. Die 100 Millionen Euro zusätzlich für die Schiene sind zu wenig; das ist mehr als offensichtlich. Unter Schwarz-Gelb ist der Grundsatz "Schiene vor Straße" verloren gegangen. Wir müssen ihn wieder aufnehmen und es ermöglichen, dass die Schiene maximal ausgelastet wird. Wir müssen die Bahn von Steuern entlasten. Da gibt es zwei Ansatzpunkte: Erstens: In keinem Land der Welt außer in Deutschland zahlt die Bahn den vollen Mehrwertsteuersatz. Deshalb sind in einem ersten Schritt die Bahnen von der Mehrwertsteuer zu befreien. Zweitens: In keinem Land der Welt schlägt die Mineralölsteuer derart zu Buche wie bei uns. Da gibt es also auch noch großen Spielraum - und damit auch bei den Fahrpreisen, die deutlich günstiger werden könnten. Die Bundesregierung spricht immer viel über Steuererleichterungen. Im Bahnverkehr wären sie sinnvoll, sowohl im Personen- als auch im Schienengüterverkehr. Die Krux ist natürlich: Die Steuervergünstigungen müssen auch beim Fahrgast ankommen. Da sind sowohl die Bundesregierung als auch die Bahnen in der Pflicht. Von der Politik müssen Impulse für umweltschonende und vernetzte Verkehrssysteme der Zukunft ausgehen. Ideen und Konzepte sind vorhanden. Jetzt gilt es, diese umzusetzen. Ziel muss es sein, den Personenverkehr attraktiver zu gestalten. Bahnfahren muss billiger werden, damit die Verkehrswende in Deutschland gelingt. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, einen Bahngipfel einzuberufen und die Bahnen von der Mehrwertsteuer zu befreien. Von einem Bahngipfel erwarte ich mir die Wende in der Mobilität in Deutschland. Patrick Döring (FDP): Aus dem Antrag der Linken spricht einmal mehr der Geist der Vergangenheit. Wie in alten Tagen soll der Bund als Eigentümer die Preise des Unternehmens dekretieren. Das ist schlicht falsch. Man mag zur Preisentwicklung bei der Bahn - die übrigens unterhalb der Teuerung im Individualverkehr liegt - stehen, wie man will: Die Deutsche Bahn AG ist ein aktienrechtlich organisiertes Unternehmen, sein Vorstand ist dem Interesse des Konzerns verpflichtet und trifft eigenständige Entscheidungen aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Und das ist auch gut so! Wohin es führt, wenn die Politik die Preise und das Angebot der Bahn diktiert, das haben wir in der jüngsten deutschen Vergangenheit gleich zweimal erlebt. Einen ausführlichen Rekurs über die Missstände der Deutschen Reichsbahn will ich Ihnen an dieser Stelle gerne ersparen. Vielleicht erinnern Sie sich ja einmal bei Gelegenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen bei den Linken, wie es damals so aussah mit ostdeutschen Zügen und dem Verkehrsangebot. Aber auch im Westen hatten wir, wenn auch auf insgesamt besserem Niveau, unsere Bahnkatastrophe. Der gesamte Umsatz des Unternehmens reichte nicht einmal aus, um die Personalkosten zu decken. Der Anteil am Güterverkehr war auf unter 20 Prozent gesunken, die Gesamtverschuldung auf 34 Milliarden Euro angestiegen. Nach damaligen Prognosen hätte sich diese Schuldenlast bis 2003 auf unglaubliche 195 Milliarden Euro erhöht. Ein geradezu griechisches Niveau! Allein 1993 betrug der Unternehmensverlust der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn 4,8 bzw. 3,1 Milliarden Euro. Von dem vollkommen mangelhaften Angebot und Service für die Kunden ganz zu schweigen. Die Bahnreform von 1993/94 hat daraus die Konsequenzen gezogen und die Deutsche Bahn dem politischen Einfluss entzogen. Wenn man sich die Ergebnislage und, bei allen Defiziten, auch die Qualität des heutigen Angebots anschaut, stellt man fest: Diese Entscheidung war richtig und hat dem Unternehmen wie den Kunden genutzt. Die Forderung der Linken, die Sie hier und heute aufmachen, wäre ein großer Schritt zurück hinter diesen vielleicht größten Reformerfolg der deutschen Verkehrspolitik in den letzten dreißig, vierzig Jahren. Sie wollen aus der Deutschen Bahn wieder den alten Staatskonzern, eine Behördenbahn machen. Das kann nur schiefgehen. Erlauben Sie mir, Walter Eucken, einen der Väter unserer sozialen Marktwirtschaft, zu zitieren: Die Verstaatlichung von Monopolen löst das Monopolproblem nicht. Staatliche Monopole - zum Beispiel der Eisenbahn oder Elektrizitätswerke - treiben regelmäßig ebenso monopolistische Politik wie private Monopole. [...] Vielfach ist sogar die Neigung, die Monopolposition vollständig auszunutzen, bei staatlichen Monopolverwaltungen größer als bei privaten. Die staatliche Monopolverwaltung fühlt sich nämlich zu diesem Verhalten berechtigt, weil die Einnahmen dem Staat oder der Stadt zufließen, also eine indirekte Steuer darstellen und nicht zu privaten Zwecken verwendet werden. Im Übrigen fühlt sich der Staat viel sicherer vor einer möglichen Konkurrenz; er kann zum Beispiel aufkommende Substitutionskonkurrenz mit Mitteln der Gesetzgebung beschränken. Wenn Sie wirklich für besseren Service und niedrigere Preise sind, dann sollten Sie sich nicht an Marx und Lenin, sondern an Walter Eucken und Ludwig Erhardt orientieren - das heißt, Monopole auflösen und einen freien, fairen Wettbewerb ermöglichen. Das Problem im Bahnverkehr ist ja gerade nach wie vor nicht, dass es dort zu wenig Staat gäbe, sondern dass er zu oft an den falschen Stellen tätig wird. Der Staat soll in der sozialen Marktwirtschaft nicht die Preise diktieren, sondern einen fairen und offenen Wettbewerb um das beste Angebot gewährleisten. Bei diesem Ziel sind wir, vor allem auch im Personenverkehr, immer noch nicht weit genug gekommen. Die FDP-Fraktion hat ihre Haltung in dieser Frage in der Vergangenheit mehrfach und deutlich dokumentiert. Unser Nahziel ist eine strengere Trennung zwischen der Infrastrukturgesellschaft DB Netz AG und den Betriebsgesellschaften. Dazu gehört bekanntermaßen auch die Kappung der Gewinnabführungsverträge. Dazu haben wir das Nötige im Koalitionsvertrag gesagt. Als Fernziel muss man auch die Privatisierung zumindest einzelner Sparten im Blick behalten, auch wenn dies derzeit sowohl aufgrund des Zustands der verschiedenen Unternehmensteile als auch aufgrund der Bedingungen an den Finanzmärkten nicht auf der Tagesordnung steht. Der jetzige Zustand ist und bleibt ordnungspolitisch nicht zufriedenstellend. Dieses Problem zu lösen, dazu sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, einen Beitrag leisten - und nicht die Schlachten von vorgestern noch einmal schlagen. Sabine Leidig (DIE LINKE): Bahnfahren wird schon wieder teurer - wie jedes Jahr. Für uns Bundestagsabgeordnete kein Problem, weil wir mit der kostenlosen Netzkarte reisen - und zwar erste Klasse. Aber die allermeisten Leute, die umweltbewusst die Bahn nutzen oder die darauf angewiesen sind, werden übermäßig zur Kasse gebeten. Und das dürfen wir nicht zulassen. Konkret steigen die Preise zum Fahrplanwechsel in diesen Tagen um 3,9 Prozent im Fernverkehr und um 2,7 Prozent im Nahverkehr. Wir haben mal alle Preiserhöhungen der letzten Jahre zusammengestellt. Eine Grafik dazu finden Sie in unserem Antrag. Das Ergebnis ist ein Ohrfeige für alle, die mehr Reisende von der Straße auf die Schiene bringen wollen: Seit 2003 sind die Preise fürs Bahnfahren um über 31 Prozent gestiegen - das ist doppelt so viel wie die Inflationsrate in diesem Zeitraum; die lag bei 15,4 Prozent. Ungefähr so hoch war auch die Teuerungsrate für Autofahrer. Das heißt, dass diejenigen draufzahlen, die sich vernünftig verhalten. Das ist doch gesellschaftpolitische Dummheit. Doch damit nicht genug. Neben den offiziellen wirken sich die versteckten Preiserhöhungen noch schlimmer aus. Zum Beispiel fallen mit dem diesjährigen Fahrplanwechsel die Sparpreise 25 und 50 weg, und Reservierungen im Internet werden 60 Prozent teurer. Der Preis für die Bahncard 50 wird um 4,3 Prozent angehoben. Damit ist der Preis dieser Karte für Vielfahrerinnen seit 2003 um fast 74 Prozent gestiegen. Also die Bahn verschreckt mit dieser Preispolitik vor allem ihre besten Kunden. Dazu kommt das Problem, dass das Preissystem der Bahn über die Jahre immer unübersichtlicher gemacht worden ist. Inzwischen ist es selbst für eingefleischte Bahnfans schwierig, herauszufinden, wie man am günstigsten fahren kann. Nach Untersuchungen von Stiftung Warentest schafft das oft nicht einmal das Servicepersonal in den Reisezentren. Bahnfahren wird also immer mehr zum teuren Glücksspiel, und das schreckt die Menschen ab. Nun könnte man ja sagen: Wenn die Bahn immer besser würde, wäre es angemessen, mehr Geld zu verlangen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Preise steigen, aber der Bahnservice wird schlechter. Die Zahl der Züge nimmt ab, und jetzt sollen diese auch noch seltener gereinigt werden, um Kosten einzusparen. Noch schlimmer: Immer mehr Zugverbindungen im Fernverkehr werden komplett aus dem Fahrplan gestrichen. Wir haben bei widrigem Wetter im Winter chaotische Zustände erlebt und sogar im Sommer. Aber selbst wenn alles normal läuft, sind nur noch zwei Drittel der Fernzüge pünktlich. Das haben Stiftung Warentest und VCD nachgewiesen. Oft verpasst man dann den Anschlusszug, und wegen 10 Minuten Verspätung kommt man erst ein oder zwei Stunden später am Ziel an. Also leider keine bessere Bahn, sondern das Gegenteil. Das muss sich aber ändern. Weil die Bahn zu 100 Prozent dem Bund gehört, hat auch der Bundestag da eine Verantwortung. Wir brauchen keine Deutsche Bahn AG die 2011 einen Rekordgewinn von über 2 Milliarden Euro anpeilt, wenn das zulasten der Qualität und zulasten der Bahnreisenden geht. Wir wollen keine Bahn, die sich auf Geschäftsreisende und Besserverdienende konzentriert. Was wir brauchen, ist eine Bahn für alle mit attraktiven Angeboten für die breite Bevölkerung, um allen Menschen ein ökologisches Reisen zu ermöglichen. Der Verkehrsminister sollte sich Rat holen bei der Schweizer Bahn: Dort redet niemand von maximalen Gewinnen. Dort hat das öffentliche Eisenbahnunternehmen klare Vorgaben, welche Angebote nach welchen Qualitätskriterien gewährleistet werden müssen. Und das ist auch richtig so. Sorgen Sie dafür, dass Bahnfahren gut und günstig wird! Mit einem einheitlichen und nachvollziehbaren Preissystem, das deutschlandweit für den gesamten öffentlichen Verkehr gilt, wie es die Schweiz mit dem "direkten Verkehr" macht. Mit Preisen, die auch für Menschen mit geringerem Einkommen erschwinglich sind, und mit attraktiven Dauerkarten, um viel mehr Stammkundinnen und Stammkunden für die Bahn zu gewinnen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Bahnpreisspirale zu stoppen. Sorgen Sie dafür, dass die jüngste Fahrpreiserhöhung zurückgenommen wird - so lange, bis die Leistung stimmt! Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Antrag der Linken zu Bahnpreisen greift ein Problem auf, das viele Menschen täglich trifft. Bahnfahren ist in den letzten Jahren immer teurer geworden. Treueste Bahn-Fans wurden verprellt und steigen um: in Billigflieger. Vor allem aber spielen auch Pkw eine immer größere Rolle. Die Nutzung von Mitfahrgelegenheiten ist zu einem Massenphänomen geworden. Der einzige Grund, warum sich Menschen für Fahrten quer durch Deutschland zu dritt auf die Rückbank eines Kleinwagens quetschen, liegt in den hohen Preisen der Bahn. Viele von ihnen würden viel lieber Bahn fahren, aber bei oft dreimal höheren Kosten ist der Anreiz einfach nicht gegeben. Die Analyse der Fahrtkosten in dem Antrag ist grundsätzlich richtig. Sie haben hier das Offensichtliche und jedem Bekannte noch einmal fein säuberlich aufgelistet. Leider fehlt diese Sorgfalt für Ihren Politikansatz, wie Sie dieses Problem lösen wollen, und es werden die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Hier wird eine einfache Lösung für ein sehr komplexes Problem vorgegaukelt. Das dürfte wahrscheinlich sehr populär sein, geht aber an den Realitäten vorbei. Auch ich habe natürlich nichts gegen niedrige Bahnpreise. Die Deutsche Bahn ist jedoch ein selbstständiges Unternehmen, über das der Bund als Eigentümer nur in strategischen Grundsatzentscheidungen im Aufsichtsrat Einfluss nehmen kann. Ein Eingriff in die Preisgestaltung ab Dezember gehört hier sicher nicht dazu. Wenn Sie in die Preise der Bahn eingreifen wollen, dann müssen Sie die gesamte rechtliche Form des Unternehmens ändern. Wollen Sie etwa wieder zurück zur Behördenbahn? Mit einem Antrag zu den Preisen erreichen Sie hier gar nichts, und es ist falsch, den Menschen in unserem Land etwas anderes vorzugaukeln. Auch bleiben Sie völlig unkonkret, was Sie unter einer Reform des Preissystems verstehen und wie das umgesetzt werden könnte. Über den Aufsichtsrat werden Sie nur begrenzt Einfluss nehmen können. Schließlich müssten Sie auch konkretisieren, was Sie mit der "Förderung und dem Ausbau der Mobilitätskarten BC50 und BC100" meinen. Hierzu finden sich in Ihrer Begründung wieder ausführliche Analysen, aber leider ist nicht zu erfahren, ob Sie hier eine Förderung aus dem Bundeshaushalt meinen, was das eventuell kosten würde und womit Sie das finanzieren wollen. Dazu erwarte ich konkrete Vorschläge, und ich hoffe, dass Sie die in den Ausschussberatungen noch nachliefern können. Wenn Sie wirklich und grundlegend etwas an den Preisen der Bahn ändern wollen, ist ein ganz anderer Ansatz notwendig: Wir brauchen schlicht und einfach Wettbewerb. Ich spreche hier bewusst nicht von mehr Wettbewerb - denn es gibt quasi gar keine Konkurrenz zur Bahn im Personenfernverkehr. Jeder weiß, dass Wettbewerb zu sinkenden Preisen führt - ich erinnere nur an den Telekommunikationsmarkt - und dass Monopole genau das Gegenteil bewirken. Wer keine Konkurrenz hat, hat keinerlei Anlass, seine Preisgestaltung zu ändern. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie wir zu Wettbewerb im Personenfernverkehr kommen können: Wir müssten konsequent regulieren und Anreize zur Kostenminimierung schaffen - also endlich eine Anreizregulierung schaffen - sowie schließlich auch darüber reden, wie wir das Schienennetz allen Anbietern zu gleichen Bedingungen zur Verfügung stellen können. Nur damit könnten sich auch Wettbewerber im Fernverkehr etablieren. Als Eigentümerin des Schienennetzes hat die Deutsche Bahn entscheidenden Einfluss, wer zu welchen Bedingungen die Strecken nutzt. Hier werden Wettbewerber konsequent benachteiligt. Wir kennen die Problematik aus der Versorgung mit Bahnstrom, wo die Konkurrenz der DB etwa viel höhere Energiepreise zu zahlen hat. Und jetzt wird auch noch angekündigt, die Trassennutzung als Miete zu deklarieren und zu besteuern - natürlich nur für die Wettbewerber der Deutschen Bahn und ausdrücklich weder für die DB selbst oder gar für den Lkw-Verkehr oder den Fernbusverkehr. Wettbewerb wird damit konsequent verhindert. Wer wirklich etwas ändern und für niedrigere Preise sorgen will, muss also hier ansetzen. Leider geht die Politik der Linken in eine andere Richtung. Sie wollen das Monopol der Bahn erhalten und mit einer Rückverstaatlichung zementieren. Selbst eine Öffnung des Fernbusmarktes lehnen Sie ab, obwohl damit wenigstens etwas Bewegung in den Personenfernverkehr kommen würde. Es immer wieder erstaunlich, dass Sie auf Fragen der Zukunft mit den Ideen von gestern antworten. Jahrzehntelang hatten wir in Ost wie West die Behördenbahn, und jeder weiß, wie unsere Züge und Bahnhöfe früher aussahen. Damals hatte der Staat ein vollständiges Durchgriffsrecht - aber leider hat das auch damals nicht zur stets kundenfreundlichen oder pünktlichen Bahn geführt. Ich kann deswegen nicht nachvollziehen, wie Sie mit einer solchen Konstruktion wieder zu einem besseren Bahnangebot kommen wollen. Selbstverständlich bin auch ich mit vielem bei der Bahn nicht einverstanden, und ganz sicher sind die hohen Preise ein Grund zur Kritik. Wir müssen hierauf aber neue Antworten finden und dürfen nicht mit den Rezepten von vorgestern kommen. Mir ist klar, dass das ein steiniger und langer Weg ist. Die Deutsche Bahn wird ihr Monopol verteidigen. Jeder würde das tun. Als Politiker haben wir aber die Aufgabe, nicht die Interessen eines Unternehmens zu bedienen, sondern wir müssen die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Insofern fordere ich die Kolleginnen und Kollegen der Linken auf, konstruktiv an den Ursachen der hohen Bahnpreise zu arbeiten und für mehr Wettbewerb auf der Schiene zu sorgen, statt Augenwischerei zu betreiben und eine einfache Lösung dort vorzumachen, wo ein dickes Brett zu bohren ist. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7940 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht KOM(2011) 635 endg.; Ratsdok. 15429/11 hier: Stellungnahme gemäß Protokoll Nr. 2 zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit) - Drucksachen 17/7713 Nr. A.5, 17/8000 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Eva Högl Burkhard Lischka Marco Buschmann Raju Sharma Ingrid Hönlinger Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. - Sie sind damit einverstanden. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Eines möchte ich gleich zu Beginn meiner Rede betonen: Ich bin von ganzem Herzen überzeugter Europäer. Die Europäische Union ist Garant für Stabilität und Frieden, für Wachstum und Wohlstand in Europa - und das seit über 50 Jahren. Wenn der Deutsche Bundestag daher heute - zum zweiten Mal überhaupt - eine Subsidiaritätsrüge gegen den Verordnungsvorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht erhebt, hat dies rein gar nichts mit einer europakritischen oder gar europaskeptischen Haltung zu tun. Im Gegenteil: Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa nicht nur die Antwort auf die Schrecken der zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert war und ist, sondern dass Europa auch die Lösung für die in diesem Jahrhundert anstehenden Herausforderungen ist. Das gilt auch und gerade in der aktuellen Staatsschuldenkrise in Europa. Europa kann aber nur die Lösung sein, wenn die Menschen Vertrauen in die europäische Integration haben, wenn sie den Einigungsprozess akzeptieren. Das aber wiederum setzt voraus, dass Europa die in den Verträgen niedergelegten Regeln einhält. Dazu zählt die Wahl einer tragfähigen Rechtsgrundlage, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im engeren Sinne und des Prinzips der Verhältnismäßigkeit. Beim Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht bezweifeln wir, dass dies der Fall ist. Die Subsidiaritätsrüge erheben wir daher auch aus prinzipiellen Erwägungen. Lassen Sie mich kurz den Hintergrund beleuchten: Seit rund zehn Jahren wird in Europa über ein Europäisches Vertragsrecht diskutiert. Die Kommission meint, hiermit Hindernisse für den Rechtsverkehr durch die unterschiedlichen nationalen Vertragsrechte beseitigen zu können. Schließlich veröffentlichte die Kommission am im Juli 2010 das Grünbuch "Optionen für die Einführung eines europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen". Vorgeschlagen wurden insgesamt sieben Optionen. Der Deutsche Bundestag hat zu diesem Grünbuch und den vorgeschlagenen Optionen ausführlich Stellung genommen. Bereits damals haben wir fraktionsübergreifend die Einführung eines 28. Regimes abgelehnt und uns stattdessen für eine Toolbox ausgesprochen, die als bindende interinstitutionelle Vereinbarung der gesetzgebenden Institutionen der Europäischen Union für Qualität und Kohärenz der europäischen Gesetzgebung sorgen sollte. Europaweit gingen zu diesem Grünbuch über 300 Stellungnahmen ein - die große Masse der Stellungnahmen war kritisch bis ablehnend. Dennoch hat die Kommission am 11. Oktober 2011 ihren "Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht" vorgelegt. Manche Kritikpunkte hat sie aufgegriffen, die weit überwiegende Anzahl indes blieb unberücksichtigt. Bei unserer Subsidiaritätsrüge leiten uns vor allem folgende Gedanken: Wir sind der Auffassung, dass die für die Verordnung gewählte Rechtsgrundlage des Art. 114 AEUV nicht trägt. Sie steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Merkmals der "Angleichung" nationaler Rechtsordnungen. Denn nach Zweck und Inhalt der Kaufrechts-Verordnung ist eine Rechtsangleichung gerade nicht beabsichtigt. Das Gemeinsame Europäische Kaufrecht soll vielmehr auf freiwilliger Basis - also optional - Anwendung finden, wenn alle betroffenen Vertragsparteien dies ausdrücklich beschließen. Das Europäische Kaufrecht tritt dabei parallel neben die nationalen Rechtsordnungen, ohne diese anzugleichen, zu verändern oder zu ersetzen. Der EuGH hat in einer solchen Konstellation - in seinem Urteil zu den europäischen Genossenschaften - ausdrücklich geurteilt, dass solche optionalen Rechtsinstrumente nicht auf Art. 114 AEUV gestützt werden können. Auch ein systematischer Vergleich mit Art. 118 AEUV bestätigt dies. Mit dieser mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Vorschrift können europäische Rechtstitel über einen einheitlichen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums im ordentlichen europäischen Gesetzgebungsverfahren geschaffen werden. Diese Rechtstitel treten dann neben die entsprechenden Rechtstitel der Mitgliedstaaten, ohne diese anzugleichen, zu ändern oder zu ersetzen. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass nur in diesem begrenzten Bereich die Union die Kompetenz hat, legislative Maßnahmen zu erlassen, die parallel neben die mitgliedstaatlichen Regelungen treten. Das Gemeinsame Europäische Kaufrecht kann daher nicht auf Art. 114 AEV gestützt werden. Dies wurde zuletzt auch durch die Sachverständigen im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestages am 21. November 2011 bestätigt. Diese fehlende Kompetenz kann nach unserem Verständnis auch im Rahmen der Subsidiaritätsrüge geprüft und gerügt werden. Dieses weite Verständnis entspricht mittlerweile auch der weit überwiegenden Auffassung im Schrifttum. Die Frage der Kompetenz ist eine der Subsidiarität notwendig vorgelagerte Frage. Eine Klärung durch den EuGH steht freilich noch aus. Falls unsere Rüge keinen Erfolg hinsichtlich der Rechtsgrundlage haben sollte, könnte im Wege einer Klage dann auch insofern Rechtsklarheit geschaffen werden. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich mir vorstellen kann, dass die Kommission diesen - nochmals: nicht tragfähigen - Weg über Art. 114 AEUV deshalb gewählt hat, um Mehrheitsentscheidungen bei der Einführung und der späteren Änderung des Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts zu ermöglichen. Bei der als Alternative in Betracht kommenden Rechtsgrundlage des Art. 352 AEUV wäre nämlich jeweils ein einstimmiges Votum erforderlich. Durch dieses Prinzip der Einstimmigkeit im Rat wäre das Vorhaben der Justizkommissarin Reding zur Einführung eines EU-Kaufrechtes aber mit aller Wahrscheinlichkeit gescheitert. Denn sehr viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben wie wir erhebliche Bedenken, dass ein einheitliches EU-Kaufrechts erforderlich ist. Zu nennen sind hier neben Deutschland Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien und die Tschechische Republik. Die Wahl der Rechtsgrundlage scheint mir also durchaus eine nicht nur rechtliche, sondern auch politische Dimension gehabt zu haben. Auch in der Sache glaube ich nicht, dass ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht den grenzüberschreitenden Handel entscheidend fördern wird. Das zeigen uns nicht nur die Erfahrungen mit dem UN-Kaufrecht. In seltener Allianz der Verbraucher- und der Wirtschaftsverbände wurde in der durchgeführten Anhörung des Rechtsausschusses vielmehr bestätigt, dass entscheidende Barriere nicht so sehr die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Rechtsordnungen ist, sondern die Sprache und die schiere räumliche Entfernung und die daraus resultierenden logistischen Probleme. Das ist ein Signal, das auch die Kommission nicht ignorieren sollte: Diejenigen, denen das Gemeinsame Europäische Kaufrecht dienen soll, lehnen es ab. Einen Beleg, dass die unterschiedlichen Vertragsrechte der Mitgliedstaaten tatsächlich die entscheidenden Handelshemmnisse bei der Wirtschaftstätigkeit im europäischen Rechtsraum darstellen, bleibt die Kommission damit schuldig. Tatsächlich ist es vielmehr so, dass viele Verbraucher in Deutschland - anders als die Kommission behauptet - längst grenzüberschreitend einkaufen. Bestes Beispiel ist Amazon - dieses Unternehmen mit Sitz in Luxemburg hat allein 24,7 Millionen deutsche Kunden. Damit kaufen mindestens 30 Prozent aller Deutschen - auch ohne EU-Kaufrecht - grenzüberschreitend im Internet ein. Es fehlt also im Ergebnis an einem Bedarf für ein gemeinsames EU-Kaufrecht und damit an der Erforderlichkeit der Maßnahme im Sinne des Art. 5 EUV, wenn die Vielfältigkeit der Vertragsrechtsordnungen in Europa wie dargestellt nur von untergeordneter Bedeutung für den grenzüberschreitenden Handelsverkehr ist. Darüber hinaus - und hier blicke ich auf die konkreten Normen des Verordnungsvorschlages - zweifeln wir, dass die Kommission ihr eigentliches Ziel, die Angleichung der Zivilrechtsordnungen bzw. der für den Vertragsschluss relevanten Normen, mit diesem Verordnungsvorschlag überhaupt erreichen kann. Wie soll ein einheitliches EU-Kaufrecht entstehen, wenn wesentliche Fragen im Zusammenhang mit dem Zustandekommen eines wirksamen Vertrages nicht im gemeinsamen EU-Kaufrecht geregelt sind, sondern weiterhin dem innerstaatlichen Recht unterliegen? Soll sich der deutsche Verbraucher vor der Wahl des EU-Kaufrechts darüber informieren, welche Reichweite beispielsweise die Ungültigkeit des Vertrages wegen Geschäftsunfähigkeit, die Stellvertretung, die Rechts- und Sittenwidrigkeit des Vertrages, die Abtretung, die Aufrechnung, die Gläubiger- und Schuldnermehrheit und der Parteiwechsel in den 27 Mitgliedstaaten haben? Gerade wegen dieser Zersplitterung wesentlicher Teile der nationalen Rechtsordnungen werden die Parteien entgegen den Erwägungen der Kommission nicht die Möglichkeit haben, ihren Vertrag auf der Grundlage eines einzigen, einheitlichen Vertragsrechts zu schließen. Daher wird die Rechtsunsicherheit und -unklarheit durch die unterschiedlichen Vertragsrechtsordnungen im Binnenmarkt für die Vertragspartner durch EU-Kaufrecht gerade nicht beseitigt, sondern eher noch vergrößert. Das aber ist kontraproduktiv für den grenzüberschreitenden Handel. Ein letzter Kritikpunkt: Der Verordnungsvorschlag wird zu einer hohen Rechtsunsicherheit für die Unternehmen führen. Ihre Beratungskosten und damit Transaktionskosten werden daher steigen. Es werden eher Nachteile als Vorteile durch den Entwurf entstehen. Der Verordnungsentwurf enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe. Das Vertragsrecht ist aber - in Deutschland wie auch in vielen anderen Mitgliedstaaten - wesentlich durch Richterrecht geprägt und wurde in weiten Teilen erst durch Gerichte herausgebildet. In der Europäischen Union gibt es aber keine einheitliche Zivilgerichtsbarkeit, die diese Prägung und Fortbildung vornehmen könnte. Vielmehr würden die unbestimmten Rechtsbegriffe in den 27 Mitgliedstaaten durch die dortigen nationalen Gerichte zunächst nach den dort herrschenden Prinzipien und der dort herrschenden Methodik ausgelegt und angewandt. Hierbei gibt es in Europa aber erhebliche Unterschiede - das zeigt allein der Vergleich zum Case-Law-System in Großbritannien. Dies unterscheidet sich wesentlich vom Ansatz kodifizierter Rechtsordnungen, wie er etwa in Deutschland oder Frankreich besteht. Folge ist, dass - sicherlich als Extremfall - ein Begriff des Verordnungsvorschlages in 27 Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgelegt würde. Klärung könnte nur der Europäische Gerichtshof herbeiführen. Dieser ist von seiner Funktion, Struktur und Ausstattung dazu allerdings gar nicht in der Lage. Überdies würde ein solcher Prozess - wie wiederum der Vergleich der Entwicklungen der nationalen Rechtsordnungen zeigt - lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen. In dieser Zeit bis zur abschließenden Klärung würde nicht mehr, sondern weniger Rechtssicherheit bestehen. In dieser Übergangszeit würde der grenzüberschreitende Handel gerade nicht gefördert. Er würde vielmehr wegen dieser Rechtsunsicherheit und der damit einhergehenden höheren Transaktionskosten gehemmt. Das sehen auch die Unternehmensvertreter so - ihnen würden Steine statt Brot gegeben. Das wollen wir nicht. Lassen Sie mich abschließend festhalten: Der Deutsche Bundestag stellt sich nicht gegen die Intention der Kommission, die Qualität und Kohärenz des europäischen Rechts, namentlich des Kaufrechts, zu verbessern. Wir glauben aber, dass hier ein falscher - und wenn man sich das Verfahren genau anschaut: in Teilen auch übereilter - Weg gewählt wurde: Es fehlt an einer Kompetenzgrundlage, und auch ein Bedarf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht ist bislang nicht hinreichend belegt. Mit unseren Bedenken stehen wir nicht allein: Auch Großbritannien hat Subsidiaritätsrüge erhoben. Aus Österreich und Frankreich erhalten wir ähnliche Signale. Die heute zum Beschluss vorliegende Subsidiaritätsrüge wird von allen Fraktionen mitgetragen - das war uns wichtig, weil wir ein starkes Signal nach Brüssel senden wollten. Es ist die zweite Subsidiaritätsrüge, die der Deutsche Bundestag überhaupt erhebt. Das zeigt, dass der Bundestag seine Mitwirkungsrechte nach dem Lissabonner Vertrag ernst nimmt. Wir kommen damit auch unserer Integrationsverantwortung nach, die das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat. Ich bitte Sie daher um Zustimmung. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Die Vorschläge der Europäischen Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht haben wir im Rechtsausschuss außergewöhnlich intensiv erörtert. Bereits im vergangenen Jahr haben wir bei einer Delegationsreise nach Brüssel das Gespräch unter anderem mit Justizkommissarin Reding gesucht. Schon damals wurde sehr deutlich, dass uns die Beweggründe der Kommission - die Stärkung des Verbraucherschutzes innerhalb der Europäischen Union unter gleichzeitiger Verminderung von Transaktionskosten im grenzüberschreitenden Verkehr - nicht überzeugen konnten. Unsere Bedenken haben wir im Januar 2011 in Form einer überfraktionellen Stellungnahme des Deutschen Bundestages zum Grünbuch der Kommission zur Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen im Einzelnen dargelegt. Der nunmehr vorliegende Verordnungsentwurf, der sich auf das Kaufrecht als den praktisch bedeutsamsten Teil des Vertragsrechts konzentriert, kann diese Bedenken nicht ausräumen. Es ist daher nur konsequent, dass wir heute die Subsidiaritätsrüge erheben. Es ist übrigens - nach Beschlüssen zu Erbsachen und Europäischem Nachlasszeugnis sowie zu Einlagensicherungssystemen - die dritte Subsidiaritätsrüge des Deutschen Bundestages seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der uns dieses Instrument zur Verfügung stellt. Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir uns fraktions-übergreifend einig geworden sind, bei einer solchen begründeten Stellungnahme im Sinne des Subsidiaritätsprotokolls zum Lissabon-Vertrag einen weiten Prüfungsmaßstab anzulegen, der sich nicht allein auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beschränkt. Vielmehr müssen die nationalen Parlamente ebenso die Wahl der Rechtsgrundlage und die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit prüfen. Insbesondere ist das Bestehen einer Rechtsetzungskompetenz der EU eine notwendige Vorfrage für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Der Verordnungsentwurf der Kommission stützt sich auf Art. 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der die Rechtsangleichung im Binnenmarkt ermöglicht. Die Verordnung zur Einführung eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts sieht allerdings gerade keine Angleichung bestehender Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten vor, sondern die Einführung eines 28. Regimes neben den 27 nationalen Zivilrechtsordnungen. Es geht also um eine neue, eigenständige europäische Rechtsordnung, die als optionales Instrument von den Vertragsparteien gewählt werden kann. Wenn aber die Maßnahme des Unionsgesetzgebers nicht auf die nationalen Rechtsordnungen einwirkt, wird auch keine Angleichung erzielt. Bestätigt wird diese Auslegung des Art. 114 AEUV im systematischen Zusammenhang mit Art. 118 AEUV. Danach hat die Europäische Union explizit die Kompetenz, parallel neben mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen europäische Regelungen im Bereich des geistigen Eigentums zu erlassen. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass von Art. 118 AEUV nicht benannte Rechtsbereiche - wie ein Europäisches Kaufrecht - nicht über den Umweg des Art. 114 AEUV geregelt werden dürfen. Auch die bisherige Gesetzgebungspraxis in der Europäischen Union führt zu diesem Schluss. Bemerkenswert ist zudem, dass in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses vom 21. November 2011 acht von neun eingeladenen Sachverständigen unsere Bedenken zur Nichtanwendbarkeit von Art. 114 AEUV bestätigt haben. Wir dürfen in der Europäischen Union nicht länger zulassen, dass Vorhaben auf den Weg gebracht werden, weil sie politisch opportun erscheinen, und dann eine Rechtsnorm "passend gemacht wird", auf deren Grundlage das Vorhaben auf dem vermeintlich einfachsten Wege realisiert werden kann. Es ist ja auffällig, dass die Kommission im vorliegenden Fall gerade nicht die naheliegende Klausel zur Kompetenzergänzung nach Art. 352 AEUV heranzieht, weil diese einstimmige Entscheidungen erfordert. Stattdessen wird Art. 114 AEUV bemüht, der - wie wir alle wissen - Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit vorsieht. Die Rechtsangleichung im Binnenmarkt darf aber nicht einfach das Einstimmigkeitserfordernis des Art. 352 AEUV aushebeln und zu einem Einfallstor für allerlei Wünschenswertes werden, für das der EU eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung fehlt. Doch auch jenseits der gewählten Rechtsgrundlage haben wir massive Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit des vorliegenden Verordnungsentwurfs mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Sowohl Verbraucherverbände als auch die Vertreter der kleinen und mittleren Unternehmen - also ausgerechnet die Kreise, für die das Europäische Kaufrecht gedacht ist - haben mehrfach - zuletzt im Rahmen unserer öffentlichen Anhörung - bekräftigt, dass sie keine Notwendigkeit für ein Europäisches Kaufrecht sehen. Bei genauerem Hinsehen offenbaren dies auch die Eurobarometer-Studien, die die EU-Kommission hierzu selbst in Auftrag gegeben hat. Die europäischen Verbraucherverbände befürchten jedenfalls mittelfristig eine Abschwächung des Verbraucherschutzniveaus. Zudem sehen sie die Gefahr gesteigerter Verbraucherverwirrung bei parallel anwendbaren nationalen und europäischen Kaufrechtssystemen. Die kleinen und mittleren Unternehmen betonen, dass schon heute im grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr keine nennenswerten Schwierigkeiten bestünden. Das UN-Kaufrecht als bereits vorhandenes optionales Vertragsinstrument habe sich bewährt. Durch die Schaffung eines zusätzlichen optionalen Instruments in Form des EU-Kaufrechts sei Rechtsunsicherheit zu befürchten. Das Zivilrecht ist mit seiner Fülle an unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln stark richterrechtlich geprägt. Dabei bedarf es vieler Jahre, bis ein Begriff wie "sittenwidrig" durch die Rechtsprechung ausgefüllt wird. Bei einem Europäischen Kaufrecht müssten unbestimmte Rechtsbegriffe und allgemeine gesetzliche Regelungen neu durch die Judikative ausgelegt werden. Es existiert aber keine einheitliche europäische Zivilgerichtsbarkeit. Der Europäische Gerichtshof ist für diese Aufgabe weder ausgelegt noch ausreichend ausgestattet, sodass eine gefestigte Rechtsprechung Jahre oder gar Jahrzehnte dauern würde. Hinzu kommt: Die Haupthemmnisse für grenzüberschreitende Geschäfte innerhalb der Europäischen Union sind Sprachbarrieren und räumliche Distanzen. Diese natürlichen Hindernisse lassen sich auch durch ein Europäisches Kaufrecht nicht überwinden. Schließlich kann die beabsichtigte Rechtsvereinfachung nicht erreicht werden, sofern wesentliche Fragen des Vertragsrechts durch das Europäische Kaufrecht nicht abgedeckt werden. So sind etwa Geschäftsfähigkeit, Stellvertretung und Abtretung von dem Verordnungsentwurf ausgenommen. In vielen Einzelfragen müsste deshalb wieder auf die nationalen Zivilrechtsordnungen zurückgegriffen werden. Unsere Bedenken werden in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten geteilt. So hat der Europaausschuss des österreichischen Bundesrats gestern eine entsprechende Stellungnahme befürwortet, die noch in dieser Woche im Bundesrat beschlossen werden soll. Das britische Unterhaus bereitet derzeit ebenfalls eine begründete Stellungnahme vor, die einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip rügt und die angesprochenen Kritikpunkte aufgreift. Weitere Mitgliedstaaten wie Frankreich, Finnland und Schweden haben ebenfalls Bedenken angemeldet. Im Rat für Justiz und Inneres am 28. Oktober erklärten darüber hinaus die Vertreter Portugals, Sloweniens, der Niederlande und der Tschechischen Republik ihre Vorbehalte. Die Intention der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments - dessen müssen wir uns bewusst sein - ist klar: Ein Europäisches Kaufrecht soll der erste Schritt zu einer gesamteuropäischen Zivilrechtsordnung sein. Doch wenn es der EU darum geht, einen Fuß in die Türe zu bekommen, dann kann erst recht kein Modell hingenommen werden, das auf einer unzureichenden Rechtsgrundlage fußt, das Rechtsunsicherheiten hervorruft und das seine Regelungsziele verfehlt. Ohnehin sind Zweifel angebracht, ob eine Vollharmonisierung erstrebenswert ist und praktikabel wäre. Für die wachsende Internationalität von Rechts- und Geschäftsbeziehungen, die über die EU und ihren Binnenmarkt weit hinausreichen, erscheint eine EU-zentrierte Perspektive doch als allzu schlicht und eng. Burkhard Lischka (SPD): Vor kurzem erhielten wir den Kommissionsvorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht: ein vermeintlich optionales System, das für grenzüberschreitende Fälle greifen soll. Ziel dieses Vorschlags soll sein, Transaktionskosten - insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen - zu senken und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten anzukurbeln. Unsere Fraktion trägt die interfraktionelle Entscheidung, eine sogenannte Subsidiaritätsrüge in Bezug auf den Kommissionsvorschlag zu erheben. Hätte sich der Bundestag anders entschieden, hätte man der Kommission freie Fahrt gelassen: Die vollumfassende Europäisierung des Privatrechts wäre in einem unauffälligen und schleichenden Prozess erfolgt. Es ist daher rechtlich und politisch notwendig, ein klares Zeichen zu setzen. Zu Recht gehen viele Sachverständige davon aus, dass gegen das Subsidiaritätsprinzip auch dann verstoßen wird, wenn keine Kompetenz für die Union besteht. Wie sonst soll zielführend darüber verhandelt werden, ob die Union die Materie besser regeln kann als die Mitgliedstaaten, wenn die EU doch schon nicht zum Erlass respektiver Maßnahmen autorisiert ist? Noch letztes Jahr fand zu diesem Thema eine Sachverständigenanhörung im Bundestag statt, und die Experten und Expertinnen befürworteten eine solche umfassende Auslegung des Rügeumfangs. Man muss sich insbesondere vor Augen führen, welchen Weg die Kommission eingeschlagen hat: Wider besseres Wissen - so scheint es mir, nachdem wir die Sachverständigen zu diesem Thema gehört haben - hat die Kommission als einschlägige Rechtsgrundlage die Querschnittskompetenz des Art. 114 AEUV benannt. Danach kann die Union die notwendigen Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erlassen, wenn sie die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Nur findet eben eine solche Angleichung der Rechtsvorschriften nicht statt. Wir sprechen hier über ein zusätzliches, fakultatives System. Wo liegt da eine Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften? Und ja, es gäbe eine möglicherweise einschlägige Vorschrift: Art. 352 AEUV. Danach kann der Ministerrat auf Vorschlag der Kommission die geeigneten Vorschriften erlassen, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen. Diejenigen, denen die Vorschrift bekannt ist, müssten jetzt aufhorchen; denn zwei bedeutende Verfahrensvoraussetzungen fehlen noch: Erst nach Zustimmung des Europäischen Parlaments und bei Einstimmigkeit des Ministerrats ist ein Tätigwerden nach Art. 352 AEUV möglich. Mit dem Zustimmungsrecht hat das Parlament weitreichende Einflussmöglichkeiten auf diejenigen Vorschriften erhalten, die auf der Grundlage der Flexibilitätsklausel erlassen werden sollen. Darüber hinaus darf der deutsche Vertreter im Rat nur zustimmen, nachdem der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates ihn durch ein Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes hierzu ermächtigt hat, § 8 Integrationsverantwortungsgesetz. Diese Anforderungen sehenden Auges durch die Wahl einer alternativen, aber nicht einschlägigen Kompetenzgrundlage unterlaufen zu wollen, lässt dem Deutschen Bundestag nur eine Möglichkeit: Mit einer Subsidiaritätsrüge klar zu adressieren, dass sich die deutschen Parlamentarier nicht auf den Arm nehmen lassen. Aber auch an der Verhältnismäßigkeit der durch den Vorschlag verfolgten Regelung bestehen erhebliche Zweifel. Zwar hat die Sachverständigenanhörung im Hinblick auf das "Ob" eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts keine endgültige Entscheidung gebracht. Das Ziel, den Binnenmarkt anzukurbeln und Transaktionskosten zu senken, ist zwar begrüßenswert, nur stellt sich die Frage: Kann und würde dieses Ziel mithilfe des jetzigen Kommissionsvorschlags erreicht werden? Hierzu kann ich nur auf die Experten verweisen: In einer bislang ungewohnten Übereinstimmung sprechen sich die Vertreter der Verbraucher sowie der Wirtschaft geschlossen gegen den Kommissionsvorschlag aus. Für beide Seiten entstünden durch das Gemeinsame Europäische Kaufrecht Nachteile. Die eigentlichen Handelshemmnisse seien die Sprachenvielfalt, die gerichtliche Rechtsdurchsetzung im Ausland sowie die weiterhin erforderliche Rechtsberatung. Auch ein weiteres Vertragswerk würde über diesen Zustand nicht hinweghelfen. Rechtsunsicherheit: Mit diesem Schlagwort reagieren viele auf den Kommissionsvorschlag. Was aber genau bedeutet dies eigentlich? Um es kurz zu machen: Die Verbraucher wüssten nicht, ob für sie im Einzelfall das Europäische Kaufrecht oder das Deutsche Recht sinnvoller wäre; Rechtsunsicherheit ist vorprogrammiert. Sollten sich doch beide Seiten für das Gemeinsame Europäische Kaufrecht entscheiden, jedoch Uneinigkeit über die Lieferung der belgischen Pralinen und deren Rücknahme bestehen: Welches Gericht sollte dann über diesen Rechtstreit entscheiden, wo es doch keine europäische Zivilgerichtsbarkeit gibt? Und wie soll die bislang den nationalen Gerichten obliegende Auslegung der Rechtsvorschriften erfolgen? Diese und weitere Fragen müssen geklärt werden, bevor in einem Schnelldurchlauf ein zusätzliches Vertragsrecht normiert wird. Es bedarf daher einer gewissenhaften Prüfung der Vor- und Nachteile des vorgeschlagenen Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts. Bevor die zutreffende Kompetenzgrundlage für ein Tätigwerden der EU nicht benannt ist und nicht sämtliche offensichtliche Nachteile für deutsche Verbraucher und kleine und mittlere Unternehmen ausgeräumt sind, ist es Aufgabe des Deutschen Bundestags, die Schritte der Kommission kritisch zu begleiten und dezidierte Erklärungen zu fordern. Marco Buschmann (FDP): Mitte Oktober dieses Jahres hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Verordnung über ein Europäisches Kaufrecht vorgelegt. Damit verfolgt die Kommission das Ziel, ein fakultatives europäisches Vertragsrecht neben dem nationalen Zivilrecht der Mitgliedstaaten zu etablieren. Ich stehe diesem konkreten Verordnungsvorschlag sehr skeptisch gegenüber und begrüße es sehr, dass sich hier im Hause ein interfraktioneller Konsens findet, um eine Subsidiaritätsrüge einzulegen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Zunächst hege ich große Zweifel, dass der uns vorgelegte Verordnungsentwurf auf der Rechtsgrundlage von Art. 114 AEUV erlassen werden kann, so wie die Kommission dieses beabsichtigt. Die Kompetenzgrundlage gehört nach richtiger Auffassung zum Prüfprogramm der Subsidiaritätsrüge. Mit dieser Ansicht befindet sich der Deutsche Bundestag in bester Gesellschaft. Ein Großteil des Schrifttums zu diesem Thema bejaht dies ebenfalls. Dass Art. 114 AEUV den Verordnungsvorschlag nicht trägt, folgt zunächst aus der Rechtsprechung des EuGH. Er hat bei seiner Entscheidung zur Europäischen Genossenschaft klargestellt, dass ein Gesetzgebungsakt, welcher die nationalen Rechtsvorschriften unverändert lässt, keine Angleichung der Recht- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 114 AEUV bezweckt und damit Art. 114 AEUV keine zulässige Rechtsgrundlage darstellt. Genauso verfährt aber der Verordnungsentwurf. Er lässt das bestehende Zivilrecht der Mitgliedstaaten unberührt. Zu diesem Ergebnis gelangte auch die Mehrheit der Sachverständigten in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestages am 21. November 2011. Neben der fehlenden Rechtsgrundlage sprechen auch materielle Argumente gegen den Entwurf. Die Kommission verfolgt angeblich das Ziel, Handelshemmnisse in Europa abzubauen. Dazu sollen Transaktionskosten gesenkt werden, indem rechtlicher Beratungsbedarf vermindert wird. Der Verordnungsvorschlag löst dieses Problem aber gerade nicht. Er sorgt nur noch für mehr Aufwand. Denn im Ergebnis zeugt der Entwurf 27 zusätzliche rechtliche Chimären. Der Entwurf muss nämlich wegen seiner fragmentierenden Regelungstechnik bei Stellvertretung, Geschäftsfähigkeit etc. auf das jeweilige Rechtssystem der Mitgliedstaaten zurückgreifen. Der Aufwand für Rechtsberatung wird also nicht vermindert, sondern gesteigert. Im Übrigen spricht es ja auch Bände, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages diese Skepsis teilen. Das könnte nicht zuletzt auch mit der Tatsache zu tun haben, dass die Kommission den Eindruck erweckt, als wäre sie an einem echten Austausch der Argumente nicht interessiert. Bereits Anfang des Jahres 2011 haben wir zu dem vorangegangenen "Grünbuch zur Einführung eines Europäischen Vertragsrechts" interfraktionell eine kritische Stellungnahme gegenüber der Kommission abgegeben. Damit standen wir in dem Konsultationsverfahren des Grünbuches keineswegs alleine da. Über 300 größtenteils kritische Stellungnahmen erreichten die Kommission bis zum Ende des Konsultationsverfahren am 31. Januar 2011. Auch wurde in der gesamten Bandbreite der Interessengruppen von Wirtschaft, Handwerk bis hin zu den Verbraucherschützern Kritik an dem Vorhaben der Kommission geübt. Dass die Kommission nur gut neun Monate nach Ende der Konsultation einen Vorschlag vorlegt und damit behauptet, sie hätte diese 300 Stellungnahmen gewürdigt, ausgewertet und den Entwurf daraufhin verbessert, ist schlicht nicht glaubwürdig. Daher ist diese Subsidiaritätsrüge auch ein Signal an die Kommission, mit dem wir zu einer besseren Berücksichtigung der Anregungen aus Praxis, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und aus den mitgliedstaatlichen Parlamenten aufrufen. Raju Sharma (DIE LINKE): Bevor ich mich dem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht widme, möchte ich noch eine Anmerkung zur gemeinsamen Entschließung von Union, SPD, FDP und Grünen zur Sache machen. Diese Entschließung der Fraktionen im Rechtsauschuss ist inhaltlich sehr sinnvoll und findet die Zustimmung auch der Linken. Es ist mir sehr wichtig, das zu erwähnen. Denn es kommt nicht oft vor, dass gerade aus den Reihen von Union und FDP derart vernünftige Vorschläge kommen. Mancher wird sich fragen, warum Die Linke dann die Entschließung nicht mitgezeichnet hat, wenn sie sich schon inhaltlich einverstanden erklärt. Der Grund dafür ist einfach: CDU und CSU sitzen noch immer in den Schützengräben des Kalten Krieges und verweigern der Linken, eine gemeinsame Initiative miteinzureichen, die Konsens im ganzen Hause ist. Damit konterkarieren CDU und CSU ihr eigenes Anliegen, weil die beiden Fraktionen parteipolitischer Kleingeistigkeit den Vorrang vor einer starken Stimme des gesamten Deutschen Bundestages geben. Dabei wäre ein gemeinsames Agieren des gesamten Parlaments wichtig und angezeigt. Die Europäische Kommission will mit ihrem Vorschlag für ein Gemeinsames EU-Kaufrecht ein Problem lösen, das es so nicht gibt, und verwendet dazu Instrumente, die nicht nur nicht funktionieren, sondern neue Probleme schaffen, die wir bisher nicht kennen. Das fängt schon bei der Grundannahme an, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten den Wettbewerb behindern, weil Käufer und Verkäufer gleichermaßen kaum in der Lage seien, die verschiedenen Vorschriften des jeweils national gültigen Kaufrechts zu berücksichtigen. In der Folge würden Unternehmen Verträge mit Partnern in den Mitgliedstaaten nur in geringerem Umfang abschließen, als es ansonsten möglich wäre. Ein Gemeinsames EU-Kaufrecht, das sagt die Kommission, würde Abhilfe schaffen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Nicht unterschiedliche Rechtsordnungen, sondern ganz handfeste Gründe wie Sprachbarrieren oder auch weite räumliche Entfernungen sind die Haupthindernisse für den grenzüberschreitenden Handel. Die Annahme, Käufer und Verkäufer würden einen Kaufvertrag allein aufgrund eines gemeinsamen Kaufrechts abschließen, ist zudem völlig unrealistisch und zeugt nicht von großem Sachverstand. Die Beschlussempfehlung weist völlig zu Recht auf innerstaatliches Recht hin, das zu beachten ist: Geschäftsunfähigkeit, Sitten- und Rechtswidrigkeit, Abtretung und so weiter und so fort. Ich teile die Befürchtung, dass dieses Gemeinsame EU-Kaufrecht wahrscheinlich keine Rechtsklarheit, sondern im Gegenteil erhebliche Rechtsunsicherheit schafft. Auch hier weist die Beschlussempfehlung völlig zu Recht darauf hin, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten Mitgliedstaaten das Kaufrecht durch die Rechtsprechung, also durch Richterrecht, geprägt ist. Anders würde es sich bei einem Gemeinsamen EU-Kaufrecht auch nicht verhalten: Relevante Regelungen müssten erst noch entstehen. Selbst wenn der Europäische Gerichtshof in der Lage wäre, durch seine Rechtsprechung dafür zu sorgen, wären Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger womöglich über Jahrzehnte mit einer unklaren Rechtslage konfrontiert. Niemand könnte einschätzen, welche Rechten und Pflichten sich tatsächlich aus einem Vertragsabschluss ergeben. Die Folge wird sein, dass Verträge deshalb gar nicht erst abgeschlossen werden. Das Gemeinsame EU-Kaufrecht würde das Gegenteil seines postulierten Zwecks bewirken. Auch deshalb ist es sehr sinnvoll, die Verordnung zum Gemeinsamen EU-Kaufrecht zwar zur Kenntnis zu nehmen, aber - so wie es hier vorgeschlagen ist - eine begründete Stellungnahme nach Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union zu verabschieden. Die Linke wird dem zustimmen; denn anders als die Kalten Krieger der Union nehmen wir unsere Verantwortung ernst. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die europäische Integration hat mittlerweile eine langjährige Geschichte. Einer der größten Erfolge der Europäischen Union ist der gemeinsame Binnenmarkt. Die Errichtung des europäischen Binnenmarkts hat den grenzüberschreitenden Handel in der Europäischen Union enorm erleichtert. Daher ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass die Kommission der Europäischen Union den Handel im Binnenmarkt weiter ausbauen will. Dies geschah in der Vergangenheit bereits durch vereinheitlichende Maßnahmen im Gesellschaftsrecht, Wettbewerbsrecht oder Verbraucherrecht. Nun soll mit der vorliegenden Verordnung ein Schritt weiter gegangen werden: Ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht mit hohem Verbraucherschutzstandard soll Handelshemmnisse im Binnenmarkt beseitigen. Das Anliegen, durch die Wahl eines Gemeinsamen Kaufrechts die Transaktionskosten in der Europäischen Union zu senken, halten wir generell für sinnvoll. Aber wir fragen uns: Ist dies der richtige Schritt zur richtigen Zeit? Sind die Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union schon so weit, dass sie sich auf ein Europäisches Vertragsrecht berufen wollen, wenn sie grenzüberschreitend einkaufen? Und vor allem: Sind es tatsächlich die Unterschiede in den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten, die die Bürger davon abhalten, Geschäfte in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu tätigen? Wir denken, dass auch viele andere Faktoren den Handel einschränken, wie zum Beispiel die fremde Sprache oder Bedenken bezüglich der Rechtsdurchsetzung in einem anderen Staat. Erfahrungen mit dem Internationalen Kaufrecht der Vereinten Nationen haben dies bestätigt. Daher ist der Bedarf für eine solche Verordnung fraglich. Besteht aber kein Bedarf, so ist die Verordnung kein Instrument, um Handelshemmnisse zu beseitigen. Das Gemeinsame Europäische Kaufrecht wäre dann nicht geeignet, den Handel zu fördern. Weitere Zweifel haben wir in Bezug auf die Wahl der Rechtsgrundlage, auf die die Kommission ihren Verordnungsvorschlag stützt. Die Kommission wählt Art. 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, als Kompetenznorm, eine Vorschrift, die keine Einstimmigkeit für den Erlass der Verordnung voraussetzt, sondern eine Mehrheitsentscheidung im Rat der Europäischen Union ermöglicht. Art. 114 AEUV setzt voraus, dass es sich bei der zu erlassenden Verordnung um eine Maßnahme zur Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften handelt. Von einer Angleichung kann hier jedoch keine Rede sein, denn die Verordnung tritt als weiteres Vertragsrecht neben die nationalen Vertragsrechte. Sie bildet ein optionales Instrument, das Unternehmer den Käufern anbieten können, wenn sie grenzüberschreitenden Handel tätigen. Die Regelungen, die in der Verordnung getroffen werden, beschränken sich auch nicht auf das Kaufrecht. Sie regeln darüber hinaus andere wichtige Rechtsbereiche, wie das Anfechtungsrecht, die Vertragsauslegung und die Verjährung. Diese sind zwar für den Abschluss eines Kaufvertrages von Relevanz, behandeln aber nicht das Kaufrecht im eigentlichen Sinne. Nach unserer Auffassung kann eine solch weitreichende Verordnung nur auf die Rechtsgrundlage des Art. 352 AEUV gestützt werden. Maßnahmen auf dieser Grundlage erfordern Einstimmigkeit im Rat der Europäischen Union. Für Deutschland bedeutet dies, dass der deutsche Vertreter im Rat nur zustimmen kann, wenn ein Parlamentsgesetz erlassen wird, das ihn zur Zustimmung ermächtigt. Der Erlass dieses Parlamentsgesetzes ist wiederum abhängig von der Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates. Wie die Kommission wollen auch wir den Binnenmarkt und die europäische Integration fördern, jedoch nur unter angemessener Wahrung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates. Daher erheben wir, gemeinsam mit den anderen Fraktionen, die Subsidiaritätsrüge gegen die Verordnung, um unsere Beteiligungsrechte zu wahren. Wir wollen eine weitere europäische Integration nicht aufhalten oder behindern, aber wir wollen, dass diese auf der Grundlage der europäischen Verträge erfolgt. Die Bürger müssen, gerade auch in Zeiten der Euro-Krise, erkennen können, dass Demokratie nicht an den Grenzen Deutschlands endet, sondern auch in der Europäischen Union ein zentraler Aspekt ist. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8000, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung als Stellungnahme zur Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag über die Europäische Union anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber Gegenprobe! - Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema Movassat, Dr. Petra Sitte, Kathrin Vogler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen - Drucksache 17/7372 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Ausschuss für Gesundheit Federführung strittig Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Anette Hübinger (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag beschäftigt sich mit dem wichtigen Thema vernachlässigter - oft armutsassoziierter - Krankheiten, und es ist wichtig und richtig, dass sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages mit diesem Thema auseinandersetzen. Neben dem Antrag der Fraktion Die Linke hat sich die SPD mit einem Antrag zum Thema positioniert, und auch die christlich-liberale Koalition wird in Kürze einen eigenen Antrag ins parlamentarische Verfahren einbringen, um das sehr zu begrüßende Engagement der Bundesregierung in diesem Bereich konstruktiv zu begleiten. In diesem Punkt liegen sicherlich die größten Unterschiede zwischen unserem Antrag und den Anträgen der Opposition. Bezüglich der Analyse der verheerenden Auswirkungen dieser Krankheiten sind wir uns sicherlich einig. Von vernachlässigten Krankheiten sind weltweit Millionen von Menschen - insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern - betroffen. Zwar führen nicht alle Krankheitsverläufe zwangsläufig zum Tod, doch schränken die Krankheiten oftmals das Leben der Betroffenen so stark ein, dass von einer selbstbestimmten, unabhängigen Lebensführung nicht mehr gesprochen werden kann. Nicht so eindeutig wird allerdings oft die Frage diskutiert, welche Krankheiten denn eigentlich zu den vernachlässigten Krankheiten zu zählen sind. Einen guten Anhaltspunkt gibt in dieser Frage die Weltgesundheitsorganisation, die 17 Krankheiten - wie die afrikanische Schlafkrankheit, Leishmaniose oder Chagas - zu den vernachlässigten Krankheiten zählt. Strittig ist, ob die sogenannten großen Drei bzw. großen drei "Killer" HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose auch dazu gezählt werden können bzw. müssen. Dafür spricht, dass viele Millionen Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern von diesen drei Krankheiten betroffen sind. Soweit vorhanden, sind entsprechende Medikamente zur Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose oft sehr teuer und damit für die meisten Menschen unerschwinglich. Dagegen spricht, dass den drei großen "Killern" eine wesentlich höhere Aufmerksamkeit als den nach WHO-Definition ausgewiesenen vernachlässigten Krankheiten zukommt und große Summen in die Bekämpfung dieser Krankheiten investiert werden. Doch der Fokus liegt hier auf den Industrieländern, also auf lukrativen Märkten. Von vernachlässigt im engeren Sinn kann also bei HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose nicht so einfach gesprochen werden. Diese Differenzierung kommt im vorliegenden Antrag der Linken leider zu kurz. Da in die Erforschung dieser Krankheiten von deutscher wie von internationaler Seite schon sehr viel Geld fließt, traf die Bundesregierung die richtige Entscheidung, sich im Rahmen des Förderkonzeptes "Vernachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten" zu fokussieren und nicht das ganze Thema undifferenziert bedienen zu wollen. Die Begriffe "vernachlässigt" und "armutsassoziiert" treffen den Kern des Anliegens. Diese Aspekte betreffen nämlich Fragestellungen der Krankheiten, die speziell in Entwicklungs- und Schwellenländern von Relevanz sind. HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose gehören damit dazu, weil einige Aspekte der drei großen "Killer" durchaus als vernachlässigt angesehen werden können bzw. müssen. Außer Frage steht für die christlich-liberale Koalition, dass das deutsche Engagement im Bereich der vernachlässigten Krankheiten über die bestehende Förderlinie hinaus verstetigt werden muss. Dieses grund-legende Anliegen teilen wir. Klar ist aber auch, dass diesem Anspruch eine Evaluation der Wirkungen des aktuell anlaufenden Förderkonzeptes vorausgehen muss. Die Bundesregierung hat sich mit der Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften - kurz PDPs - auf Neuland begeben. Bevor zusätzliche Instrumente ins Spiel gebracht werden und mehr Mittel gefordert werden, sollten die Effekte des aktuellen BMBF-Förderkonzeptes zu den vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten abgewartet werden. Ansonsten geht man den zweiten vor dem ersten Schritt. Die Förderung von PDPs in Höhe von 22 Millionen Euro über einen Zeitraum von vier Jahren ist dabei ein sehr guter erster Schritt. Mittel- und langfristig können uns diese Zahlen - gerade im internationalen Vergleich - nicht zufriedenstellen. Falsch wäre auch, das Engagement der Bundesregierung in diesem Bereich nur auf die PDP-Förderung zu verengen. So ist die Förderung der European and Developing Countries Clinical Trials Partnership als weiterer wichtiger Baustein zur Bekämpfung der vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten im Förderkonzept des BMBF verankert. Das BMBF unterstützt darüber hinaus national wie international viele Forschungsprojekte zum Thema HIV/ Aids. Der Forderung, zukünftig auch HIV/Aids und Tuberkulose in die PDP-Förderung zu integrieren, stehen wir offen gegenüber. Einen unspezifischen Rundumschlag darf es aber auch da nicht geben. Die Zielvorstellung muss dabei präzise sein, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Auch sollten wir uns keine Illusionen darüber machen, dass Deutschland in diesem umfangreichen Forschungsfeld alles leisten kann bzw. nur mit staatlichen Mitteln die Probleme lösen kann. Nur durch europäische und internationale Aufgabenteilung sowie die Einbeziehung des privaten Sektors werden wir den Herausforderungen bei der Erforschung vernachlässigter und armutsassoziierter Krankheiten gerecht. In der internatio-nalen Staatengemeinschaft sollte jeder - auch die privaten Pharmaunternehmen - seinen spezifischen Beitrag leisten. Aus dem vorliegenden Antrag wird ersichtlich, wie inhaltlich breit gefächert dieses Thema ist. Es tangiert Forschungsfragen, rechtliche Belange hinsichtlich der Ausgestaltung von Patenten und natürlich auch Fragen der Entwicklungszusammenarbeit. Dieses breite Spektrum ist zwar richtig, allerdings wird bei fast allen angesprochenen Punkten genauso deutlich, dass die Rollen von Opposition und Regierungsfraktion dann doch sehr unterschiedlich sind. Als Beispiel möchte ich den Punkt 7 und die damit verbundene Forderung nach jährlich 500 Millionen Euro für die nichtkommerzielle klinische Forschung mit dem Schwerpunkt vernachlässigte Krankheiten aufgreifen. Bei allem Engagement für das Thema: Realitätssinn sieht anders aus. Ich finde es sehr schade, dass die Fraktion Die Linke mit dem vorliegenden Antrag leider in vielen Punkten einen realitätsfernen Weg eingeschlagen hat, den wir - trotz der Wichtigkeit des Themas - so nicht mittragen können. Rechtliche und fiskalische Fantasterei sowie Zwangsverpflichtungen helfen uns bei der Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten nicht weiter. Ich freue mich aber auf interessante Debatten zum Thema in den kommenden Monaten und hoffe, dass sich die Oppositionsparteien unseren bald vorliegenden - realistischen - Forderungen anschließen werden, um das Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit voranzutreiben. Eberhard Gienger (CDU/CSU): Der Antrag der Linken ist klar abzulehnen, da er haltlos ist, jeder Grundlage entbehrt und die Tatsachen verdreht. Als Oppositionspartei will sie - wie unter Punkt 7 im Antrag gefordert - "die nichtkommerzielle Forschung mit einer halben Milliarde jährlich aus Bundesmitteln fördern". Das ist abenteuerlich. Aber von der Linkspartei kennen wir das nicht anders: Immer vollmundig Geld ausgeben wollen, aber nicht sagen, wie es bezahlt werden soll, wer es bezahlen soll und ob die Investitionsmittel nachhaltig eingesetzt werden. Etwas Positives gibt es dennoch in diesem Antrag: Einige Punkte sind tatsächlich eins zu eins aus unserem Antrag zu Zeiten der großen Koalition übernommen worden. Diese werden auch schon längst umgesetzt. Das ist offensichtlich an der Linkspartei vorbeigegangen, da sie sich mit diesem Thema augenscheinlich nur oberflächlich beschäftigt hat. Ich kann und möchte gar nicht auf alle 26 geforderten Punkte des Antrages eingehen, aber einige sollen schon angesprochen werden. Die Erforschung der vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten müssen wir weiter fördern, da über eine Milliarde Menschen darunter leiden. Zu diesen Krankheiten mit katastrophalen Folgen oder gar tödlichem Verlauf zählen: HIV, Malaria, Tuberkulose, Chagas, das Dengue-Fieber oder die Leishmaniose. Das sind nur einige der 17 vernachlässigten Krankheiten, die die WHO aufführt. Wir fördern die Grundlagenforschung, die präklinische Forschung und die klinische Phase an vielen universitären und außeruniversitären Einrichtungen, Tendenz steigend. Mit der Gründung eines Deutschen Zentrums für Infektionskrankheiten haben wir eine gute Basis geschaffen, um diese Infektionen zu erforschen und dadurch den Betroffenen in den Entwicklungs- und Schwellenländern auch zu helfen. Was wir brauchen sind nicht konzeptionslose Forderungen, sondern ein Förderkonzept und eine Förderstrategie, die effektiv und nachhaltig ist. Hier hat Deutschland eine Vorreiterrolle übernommen. Das BMBF fördert mit 22 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis 2014 einen wichtigen Baustein in der Bekämpfung vernachlässigter und armutsbedingter Krankheiten, und zwar durch die Produktentwicklungs-partnerschaften, PDPs: Product Development Partnerships. Das sind gemeinnützige Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Präventionsmethoden, Impfstoffe, Medikamente, Diagnostika oder Diagnosegeräte zu entwickeln und kostengünstig auf den Markt zu bringen. Vorrangiges Ziel ist hierbei die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und nicht die Gewinnschöpfung, welche den Unterschied zur klassischen Pharmaforschung verdeutlicht. Im Übrigen sind erste Produkte aus dem PDPs schon auf dem Markt. Das ist gut so. Da die Kaufkraft in den Entwicklungsländern niedrig ist und die Gesundheitssysteme stark unterfinanziert sind, besteht für die Industrie kaum ein Anreiz, Produkte speziell für die von Armut betroffene Bevölkerung zu entwickeln. Die PDPs sind daher ein gutes Konzept, Produkte speziell auf die Bedürfnisse von Menschen in armen Ländern zu entwickeln. Viele Menschen dort sind bildungsfern, und es kommt nicht selten vor, dass Medikamente falsch oder/und in falschen Dosierungen eingenommen werden. Im Jahr 2000 formulierten die Vereinten Nationen acht Millenniumsentwicklungsziele mit dem übergeordneten Ziel, die Armut der Welt zu bekämpfen. Die Bundesregierung fokussiert den Einsatz der Mittel vor allem darauf, die Millenniumsentwicklungsziele 4 und 5 zu erreichen, und zwar die Kindersterblichkeit zu senken und die Müttergesundheit zu verbessern, da insbesondere dieser Teil der armen Bevölkerung von den Infektionskrankheiten betroffen ist. Wie Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, sind wir schon viel weiter, als Sie mit Ihren 26 Punkten in Ihrem Forderungskatalog uns glauben machen wollen. Zweifellos kann man immer mehr tun, und das wollen wir auch. Wir werden uns für eine Mittel-erhöhung im Rahmen des Machbaren einsetzen. René Röspel (SPD): Die Thematik der vernachlässigten Krankheiten in Entwicklungsländern hat über lange Zeit leider viel zu wenig Beachtung gefunden. Umso erfreulicher ist es, dass die Probleme und Herausforderungen im Zusammenhang mit sogenannten vernachlässigten Krankheiten zunehmend ins Interesse der Öffentlichkeit geraten. Dafür ist auch einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu danken, die sich überfraktionell für dieses Thema einsetzen. Ein Ergebnis ist auch, dass sich der Deutsche Bundestag dieses Themas angenommen und einen Unterausschuss "Gesundheit in Entwicklungsländern" - der sich auch mit den vernachlässigten Krankheiten in diesen Ländern befasst - eingerichtet hat, der dem Thema angemessenes Gewicht im parlamentarischen Raum verleiht. Dass die Thematik der vernachlässigten Krankheiten vielschichtig ist und nicht nur die Dimension der Entwicklungspolitik betrifft, sondern auch wichtige Implikationen für die Forschungspolitik in Deutschland mit sich bringt, wird auch an dem heute zur Debatte stehenden Antrag der Fraktion Die Linke deutlich: Die Schaffung von Grundlagen für eine nachhaltige Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten beschränkt sich nicht ausschließlich auf unsere Bemühungen in den Zielländern, sondern hängt auch ganz konkret von forschungspolitischen Weichenstellungen hier in Deutschland ab. Das grundsätzliche Anliegen des hier zu debattierenden Antrags, der Thematik der vernachlässigten Krankheiten auch in der Forschungsförderung des Bundes mehr Gewicht zu verleihen, können wir nachvollziehen. Dies wird im Grundsatz auch vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion befürwortet. Nach eingehender Lektüre des Antrags kommen uns jedoch erhebliche Zweifel, ob dieser Rundumschlag der Fraktion Die Linke der Sache bzw. dem Ziel wirklich dienlich ist. Vielmehr kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Antrag sich auf zahlreichen Nebenschauplätzen verliert und zudem mit einer Reihe unreflektierter und unrealistischer Forderungen gespickt ist. Da wäre zunächst die unter Punkt 7 erhobene Forderung, die nichtkommerzielle klinische Forschung mit jährlich 500 Millionen Euro zu fördern. Mit einem Blick auf den Forschungsetat des Bundes, der ein Gesamtvolumen von circa 13 Milliarden Euro umfasst, wird deutlich, dass eine Forderung in dieser Größenordnung als wenig realistisch einzustufen ist. Mit unrealistischen Forderungen dieser Art ist den Betroffenen in den jeweiligen Zielländern nur wenig geholfen: Wie zielführend ist eine Forderung nach Mitteln, die der Haushalt nicht hergibt? Zumal eine Förderung von klinischer Forschung in dieser Höhe einseitig Mittel im Forschungshaushalt binden würde. Dies ist weder ausgewogen noch nachhaltig, zumal eine Mittelaufstockung in diesem Bereich unweigerlich Kürzungen an anderer Stelle zur Folge hätte, etwa im Bereich der Grundlagenforschung. Auf diese Weise könnte es auch negative Rückwirkungen auf die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten geben: etwa wenn durch eine mangelnde Finanzierung der Grundlagenforschung die Entdeckung neuer, vielversprechender Wirkstoffe gegen vernachlässigte Krankheiten nicht ermöglicht wird. Daneben weist der vorliegende Antrag noch zahlreiche weitere unreflektierte Appelle auf. Ich will an dieser Stelle nur auf die Forderung eingehen, die die öffentliche Förderung klinischer Studien zwangsläufig an die Auflage einer Open-Access-Publikation binden möchte. Ich halte es für richtig, darüber nachzudenken, wie mit Ergebnissen aus öffentlich finanzierter Forschung umgegangen werden kann und soll. Wir haben als SPD-Fraktion in unserem Antrag zum Zweitverwertungsrecht im Urheberrecht eine Position dazu formuliert. Wenn aber die Linksfraktion die Bundesregierung auffordert, die öffentlich finanzierten Forschungsinstitute zu verpflichten, bereits vorhandene Patente - sogar wenn sie nichtöffentlich finanziert wurden - in einen noch so sinnvoll erscheinenden Patentpool zu geben, baut sie Potemkinsche Dörfer auf. Dies ist tatsächlich kaum zu realisieren. Diese Liste ließe sich noch erweitern; angesichts der begrenzten Redezeit soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter darauf eingegangen werden. Das grundsätzliche Problem der Unausgewogenheit des vorliegenden Forderungskatalogs ist hoffentlich in Teilen herausgearbeitet worden. Wie so oft im Leben, so wird auch in diesem Fall deutlich, dass das Gegenteil von "gut gemacht" auch "gut gemeint" sein kann. Karin Roth (Esslingen) (SPD): Armutsbedingte, vernachlässigte Krankheiten sind auch heute noch dafür verantwortlich, dass die Lebenserwartung in den Entwicklungsländern bis zu 30 Jahre unter der in Industriestaaten liegt. Jahr für Jahr sterben Millionen Menschen an Krankheiten, die vermeidbar oder behandelbar wären. Bei Aids nimmt die Zahl der Neuinfektionen insgesamt zwar ab, liegt aber immer noch bei 2,7 Millionen pro Jahr. Direkt in unserer Nachbarschaft, in den ehemaligen GUS-Staaten, haben wir Steigerungsraten von 250 Pro-zent in den letzten zehn Jahren. Trotz eines verbesserten Zugangs zu Medikamenten werden auch heute noch täglich mehr als 1 000 Kinder durch ihre Mütter infiziert. Darauf möchte ich am heutigen Welt-Aids-Tag noch einmal aufmerksam machen. Malaria tötet in Subsahara-Afrika alle 30 Sekunden ein Kind. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist mit Tuberkulose infiziert. Mehr als eine Milliarde Menschen sind von den vernachlässigten Krankheiten, wie Schlafkrankheit oder Wurmerkrankungen betroffen. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung, circa 2 Milliarden Menschen, haben keinen Zugang zu existenziellen Medikamenten. Dies sind die Fakten. Nach den Gesetzen der reinen Marktwirtschaft, sind all diese Menschen nicht interessant, da sich mit der Entwicklung von Medikamenten für sie kein Geld verdienen lässt. Um ihnen dennoch zu ihrem Menschenrecht auf Gesundheit zu verhelfen, gibt es verschiedene Instrumente, die in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, so zum Beispiel die sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften, PDP, die Medikamente für die vernachlässigten Krankheiten in Zusammenarbeit mit Industrie und Forschung auf Non-Profit-Basis entwickeln. Die Bundesrepublik ist seit diesem Jahr in die Förderung eingestiegen. Das begrüße ich sehr, auch wenn wir als SPD uns einen deutlich höheren Förderbeitrag gewünscht hätten. Es ist ein Einstieg, und ich danke ausdrücklich dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Braun im BMBF für sein Engagement. In diesem Falle hat die Kanzlerin die weise Entscheidung getroffen, dass das BMBF für die PDP zuständig sein soll. Hätte man dies dem Minister Niebel überlassen, würden heute vermutlich keine Gelder mehr zur Verfügung stehen. Dies zeigt die Einstellung der Förderung für die Mikrobizidforschung deutlich. Wenn jetzt unsere Forderung aus dem vergangenen Jahr, PDP mit 100 Millionen Euro zu fördern, noch umgesetzt wird und dann Förderung auch auf die Bereiche Aids/HIV und Tuberkulose ausgedehnt würde, wären wir einen großen Schritt weiter. Einen großen Schritt können wir auch gehen, wenn wir endlich eine stärkere Kohärenz zwischen nationalem und europäischen Handeln in der Forschung erreichen. Deswegen setzen wir uns für eine Einbeziehung der PDP in das 8. Forschungsrahmenprogramm der EU ein. Ein anderer Weg ist das Projekt TBVI, das über Bürgschaften durch die Europäischen Mitgliedstaaten die Finanzierung der Forschung und Entwicklung eines Impfstoffes gegen Tuberkulose erreichen möchte. Auch dieses Projekt unterstützen wir ausdrücklich. Die SPD-Fraktion hat bereits im vergangenen Jahr einen Antrag vorgelegt, der Maßnahmen zur verbesserten Medikamentenversorgung in den Entwicklungsländern aufzeigt. Dass jetzt ein weiterer Antrag vorliegt, der unsere Forderungen unterstützt, lässt mich hoffen, dass sich bald auch die Mehrheit des Hauses für eine Verbesserung der Forschungs- und Versorgungssituation mit Medikamenten für die Armen dieser Welt einsetzen wird. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Es wäre sehr schön, wenn alle Menschen weltweit ungeachtet ihrer Kaufkraft Zugang zu den für sie notwendigen Medikamenten und Produkten hätten. So weit sind wir natürlich noch lange nicht. Wir nähern uns so großen Zielen Schritt für Schritt. Einer davon ist das Förderkonzept für Forschung und Entwicklung zu vernachlässigten Krankheiten und zu solchen Krankheiten, bei denen Armut eine große Rolle spielt. Es sind meist Infektionskrankheiten, und sie führen in Entwicklungs- und Schwellenländern dazu, dass sehr viele Menschen chronisch krank sind oder früh sterben. Besonders die sogenannten Großen Drei - Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose - haben eine hohe Sterblichkeit zur Folge. An der Diagnose und Behandlung dieser Krankheiten wird seit langem und auch erfolgreich geforscht. Die Weltgesundheitsorganisation zählt weitere 17 tropische Krankheiten zu den sogenannten vernachlässigten Krankheiten, für die es bisher keine oder nur unzureichende Behandlungsmöglichkeiten gibt. Sie meinen, der pharmazeutische Markt versage in der Bereitstellung entsprechender Produkte. Das sehen wir Liberalen anders. Wenn die Pharmaindustrie sich auf Medikamente konzentriert, mit denen sich Gewinne erzielen lassen, ist das kein Versagen und auch nicht moralisch verwerflich, sondern das ist marktwirtschaftlich erfolgreiches Handeln. Wenn wir Politiker erreichen wollen, dass auch vernachlässigte Krankheiten erforscht und Behandlungen ermöglicht werden, wo keine Gewinne zu erwarten sind, dann müssen wir Anreize schaffen. Das BMBF schafft jetzt solche Anreize, indem es die Entwicklung von Produkten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten fördert und unterstützt - mit bis zu 28 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis 2014. Das Förderkonzept der Bundesregierung hat sehr wohl konkrete Ziele und es stellt Mittel bereit, um diese Ziele zu verwirklichen. Die Ziele sind Verbesserungen im Gesundheitsbereich für Menschen, die bisher keinen Zugang zu Behandlung und Medikamenten haben. Im Hinblick auf die "Großen Drei" gibt es eine europäisch-afrikanische Kooperation. Das heißt, in Europa werden Impfstoffe und Medikamente erforscht, und in Afrika werden die dazu gehörenden klinischen Studien durchgeführt, mit dem Ziel, Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose zurückzudrängen. Im Hinblick auf die 17 vernachlässigten Krankheiten wird eine neue Maßnahme erprobt. Es werden nämlich sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften, PDP, gefördert, das sind Non-Profit-Organisationen, die Impfstoffe und Medikamente für diese Krankheiten entwickeln und in den Entwicklungsländern den davon Betroffenen - Erwachsenen, aber ganz besonders auch Kindern - kostengünstig anbieten werden. Damit leistet die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung von vernachlässigten und armutsbedingten Krankheiten. Für diese innovative Maßnahme sind 20 Millionen Euro bis 2014 reserviert. Sie meinen, diese positive Initiative bleibe finanziell weit hinter dem Erforderlichen zurück. Das ist nicht zu bestreiten. Aber wir haben leider nicht die Möglichkeit, alles zu finanzieren, was erforderlich und wünschenswert wäre. Dass die Bundesregierung in diesen Zeiten dennoch so viel Geld locker macht, um kranken Menschen in armen Ländern zu helfen, verdient Anerkennung. Ihre Forderungen unterstützen wir nicht. Wir meinen, dass der Staat weder die Forschung noch die Wirtschaft zu sehr reglementieren sollte. Wir glauben auch nicht, dass Zwangsmaßnahmen hier zum Erfolg führen. Die Politik ist für die politischen Ziele zuständig. Und wenn die Bundesregierung ein Förderprogramm startet, um ihre politischen Ziele zu verfolgen und in diesem Fall die Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten zu unterstützen, dann finden wir das richtig und leisten als Abgeordnete unseren Beitrag dazu, dass die ergriffenen Maßnahmen zum Erfolg führen. Ihren Antrag lehnen wir ab. Niema Movassat (DIE LINKE): Das marktwirtschaftliche Prinzip von "Angebot und Nachfrage" versagt nirgendwo so kläglich wie bei der Bereitstellung lebensrettender Medizin für die Ärmsten dieser Welt. Obwohl Gesundheit ein Menschenrecht ist, sterben jedes Jahr Millionen Menschen in den Entwicklungsländern an Infektionskrankheiten, für die es keine adäquaten Behandlungsmethoden gibt. Denn nur zehn Prozent der globalen Forschungsausgaben fließen in Krankheiten, die etwa 90 Prozent zur globalen Krankheitslast beitragen. Zu den vernachlässigten Krankheiten zählen heute laut der Weltgesundheitsorganisation WHO vor allem noch Malaria und Tuberkulose sowie weitere 17 tropische und armutsassoziierte Krankheiten. Die Pharmaindustrie betreibt indes lieber Wirkstoffforschung für Wellnessmedikamente, die später große Gewinne in den Industrieländern versprechen, anstatt den lebensnotwendigen Bedarf in den Entwicklungsländern zu bedienen. So forschen Wissenschaftler jahrelang an einem Wirkstoff gegen Haarausfall, statt einen lebensrettenden neuen Tuberkulosetest zu entwickeln. Kein anderes Beispiel zeigt das ganze Ausmaß des Dilemmas deutlicher: Wollen Ärzte heute eine Tuberkuloseinfektion nachweisen, sind sie im Grunde immer noch abhängig von der Methode, die Robert Koch vor über 100 Jahren entwickelt hat - ein Test, der zudem nicht sehr genau ist. Infizierte werden so schlussendlich nicht behandelt und stecken weitere Menschen an. Unterdessen sind wir auf den Mond geflogen und haben Atome gespalten. Aber für eine Krankheit, die in nur einem einzigen Jahr nach Schätzungen der WHO über 1,8 Millionen Menschen tötet, haben wir noch nicht einmal neue Methoden bei der Diagnostik entwickelt! Für die Menschheit im 21. Jahrhundert ist es ein absolutes Armutszeugnis, dass die Tuberkulose immer noch die weltweite Statistik der tödlichen Infektionskrankheiten anführt. Gleichzeitig investiert die Pharmaindustrie doppelt so viel Geld in Marketing wie in Forschung. Durch die profitgeleitete Schwerpunktsetzung auf unwichtige Krankheitsbilder und Werbemaßnahmen erzielen die Investitionen heute kaum mehr einen therapeutischen Mehrwert. Eine Ausnahme bildet der Kampf gegen HIV/Aids: Dieser war in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen sehr erfolgreich. Das macht Hoffnung. Die Weltgemeinschaft hat beweisen, dass sie die notwendigen Ressourcen mobilisieren kann, wenn sie will. Wir dürfen aber in unseren Bemühungen nicht nachlassen. Die Bundesregierung, und hier namentlich Dirk Niebel, tappen aber blauäugig genau in diese Falle: die mangelnde finanzielle Unterstützung für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose genau in dem Moment infrage zu stellen, wo erste Erfolge zu verzeichnen sind. Das gefährdet unmittelbar Menschenleben. Es ist bedauernswert, dass Schwarz-Gelb trotz eindringlicher Appelle aller Oppositionsparteien und mit dem Thema befassten zivilgesellschaftlichen Organisationen diesen Fehler begeht. Öffentlich geförderte Grundlagenforschung in den Industrieländern ist häufig die Basis für neue Pharmaentwicklungen. Die Politik nutzt die ihr dadurch entstehenden direkten Einflussmöglichkeiten bisher allerdings kaum. Wenn ein Pharmakonzern mithilfe von Patenten überhöhte Preise durchsetzt, behindert dies die weitergehende Forschung und verhindert die Versorgung in Entwicklungsländern. Wenn dies auch noch auf der Basis öffentlicher Forschung geschieht, also mit Steuergeldern finanzierter Innovationen, ist die Allgemeinheit zugunsten der Pharmaindustrie doppelt benachteiligt. Das muss sich ändern. Wir brauchen dringend eine öffentliche Forschungsförderung, die die komplette Kette der Gesundheitsversorgung abdeckt. Patente sind ein Konzept von gestern. Die Versorgung der Betroffenen muss im Mittelpunkt der Bemühungen stehen, nicht wie bisher Verwertungsinteresse der Pharmaunternehmen. Open-Access-Lösungen gehört die Zukunft. Da jeder wissenschaftliche Fortschritt das Ergebnis der durch die Öffentlichkeit geförderten Bildung und Forschung ist, sollten ihr die Ergebnisse auch wieder kostenfrei zur Verfügung stehen. Im Bereich der Pharmaforschung würde dies Innovationen beschleunigen und Preise senken. Wir müssen den milliardenschweren Ausgaben für Lobbyarbeit, Beeinflussung und Manipulation zum Trotz dem Menschenrecht auf Gesundheit endlich Vorrang verschaffen vor dem Streben nach immer größeren Gewinnen der Pharmaindustrie. Mit dem vorliegenden Bundestagsantrag "Forschungsförderung zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen - Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermöglichen" hat die Linke weitreichende Vorschläge gemacht, wie dies gelingen kann. Den Menschen in den Ländern des globalen Südens gegenüber ist es unsere Verpflichtung, dass wir endlich vorankommen. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute ist Welt-Aids-Tag. Wir müssen heute investieren, um die Zukunft von morgen gestalten zu können! UNAIDS veröffentlichte gerade die neuen HIV-Zahlen - die Zahl der Neuinfektionen ist auf 2,7 Millionen gesunken. Auch die Zahl der Aidstoten ist leicht gesunken auf 1,8 Millionen Menschen. Absolut leben aber mehr Menschen denn je mit dem tödlich Virus, nämlich 34 Millionen, und nicht einmal die Hälfte der Erkrankten kann mit entsprechenden Medikamenten versorgt werden. Das ursprüngliche Ziel, bis 2010 universellen Zugang zu Medikamenten, Behandlung und Betreuung zu schaffen, ist gescheitert. Nichtsdestotrotz, die positiven Erfolge zeigen, dass es verantwortungslos wäre, im Kampf gegen die Krankheit jetzt nachzulassen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, die finanziellen Zusagen insbesondere für den Globalen Fonds einzuhalten. Entwicklungsminister Dirk Niebel muss endlich seine Blockadepolitik gegenüber dem Globalen Fonds beenden. Zuerst hat er die für 2011 vereinbarten Zahlungen lange zurückgehalten und nun die für 2012 gemachte Zusagen nicht im entsprechenden Haushaltstitel eingestellt. Das ist keine verlässliche Partnerschaft, und gerade die brauchen wir in der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist richtig, dass sich der Fonds reformieren muss und die Korruptionsfälle lückenlos aufgeklärt werden müssen. Es ist aber nicht richtig, das mehr als transparente und kooperative Verhalten des Fonds abzustrafen. Vernachlässigte Krankheiten und der universelle Zugang zu Medikamenten ist neben dem Aufbau von sozialen Sicherungssystemen ein wichtiges Thema in der Entwicklungs- und internationalen Gesundheitspolitik. Krankheiten fördern Armut und haben entscheidende sozioökonomischen Konsequenzen, ganze Gesellschaften sind in ihrer Entwicklung durch die enorme Krankheitslast gehindert. Vernachlässigte Krankheiten sind aber ebenso Ergebnis von missachteten Menschenrechten. Wir stehen in der Verpflichtung, diese umzusetzen, Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Wir Grünen begrüßen in diesem Zusammenhang die neue Förderungslinie des BMBF für Produktentwicklungspartnerschaften im Bereich der vernachlässigten und armutsbedingten Krankheiten. Allerdings ist die jährliche Förderungssumme von 5 Millionen Euro nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir Grünen haben daher auch in unserem Änderungsantrag zum Haushalt für diesen Titel einen Aufwuchs von 20 Millionen Euro gefordert. Es braucht aber noch mehr, um für die 1,3 Milliarden Menschen, die von diesen Krankheiten bedroht sind, eine Perspektive zu schaffen. Gerade die Gelder, die in die öffentliche Forschung investiert werden, müssen mit sozialen Kriterien verknüpft werden können. Privatwirtschaftliche Unternehmen wie Pharmakonzerne, die die Ergebnisse aus öffentlichen Forschungseinrichtungen nutzen, müssen sich der Gesellschaft gegenüber verantworten und sicherstellen, dass es eine sozialverträgliche Verwertung der Ergebnisse gibt. Vernachlässigte Krankheiten kämpfen vor allem mit zwei zentralen Problemen: erstens mit einer eklatanten Forschungslücke und zweitens mit einer großen Versorgungslücke. Es gibt zu wenige oder zu wenig geeignete Medikamente für Krankheiten, die insbesondere in ärmeren Ländern auftreten. Von 1 556 Neuzulassungen zwischen 1974 und 2004 gab es nur 21 für vernachlässigte Krankheiten, einschließlich Malaria und Tuberkulose. Ebenso ermöglicht das derzeitige Patentrecht den Pharmaunternehmen Monopolrechte und damit die Möglichkeit, so hohe Medikamentenpreise zu erheben, dass viele Menschen - insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern - sich das Medikament nicht leisten können. Hier werden falsche Anreize gesetzt. Nicht die Gesundheitsrendite, also der größtmögliche gesellschaftliche und gesundheitliche Nutzen, ist ausschlaggebend, sondern die größten Gewinnchancen. Gesundheit ist aber ein Menschenrecht. Mit der Doha-Erklärung von 2001 zum WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, den sogenannten TRIPS-Abkommen, haben sich die WTO-Staaten verpflichtet, die öffentliche Gesundheit zu schützen und den Zugang zu Medikamenten zu fördern. Das war ein wichtiger Schritt. Allerdings lassen sich die TRIPS-Flexibilitäten, die die Umsetzung dieser Aspekte sicherstellen sollen, oftmals nur schwer durchsetzen. Hinzu kommt, dass wir mittlerweile beobachten müssen, dass vor allem durch Freihandelsabkommen versucht wird, TRIPS-Flexibilitäten gravierend einzuschränken und verschärfte Regelungen in Bezug auf geistiges Eigentum durchzusetzen. Das ist eine unsägliche Praxis, die massiv das Menschrecht auf Gesundheit missachtet. Der Antrag der Fraktion Die Linke hat wichtige Punkte aufgegriffen, wenngleich wir dem Antrag nicht zustimmen werden. So haben wir Grünen unter anderem im Rahmen der Haushaltsberatungen entsprechend dem entwicklungspolitischen Konsens, das 0,7-Prozent-Ziel umzusetzen, klare finanzielle Aussagen getroffen, die sich nicht mit den Forderungen des uns vorliegenden Antrags decken. Auch einzelne der im Antrag geforderten Modelle schließen andere wichtige Ansätze in diesem Bereich aus oder lassen sich nur schwer mit diesen verbinden. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7372 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Koalitionsfraktionen wünschen die Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die Fraktion Die Linke wünscht die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und FDP - Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 6 auf: 27 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014-2020 - Ein strategischer Rahmen für nachhaltige und verantwortungsvolle Haushaltspolitik mit europäischem Mehrwert - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Für einen progressiven europäischen Haushalt - Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014-2020 - Drucksachen 17/7767, 17/7808, 17/8013 - Berichterstattung: Abgeordnete Bettina Kudla Peer Steinbrück Joachim Spatz Dr. Diether Dehm Dr. Frithjof Schmidt ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Lisa Paus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein starker Haushalt für ein ökologisches und solidarisches Europa - Der Mehrjährige Finanzrahmen 2014-2020 - Drucksache 17/7952 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Die Reden werden, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor. Bettina Kudla (CDU/CSU): Wir beraten heute in zweiter Lesung den Antrag der CDU/CSU und FDP zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2014 bis 2020. Ebenso beraten wir einen Antrag der SPD zum gleichlautenden Thema. Die Beratungen sind geprägt von der aktuell schwierigen Situation der Refinanzierung von Staaten. Die Krise hat zwei Ursachen: zu hohe Staatsverschuldung und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Daher muss die Prioritätensetzung des Mittelfristigen Finanzrahmens besonders auf dem Gebiet der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Staaten liegen. Dies ist natürlich leichter gesagt als getan. Aber eines ist unstrittig: Investitionen und nicht konsumtive Ausgaben müssen der Schwerpunkt des Finanzrahmens sein - und zwar nachhaltige Investitionen. Eine Investition ist ja immer langfristig angelegt. Dass innerhalb der Mittelfristigen Finanzrahmens die Schwerpunkte besonders in den südeuropäischen Ländern in der Vergangenheit nicht immer richtig gesetzt wurden, haben Abgeordnete anderer europäischer Parlamente selbst bestätigt. Folglich gilt es, sowohl Planung als auch die Konditionen der Gewährung von Mitteln zu verbessern. Im Fokus sollte dabei stehen, eine gute Infrastruktur zu schaffen, die private Investoren anlockt und die damit private Investitionen nach sich zieht. Alles dies sollte immer vor dem Oberziel geschehen, dass die Ausgaben der Europäischen Union einen europäischen Mehrwert haben müssen. Die Schaffung dieses Mehrwertes ist Aufgabe des Haushaltes der Europäischen Union und damit des Mittelfristigen Finanzrahmens. Im Mittelfristigen Finanzrahmen liegen daher auch immer enorme Chancen für das weitere Zusammenwachsen und die bessere Verzahnung der Staaten Europas. Energie, Telekommunikation und Verkehr sind hier die Schwerpunkte. Gerade die Mobilität der Menschen erlangt immer größere Bedeutung. Die Bereitstellung von Fördermitteln ist allerdings nur einer von mehreren Aspekten bei einer Investition. Private Investitionsentscheidungen hängen auch von vielen anderen Faktoren ab, wie zum Beispiel von verlässlichen Rahmenbedingungen im fiskalen und im ordnungspolitischen Bereich, von der Qualität der verfügbaren Arbeitskräfte und der Risikobereitschaft von Unternehmern. Folglich muss vor allem auch in die Köpfe - in die Aus- und Weiterbildung der Menschen - investiert werden. Die EU-2020-Strategie sieht dies vor, mit dem Ziel, die Zahl der Schulabbrecher zu verringern und die Zahl der Hochschulabgänger zu erhöhen. Allerdings gilt auch die EU-2020-Strategie vor dem Hintergrund der Subsidiarität. Das heißt, alles, was auf nationaler Ebene geregelt und erledigt werden kann, ist auch dort umzusetzen. Jede öffentliche Investition benötigt auch einen Kofinanzierungsanteil. Bisher waren das in der Regel 25 Prozent, auch hier sollte weiter Kontinuität herrschen. Eine zu starke Veränderung der Kofinanzierungsanteile belastet die öffentlichen Haushalte unnötig, da diese ihre Investition gegebenenfalls nicht weiter erhöhen können. Auch sollten keine Brüche in der Förderung von Regionen entstehen, die sich in den letzten Jahren gut entwickelt haben. Eine Region, die 75 Prozent des durchschnittlichen Bruttosozialproduktes überschreitet, sollte in ihrer Entwicklung nicht weiter zurückfallen. Die Sicherheitsnetze für die Übergangsregionen und auch für die jetzigen Phasing-out-Regionen sind daher von besonderer Bedeutung. Wie wichtig ein vernünftig gestalteter Agrarsektor, eine Kappung der Strukturfördermittel auf 2,5 Prozent des BIP, eine Schaffung von neuen Investitionsanreizen sind, damit nicht zu hohe nicht ausgeschöpfte Mittel entstehen, und gegebenenfalls eine Neugestaltung des Beamtenstatus. All dies sind wichtige Themen, die wir in unserem Antrag inhaltlich ausgeführt haben, und die gilt es in den kommenden Monaten insbesondere im Europaausschuss intensiv weiter zu beraten und zu gestalten. Lassen Sie mich aber noch einen weiteren Punkt besonders betonen: In unserem Antrag lehnen wir ein eigenes Erhebungsrecht von Steuern seitens der Europäischen Union ab. Entsprechende Vorschläge der Kommission sind zurückzuweisen. Keinesfalls dürfen wir den unschätzbaren Wert, dass der EU-Haushalt, der als einer der wenigen öffentlichen Haushalte der Welt, nicht verschuldet ist, so einfach aufgeben. Auch dürfen keine Finanzinstrumente und Fondskonstruktionen eingeführt werden, die zu einer Verschuldung des europäischen Haushaltes führen. Deswegen lehnen wir auch in unserem Antrag die Einführung von Euro-Bonds nochmals strikt ab. Es verwundert schon sehr, wie leichtfertig die Opposition hier unserer deutschen Bevölkerung zumuten will, für Schulden anderer Länder zu haften. Eine solche Politik wäre völlig verantwortungslos. Sie würde Deutschland unter Umständen in den Abgrund führen. Sie würde Deutschland in eine Situation bringen der übermäßigen Verschuldung - aus einer Situation, aus der sich auch ein wirtschaftlich starker Staat nicht mehr befreien könnte. Unserer eigener Wohlstand und auch damit unserer Sozialsysteme wären gefährdet. Europa würde nicht weiter zusammenwachsen, sondern eher auseinanderdriften, da man unserer Bevölkerung das Projekt Europa dann auch nicht mehr vermitteln könnte, da es zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen würde. Deutschland hat selbst ein Schuldenstand von rund 80 Prozent des Bruttosozialproduktes. Wir können nicht noch für Schulden anderer Länder aufkommen. Wir können daher auch nicht unsere Nettozahlerposition verschlechtern. Es ist geradezu eine Hybris, wie die SPD in ihrem Antrag mit dem Steuergeld unserer Bürger umgeht, indem sie sagt, dass wir quasi Milliarden mehr zahlen sollen. Die Zukunft Europas liegt darin, dass wir die Menschen mitnehmen. Die Menschen sind bereit, in der Krise solidarisch zusammenzustehen und sich als Europäer zu verstehen. Diesen Vertrauensvorschuss dürfen wir nicht mit Euro-Bonds, mit nicht abzuschätzenden Risiken oder Blankoschecks verspielen. Alois Karl (CDU/CSU): Wenn wir uns heute auf Antrag der Koalitionsfraktionen, auf Antrag der CDU/ CSU und der FDP, mit dem finanziellen Geschehen der Haushaltspolitik in der Europäischen Union befassen, dann sprechen wir ein Thema an, das auch außerordentlich gut in die innenpolitische Situation Deutschlands passt. Auch wir haben vor wenigen Tagen den Bundeshaushalt 2012 verabschiedet. Auch wir wollen innerstaatlich bei uns in Deutschland, sozusagen als Hausaufgabe, nachhaltig haushalten und verantwortungsvoll unsere Haushaltspolitik umsetzen, um die Grundpfeiler der Stabilität in Deutschland wieder zu gewährleisten. Diese von uns und für uns vorgegebenen Rahmenrichtlinien müssen auch für andere gelten. Wir wissen, dass ausschließlich stabilitätsorientierte Haushaltspolitik und stabilitätsorientiertes Wirtschaften die Schlüssel für die Zukunft sind. Die jetzige Finanzkrise in Europa hängt ja großenteils damit zusammen. Es sind in den letzten Jahren außerordentlich viele Fehler gemacht worden. Deutschland hat nicht das Recht, mit Fingern auf andere zu zeigen. Gerade in der Zeit der rot-grünen Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, unter dem Vizekanzler Fischer und unter dem sozialdemokratischen Finanzminister Hans Eichel hat Deutschland in den Jahren 2002 und 2003 die nachhaltig stabilitätsorientierte Haushaltspolitik verlassen. Die Maastricht-Kriterien wurden geradezu außer Kraft gesetzt, die Verschuldungsobergrenzen wurden mit einer Lockerheit und Leichtigkeit verletzt, dass einem heute noch schwindelig werden könnte. Die europäische Haushaltspolitik muss sich nach den heutigen deutschen und auch den stabilitätsorientierten Haushaltspolitiken anderer Länder richten. Die Zeit, dass nur gefordert wird, und die Zeit, dass alle europäischen Töpfe im Gießkannenprinzip verteilt werden, muss vorbei sein. Wenn für den mittelfristigen Zeitraum von 2014 bis 2020, also für den Finanzrahmen dieser sieben Jahre, die EU-Kommission vorschlägt, die Mitgliedstaaten sollten ihr mehr als 1 Billion Euro zur Verfügung stellen - das heißt genau 1 025 Milliarden Euro - und zusätzlich weitere 58 Milliarden Euro außerhalb des Haushaltes, so geht das unserer Meinung nach entschieden zu weit. Der Vorschlag der CDU/CSU im jetzigen Antrag, die Ausgaben auf höchstens 1 Prozent der kumulierten Bruttonationaleinkommen zu begrenzen, trifft in der Tat auch die Intention unserer Bundesregierung. Immerhin wird damit ein Geldvolumen von 971 Milliarden Euro ins Werk gesetzt. Das alles muss erst in den einzelnen Mitgliedschaften erwirtschaftet werden, um nach Brüssel abgeführt werden zu können. Wir sprechen hier nicht über "Peanuts". Gewiss hat Deutschland große Vorteile als stärkstes Mitgliedsland der EU über den Handel, über unsere Außenwirtschaft, über unsere Exporte. Dennoch sind wir unbestritten der größte Nettozahler mit Einzahlungen von 22 Milliarden Euro im Jahr. Gerechterweise wird man hinzufügen müssen, dass natürlich auch wieder Rückflüsse nach Deutschland stattfinden. Unbestritten ist aber auch, dass ein Nettobetrag von mehr als 8 Milliarden Euro pro Jahr zur Zahlung verbleibt. Meiner Meinung nach muss es damit auch sein Bewenden haben. Wir machen das in unseren nationalen Haushalten ja vor: Wirtschaftswachstum, Steigerung der Zahl der Arbeitsplätze, nachhaltiges solides Wirtschaften, mehr als Einhalten der Schuldenbremse. Alles ist durchaus gleichzeitig möglich, wenn nur eine konsequente Politik betrieben wird. Dies muss auch für Europa gelten. Aus diesem Grunde schließen sich auch Nebenhaushalte, quasi außerhalb des EU-Haushaltes, aus. Uns ist in der Tat an einer lückenlosen Offenlegung der EU-Ausgaben gelegen; eine Kontrolle all der Ausgaben ist für uns unabdingbar. In diesen Zusammenhang passt natürlich, dass der Europäische Rechnungshof in seinem Jahresgutachten über den EU-Haushalt 2010 festgestellt hat, dass "Zahlungen in wesentlichem Ausmaß mit Fehlern behaftet waren". Es geht uns mit diesem Antrag natürlich auch darum, dass die so festgestellten Fehler abgestellt werden, und nicht bloß für das Jahr 2010 betrachtet, sondern nachhaltig und dauerhaft. Allein damit hat die EU es selbst in der Hand, eigene finanzielle Ressourcen zu generieren, die ihr augenblicklich offensichtlich zwischen den Fingern zerrinnen. Für mich ist unerheblich, ob die Fehlerquellen im EU-Räderwerk, in Brüssel selbst, ihre Ursache haben oder nach Zuteilung auf die europäischen Länder. Der Bericht des Europäischen Rechnungshofes ist geradezu erschreckend. Gerade bei Ländern, die offensichtlich sehr leichtfertig mit europäischem Geld umgehen, ist es unabdingbar notwendig, mit ganz besonderer Akribie "hinzuschauen". Größtes Augenmerk muss dabei auf den EU-Ausgabenbereich "Kohäsion, Energie und Verkehr" gelegt werden. Man muss sich die Zahlen ja geradezu zweimal anschauen. Beim ersten Lesen meint man, man sei einem Schreib- oder Lesefehler unterfallen, wenn der Rechnungshof angibt, dass von 243 geprüften Zahlungen im genannten Bereich geradezu die Hälfte fehlerhaft ist, nämlich 49 Prozent. Diese unglaublich anmutende Fehlerquote ist nicht singulär. Schon im Jahr 2009 gab es ähnliche Beanstandungen. Jetzt, im Jahr 2010, wird mit einer Gesamtfehlerquote von circa 7,7 Prozent gerechnet. Aus diesem Grunde ist es geradezu ein Gebot des Augenblicks, dass insbesondere für Spanien und Italien, also jenen Staaten, die sich am meisten in unverantwortlicher Weise aus diesen Haushaltstiteln bedienen, ein Zahlungstopp verordnet wird. Nach den mir vorliegenden Zahlen schuldet Spanien der EU allein im Kohäsionsbereich 2,9 Milliarden Euro, Italien 930 Millionen Euro. Alleine an diesen Zahlen ist erkennbar, dass die EU mit einem auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzten Haushalt - immer noch eine gigantische Summe von fast 1 Billion Euro - durchaus auskommen kann, insbesondere dann, wenn man die eigenen Missstände abbaut. Die eigenen Versäumnisse aufrechtzuerhalten, um in das "Fass ohne Boden" die nationalen Gelder einfließen zu lassen, das wäre fürwahr die banalste Art. Mit "Wirtschaften" im wahrsten Sinne des Wortes hat das nichts mehr zu tun. Wirtschaften bedeutet, mit knappen Gütern sinnvoll umzugehen. Sinnvoller Umgang scheint mir nicht gegeben zu sein. Die Sache ist für EU-Behörden deshalb einfach, weil sie mit fremdem Geld, nämlich den Beiträgen aus den EU-Ländern, in einer nicht zu rechtfertigenden Großzügigkeit umgehen. Auch bei EU-Agenturen müssen wir zu echter Erfolgskontrolle kommen. All diese 43 Agenturen müssen einer unmittelbaren politischen Kontrolle unterstellt werden. Auch mit einem anderen Unfug muss aufgehört werden: Geradezu jedes EU-Mitgliedsland, das für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, hat sich scheinbar mit der Einrichtung einer "eigenen neuen Agentur" bedient, eines zusätzlichen Wasserkopfes, der wie zum Beispiel die Agentur für Grundrechte in Wien von den EU-Mitgliedstaaten dauerhaft bezahlt werden muss. Wegen der Kürze der Redezeit kann nicht auf jeden Punkt eingegangen werden. Demnach unterstütze ich ausdrücklich, dass der Anteil der Agrarpolitik am Gesamthaushalt deutlich verringert wird. Der Haushaltsvorschlag des Bundesministeriums für Ernährung mit 391 Milliarden Euro für den 7-Jahres-Zeitraum scheint völlig ausreichend. Der Ansatz der EU-Kommission mit 397 Milliarden Euro ist überzogen, insbesondere deshalb, weil schon wieder 15 Milliarden Euro außerhalb des Agrarhaushaltes, "im Schatten" des Haushaltes sozusagen, mit eingefordert werden. Selbstverständlich begrüßen wir auch eine Novellierung des Beamtenstatuts in der EU. Dennoch möchte ich zur Ehrenrettung auch der Beamten sagen, dass wir natürlich auf eine funktionierende, geordnete und rechts-treue Verwaltung angewiesen sind. Was eine geordnete Verwaltung an Nutzen bringt, das sehen wir an Griechenland, dort, wo eine ordentliche Verwaltung eben fehlt. Der Vorschlag der EU-Kommission, dass das Personal im 7-Jahres-Zeitraum um 5 Prozent abgebaut wird, wird von uns genauso unterstützt wie die Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden auf 40 Stunden. Auch im Bereich der Gleitzeit muss gerade für Leitungspersonal ein korrekter Weg gefunden werden. Auch die Reduzierung der Sonderurlaubstage ist keineswegs Schikane. Auch die Renteneintrittsdaten müssen im europäischen Kontext angepasst werden. Da gibt es sicherlich keine Frage. Ich rege dennoch an, dass die Betroffenen nicht von heute auf morgen mit den Neuerungen und Erschwernissen konfrontiert werden. Wie in Deutschland auch müssen durch korrekte Übergangsfristen soziale Härten abgemildert werden. Aus all dem Vorgebrachten ist es durchaus richtig, den strategischen Rahmen für nachhaltige und verantwortungsvolle Haushaltspolitik in dem Sinne zu ziehen, wie das in unserem Ausschuss erarbeitet worden ist. Ich empfehle, den Beschluss anzunehmen, so wie er von den Koalitionsfraktionen hier vorgelegt wird. Peer Steinbrück (SPD): Die Europäische Union befindet sich in erheblichen Turbulenzen. Seit gut zwei Jahren werden die Tagesordnungen der europäischen Ratssitzungen und auch dieses Parlamentes immer wieder von der Staatsschuldenkrise der Euro-Zone bestimmt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die öffentlichen Finanzen in der Europäischen Union sind von der Finanz- und Wirtschaftskrise stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Mitgliedstaaten stehen unter erheblichem Konsolidierungsdruck. Von diesen Umständen sind auch die Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union ab 2014 betroffen. Dabei ist vollkommen klar, dass trotz der Bedeutung der Krise der Staatshaushalte in Europa die Aufstellung eines tragfähigen und auf die Bewältigung der zentralen europäischen Herausforderungen ausgerichteten EU-Haushaltes eine der wichtigsten Aufgaben ist, die die Europäische Union in den kommenden Monaten zu bewältigen hat. Im Kern geht es um nicht weniger als den finanziellen Rahmen für die Neuaufstellung Europas nach der Krise und die Sicherung des Voranschreitens des europäischen Integrationsprozesses. Die Debatte über den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen und den EU-Haushalt müssen wir daher mit Blick auf die politischen Prioritäten und weniger mit einem auf Nettozahlungsströme führen. Gerade in der Situation, in der sich der Prozess der europäischen Integration befindet, ist das entscheidend. Wichtig sind Antworten auf die Fragen, was wir mit dem Budget finanzieren wollen, wo Europa hin will und was es leisten soll, wie es sich gegenüber anderen aufstrebenden Mächten in Asien und Südamerika aufstellt und welches die europäischen Vorhaben sind, die einen Binnenmarkt mit 500 Millionen Menschen für die Zukunft sichern, Innovationen bereitstellen und Wohlstand generieren können? Bei der Beantwortung müssen wir bereit sein, ausreichende Mittel zur Verfügung zu stellen, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass Investitionen in einen Haushalt auch Wirkung erzielen müssen. Wir müssen über den nationalen Tellerrand das große Ganze, das europäische Projekt, im Blick haben. Die Aufstellung einer finanziellen Grundlage Europas unabhängig von gemeinsamen politischen Zielen muss Stückwerk bleiben. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen der öffentlichen Haushalte weniger Mittel für den EU-Haushalt bereitstellen zu wollen, ist nachvollziehbar. Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen. Bei allen Konsolidierungsanstrengungen muss der neue Haushalt auch den neuen Aufgaben der EU nach dem Vertrag von Lissabon gerecht werden. Wir müssen den Aufgabenbereich Außenpolitik - mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst - und den Innen- und Justizbereich angemessen ausstatten. Wir haben es mit erheblichen Herausforderungen im Bereich des Klimawandels und der Umweltpolitik zu tun, mit der Notwendigkeit in europäische Infrastruktur zu investieren. Wir müssen außerdem verhindern, dass die EU-2020-Strategie scheitert und eine kohärente Wirtschaftspolitik, die zur Erholung angeschlagener Volkswirtschaften notwendig ist, möglich wird. Dies würde im originären Sinne einen europäischen Mehrwert des Finanzrahmens ausmachen. Ein wesentliches Ziel muss also die Balance zwischen einer effizienten Gestaltung der Ausgaben und einer ausreichenden Ausfinanzierung europäischer Politik sein. Die Finanzen der EU müssen zu einem glaubwürdigen und substanziellen Baustein der neuen Wachstumsstrategie "EU 2020" werden. Sie müssen nachhaltiges Wachstum generieren, Beschäftigung fördern und wichtige Zukunftsfelder, wie Forschung, Innovation und Energieeffizienz voranbringen. Sie müssten außerdem behilflich sein, die für die Union schädlichen Wettbewerbsunterschiede zu überwinden. Die Unwuchten des EU-Haushaltes sind historisch gewachsen und spiegeln schwierige Kompromisse in den letzten Jahrzehnten wider. Ein Großteil der Mittel soll auch in der nächsten Periode in die Gemeinsame Agrarpolitik und die Struktur- und Kohäsionsfonds fließen. Für die Agrarpolitik sind im Jahr 2020 noch immer 33 Prozent des Budgets vorgesehen. Wir werden es also mit einem langsamen Abschmelzen zu tun haben, aber auch 33 Prozent sind für einen Sektor, der keine 3 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung ausmacht, noch immer zu viel. Wenn wir die Herausforderungen unserer Zeit ernst nehmen und den Mehrjährigen Finanzrahmen als politisches Planungsinstrument gestalten wollen, dann wird sich ein Perspektivwechsel vollziehen müssen: hin zu zukunftsorientierten Haushaltsrubriken, die Wachstum fördern, Innovation und Forschung finanzieren, Bildung ermöglichen, Investitionen in Infrastruktur fördern und nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen. Um diese Ziele zu erreichen, sind innerhalb der Ausgabekategorien Reformschritte zwingend. Im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik hat die SPD-Bundestagsfraktion weitreichende Vorschläge gemacht. Das bisherige Direktzahlungsmodell muss neu strukturiert werden. Zahlungen aus der sogenannten 1. Säule sollten sich auf einen Sockelbetrag konzentrieren, der an die Einhaltung von ökologischen und sozialen Produktionsstandards gekoppelt ist. Die sogenannte 2. Säule ist inhaltlich und finanziell zu einem umfassenden und wirkungsstarken Politikansatz zur integrierten Entwicklung ländlicher Räume auszubauen. Die Kohäsionspolitik hat erheblich zum Abbau von Disparitäten zwischen den Regionen beigetragen. Die Mittel der Struktur- und Kohäsionspolitik müssen in eine bessere und verbindlichere Abstimmung zwischen der Strategie "Europa 2020" und der Gemeinsamen Agrarpolitik einbezogen werden. Außerdem müssen wir darüber nachdenken, ob wir angesichts der krisenhaften Entwicklungen in einigen südlichen Mitgliedstaaten die Kofinanzierungsregeln lockern und flexibler gestalten, damit diese Mittel einen Beitrag zu Wachstum, Beschäftigung und Armutsbekämpfung leisten können. Der von der Kommission vorgeschlagene Mittelaufwuchs für Bildung, Forschung und Entwicklung wird von meiner Fraktion ausdrücklich unterstützt. Eine angemessene finanzielle Ausstattung von Forschung und Entwicklung ist notwendig, um die enormen Herausforderungen, die vor uns liegen, zu bewältigen. Die Einnahmen der Europäischen Union orientieren sich bisher an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten. Das System der Übertragungen eines bestimmten Anteils des Bruttonationaleinkommens hat sich absolut bewährt. Einer EU-Steuer im Sinne einer eigenen Steuererhebungskompetenz der EU sind rechtliche und politische Hürden gesetzt. Das sage ich unbenommen der Tatsache, dass gegenwärtig niemand eine solche Kompetenzübertragung fordert. Etwas anderes sind Pläne zu einer Erweiterung der Einnahmequellen. Derartige Überlegungen der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlamentes sollten zumindest geprüft werden, gerade wenn es sich beispielsweise um eine europäische Finanztransaktionsteuer drehen könnte. Mit solchen neuen Einnahmequellen müsste allerdings zwingend eine Rückführung der nationalen Überweisungen sichergestellt werden, um eine Balance in der Belastung der Mitgliedstaaten wahren zu können. Neue Einnahmequellen können zudem nur in Betracht kommen, wenn die Ausgabenstruktur so ausgerichtet wird, wie ich es eben beschrieben habe, also das Budget zu einem Planungsinstrument zukunftsorientierter Politiken entwickelt wird. Ich erwarte mit einiger Spannung, wie sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen zu den leidigen Korrekturmechanismen schlagen wird. Der deutsche Rabatt auf den Briten-Rabatt läuft aus und das Prinzip der Beitragsgerechtigkeit könnte auch weiterhin Korrekturmechanismen notwendig machen. Dabei ist aus unserer Sicht ein allgemeiner und deutlich vereinfachter Korrekturmechanismus, der ungerechtfertigten Ungleichgewichten entgegenwirkt, sinnvoller als Sonderregelungen für bestimmte Mitgliedstaaten. Bei diesen Gesprächen wünsche ich den deutschen Vertretern eine gute Reise, aber dennoch viel Erfolg. Zum Schluss: Europa steht an einem Scheideweg, sowohl in der kurzfristigen Bewältigung der Staatsschuldenkrise als auch in der Entwicklung einer langfristigen Vision eines Europas der Zukunft. Mit einem fortschrittlichen und ambitionierten Finanzrahmen für die Jahre 2014 bis 2020 hätten wir einen wichtigen Schritt schon getan. Ich kann daher an die Bundesregierung nur appellieren, Kleinmut und Zaghaftigkeit für das zentrale europäische Planungsinstrument hintanzustellen und politische Prioritäten des reinen Saldos vorzuziehen. Europa lohnt sich, auch wenn es etwas kostet. Michael Link (Heilbronn) (FDP): Lassen Sie mich, kurz bevor ich auf die grundlegenden inhaltlichen Aussagen unseres Koalitionsantrags zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU ab 2014 zu sprechen komme, auf das Verfahren und die frühzeitige Beratung und Verabschiedung des Antrages eingehen. Auch mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Euro-Rettungsschirm, in der das Gericht unterstreicht, dass der Bundestag bei wesentlichen haushaltspolitischen Fragen der Einnahmen und Ausgaben nicht in die Rolle des bloßen Nachvollzugs gedrängt werden darf, freut es mich besonders, dass dem EU-Haushalt und seiner strategischen Neuausrichtung für die kommenden sieben Jahren erstmals in der vergangenen Haushaltswoche Platz in der immer eng getakteten Haushaltsdebatte eingeräumt worden ist. Denn: Auch wenn ein neuer Eigenmittelbeschluss noch de jure der nachträglichen Zustimmung des Deutschen Bundestages bedarf, wissen wir doch alle, dass nach jahrelangen Verhandlungen, nach schwierigster Kompromisssuche und dem für Europa auch wichtigen und notwendigen Interessensausgleich zwischen großen und kleinen, neuen und alten, Agrar- und Nicht-Agrarländern ein Nein de facto dann nicht mehr möglich ist. Umso wichtiger ist es deshalb, dass sich der Deutsche Bundestag frühzeitig in die Verhandlungen einbringt und der Bundesregierung einen klaren Rahmen für ihre Verhandlungen auf europäischer Ebene in diesem frühen Stadium mit auf den Weg gibt. Natürlich muss der Deutsche Bundestag vor seiner abschließenden inhaltlichen Bewertung die Vorlage und Beratung aller Legislativvorschläge für die einzelnen Ausgabenbereiche abwarten und sich gegebenenfalls mit thematischen Folgebeschlüssen der Fachausschüsse einbringen. Dem EU-Ausschuss obliegt es, den Rahmen zu setzen und auch divergierende Interessen miteinander zu versöhnen und Prioritätensetzung anzumahnen und vorzuschlagen. Als Liberale bekennen wir uns klar und deutlich zu Europa. Wir haben den Ausführungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen, der natürlich auch harte Interessenpolitik mit sich bringt, bewusst vorangestellt, dass Europa Deutschlands Zukunft war und bleibt, dass es Frieden und Sicherheit gewährleistet und dass Europa und sein Binnenmarkt die Grundlage unseres Wohlstandes bleiben. Die Europäische Union steht nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und gerade im Zusammenhang mit der Schuldenkrise im Euro-Raum vor neuen Aufgaben und schwierigen Herausforderungen. Die Schuldenkrise fordert den Mitgliedstaaten erhebliche, teilweise auch sehr schmerzliche Konsolidierungsmaßnahmen ab. Wir sind deshalb zutiefst überzeugt, dass diese Bemühungen sich auch im EU-Haushalt der kommenden Jahre widerspiegeln müssen. Wir müssen neue Herausforderungen auch ohne eine erweiterte Budgetobergrenze finanzieren. Neue Aufgaben müssen vor allem durch Umschichtungen und nicht durch Erhöhung des Haushalts finanziert werden. Die EU benötigt nicht zwangsläufig mehr Geld, wenn zunächst die Spielräume genutzt werden, das vorhandene Geld effizienter auszugegeben. Daher treten wir für eine Begrenzung der Ausgaben der EU auf 1 Prozent des EU-Bruttonationaleinkommens, BNE, ein. Dies hat nichts mit mangelnder europäischer Solidarität oder einer Abkehr von Europa zu tun, im Gegenteil: Wir Liberale wollen die EU zukunftsfähig machen und die Bürger und Steuerzahler dabei so wenig wie möglich belasten. Nur wenn die EU-Ausgaben derart nach oben begrenzt werden, entsteht der notwendige Druck, bislang wenig effizient ausgegebene Mittel einzusparen und sukzessive in Zukunftsbereiche umzuschichten. Wir wollen mehr Europa, wo es den Bürgern einen echten Mehrwert bringt, zum Beispiel bei transeuropäischen Verkehrsnetzen, der Verbesserung der Zusammenarbeit von Justiz und Polizei, Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik, grenzüberschreitender Bildung, Forschung und Innovation. In der gegenwärtigen Lage müssen alle Ebenen sparen, die lokale und regionale, die nationale und die europäische. Aus Sicht der Koalition müssen neben den Prinzipien Subsidiarität und europäischer Mehrwert für die Neuausrichtung des Mehrjährigen Finanzrahmens der Gedanke der europäischen Solidarität und die Europa-2020-Strategie Leitlinien sein. Letzteres ist insbesondere wichtig, da die Beseitigung der mangelhaften Wettbewerbsfähigkeit in einigen Mitgliedstaaten neben dem konsequenten Konsolidierungskurs Grundvoraussetzung ist, die Verschuldungskrise in Europa nachhaltig zu beseitigen. Zukünftige europäische Förderungen müssen sich klar an diesen Grundsätzen messen lassen, und - das muss auch allen Beteiligten klar sein - jede Förderung aus öffentlichen Mitteln sollte im Prinzip degressiv und befristet sein. Wir müssen uns ehrlich fragen: Welchen europäischen Mehrwert und welche Wirkung hat uns diese oder jene Politik gebracht und was bringt diese uns für die Zukunft? Natürlich - und das bedingt auch das Wort Degression - dürfen Erfolge bei der Förderung nicht durch plötzliche Brüche gefährdet werden. Deshalb wollen wir beispielsweise im Bereich der Struktur- und Kohäsionspolitik nicht nur Verbindungen zwischen den Kohäsions- und Konvergenzzielen sowie dem Ziel der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit herstellen, sondern gleichzeitig die Erfolge der Strukturpolitik in Bezug auf die positive wirtschaftliche Entwicklung vieler Regionen dadurch sichern, dass für diejenigen Regionen, die absehbar aus dem Konvergenzziel herausfallen werden, sowie für die aktuellen Phasing-out-Regionen ein Sicherheitsnetz in Höhe von zwei Dritteln der Förderung aus 2007 bis 2013 etabliert wird. Dies gilt auch für den zweiten sehr großen Posten im EU-Haushalt, dem Agrarbereich. Hier ist das Ziel, einen marktorientierten, wettbewerbsfähigen und umweltverträglichen EU-Agrarsektor zu schaffen, was sich dann auch in einem sinkenden Anteil des Agrarbereichs am Gesamthaushalt widerspiegeln muss. Dieser weitere Reformweg, unter anderem durch den Vollzug der Entkoppelung von der Produktionsart auch in allen übrigen EU-Ländern, ist eine wichtige Voraussetzung, um eine Absenkung der Direktzahlung fortzuführen, ohne landwirtschaftliche Betriebe existenziell zu gefährden - wie wir dies auch ausführlich in unserem Antrag dargelegt haben. Leider bleibt mir nicht genügend Zeit, auf jeden Politikbereich ausführlich einzugehen. Ich möchte jedoch unterstreichen, dass für die FDP-Fraktion neben der allgemeinen Förderung der Wettbewerbsfähigkeit in allen Politikbereichen insbesondere die Stärkung der Innovationskraft der EU als ein Kernelement der Europa-2020-Strategie die Zukunftsfähigkeit Europas sichert. Prioritäre Ziel müssen deshalb Forschung und Entwicklung, Bildung und der Ausbau grenzüberschreitender Infrastruktur sein. Uns als bürgerlich-liberale Koalition ist es gerade in Zeiten der notwendigen öffentlichen Haushaltskonsolidierung wichtig zu betonen, dass eine ausschließliche Finanzierung des Netzausbaus mit EU-Haushaltsmitteln aus ordnungspolitischer Sicht nicht die Lösung sein kann und zur Realisierung notwendiger Zukunftsinvestitionen zusätzlich auch privates Kapital mobilisiert werden muss. Bei der Planung und Finanzierung des Ausbaus von Energie- sowie Informations- und Kommunikationstechnologienetzen sind wir zudem der Meinung, dass bis auf wenige bestimmte Ausnahmefälle wie beispielsweise bei der Peripherieproblematik dies Sache der Privatwirtschaft bleiben muss. Während wir uns als Koalition privatwirtschaftliche Projektanleihen zur Erschließung neuer Finanzierungsquellen für Infrastrukturprojekte unter bestimmten Voraussetzungen - keine Erhöhung der mittel- bis langfristigen Finanzierungslasten der nationalen Haushalte, vollständige Budgetierung der Garantieübernahmerisiken im EU-Haushalt und eine strenge Prüfung auf ökonomische Ertragsfähigkeit und Förderungswürdigkeit - vorstellen können, lehnt die FDP die von der Kommission, von der Mehrheit des Europäischen Parlaments, aber auch von den deutschen Sozialdemokraten und Grünen propagierten Euro-Bonds klar ab. Durch Euro-Bonds würde Deutschland gesamtschuldnerisch für sämtliche damit aufgenommenen Kredite anderer Staaten haften müssen. Die infrage kommenden Staaten haben zur Zeit insgesamt circa 3 900 Milliarden Euro Schulden. Ungefähr 700 bis 800 Milliarden Euro an Schulden dieser Staaten werden alleine 2012 fällig, derselbe Betrag noch einmal 2013. Angesichts der Dimension der Verschuldung dieser Staaten wäre das selbst für ein wirtschaftlich starkes Land wie Deutschland nicht mehr zu schultern. Unser gesamter Bundeshaushalt beträgt circa 300 Milliarden Euro. Würden Euro-Bonds eingeführt, würden sie die wenigen verbliebenen AAA-Staaten vollends in den Schuldensumpf hineinziehen. Euro-Bonds wären damit keineswegs eine Lösung der Verschuldungskrise, sondern ein Herumkurieren an Symptomen und würden das Problem nur verschleppen. Die Diskussion um Euro-Bonds lenkt von der eigentlichen Aufgabe ab: Die Anleger werden den hochverschuldeten Staaten nämlich erst dann wieder Geld zu niedrigeren Zinsen leihen, wenn sie davon überzeugt sind, dass diese Staaten ihre eigenen Hausaufgaben gemacht haben. Die verschuldeten Staaten müssen die notwendigen und zum Teil schmerzhaften Reformen umsetzen, damit sich ihre Arbeitsproduktivität wieder erhöht, damit sie konkurrenzfähiger werden, damit die Steuermoral wieder steigt und diese Staaten wieder ausreichend eigene Einnahmen generieren, um ihre Schulden wieder selbst bedienen und auch zurückzahlen zu können. Staaten wie Lettland oder Irland zeigen, wie das geht. Nach Bürgen wie den Steuerzahlern der wenigen verbliebenen AAA-Staaten zu rufen, erscheint einigen natürlich als der bequemere Weg. Dieser führt aber alle in den Abgrund untragbarer Überschuldung. Eine Sozialisierung der Haftung führt keineswegs zu mehr Ausgagendisziplin der Schuldner. In einigen südeuropäischen Staaten war das sehr schön zu beobachten: Der Reformeifer der Regierung stieg linear mit dem Ansteigen der Zinsen und fiel auch wieder, sobald Finanzhilfe von außen geleistet wurde. Euro-Bonds dienen dazu, die Zinsen, die Schuldensünder zahlen müssen, abzusenken. Damit nehmen sie zugleich den Druck, wirksame Reformen vor Ort umzusetzen. Zugleich steigen die Zinsen, die die Geberländer für ihre Staatsschulden zahlen müssen. Damit stiege auch die Zinslast von Bund, Ländern und Kommunen in Deutschland. Zudem halten wir Euro-Bonds für verfassungswidrig, da sie einen unbegrenzten Eingriff in das deutsche Budgetrecht bedeuten und damit das Demokratiegebot verletzt würde. Dass SPD, Grüne und Linkspartei immer wieder solche Euro-Bonds fordern und versuchen, die Bundesregierung als antieuropäisch hinzustellen, ist ein trauriges Zeichen von Verantwortungslosigkeit dieser Opposition. Durch diese anderen privatwirtschaftlichen Projektanleihen verbliebe zudem noch mehr Spielraum im Haushalt, den neu geschaffenen institutionellen Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und das bisher notorisch unterfinanzierte Auswärtige Handeln und die Außeninstrumente der EU angemessen auszustatten. Auch die künftige EU-Finanzierung im Bereich der Innen- und Rechtspolitik muss angemessen im Hinblick auf die Aufgaben und Herausforderungen angepasst werden. Dazu gehört für uns Liberale beispielsweise bei der Bekämpfung der illegalen Migration auch die angemessene finanzielle Ausstattung bei der Unterstützung von Drittstaaten bei der Reintegration und der Umsetzung von EU-Rücknahmeabkommen unter Berücksichtigung der national und international geltenden Flüchtlings- und Menschenrechtsvorschriften. Während ich bisher schwerpunktmäßig die Ausgabenstruktur dargestellt habe, lassen Sie mich noch kurz auf wichtige Prinzipien der Struktur des Haushalts und vor allem auf die Frage eingehen, wie die Finanzierung dieser Ausgaben gesichert werden soll. Als Liberale setzen wir uns mit Blick auf das Gebot der Haushaltsklarheit und -wahrheit sowie der parlamentarischen Kontrolle seit langem für die notwendige Überführung aller Fonds außerhalb des Finanzrahmens ein. Deshalb lehnen wir ebenfalls die nun von der Kommission vorgeschlagenen neuen Nebenhaushalte klar ab und fordern eine Struktur, die Transparenz und eine lückenlose Prüfungskontrolle der EU-Gelder bietet. Lassen Sie mich nun zu meinem letzten, aber nicht minder wichtigen Punkt kommen, zu der Frage der Finanzierung der Europäischen Union. Die von der EU-Kommission angestrebte Einführung von EU-Steuern - namentlich einer EU-Finanztransaktionsteuer und einer EU-Mehrwertsteuer - wird auch von der hiesigen Grünenopposition herzlich willkommen geheißen. EU-Steuern widersprechen aber klar ordnungspolitischer Vernunft. Der positive Prüfauftrag der Sozialdemokraten zur Überwindung rechtlicher und politischer Hürden zur Einführung einer EU-Steuer im Sinne einer eigenen Steuererhebungskompetenz verwundert deshalb nicht. Diese Einführung würde weder Transparenz noch Akzeptanz bei den Bürgern schaffen und würde aufgrund der mangelnden Planbarkeit von Steuereinnahmen die existierende Nullverschuldung des EU-Haushalts gefährden. Die Zusage der Kommission unter anderem in Person des Kommissars Lewandowski und die blauäugigen Aussagen von Grünen und SPD, die Zahlungen der Mitgliedstaaten dann um die Einnahmen aus künftigen Steuern zu reduzieren, hören sich zwar gut an, werden sich aber in der Praxis nicht realisieren lassen. Denn Aufkommensneutralität ist bei einem Übergang zu einem steuerfinanzierten System nicht sicherzustellen. Diese Forderung greift ins Leere, da die Nationalstaaten weder politisch noch rechtlich gezwungen werden können, eine Absenkung um bestimmte Prozentpunkte durchzusetzen. Dagegen gewährleistete die Praxis der Eigenmittel-finanzierung der EU durch vertraglich festgelegte Zahlungen der Mitgliedstaaten die Verklammerung von europäischen und mitgliedstaatlichen Haushaltsprioritäten. Diese Klammer würde durch die Steuerpläne der Kommission gekappt. Unter dem Gesichtspunkt der Beitragsgerechtigkeit sollte das Bruttonationaleinkommen als Indikator für die Wirtschaftskraft der einzelnen Mitgliedstaaten zentraler Pfeiler der gemeinsamen EU-Finanzierung bleiben, kombiniert mit einem allgemeinen Korrekturmechanismus, um die noch bestehenden Verzerrungen auf der Ausgabenseite so zu kompensieren, dass eine faire Lastenteilung gemäß dem Beschluss von Fontainebleau zwischen den großen Nettozahlern gewährleistet ist, wie wir das auch im Antrag ausgeführt haben. Denn nur auf diese Weise lassen sich die Ansprüche an ein gerechtes, einfaches, sicheres, sparsames und nachhaltiges Finanzierungssystem erfüllen. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages, die bürgerlich-liberale Koalition, lehnt deshalb klar die Einführung einer europäischen Steuer ab - unabhängig davon, ob direkt oder indirekt erhoben. Neben weiteren negativen Auswirkungen, die wir ebenfalls im Antrag herausgearbeitet haben, ist anzuführen, dass diese unweigerlich zu neuen Verzerrungen führen, einzelne Steuerzahler übermäßig zur Finanzierung der EU heranziehen und die gebotene Transparenz verletzen würde. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Der Koalitionsantrag zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen, MFR, verdeutlicht immerhin: Der Wahnsinn hat Methode. Allerdings ist methodisches Agieren in diesem Zusammenhang ein äußerst schwacher Trost. Ich bezeichne es als schlicht irrwitzig, wenn demokratisch gewählte Politiker eine Politik betreiben, die sich nicht an den Interessen der sie zumindest zum Zeitpunkt der Wahl tragenden Mehrheit orientiert. Statt Regeln für das Gemeinwesen zu setzen, machen Sie sich angeblich alternativlose Forderungen der Konzern- und Bankenwirtschaft zu eigen. Methode hat der Wahnsinn insofern, als die Instrumentalisierung des Rechts und die Unterwerfung des Sozialen unter einen Wirtschaftsliberalismus, der in Deutschland bereits als Konjunkturbremse "erfolgreich" mit der Agenda-Politik praktiziert wurde, auf europäischer Ebene weitergeschrieben werden soll. Die Pervertierung des Solidargedankens, wonach jeder seine Hausaufgaben zu machen habe und sich nicht nur auf die fleißigen und sparsamen Nettozahler verlassen könne, was vor allem Deutschland meint, drückt sich im erklärten Ziel von Bundesregierung und Koalition aus, den nächsten MFR auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu deckeln. Diese vergiftete Solidarität gibt sich dann gern noch den Anschein von Verantwortungsbewusstsein gegenüber künftigen Generationen, denen sonst nur Schulden blieben. Die Behauptung, dies wäre auch eine Frage der Generationengerechtigkeit, ist nämlich falsch; denn die Verteilung erfolgt nicht zwischen den Generationen, sondern innerhalb einer Generation. Jedem Schuldner steht ein Gläubiger gegenüber. Nicht nur Schulden, auch Forderungen werden vererbt. Diese Schuldner sind auch nicht sakrosankt für die He-ranziehung zur Krisenbezahlung. Die kenntnislose und ökonomisch falsche Gleichsetzung von überschuldeten Staats- mit schwäbischen Privathaushalten, die dem politischen Pennälerniveau der "Bild"-Zeitung entspricht, und die daran geknüpfte Deckelungsforderung ist ja nichts anderes als Austeritätspolitik - auch so ein Euphemismus: Verarmungspolitik wäre treffender, aber auch aufscheuchender. Die Auswirkungen der 1-Prozent-Forderung kann man exem-plarisch bereits an der Einigung auf den EU-Haushalt 2012 beobachten: Mit einer unterhalb der Inflation liegenden Steigerungsrate handelt es sich de facto um eine Schrumpfung. Dann muss die Politik natürlich Farbe bekennen und sagen, wo sie kürzen will. Die verordnete Methode ist bekannt: So wie in den krisengeschüttelten Mitgliedstaaten die Realwirtschaften geschliffen und die Sozialsysteme gleich ganz zerstört werden, zeichnet sich auch in den Ausgabenrubriken des MFR eine ähnliche Schwerpunktsetzung ab. Beim Instrument für "Heranführungshilfe", also der Hilfe für Beitrittskandidaten, wird gekürzt, bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hingegen nicht. Im Agrarsektor, dem neben der Kohäsionspolitik größten Posten im Haushalt, sind gerade einmal 2 bis 3 Prozent aller Beschäftigten in der EU tätig. Und diese ist nicht einem Dreiklang aus sozialen, ökonomischen und ökologischen Kriterien verpflichtet, sondern die Kommission redet dezidiert von Ressourceneffizienz und der Koalitionsantrag will gleich die Entkoppelung der Direktzahlungen von der Produktionsart. Das nützt vielleicht einigen wenigen Großagrariern, aber gewiss nicht der Mehrheit der EU-Bürger. Hier haben wir es in der Tat mit einer Frage der Generationengerechtigkeit zu tun. Auch die geplante Beteiligung privater Investoren am Infrastrukturausbau ist sowohl aus grundsätzlichen Erwägungen als auch ganz praktischen Erfahrungen nur als wahnsinnig zu bezeichnen. Mobilität ist ein öffentliches Gut und kein Spekulationssektor. Wenn der stellvertretende Generaldirektor für Forschung und Innovation der EU-Kommission, Rudolf Strohmeier, erklärt, dass der Forschungsetat auf 80 Milliarden Euro aufgestockt werden soll, klingt das ja erst mal ganz nett. Die Kommission will aber künftig nicht nur Forschungsprogramme fördern, sondern "die gesamte Innovationskette berücksichtigen". Das heißt übersetzt, dass nicht mehr nur die Wissenschaft, sondern auch die Industrie die EU-Forschungsthemen definieren wird. Gespart werden soll hingegen in dem Bereich, der sich direkt auf die Realwirtschaft und die Lebenswirklichkeit der Menschen auswirkt - die Kohäsionspolitik -, und das, obwohl doch die Kommission selbst bekennt, dass die Armut in Europa ein "untragbares Maß" - unerträglich ist es im Übrigen auch - erreicht hat. Ist die Konditionierung der Mittelvergabe auf wirtschaftliche und institutionelle Reformen bereits demokratisch äußerst fragwürdig, so sind die Pläne zur Umstellung auf revolvierende Fonds - deren Ressourcen müssen aus dem Erlös der damit zuvor finanzierten Projekte aufgefüllt werden - entlarvend. Das heißt nämlich im Umkehrschluss, dass, wenn sich Armutsbekämpfung nicht rentiert, sie einfach unterbleibt! Mit den anvisierten finanziellen Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts schließt sich der Kreis im Sinne der eingangs kritisierten und vor allem auch wirtschaftspolitisch unsinnigen Austeritätspolitik. Wer konkreten Anschauungsunterricht hierfür benötigt, richte seinen Blick nach Griechenland, Portugal oder Spanien - diese Länder kommen aus dem Teufelskreis von durch die Finanzmärkte in die Höhe getriebener Verschuldung und verordneter Austeritätspolitik nicht mehr heraus. Das nämlich versteht die Bundesregierung unter Solidarität: Nicht der Starke helfe dem Schwachen, sondern der Schwache helfe sich doch gefälligst selbst. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der Diskussion über den Haushalt der Europäischen Union können wir die aktuelle Krise nicht ausklammern. Wir müssen den künftigen EU-Finanzrahmen als Möglichkeit begreifen, die aktuelle Krise zu bekämpfen und künftigen Krisen vorzubeugen. Wir brauchen kein europäisches Sparschwein, wir brauchen eine Antwort auf die Krise. Das muss die Maxime für die anstehenden Verhandlungen sein. Der aktuelle Finanzrahmen, der die EU-Haushalte von 2007 bis 2013 regelt, umfasst 1,12 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU. Das ist der Status quo. Die Ko-alition schreibt jetzt in ihrem Antrag, dass sie den künftigen Haushalt auf 1 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzen will. Da können Sie ruhig ehrlich sein: Ein Deckel bei 1 Prozent bedeutet eine drastische Kürzung im Vergleich zu heute, eine Kürzung um gut 10 Prozent. Wo Sie kürzen wollen, sagen Sie aber nicht. Nein, es kommt noch besser: Mittel der Gemeinsamen Agrarpolitik beibehalten, Strukturfonds stärken, Prioritäten bei Wettbewerbsfähigkeit, Forschung und Entwicklung, Bildung und so weiter. Wie wollen Sie denn da auf 1 Prozent kommen? Indem Sie am Beamtenstatut rütteln? Dazu passt, dass die Bundesregierung überhaupt keine Idee hat, wie denn ein EU-Haushalt nach einer Kürzung auf 1 Prozent aussehen soll. Ein entsprechender Vorschlag sei von den einschlägigen Ministerien abgelehnt worden, eine gemeinsame Position nicht in Sicht. Ich freue mich, dass Herr Hintze das gestern so offen im EU-Ausschuss zugegeben hat. Denken Sie daran: Die Rechnung muss am Ende auch aufgehen. Ich habe schon gesagt: Ein EU-Sparschwein ist der falsche Weg. Was wir brauchen, ist eine Antwort auf die Krise. Wir wollen daher an einem Umfang von 1,12 Prozent der Wirtschaftsleistung auch in Zukunft festhalten. Europa braucht dieses Geld, um seine Aufgaben und die notwendigen Prioritäten auch erfüllen zu können. Wir sagen aber auch ganz klar: Eine Erhöhung kommt zurzeit nicht infrage. Die Belastungen der Krise sind für viele nationale Haushalte einfach zu hoch. Deswegen müssen EU-Gelder sinnvoller, zielgenauer und effizienter eingesetzt werden. Wir müssen einen Mehrwert bei gleichbleibendem Umfang schaffen. Neben der Höhe unterscheidet sich unser Antrag auch in der Frage einer EU-Steuer. Meine Kollegin hat diesen Punkt in der ersten Lesung bereits ausführlich erläutert. Daher nur so viel: Wir wollen die Finanztransaktionsteuer als echte EU-Steuer bei gleichzeitiger Zurückführung der Beiträge der Mitgliedstaaten. Wir wollen keine zusätzlichen Einnahmen für die EU. Das ist auch nicht der Vorschlag der Kommission. Die Koalition sollte auch damit aufhören, dieses Märchen immer wieder zu erzählen. Die Finanztransaktionsteuer ist eine unserer Antworten auf die Krise: Wir beteiligen einen Bereich, der die Krise mit verursacht hat. Außerdem setzen wir in den Mitgliedstaaten Mittel für dringend notwendige Investitionen frei. Es geht aber auch darum, auf der Ausgabenseite eine Antwort auf die Krise zu finden. Ich möchte das an einem Beispiel zeigen: Eine Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt prognostiziert, dass erneuerbare Energien 2050 in Griechenland 144 Prozent des Strombedarfs abdecken können. Im Fall von Spanien sind es sogar 473 Prozent. Ähnlich sieht es bei Portugal und Irland aus. Wir stehen also heute vor der Entscheidung, ob wir weiterhin jedes Jahr Milliardenbeträge für Energieimporte ausgeben wollen oder ob wir das Potenzial nutzen, das in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland steckt. Ich finde, wir sollten das Potenzial nutzen und Energie als den Exportschlager erkennen, mit dem Länder wie Griechenland ihre Handelsbilanzdefizite zurückfahren können. Gleichzeitig wird in Brüssel gerade über einen EU-Haushalt 2012 verhandelt, der 1,3 Milliarden Euro für den Nuklearsektor vorsieht. Für Windenergie bleiben unterm Strich 24 Millionen. Noch einmal zum Mitschreiben: 1,3 Milliarden für den Nuklearsektor, 24 Millionen für Windenergie. Das können und dürfen wir uns in Zukunft nicht mehr leisten. Da müssen wir radikal umsteuern. Ein Großteil der 1,3 Milliarden geht für das Kernfusionsprojekt ITER drauf, ein Projekt, das uns frühestens 2050 Energie liefern wird - wenn überhaupt. Wir wollen dieses Projekt daher auf Eis legen, um das frei werdende Geld sinnvoller einsetzen zu können. Zu den wichtigen Aufgaben für den EU-Haushalt ab 2014 zählen aus unserer Sicht vor allem Forschung und Entwicklung und die Realisierung des Green New Deals auf europäischer Ebene. Neben der Förderung der erneuerbaren Energien zählt vor allem der Ausbau des europäischen Stromnetzes dazu. Die EU muss vor allem bei grenzüberschreitenden Stromnetzen die notwendigen Anreize und Impulse setzen, um so die Voraussetzung für eine Europäische Gemeinschaft für erneuerbare Energien zu schaffen. Für die Bewältigung der wichtigen Zukunftsaufgaben, die wir in unserem Antrag noch ausführlicher ausführen, müssen vor allem die beiden großen Ausgabenblöcke Strukturpolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik ihren Beitrag leisten. Neben der inhaltlichen Umsteuerung muss der Haushalt der EU aber auch auf technischer Seite eine Antwort auf die Krise finden. Die EU-Kommission hat bereits vorgeschlagen, die Kofinanzierungsanteile für Mitgliedstaaten, die Finanzhilfen erhalten, zeitweise abzusenken. Das finden wir richtig und muss im Finanzrahmen ab 2014 fortgeführt werden. Mit dieser Maßnahme kann den teilweise geringen Abrufraten der Strukturgelder entgegnet werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass zum Beispiel Griechenland einen Großteil seiner Gelder noch nicht abgerufen hat, weil dafür schlichtweg die administrativen Kapazitäten fehlen. Diesem Problem muss sich die Kommission in Zukunft stellen: Sie muss die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen, Gelder abrufen zu können. Im Extremfall muss sie auf Bitten eines Staates auch entsprechende administrative Hilfe zur Verfügung stellen. Das ist aus unserer Sicht die richtige und notwendige Antwort auf die jetzige Krise: Erstens wollen wir mit der Finanztransaktionsteuer die Mitverursacher der Krise beteiligen und gleichzeitig Gelder für notwendige Investitionen in den Mitgliedstaaten frei machen. Zweitens müssen wir den Haushalt auf die skizzierten Aufgaben ausrichten. Drittens müssen wir sicherstellen, dass die vorhandenen Mittel auch abgerufen und effizient und sinnvoll eingesetzt werden. Wenn Europa das schafft, dann haben wir ab 2014 einen starken EU-Haushalt für eine zukunftsfähige Europäische Union. Wir werden sie auf diesem Weg unterstützen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 17/8013. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7767 mit dem Titel "Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014-2020 - Ein strategischer Rahmen für nachhaltige und verantwortungsvolle Haushaltspolitik mit europäischem Mehrwert". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7808 mit dem Titel "Für einen progressiven europäischen Haushalt - Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU 2014-2020". Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7952 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes und des Seeaufgabengesetzes - Drucksache 17/6332 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) - Drucksache 17/7992 - Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann Holger Ortel Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor. Gitta Connemann (CDU/CSU): "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Nach diesem Grundsatz handelte die EU und beschloss im September 2008 die EG-Verordnung zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen Fischerei, IUU-Verordnung. Dieser folgte ein Jahr später die EG-Verordnung zur Einführung einer gemeinschaftlichen Kontrollregelung, Kontrollverordnung. Die illegale Fischerei ist eine der größten Gefahren für die lebenden aquatischen Ressourcen. Sie untergräbt die Grundlage der gemeinsamen Fischereipolitik und alle internationalen Bemühungen um einen verantwortungsbewussteren Umgang mit den Weltmeeren. Sie bedroht die biologische Vielfalt der Meere, und sie nimmt zu - an Ausmaß, aber auch an Spielarten. Wer illegal handeln will, ist kreativ und dreist. Große Fahrzeuge fangen unter irgendeiner Drittweltflagge jenseits von Quoten und Bewirtschaftungssystemen, die Fänge werden verarbeitet und dann in die EU verkauft. Umladungen auf See entziehen sich jeglicher Kontrolle und sind vor so mancher Küste gängige Praxis, um die unrechtmäßige Herkunft der Fänge zu verschleiern. Bei Fischereierzeugnissen, die von Fahrzeugen aus Drittländern gefangen und in die EU eingeführt werden, war bislang keine ausreichende Kontrolle gewährleistet. Die bisherigen Regelungen konnten nicht alle Aspekte dieses Phänomens erfassen. Als weltweit größter Markt für Fischereierzeugnisse und Importeur musste die EU reagieren und neue Vorschriften erlassen. Dies erfolgte in Gestalt der IUU- und der Kontrollverordnungen. "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden diese Verordnungen in nationales Recht umgesetzt - und zwar fristgerecht. Denn die EU hatte den Mitgliedstaaten eine Frist bis zum 31. Dezember 2011 gesetzt. "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Für die CDU/CSU-Fraktion steht fest: Illegale Fischerei muss verfolgt, bekämpft und bestraft werden. Schwarzen Schafen muss das Handwerk gelegt werden. Denn sie gefährden die Nachhaltigkeit unserer Fischbestände, und sie verschaffen sich auf verwerfliche Weise einen Vorteil gegenüber unseren deutschen Fischern. Diese zeichnen sich durch besondere Rechtstreue aus und handeln weltweit vorbildlich. Dies zeigen schon die Zahlen. Denn faktisch hat es bei uns keine nennenswerten Verstöße gegeben. In Nord- und Ostsee wurden kaum schwere Zuwiderhandlungen gegen das Fischereirecht festgestellt. In den Jahren 2009 und 2010 wurde in nur fünf Fällen die Schwelle zum schweren Verstoß überschritten. Die Kontrollverordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, ein Punktesystem für schwere Verstöße gegen Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik einzuführen. Dies gilt sowohl für die Inhaber einer Fanglizenz als auch für Kapitäne von Fischereifahrzeugen. Es werden insgesamt zwölf schwere Verstöße aufgelistet, für die eine Punktzahl zwischen 3 und 7 Punkten vorzusehen ist. Allerdings enthält das EU-Recht keine genauere Definition der schweren Verstöße. Dies ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat inzwischen entsprechende Definitionen für die zwölf schweren Verstöße erarbeitet. Diese sollen jetzt mit den Bundesländern abgestimmt werden, um ein möglichst einheitliches Vorgehen der deutschen Kontrollbehörden sicherzustellen. Nach Abstimmung mit den Ländern sollen die Definitionen im Wege von internen Verwaltungsvorschriften festgelegt werden. Hierbei wird es Schwellenwerte geben, um Bagatellfälle von vornherein vom Punktesystem auszuschließen. Bei der Anhörung, die der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 28. September 2011 zu dieser Gesetzesnovelle durchführte, lag dieser Entwurf einer Seefischereibußgeldverordnung noch nicht vor. Es war nicht zu erkennen, ob und wie Bagatellen geahndet werden sollten. Die geplante Bußgeldhöhe von 200 000 Euro machte da besondere Angst ebenso wie die neuen Strafvorschriften - und dies alles neben dem angedrohten Entzug des Kapitänspatentes. Auch dies führte dazu, dass die Sachverständigen den Gesetzentwurf nahezu unisono kritisierten. Fast alle sahen die Gefahr, dass der Begriff IUU-Fischerei in seinem internationalen Verständnis auf eine geregelte und meldende Fischerei übertragen und damit über das Ziel hinausgeschossen werden würde. Es wurde moniert, dass der Gesetzentwurf über die Vorgaben des EU-Rechts hinausgehen würde. Gerade das wäre aber mit uns, der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen gewesen. Denn wir wollen EU-Vorgaben nur eins zu eins in deutsches Recht umsetzen. Unser Anliegen war und ist es, die EU-Vorgaben national so umzusetzen, dass Wettbewerbsverzerrungen für unsere heimischen Fischer vermieden werden. Deshalb haben wir die Kritik der Sachverständigen auch sehr ernst genommen. Wir haben uns die erforderliche Zeit genommen, um in den Beratungen der letzten Wochen wirksame Veränderungen an dem Gesetzentwurf einzubringen. Insoweit richte ich stellvertretend meinen Dank für die sehr konstruktive und intensive Zusammenarbeit insbesondere mit dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz an den Leiter des Referates für Seefischereimanagement und -kontrolle, Herrn Walter Dübner. Dank des großen Engagements aller Beteiligten liegt jetzt ein Gesetzentwurf vor, mit dem wir der IUU-Fischerei wirksam entgegentreten können und der gleichzeitig die besonderen Vorleistungen unserer heimischen Fischer berücksichtigt. Dort gab es zum Beispiel spezielle Hinweise wie die Forderung nach einer Ausnahme von der Wiegeverpflichtung vor jeder Anlandung. Für unquotierte Arten macht sie keinen Sinn und schafft nur Bürokratie und Kosten. Die Krabbenfischerei müsste eine Waage anschaffen, warten und den Fang, der ohnehin direkt nach der Anlandung gesiebt und gewogen wird, vor dem Transport zur Siebstelle noch zeitaufwändig wiegen. Deshalb haben wir darauf bestanden, dass in der Verwaltungsverordnung zu diesem Gesetz Ausnahmen von Wiegeverpflichtungen ermöglicht werden, soweit dies mit dem Fischereirecht der Europäischen Union vereinbar ist. Wir haben uns für die Einführung praktikabler Bagatellgrenzen eingesetzt. So wurde einer Forderung fast aller Sachverständigen Rechnung getragen. Damit wird die Verhältnismäßigkeit bei geringfügigen Verstößen gewahrt. Und so konnten wir verhindern, dass unsere Fischer kriminalisiert werden. Wenn eine einzelne Scholle einem Dorschfischer in der Ostsee ins Netz geht, zieht dies keine Konsequenzen nach sich. Vorgesehen ist, dass ein schwerer Verstoß erst dann vorliegt, wenn die zulässige Beifangmenge um mehr als 1 Tonne bei einem Gesamtfang von 5 Tonnen überschritten wird. Zur Verhältnismäßigkeit gehörte es übrigens auch, den Bußgeldrahmen von 200 000 Euro auf 100 000 Euro zu senken. Auf der anderen Seite mussten wir aber nach intensiver Prüfung auch feststellen, dass manche Kritik nicht griff. So wurde die Einführung einer Strafvorschrift durch den Gesetzentwurf scharf angegriffen. Die Sachverständigen rügten, dass der Gesetzgeber von der alternativen Möglichkeit der Verhängung von Verwaltungssanktionen keinen Gebrauch gemacht habe. Tatsächlich schreibt Art. 44 Kontrollverordnung vor, dass ein schwerer Verstoß mit administrativen Sanktionen oder alternativ mit strafrechtlichen Sanktionen geahndet werden muss. Das deutsche Recht kennt aber keine Verwaltungssanktionen. Diese wären nach Auffassung des Bundesjustizministeriums auch nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, da eine Sanktion nur nach dem Schuldprinzip festgelegt werden könne und nicht nach der Höhe des wirtschaftlichen Wertes eines Verstoßes. Insoweit bleibt laut Ministerium für Deutschland nur die Möglichkeit, von der Alternative der Strafvorschriften Gebrauch zu machen. Die geforderte Streichung des § 19 des Gesetzentwurfs kam damit nicht in Betracht. Einen großen Raum nahm die Diskussion um den Entzug des Kapitänspatentes bei schweren Verstößen ein - auch nach der Anhörung. Um unbillige Härten für den Kapitän in jedem Fall zu vermeiden, sieht der Gesetzentwurf ein stufenweises System vor: Beim erstmaligen Erreichen von 18 Punkten wird das Patent zwei Monate ausgesetzt, beim zweiten Mal vier Monate, beim dritten Mal acht Monate, beim vierten Mal ein Jahr. Erst wenn der Kapitän zum fünften Mal die Höchstpunktzahl erreicht, wird ihm das Patent ganz entzogen. Für uns in der CDU/CSU-Fraktion kam es dabei auf Folgendes an: Dem Kapitän muss in diesem Fall die Möglichkeit bleiben, eine gleichwertige alternative seemännische Tätigkeit aufzunehmen und seine Existenzgrundlage nicht vollständig zu verlieren. Die Festschreibung im Gesetz ist gelungen. Ein Befähigungszeugnis für ein Patent für Handelsschiffe ist zu erteilen. Jetzt ist sicherzustellen, dass auch die organisatorischen Voraussetzungen, zum Beispiel in Gestalt entsprechender Ausbildungsmodule, vorhanden sind. Dies haben wir in einem Entschließungsantrag als Forderung an die Bundesregierung formuliert. In diesem Entschließungsantrag fordern wir auch, dass die Bundesregierung sich auf EU-Ebene für eine schnelle Umsetzung der Verordnungen in allen Mitgliedstaaten, insbesondere in denen mit bedeutender Fischereiwirtschaft, einsetzt und uns darüber in einem Jahr einen Bericht vorlegt. Denn wie sieht es derzeit bei unseren europäischen Nachbarn wie zum Beispiel den Niederlanden und Dänemark aus? Die Niederlande haben die Verordnungen bislang noch nicht umgesetzt. Dort ist dies allerdings schneller als bei uns möglich, da die Umsetzung nicht per Gesetz mit Parlamentsbeteiligung erfolgen muss. In Dänemark soll das nationale Fischereigesetz zur Umsetzung der Verordnungen geändert werden. Auch dort liegt noch kein Gesetzentwurf vor. Beide Länder riskieren damit ein Vertragsverletzungsverfahren der EU - anders als Deutschland. Wir setzen mit der heutigen Entscheidung die Verordnungen fristgerecht um. Unser Augenmerk liegt nun darauf, Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Markt zu vermeiden. Diese könnten eintreten, da andere EU-Mitgliedstaaten die europäischen Vorgaben später als wir umsetzen. Deshalb soll der Bericht der Bundesregierung im kommenden Jahr auch Angaben dazu enthalten, in welchen Punkten es in anderen Mitgliedstaaten relevante Abweichungen zur deutschen Gesetzgebung gibt. Dies gibt uns dann - soweit erforderlich - die Möglichkeit zur Nachjustierung. Wir werden dies sehr genau beobachten. Getreu dem Motto: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Holger Ortel (SPD): Heute verabschieden wir die Änderung des Seefischereigesetzes. Wir tun das fristgerecht. Denn bis zum 1. Januar 2012 müssen alle Mitgliedstaaten die Regelungen aus IUU- und Kontrollverordnung umgesetzt haben. Ich möchte aber zunächst sagen: Ich bin der Ansicht, dass wir das Beste für unsere Fischerei erreicht haben. Kein Fischer muss nun fürchten, dass ihm bei einem kleinen Vergehen das Patent entzogen wird. Die Fischer werden auch nicht an den Pranger gestellt. Wir tun mit der Änderung des Gesetzes vielmehr etwas gegen die schwarzen Schafe. Wer hier also tatsächlich Schindluder treibt, muss sich zukünftig noch wärmer anziehen. Wir hatten in der Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 28. September 2011 vereinbart, noch etwas länger abzuwarten, um zu sehen, was die anderen Mitgliedstaaten machen. Fakt ist aber: Wir sind bei der Umsetzung ganz vorne, wie so oft. Wir müssen jetzt hoffen, dass die anderen Mitgliedstaaten unserem Beispiel folgen. Wir haben jetzt über mehrere Monate über schwere Verstöße, Strafpunkte, Patententzug und Gefängnisstrafen im Zusammenhang mit der Fischerei gesprochen. Wir haben auch eine Anhörung im Ausschuss dazu abgehalten, und offensichtlich haben wir gut daran getan. Zu einigen der in der Anhörung von Fischereiseite vorgetragenen Kritikpunkte möchte ich gleich noch nähere Ausführungen machen. Es gibt viele Umweltverbände, die sich in Zeiten, da die EU ihre Fischereipolitik reformiert, lautstark engagieren. Beim Seefischereigesetz war das nicht so. Keine NGO war bereit, einen Sachverständigen zur Anhörung zu stellen. Wahrscheinlich war das Thema nicht öffentlichkeitswirksam genug. Eines wurde in der Anhörung aber klar: Die Fischer fühlen sich langsam, aber sicher kriminalisiert. Außerdem fürchten die Fischer, dass ihnen in Zukunft schon bei einem kleinen Vergehen das Patent entzogen wird oder ihr Schiff an der Kette liegt. Ich möchte an dieser Stelle den Fischern versichern, dass wir sie keineswegs für Kriminelle halten. Ich bin mir auch sicher, dass durch das neue Seefischereigesetz niemand ins Gefängnis wandern oder einem Kapitän das Patent entzogen wird. Denn Fakt ist: So gesetzestreu wie der gemeine Deutsche, so gesetzestreu sind auch unsere Fischer. Wir haben uns genau angesehen, welche Verstöße es in der Vergangenheit gegeben hat und wie diese Verstöße unter dem neuen Regime geahndet worden wären. Es stellte sich heraus, es wären nur eine Handvoll Punkte vergeben worden und niemand hätte sein Patent verloren. Sollten wir aber doch ein schwarzes Schaf in unseren Reihen haben, so muss dieser Mensch in Zukunft mit erheblichen Strafen rechnen, zusätzlich zu denen aus bestehenden Regelungen. Der Anreiz für deutsche Fischer, schwere Verstöße zu begehen, ist äußerst gering. Die deutschen Fischer verfügen nämlich über ein sehr günstiges Verhältnis von Fangmöglichkeit zu Kapazität. Das soll heißen, die Fischer kommen mit den ihnen zur Verfügung stehen Quoten ziemlich gut zu recht. In anderen Mitgliedstaaten ist dieses Verhältnis deutlich ungünstiger und dementsprechend der Anreiz zur Gesetzesübertretung wesentlich größer. Wie allgemein bekannt ist, ist eines der großen Probleme der Gemeinsamen Fischereipolitik die mangelhafte Durchsetzung. Bei Kontrolle und Sanktion gibt es noch einige Defizite. Ein Problem ist aber auch, dass Strafen für das gleiche Vergehen in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfallen. Wir hoffen, dass das in diesem Fall anders ist. Die EU hat in der Kontrollverordnung ein Strafpunktesystem für Lizenzinhaber erlassen. Die Vergabe von Strafpunkten ist damit europaweit einheitlich geregelt. Gleichzeitig hat die EU den Mitgliedstaaten die Einführung eines Strafpunktesystems für Kapitäne auferlegt, weil das in der Regelungsgewalt der Mitgliedstaaten liegt. Dieses Punktesystem für die schweren Verstöße ist nun das Kernstück des Gesetzes. Bei der Einführung des Punktesystems war es unser wichtigstes Anliegen, dass dieses Punktesystem in allen Mitgliedstaaten gleich aussieht. Hier darf es aus unserer Sicht zu keinen ungleichen Regeln kommen. Es war aber bislang nur schwer in Erfahrung zu bringen, wie die anderen Mitgliedstaaten ihr Punktesystem für Kapitäne ausgestalten. Wir haben alle relevanten Mitgliedstaaten abgefragt. Wir Deutschen sind natürlich mal wieder die Vorreiter. Schweden und Großbritannien zum Beispiel lassen sich bis Mitte 2012 Zeit. Dänemark hat sich geweigert, auf unsere Anfrage zur Umsetzung der Kontrollverordnung zu antworten. Das möchte ich nicht unerwähnt lassen. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir uns bei der Gesetzgebung noch etwas mehr Zeit gelassen, um uns mit anderen Mitgliedstaaten abzustimmen. Dass wir heute trotzdem dem Gesetzentwurf zustimmen können, liegt vor allem daran, dass das Punktesystem für schwere Verstöße von Kapitänen in einem Erlass geregelt wird. Dadurch lässt sich das System wesentlich einfacher verändern, falls dazu Bedarf besteht. Das Argument der Bundesregierung, Deutschland sei Vorreiter und die anderen werden sich nach uns richten, teile ich nur bedingt. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auch per Entschließungsantrag auf, den Deutschen Bundestag über die Umsetzung des Punktesystems für schwere Verstöße für Kapitäne von Fischereifahrzeugen in den anderen Mitgliedstaaten zu unterrichten. Von der Seite der Fischerei wurde vielfach eine Bagatellregelung gefordert. Dem wird mit der Einführung von Bagatellgrenzen in der Durchführungsverordnung Rechnung getragen. Mit der Änderung des Seefischereigesetzes bestrafen wir aber auch nur die schweren Verstöße. Die grundlegende Kritik der Fischereiverbände an der Einführung eines Straftatbestandes konnten wir leider nicht aufnehmen. Da wir in Deutschland keine Verwaltungsstrafen kennen, mussten wir den Straftatbestand einführen. Man muss sich aber auch ansehen, was Fischer tun müssen, um ins Gefängnis zu kommen. Das sind wirklich schwerwiegende Vergehen, die man nicht mal eben wegen einer Unachtsamkeit begeht. Dazu gehört zum Beispiel das wissentliche Fischen während eines Moratoriums oder eines Fangverbots. Dazu zählt auch das Fangen ohne Fangerlaubnis. Allerdings geht es hier nicht um ein paar Kilo Beifang, für den der Fischer keine Quote hat. Hier geht es um das wissentliche Fangen ohne Fangerlaubnis, bei dem der Fischer aus Gewinnsucht oder gewerbsmäßig handelt. Hier geht niemand wegen ein paar Kilo Beifang ins Gefängnis. Gleiches gilt für die Manipulation der Maschine, das Führen eines Schiffs ohne Flagge oder das Umladen mit einem bekannten IUU-Schiff. Aber auch hier gibt es noch eine Hürde, denn der Täter muss sein Handeln beharrlich wiederholen. Diese Beispiele machen deutlich, dass hier niemand ins Gefängnis muss, wenn er nicht etwas wirklich Schwerwiegendes getan hat. In der täglichen Praxis wird sich also bald erweisen, dass die Ängste auf Fischereiseite unbegründet waren. Sollte einem Fischer tatsächlich das Patent entzogen werden, handelt es sich dabei auch nicht um ein Berufsverbot. Der Kapitän wird die viel bemühte Barkasse im Hamburger Hafen fahren können. Damit wurde auch der Kritik Rechnung getragen, bei den begangenen Vergehen handele es ich um fischereiliche Vergehen und nicht um verkehrsrechtliche. Ein weiterer Kritikpunkt der Fischer, dem wir nachgekommen sind, war die Forderung nach einer einheitlichen Anlaufstelle für die elektronische Voranmeldung und die Anlande- und Umladeerklärung. Auch wenn die Länder formal die Zuständigkeit für die Fahrzeuge bis 500 BRZ haben, so macht es doch wenig Sinn, dass jedes der drei Küstenländer eine Stelle hat, die 7 Tage die Woche 24 Stunden besetzt ist. Ich möchte auch noch etwas zum Bußgeldrahmen sagen. Dieser war im Regierungsentwurf auf 200 000 Euro für bestimmte Vergehen festgesetzt, die in Art. 90 Abs. 1 der Kontrollverordnung näher benannt werden. Dazu zählt zum Beispiel das wissentliche Fischen während eines Moratoriums oder das Einlaufen in einen Hafen ohne Genehmigung. Letzteres hat es in Deutschland ja schon mal gegeben. Ich möchte aber nicht verschweigen, dass der Bußgeldrahmen für alle anderen Vergehen von bislang 75 000 Euro auf 50 000 abgesenkt wird. Der bisherige Bußgeldrahmen wurde allerdings auch niemals ausgenutzt. Deshalb ist es richtig, dass wir den Bußgeldrahmen auf 100 000 Euro festgesetzt haben. Den Fischer, der sich tagtäglich an Recht und Gesetz hält, betrifft das aber nicht. Abschließend möchte ich sagen, dass wir sowohl den Vorgaben der Europäischen Union Rechnung getragen als auch die deutschen Fischer vor ungerechtfertigten Strafen bewahrt haben. Wir haben es leider nicht geschafft, Bürokratie zu verringern. Das Gegenteil ist der Fall. Nichtsdestotrotz haben wir unter den gegebenen Umständen das Beste getan. Die SPD stimmt diesem Gesetzentwurf aber zu, denn wir haben uns aktiv im Gesetzgebungsverfahren beteiligt und wollen nun auch Verantwortung für die gefundenen Regelungen übernehmen. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die weltweit in den Meeren gefangene Fischmenge stagniert. Zwei Drittel der Fischbestände im Nordostatlantik, so eine Mitarbeiterin des WWF im Fachgespräch der FDP-Bundestagsfraktion, sind überfischt, über 55 Prozent der Fischarten fehlen gesicherte Erkenntnisse. Mit steigender Weltbevölkerung, für deren Eiweißversorgung Fischerei und Aquakultur eine große Bedeutung haben, rückt eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fischbestände in den Mittelpunkt des Interesses. Die Bestandsaufnahme der EU-Kommission hat ergeben, dass die seit 2003 geltende Gemeinsame Fischereipolitik die heute herrschenden Probleme nicht lösen konnte. Mit der Änderung des Seefischereigesetzes und Seeaufgabengesetzes werden die von der EU erlassenen Verordnungen zur Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei und die EU-Kontrollverordnung zum Schutz der Fischbestände in Nord- und Ostsee in nationales Recht umgesetzt. Während der parlamentarischen Beratungen hat die Koalition gemeinsam mit dem zuständigen Ministerium und den Fischereiverbänden notwendige Verbesserungen zum ersten Entwurf erarbeitet. In der Anhörung wurde uns von den Experten dargestellt, dass die Strafvorschriften im ersten Entwurf des Gesetzes bedenklich wären. Es musste geklärt werden, was als schwerer Verstoß zu bewerten ist, und es wurde das Fehlen von Bagatellgrenzen für Ordnungswidrigkeiten angemahnt. Ebenso wurde der Verlust des nautischen Patentes als Strafmaß als unverhältnismäßig eigestuft. Hier wurde mit dem Vorlegen des neuen Punktsystems nachgebessert. Praktikable Bagatellgrenzen zum Beispiel bei Abweichung der vorgeschriebenen Netzmaschengröße wurden eingeführt. Wir sprechen uns nachdrücklich dafür aus, die Strafvorschriften mit den Nachbarstaaten zu harmonisieren. Im Interesse unserer kleinen, mittelständischen Kutter- und Küstenfischerei sollten wir uns besser mit den anderen abstimmen, statt im Alleingang unsere Fischer unverhältnismäßig zu belasten. Der Gesetzentwurf erhielt gestern im zuständigen Ausschuss eine breite Mehrheit. Deutschland geht beim Schutz der Fischbestände in Nord- und Ostsee voran. Mit der Novellierung des Seefischerei- und Seeaufgabengesetzes sind die EU-Vorgaben zur Bekämpfung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei in deutsches Recht umgesetzt. Wir sind uns alle bewusst: Nur der Erhalt der Fischbestände sichert die Zukunft der Fischerei. Jetzt sind auch die anderen Mitgliedstaaten mit bedeutender Fischereiwirtschaft in der Pflicht, die Verordnung umzusetzen. In unserem auf Initiative der FDP formulierten Entschließungsantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für eine rasche Durchführung des unmittelbar geltenden Unionsrechtes in allen Mitgliedstaaten einzusetzen und über diese Umsetzung in den Mitgliedstaaten dem Bundestag zu berichten. Wir wollen dadurch sicherstellen, dass unserer heimischen Fischerei keine Wettbewerbsnachteile entstehen. Ich danke für die breite Unterstützung dieses Antrages im Ausschuss. Die deutschen Fischer verhalten sich bereits heute weitgehend vorbildlich. Es gab in den letzten Jahren keine nennenswerten Verstöße gegen die umfassenden europäischen und nationalen Regelungen zur Seefischerei. Deshalb ist es sachgerecht, den Bußgeldrahmen auf 100 000 Euro zu begrenzen. Der Wunsch der Grünen auf Beibehaltung eines hohen Bußgeldrahmens, der zu keiner Zeit auch nur annähernd ausgeschöpft wurde, ist reine Symbolpolitik und ohne praktische Relevanz. Als Instrument des Schutzes der Fischbestände sollten, dort wo es möglich ist, allein Quoten und nicht zusätzlich Fangaufwandsregelungen verwendet werden. Ob die EU-Verordnungen einen wirksamen Beitrag zum Schutz der Fischbestände und zur Nachhaltigkeit der Fischereiwirtschaft leisten, soll nach drei Jahren evaluiert werden. Auch das haben wir in unserem Entschließungsantrag festgelegt. Ebenso sollten offene Fragen zum Datenschutz geklärt werden. Eine lückenlose Videoüberwachung der Fischer ist unangebracht und lässt sich trotz hoher Kosten von 30 000 Euro pro Boot prinzipiell umgehen. Sinnvoller wären Inspekteure an Bord, wenn ein begründeter Verdachtsfall vorliegt. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die meldepflichtigen Positionsdaten nicht an die Konkurrenz aus den Nachbarstaaten gelangen kann. Hier müssen praktikable Durchführungsverordnungen von der Bundesregierung vorgelegt werden. Die Fischereiwirtschaft ist entscheidend abhängig vom Zustand der maritimen Ressourcen. Gleichzeitig beeinflussen der Klimawandel, die wirtschaftliche Entwicklung, der gesellschaftliche Wandel und regionale Entwicklungen die Zukunft der Fischer in Deutschland und Europa. Nur eine konsequente europaweite Umsetzung der IUU-Verordnung kann eine nachhaltige Bewirtschaftung unserer maritimen Ressourcen sicherstellen und gewährleisten, dass die Bevölkerung ausreichend mit Fischen und Meeresfrüchten versorgt wird, die wirtschaftliche Zukunft der Fischer gesichert wird und die natürlichen Bestände erhalten bleiben. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Wenn es um die Ernährung der Welt geht, richten sich die Blicke meistens auf Wiesen, Weiden und Äcker. Auf das Meer schaut kaum jemand, doch birgt es unvorstellbar große, wenn auch bedrohte Potenziale, nicht nur für die Ernährung des Menschen, sondern auch für das Klima und als Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Über 370 Millionen Quadratkilometer der Erdoberfläche sind Wasser. Das sind circa 71 Prozent. In fast allen diesen Gewässern darf gefischt werden, angefangen vom kleinen Angler bis hin zum großen industriellen Fischtrawler. Egal wo: Entscheidend ist, dass nachhaltig gefischt wird. Dass heißt: Die Fischerei darf die Fischbestände nicht gefährden. Das aquatische Ökosystem darf dabei nicht zerstört werden. Gerade im Bereich der Tiefseefischerei gibt es hier erhebliche Defizite. Möglicherweise werden hier Arten ausgerottet, die wir noch gar nicht kennen. Die Fischereipolitik darf sich nicht nur ökologisch ausrichten, sie muss auch sozial gerecht sein. Deshalb ist es wichtig, dass die Fischereiressourcen der Erde zuallererst den an den Küsten wohnenden Menschen und dann den dazugehörigen Nationen zur Verfügung stehen. Nur wenn auch nachhaltig noch mehr gefischt werden kann, sollten andere Nationen Fischereirechte erwerben können. Als Linke haben wir daher die partnerschaftlichen Fischereiabkommen im Rahmen der externen Dimension der Gemeinsamen Europäischen Fischereipolitik, GFP, kritisch im Blick. Eine nachhaltige Bewirtschaftung der Meere setzt zwei Dinge voraus: die verbindliche Einigung auf wissenschaftlich fundierte Fangmengen auf der Grundlage mehrjähriger Bewirtschaftungspläne und ihre Einhaltung. Jede Fangbeschränkung wird unglaubwürdig und wirkungslos ohne konsequente Bekämpfung der illegalen Fischerei. Wer gegen die Regelungen verstößt oder - noch schlimmer - vorsätzlich illegal fischt, gefährdet dieses System. Wobei es dabei nicht um illegale Fangaktivitäten einheimischer Fischerinnen und Fischer zum Beispiel in Afrika geht; denn ihre Fangrechte wurden durch Abkommen ihrer Länder mit der EU an große Trawler verhökert. Für die Linke ist das nicht akzeptabel. Der Kampf gegen die illegale Fischerei und für eine nachhaltige Fischerei ist wichtig. Darum begrüßt die Linksfraktion das neue EU-Verordnungsrecht zur Verhinderung, Bekämpfung und Unterbindung der illegalen, nicht gemeldeten und unregulierten Fischerei und zur Reform des EU-Fischerei-Kontrollsystems. Zudem ist das Seefischereigesetz an das geltende EU-Fischereirecht anzupassen. Genau das war die Aufgabe des Gesetzentwurfes 17/6332, den die Bundesregierung Anfang September in den Bundestag eingebracht hatte. Trotz klarem und unstrittigem Ziel war die parlamentarische Befassung alles andere als einfach. Zur Anhörung zum Gesetzentwurf Ende September waren mehrheitlich aktive Fischerinnen und Fischer geladen. Ihr Urteil war vernichtend. Sie wiesen nicht nur auf erhebliche Unklarheiten und Missstände im Gesetzentwurf hin, sondern verrissen ihn regelrecht. Der Gesetzentwurf sei überzogen, realitätsfern und missverständlich. Die Gleichbehandlung auf See sei durch den Gesetzentwurf gefährdet. Bagatellgrenzen wurden gefordert. Die Praktikabilität der vorgeschlagenen Lösungen wurde angezweifelt und Datenschutzbedenken geäußert. Nicht nur ich war von der Wucht der Vorwürfe überrascht. Selbst bei der sonst oft beratungsresistenten Koalition aus Union und Liberalen hat diese Anhörung offensichtlich Wirkung hinterlassen. Kritisiert wurde speziell die Einführung eines Punktesystems für schwere Verstöße, also quasi ein "Flensburg 2.0 für die Fischerei". Bei mehr als 18 Punkten soll dem Kapitän eines Schiffes das nautische Patent (Befähigungszeugnis für den nautischen Dienst) entzogen werden. Das bedeutet, dass er für einen bestimmten Zeitraum als "unzuverlässig" eingestuft wird und somit kein Schiff mehr führen darf. Die Linksfraktion will aber wie die meisten Sachverständigen, dass das Fahren eines Fischerbootes verboten werden kann, aber die Navigation eines anderen Schiffes weiterhin erlaubt bleiben soll. Im Änderungsantrag der Koalition steht nun, dass der Entzug des Führerscheins verschoben werden kann. Wir sind mit diesem Kompromiss weiter nicht zufrieden. Richtig ist, dass Straf- und Bußgeldvorschriften nur dann Sinn machen, wenn auch was dahinter steht. Daher ist der Ansatz mit der Punktesammlung angemessen. 18 Punkte sind keine Bagatelle. Aber es ist richtig, dass der maximale Bußgeldrahmen von 200 000 auf 100 000 Euro wieder herabgesetzt wurde. Bisher gab es überhaupt noch keine Verurteilungen zu 100 000 Euro. Deshalb muss man nicht unnötig mit dem Säbel rasseln und höhere Strafen androhen, wie die Grünen fordern. Das ist eine unangemessene Drohgebärde gegen die überwiegend gesetzeskonformen Fischerinnen und Fischer. Dass sie das auf die Palme bringt, weil sie sich kriminalisiert und vorverurteilt fühlen, kann ich gut nachvollziehen. Dazu gehört im Übrigen auch die Debatte über Kameras oder Kontrolleure an Bord. So richtig Kontrollen sind, so verständlich finde ich Argumente gegen solche Überwachungsinstrumente. Die Schiffspositionen werden sowieso online erfasst, also ist auch eine gezielte Kontrolle möglich. Eine Kameraüberwachung in den Abgeordnetenbüros würden wir ja auch ablehnen - und nicht nur, weil wir als frei gewählte Abgeordnete eine Sonderstellung haben. Als Linksfraktion begrüßen wir die beiden EU-Verordnungen; auch den Ansatz des Gesetzentwurfes finden wir richtig. Die Kritik der Fischerinnen und Fischer in der Ausschussanhörung hat die Koalition jedoch nur teilweise durch ihren Änderungsantrag aufgegriffen. Daher können wir uns beim geänderten Gesetzentwurf nur enthalten. Dass die Koalition mit dem Ergebnis ihrer Nachverhandlungen selbst nicht ganz zufrieden ist, kann man gut im Entschließungsantrag der Koalition nachlesen. Wir teilen seinen Inhalt und stimmen zu. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die IUU-Verordnung und die Fischereikontrollverordnung der EU, die durch das neue Seefischereigesetz umgesetzt werden, stehen in der Fischereiwirtschaft vielfach in der Kritik, weil sie ein schwer zu überblickendes Maß an Regelungen und ein enormes Maß an zusätzlicher Bürokratie gebracht haben. Diese Kritik ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Dennoch muss man feststellen: Beide Verordnungen sind für die Bekämpfung der illegalen, unregulierten und ungemeldeten Fischerei und für die Einhaltung der Rechtsvorschriften der EU-Fischereipolitik dringend notwendig und waren ein enormer Schritt nach vorn. Ein erfolgreiches Fischereikontrollrecht der EU wird Dumping-Fischimporte aus der illegalen Fischerei in den EU-Markt spürbar vermindern. Das dürfte sich für die rechtstreuen Fischereibetriebe wirtschaftlich positiv auswirken. Wenn die Fischereikontrolle erfolgreich ist, dann wird sie auch zur Erholung überfischter Bestände beitragen. Das ermöglicht mittel- bis langfristig mehr Fischfang bei niedrigerem Aufwand. Auch das wird sich wirtschaftlich positiv auf die einheimischen Fischereibetriebe und die deutsche Fischereiwirtschaft auswirken. Man darf also nicht nur die Kosten und den Aufwand der Fischereikontrolle sehen, sondern auch den Nutzen. Aber: Aufwand und Nutzen müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Dies ist die Messlatte für die Überprüfung des von der schwarz-gelben Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfes. Die Anhörung der betroffenen Fischer hatte gezeigt, dass der Regierung das an mehreren Punkten nicht gelungen war. Einige der Kritikpunkte hat die Koalition mit dem Änderungsantrag ausgeräumt. Fakt bleibt aber, dass das Gesetz kaum lesbar und schwer verständlich ist und durch Verordnungsermächtigungen eine hohe Unübersichtlichkeit schafft. Handwerkliche Mängel und einige zweifelhafte Entscheidungen machen uns eine Zustimmung zu diesem aus grüner Sicht notwendigen Gesetz jedenfalls nicht möglich. So ergibt es wenig Sinn, die Zuständigkeiten so aufzuteilen, dass sowohl Bundes- als auch Landesbehörden sich mit den gleichen Aufgaben befassen müssen und Personal ausbilden und vorhalten müssen, je nachdem wie groß die Schiffe sind oder woher sie kommen. Aufgaben sollten entweder vollständig dem Bund oder dem Land zugewiesen werden. Dieses Problem hat der Änderungsantrag der Koalition nicht vollständig gelöst. Ich bin gespannt, ob die Bundesländer das akzeptieren werden. Die Koalition verpasst die Gelegenheit, etwas für den Erhalt unserer Küstenfischer zu tun. Dazu hätte sie die Regelungen zur Aufteilung der Fischfangmengen um eine Klausel ergänzen sollen, die dem Schutz der erhaltenswerten Küstenfischerei dient. Die Koalitionsfraktionen haben den Gesetzentwurf so geändert, dass der Entzug des Befähigungszeugnisses für den nautischen Dienst auf Fischereifahrzeugen - wie beim zeitweiligen Entzug des Führerscheins - auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden kann. Was aber hilft dieser Entzug - für zwei Monate bei der erstmaligen Erreichung von 18 Punkten -, wenn er in eine Zeit gelegt werden kann, in der sowieso nicht gefischt wird? Damit wird diese Sanktion weitgehend entwertet. Zusätzlich haben die Koalitionsfraktionen die im Gesetzentwurf für verschiedene Ordnungswidrigkeiten vorgesehene maximale Geldbuße von 200 000 auf 100 000 Euro abgesenkt. Da diese in der Praxis nur bei sehr schweren bzw. wiederholten Verstößen verhängt werden kann, fragt man sich, was mit dieser Herabsetzung erreicht werden soll. Dass damit bei den Fischern wirklich Punkte zu sammeln sind, darf bezweifelt werden. Bereits der Gesetzentwurf war weit davon entfernt, unsere Fischerei zu kriminalisieren. In der Anhörung ist darauf hingewiesen worden, dass angesichts der in den letzten Jahren festgestellten Verstöße gegen das Fischereirecht nur in wenigen Fällen überhaupt Punkte vergeben worden wären. Insofern waren die ganze Aufregung über das Punktesystem und die Furcht vor dem Entzug von Fanglizenzen und Kapitänspatenten doch ein gewisser Sturm im Wasserglas. Um eine Kriminalisierung unserer Fischerei zu verhindern, waren die geringfügigen Änderungen durch die Koalitionsfraktionen also gar nicht mehr nötig, auch wenn die sich diesen Erfolg gerne an die Brust heften wollen. Zum geforderten Gleichklang der Umsetzung in allen EU-Mitgliedstaaten bzw. zu der Vermeidung von strengeren deutschen Regeln ist zu sagen, dass das nur erreicht werden kann, wenn entweder die EU haarklein jedes Detail vorgibt - was wohl niemand von uns will -, oder aber, indem sich Deutschland immer nur am niedrigsten Standard aller EU-Mitgliedstaaten orientiert. Sicherlich ist es richtig, wenn die Bundesregierung dem Bundestag wie gefordert berichtet, wie die anderen Mitgliedstaaten das EU-Fischereikontrollrecht umsetzen. Es kann aber nicht richtig sein, daraus einen Wettbewerb um den niedrigsten gemeinsamen Standard zu machen. Vielmehr gilt es, alles daran zu setzen, dass die Kommission auf eine ambitionierte Umsetzung in allen Mitgliedstaaten drängt. Das hilft dann nicht nur unseren Fischern, sondern auch dem Erhalt der Fischbestände. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7992, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6332 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/ Die Grünen und Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7992 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Bündnis 90/ Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" (Hilfetelefongesetz - HilfetelefonG) - Drucksache 17/7238 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) - Drucksache 17/8008 - Berichterstattung: Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Nicole Bracht-Bendt Yvonne Ploetz Monika Lazar Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen im Präsidium vor. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Die Einrichtung des Hilfetelefons ist ein sehr wichtiges Signal an die Frauen in unserem Land, die von Gewalt betroffen sind. Es wird ihnen den Zugang zu Beratung und Hilfeangeboten deutlich erleichtern. Es wird ein kostenloses Angebot auf Erstberatung und Information über Hilfemöglichkeiten zu allen Formen von Gewalt gegen Frauen vorhalten. Das Hilfetelefon ist damit ein wichtiger Baustein im Bemühen, Gewalt an Frauen zu bekämpfen. Ab 2013 wird es möglich sein, das bundesweite Hilfetelefon in Betrieb zu nehmen. Damit setzen wir ein zentrales Vorhaben in dieser Legislaturperiode im Kontext Gewalt gegen Frauen um. Die christlich-liberale Koalition hält mit der Umsetzung dieses Gesetzes ihr Versprechen, Frauen besser vor Gewalt zu schützen. Auch die Verpflichtung durch die neue Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt setzen wir damit um. Eine Studie des BMFSFJ besagt, dass Frauen aller Altersgruppen, Schichten und ethnischen Zugehörigkeiten in Deutschland in hohem Maße von Gewalt betroffen sind. 40 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben körperliche oder sexuelle Gewalt mindestens einmal im Lebenslauf erlebt, oftmals durch den eigenen aktuellen oder ehemaligen Partner; sie erleben oft schwere oder lebensbedrohliche Gewalt. Es ist wichtig, dass diese traumatisierten, gedemütigten Frauen Hilfe bekommen. Trotz des bestehenden Hilfesystems in Deutschland kommen dort aber nur circa 20 Prozent der Frauen an. Ein Großteil der Frauen findet im entscheidenden Moment keine Hilfe; ein entscheidender Grund ist, dass die Unterstützersysteme zu wenig bekannt sind oder nur zu begrenzten Öffnungszeiten erreichbar. Hier setzt das Hilfetelefon an als niedrigschwelliges, jederzeit zu erreichendes Angebot, das 24 Stunden am Tag jederzeit kostenlos und barrierefrei zu erreichen ist. Die Frauen benötigen zur ersten Orientierung häufig eine Stelle, an die sie sich jederzeit, auch anonym, wenden können. Das Hilfetelefon richtet sich aber nicht ausschließlich an Betroffene, sondern ist auch ein Angebot an Menschen aus dem Umfeld der betreffenden Frauen, zum Beispiel Verwandte, Freunde und Kollegen oder Kinder, die miterleben müssen, wie die Mutter geschlagen wird, Menschen, die gewaltbetroffenen Frauen helfen wollen. Auch hier bietet das Telefon Unterstützung. Das Hilfetelefon ist für alle Menschen zugänglich, die Frauen in ihrer Notsituation helfen wollen. Das vergrößert die Chancen, auf den gesamten Kontext der Gewalt einwirken zu können. Als eigenes Unterstützungsangebot ergänzt das bundesweite Hilfetelefon die Einrichtungen, die auf Länder- und kommunaler Ebene agieren. Das Hilfetelefon soll eine Erstanlaufstelle sein und dann eine Lotsenfunktion übernehmen. Das heißt, der anrufenden Person werden geeignete Hilfen und Unterstützungsangebote in Wohnortnähe oder, wenn Distanz sinnvoller ist, in ganz Deutschland angeboten. Es übernimmt damit eine wichtige Brückenfunktion in das bestehende Hilfesystem. Damit werden auch die Beratungsstellen entlastet, weil die Frau dann direkt bei der richtigen Stelle ankommt. Damit wird auch die wichtige Rolle der Unterstützungseinrichtungen vor Ort gestärkt; es wird sichtbarer werden, was diese leisten. Es ist zu erwarten, dass ein Erfolg des Hilfetelefons auch eine Steigerung der Nachfrage nach Unterstützungsangeboten vor Ort hervorbringen wird, zum Beispiel auch die Nachfrage nach Plätzen in Frauenhäusern. Wir hatten im Koalitionsvertrag deshalb neben der Einrichtung der bundesweiten Hilfenummer auch einen Bericht zur Lage der Frauenhäuser vereinbart. Das Bundesministerium für Familie hat dazu Gutachten in Auftrag gegeben: zum einen zu einer Bestandsaufnahme zum bestehenden Hilfesystem und auch zum verfassungsrechtlichen und sozialrechtlichen Hintergrund. Diese Gutachten werden aller Voraussicht nach bis zum Ende des Jahres vorliegen. Sobald die Auswertung dazu erfolgt ist - dies soll nach meiner Information im ersten Quartal 2012 der Fall sein -, wird die Frage nach einer nachhaltigen Finanzierung der Frauenhäuser erneut zu diskutieren sein. Solange es Gewalt gegen Frauen gibt, brauchen wir Frauenhäuser. Ich hoffe, dass wir zukünftig zu einer Lösung kommen können, die den Frauenhäusern mehr Planungssicherheit gibt. Das Thema Gewalt gegen Frauen muss in der gesellschaftspolitischen Debatte eine viel größere Rolle spielen. Mit dem bundesweiten Hilfetelefon wird ein neues öffentliches Signal zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gesetzt. Es ist gut, dass das Hilfetelefon mit kontinuierlichen Kampagnen einer bereiten Bevölkerung bekannt gemacht werden soll und auf diesem Weg öffentlichkeitswirksam zur weiteren Enttabuisierung des Themas Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen beitragen kann. Das Hilfetelefon ist mit einem umfassenden Etat ausgestattet: 3,1 Millionen Euro sind für den Aufbau des Hilfetelefons im Jahr 2012 vorgesehen. Für den Vollbetrieb ab 2013 sind circa 6 Millionen Euro pro Jahr veranschlagt. Dadurch soll der Bestand auf Dauer abgesichert werden. Das Hilfetelefon soll unter dem Dach des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben angesiedelt werden. Hier kann die vorhandene Infrastruktur und vorhandenes qualifiziertes Personal für technische und Verwaltungsaufgaben genutzt werden. Entscheidend für den Erfolg der Helpline ist letztlich die Qualität der Beratung, das heißt die Kompetenz der Beraterinnen. Sie müssen sowohl über breite berufliche als auch menschliche Kompetenzen verfügen, um den Frauen in ihrer schwierigen Situation weiterhelfen zu können. Es wird davon ausgegangen, dass circa 80 bis 90 Stellen für Beraterinnen, Leitung und Verwaltung des Hilfetelefons benötigt werden. Alle bisher eingegangenen Stellungnahmen der Fachverbände beurteilen den Gesetzentwurf durchweg positiv und signalisieren Unterstützung für die Einrichtung und den Betrieb des Hilfetelefons. Mit der baldigen Umsetzung ist ein weiterer wichtiger Meilenstein im Bemühen, Gewalt an Frauen abzubauen, erreicht. Norbert Geis (CDU/CSU): 40 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen werden in ihrem Leben mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt. Das ist auch im europäischen Vergleich ein hoher Anteil. Dabei fällt auf, dass bestimmte Frauengruppen deutlich stärker von Gewalt betroffen sind als der Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung in Deutschland. Die Opferschutzorganisation "Weißer Ring" hat ermittelt, dass Migrantinnen, Bewohnerinnen von Asylbewerberheimen und Prostituierte in höherem Maß der Gewalt ausgesetzt sind als Frauen, die stärker in unsere Gesellschaft integriert sind. Das kann nicht verwundern. Diese Frauen leben in einem Milieu, in dem Gewalt nicht selten an der Tagesordnung ist. Gerade deshalb aber müsste die Polizei hier eine größere Präsenz zeigen und stärker durchgreifen. Es darf nicht sein, dass Migranten in ihrem Getto leben, in das die staatliche Gewalt nicht hineinreicht. Deshalb muss den Migranten klargemacht werden, dass sie in Deutschland leben und nicht in einem Land, in dem es keine Besonderheit ist, wenn Männer ihre Frauen schlagen. Auch wenn die Scharia Gewalt gegen Frauen in bestimmten Fällen zulässt: In Deutschland gilt das Strafgesetzbuch, und danach sind Gewalttaten mit Körperverletzung strafrechtlich zu verfolgen. Die Frauen von Migranten müssen sich aber selbst auch stärker zur Wehr setzen. Sie dürfen die Gewalt, die sie erfahren müssen, nicht einfach hinnehmen. Untersuchungen der Universität Ankara habe ergeben, dass Frauen türkischer Herkunft eher bereit sind, Gewalt von ihrem Partner hinzunehmen als deutsche Frauen. Wenn aber eine Frau sich wehrt und Strafanzeige erstattet, muss die Polizei und die Staatsanwaltschaft dieser Sache auch nachgehen und darf sie nicht als privaten Streit abtun. Hier kann das Hilfetelefon große Bedeutung erlangen. Solche Frauen wenden sich nicht so schnell an Frauenhäuser oder die Behörden. Sie sind aber bereit, das Telefon als ein erstes, anonymes Hilfeangebot anzunehmen. Wir reden viel von Integration. Hier ist ein Ansatzpunkt: Den Männern ausländischer Herkunft muss klargemacht werden, dass Gewalt gegen Frauen ein schlimmes Vergehen, ja auch ein schweres Verbrechen sein kann, das entsprechend geahndet werden muss. Nur wenn solche Gewalttäter erkennen, welche Folgen ihr Verhalten hat, werden sie umdenken und sich in ihrem Verhalten anpassen. Das Gleiche gilt für Prostituierte und Frauen in Asylbewerberheimen, die überproportional oft Gewalttätigkeit ausgesetzt sind. Auch hier muss die Polizei mehr als bisher eingreifen und solche Straftaten verfolgen. Die sozialen Dienste müssen stärker auf solche Vorfälle in diesem Milieu achten. Gerade für diese Frauen kann das mehrsprachige Hilfetelefon eine große Hilfe sein. Denn dort können sie in ihrer Muttersprache ihre Sorgen der Mitarbeiterin am anderen Ende des Hilfetelefons kundtun und ohne Angabe von persönlichen Daten fachkundigen Rat erhalten. Auch kann von dort durch entsprechende Benachrichtigung der Behörden Unterstützung herbeigerufen werden. Gewalt gegen Frauen gibt es aber nicht nur in den drei vorgenannten Gruppen. Gewalt wird mindestens im selben Umfang auch gegen deutsche Frauen von deutschen Männern verübt, und dies sehr oft in der häuslichen Umgebung, in der eigenen Wohnung, also im privaten, intimen Bereich. In zwei Drittel dieser Fälle, so sagt uns eine Studie aus dem Familienministerium, kommt es zu schweren bis lebensbedrohlichen Verletzungen. Opfer sind oft Schwangere, die in einer besonderen hilflosen Situation sind, aber auch Mädchen mit Behinderungen, insbesondere auch geistigen Behinderungen, die sich nicht wehren können. Die Folgen sind nicht selten schwere körperliche, aber auch schwere psychische Schäden. Meist kommt diese Gewalt im intimen Bereich der Wohnung von ehemaligen oder auch aktuellen Partnern vor. Die betroffenen Frauen sind dann nicht selten so sehr in ihrem Innersten verletzt, so eingeschüchtert, dass sie außerstande sind, sich selbst aus diesem Teufelskreis von Privatheit, Abhängigkeit und Gewalt zu befreien. Wegen dieser außerordentlichen Betroffenheit sind diese Frauen auch gar nicht in der Lage, sich an die nächstmögliche Einrichtung zu wenden, um Hilfe zu suchen - dies, obwohl wir in Deutschland ein dichtes Netz von entsprechenden Einrichtungen haben. Die von Gewalt bedrohten Frauen wenden sich aus den verschiedensten Gründen nicht an solche Einrichtungen. Sie schämen sich. Sie wollen nicht, dass ihre Situation bekannt wird. Sie haben Angst vor ihrem Partner, er könne davon erfahren und sie erneut schlagen und quälen und so ihre Not nur noch vergrößern. Aus all diesen Gründen nehmen 80 Prozent der betroffenen Frauen die angebotene Hilfe nicht in Anspruch. Von daher ist es nicht nur richtig, sondern dringend geboten, ein niederschwelliges Angebot vorzuhalten, das schnell erreichbar ist. Diese Aufgabe kann das geplante bundesweite Hilfetelefon leisten. Dort können die Frauen kostenlos, anonym, auch in fremder Sprache, anrufen und so Hilfe erlangen. Entscheidend ist, dass dieses Telefon barrierefrei, das heißt kostenlos, jederzeit und ohne Probleme benutzt werden kann, dass die Telefonnummer bekannt ist und am anderen Ende immer sofort abgehoben und von geschultem Personal sofort entsprechend beraten und nach Unterstützung gesucht wird. Bei Gefahr im Verzug kann sofort die Polizei, die Feuerwehr und der Krankenwagen gerufen und die Justiz verständigt werden. Immer aber muss die Anonymität der Anruferin gewahrt bleiben, und die Daten müssen wieder gelöscht werden, wenn keine Notwendigkeit zur Speicherung mehr besteht. Das Hilfetelefon kann auch von den Kindern, von Verwandten, Nachbarn, Kollegen und Kolleginnen, Bekannten, aber auch Personen beansprucht werden, die ganz zufällig von der Gewalt gegen eine Frau Kenntnis erhalten. Auch Personen, die durch ihren Beruf, seien es Beraterinnen, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte oder im medizinischen Dienst, mit Gewalt konfrontiert werden, können das Hilfetelefon beanspruchen und sich Rat holen. Die Hilfe, die angeboten wird, ist breit gefächert. Das bundesweite Hilfetelefon wird nicht nur technisch, sondern vor allem auch personell hervorragend ausgestattet sein. Jährlich sind für das Hilfetelefon rund 6 Millionen Euro veranschlagt. Der Ministerin ist für ihre Initiative sehr zu danken. Entscheidend aber ist, dass sich unsere Gesellschaft durch nachbarschaftliche Hilfe und durch ein größeres bürgerschaftliches Engagement der gefährlichen Tendenz zur Gewalt widersetzt. Die Menschen, in deren Nähe sich Gewalt ereignet, dürfen nicht wegschauen. Sie müssen private Initiative entwickeln und sofort die Polizei rufen. Der Gewalttäter muss spüren, dass er auf eine geschlossene Ablehnung in der Gesellschaft stößt, die auch zur handfesten Gegenwehr fähig ist. Insbesondere aber muss der Staat in stärkerem Maße die Gewalt verfolgen. Er muss wegkommen von der Vorstellung, wenn der Partner die Partnerin schlägt, handele es sich um eine Privatangelegenheit und die Staatsanwaltschaft könne ein solches Verhalten auf den Privatklageweg verweisen, weil kein öffentliches Interesse bestehe. Im Gegenteil: Durch solche Gewalttaten wird die öffentliche Ordnung ganz empfindlich verletzt. Der Friede in der Gesellschaft und die Rechtsordnung werden dadurch viel stärker gefährdet als durch ein Fehlverhalten im Straßenverkehr. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung ist in solchen Fällen immer gegeben. Staatsanwaltschaft und Gerichte müssen deshalb einschreiten. Die weitverbreitete Auffassung, es handle sich bei häuslicher Gewalt um ein privates Delikt, das die Öffentlichkeit nichts angehe, ist falsch. Gerade Gewalt in der intimen Sphäre der eigenen Wohnung ist besonders verwerflich. Hier liegt nicht nur eine Verletzung von Art. 1 und Art. 2 GG vor, sondern auch eine Verletzung des hohen Rechtsgutes der eigenen Wohnung. Durch solche schweren Verfehlungen wird immer auch der öffentliche Frieden verletzt. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Gewalt gegen Frauen ist nicht nur individuelles Schicksal, sondern immer auch eine schwere Menschenrechtsverletzung. Körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt sind die höchsten Gesundheitsrisiken, mit denen Frauen auf der ganzen Welt konfrontiert sind. In Deutschland ist etwa jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens Gewalt ausgesetzt. Täter sind häufig Partner, Ehemänner oder Menschen aus dem familiären Umfeld. In besonders hohem Maße sind Frauen und Mädchen mit Behinderungen gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden. Dies wurde anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen, den wir letzte Woche begangen haben, wieder einmal deutlich gemacht. Wir begrüßen die geplante bundesweite Einführung des barrierefreien Frauenhilfetelefons ausdrücklich. Ich freue mich über die Einstimmigkeit, die wir hier bei dieser Maßnahme zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen erzielen. Das Frauenhilfetelefon wird unter einer bundesweit einheitlichen Nummer erreichbar und rund um die Uhr besetzt sein. Die Frauen können sich darauf verlassen, dass ihre Anonymität gewahrt ist, und sie können in ihrer Muttersprache reden. Das Hilfetelefon stellt keine Konkurrenz dar zu den bereits bestehenden Einrichtungen, die wichtige und hervorragende Arbeit leisten. Vielmehr ist es eine Ergänzung, um noch niedrigschwelligere Hilfe zu gewährleisten. Die Erstberatung durch das Hilfetelefon wird den Frauen eine erste Hilfestellung geben und ihnen den Weg zu den jeweiligen Unterstützungseinrichtungen vor Ort weisen helfen. Der Schutz von Frauen vor Gewalt ist Bestandteil der sozialen Daseinsvorsorge. Die Beratungsstellen und Frauenhäuser vor Ort leisten eine unverzichtbare und wertvolle Arbeit. Sie brauchen endlich eine gesicherte Finanzierung und bundesweit einheitliche Regelungen. Hier ist die Bundesregierung gefordert, in Zusammenarbeit mit den Ländern Lösungen zu finden. Die zu schaffenden und auszubauenden Schutz- und Unterstützungseinrichtungen müssen dabei auch die besondere Situation von Frauen mit Behinderungen, wie bereits ausgeführt, aber auch die Situation von Migrantinnen berücksichtigen. Das Frauenhilfetelefon ist Bestandteil der Umsetzung europäischer Vorgaben zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Hier ist viel bereits geschafft worden in Deutschland. Aber es ist auch noch viel zu tun. Besonders der Europarat - ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats - ist bei dem Thema Schutz von Frauen vor Gewalt vorbildlich aktiv. Er hat eine Konvention erarbeitet, die inzwischen von 17 Staaten unterzeichnet wurde. Es wird höchste Zeit, dass Deutschland die Konvention des Europarats gegen Gewalt an Frauen ratifiziert und umsetzt. Das Abkommen schafft einen übergreifenden rechtlichen Rahmen zur Bekämpfung von Gewalt und beschreibt auch konkrete Maßnahmen. Der Europarat hat auch eine wie ich finde sehr gute Kampagne zum Thema Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt gestartet. Als Kontaktparlamentarierin der Kampagne für Deutschland würde ich mich sehr freuen, wenn wir als Abgeordnete, wenn dieses Parlament die Kampagne aktiv unterstützen würde. In Deutschland haben wir schon viel erreicht in Sachen Schutz von Frauen vor Gewalt, sowohl was die Gesetzgebung angeht als auch die Arbeit von Beratungseinrichtungen und Frauenhäusern vor Ort. Ich danke allen herzlich für die gute Arbeit und besonders dafür, dass wir hier parteiübergreifend zusammenarbeiten, im Sinne der betroffenen Frauen. Sibylle Laurischk (FDP): Am 30. November 2011 haben alle Fraktionen im Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geschlossen für das Hilfetelefongesetz votiert. Dies ist ein gutes Signal für die Betroffenen und ein wichtiger Schritt, häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe gegen Frauen konsequent zu bekämpfen. Mit der Einrichtung des bundesweiten Hilfetelefons für von Gewalt betroffene Frauen setzen wir nicht nur eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag um, sondern leisten auch einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen. Die Hotline hilft Frauen, die geschlagen und misshandelt oder vergewaltigt werden, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Als Familienanwältin kenne ich die Dimensionen häuslicher Gewalt mit all ihren auch langfristigen Wirkungen, nicht nur auf die Frauen selbst, sondern auch auf ihre Kinder. Alle Formen von Gewalt sind mit zum Teil erheblichen gesundheitlichen, psychischen und psychosozialen Folgen verbunden. Dies verursacht erhebliche Folgekosten im Gesundheitssystem, in den Sozialsystemen, den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und im öffentlichen Dienst. Opfer häuslicher Gewalt brauchen schnelle, unbürokratische und niedrigschwellige Hilfe, die jederzeit und ohne großen Aufwand anonym genutzt werden kann. Das zentrale Hilfetelefon wendet sich an gewaltbetroffene Frauen und Personen aus deren sozialem Umfeld, die durch eine erste Beratung und eine Weitervermittlung an Unterstützungseinrichtungen vor Ort Zugang zum Hilfesystem erlangen. Mit dem Hilfetelefon werden insbesondere Frauen erreicht, die bisher nicht oder sehr spät in kommunalen Hilfeeinrichtungen angekommen sind. Entscheidend für Frauen in einer Gewaltsituation ist, dass sie sich an eine qualifizierte Vertrauensperson wenden können. In besonderem Maße gilt dies für Opfer von Menschenhandel, Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung oder für Frauen, die aufgrund einer Behinderung eingeschränkt sind, aber auch für Migrantinnen, die der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtig sind. Diese bestehenden Barrieren halten betroffene Gewaltopfer fast immer davon ab, sich nach außen zu wenden. Genau dieser schwer erreichbaren Zielgruppe - nämlich Frauen mit Behinderung, Migrantinnen oder auch älteren Frauen - wird der Weg ins Hilfesystem durch die barrierefreie, mehrsprachige und standortunabhängige Inanspruchnahme des Hilfetelefons, das rund um die Uhr erreichbar ist, geebnet. Untersuchungen zufolge werden circa 80 Prozent der Betroffenen von den bestehenden Hilfestrukturen nicht oder nicht früh genug erreicht. Sie sind entweder wenig oder nicht bekannt oder nur zu begrenzten Öffnungszeiten erreichbar. Wir müssen nun dafür sorgen, dass das Hilfetelefon mittels nachhaltiger Öffentlichkeitsarbeit bundesweit bekannt wird. Es darf in Zukunft den Fall nicht mehr geben, dass eine von Gewalt betroffene Frau aufgrund der üblichen Öffnungs- und Telefonzeiten von Unterstützungseinrichtungen vor Ort keine qualifizierte Hilfe erreicht. Gewaltopfer müssen wissen, dass sie sich jederzeit, entgeltfrei, mehrsprachig und barrierefrei an die Hotline wenden können. Abschließend möchte ich ein mir besonders am Herzen liegendes Thema ansprechen: Die Finanzierung von Frauenhäusern. Das Hilfetelefon ist ein wichtiger erster Schritt der Kontaktaufnahme und kann somit eine Brücke zu bestehenden Hilfeangeboten bauen. Gerade deswegen müssen wir jetzt in besonderem Maße auch diese Beratungs- und Hilfeeinrichtungen in den Blick nehmen. Wir müssen, um die kommunalen Angebote zu stärken, eine Lösung für eine nachhaltige Finanzierung von Frauenhäusern finden, die bundesweit einheitlich geregelt ist. Opfer von familiärer Gewalt brauchen sichere Zufluchtsorte. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Schutzräume langfristig finanziell abgesichert werden. Cornelia Möhring (DIE LINKE): Die Einrichtung eines bundesweit erreichbaren, kostenlosen und rund um die Uhr besetzten Hilfetelefons ist eine richtige Maßnahme, um möglichst viele Betroffene an die Hilfeeinrichtungen in Wohnortnähe weiterzuleiten. Damit kann eine Lücke im bestehenden Unterstützungssystem für von Gewalt Betroffene geschlossen werden. Die bedrückende Zahl, dass 80 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen bisher in keine der bestehenden Hilfenetze vermittelt werden können, spricht für sich selber. Darin sind sich wohl alle hier im Hause ebenso wie auch die Vertreterinnen der Schutz- und Hilfseinrichtungen vor Ort einig. Die Implementierung des Hilfetelefons muss aber von einer Reihe von Maßnahmen begleitet werden, die in der vorliegenden Gesetzesvorlage leider nicht vorkommen. So sollten vor der Inbetriebnahme exakte Standards festgelegt werden, die sich an denen der vorhandenen Notrufe orientieren. Denn wenn dieses Hilfetelefon einen Lotsencharakter haben soll, also an die richtige Stelle weiterleiten und zugleich für die gesamte Bandbreite der Gewaltfälle zuständig sein soll, brauchen wir Konkretisierungen und entsprechende Standards. Das Hilfetelefon soll in folgenden Fällen weiterhelfen durch weiterleiten: im Falle häuslicher Gewalt, im Falle von Gewalt außerhalb von Beziehungen, im Falle sexualisierter Gewalt, bei Stalking, Zwangsheirat, Gewalt im Namen der "Ehre", Genitalverstümmelung, Zwangsprostitution, Gewalt an Migrantinnen, an Frauen mit Behinderungen sowie älteren Frauen und andere Gewaltfälle gegen Frauen. An das Hilfetelefon sollen sich sowohl die direkt Betroffenen wenden können, aber auch Nachbarn, Familienangehörige, Ärzte, Lehrerinnen, alle diejenigen, die versuchen zu unterstützen und dafür Rat brauchen. Das setzt umfangreiche Datenbanken voraus, damit die Frauen bei den unterschiedlichen Schutz- und Hilfeeinrichtungen vor Ort auch tatsächlich ankommen. Die einzustellenden Fachkräfte müssen entsprechend qualifiziert sein, Angebote für unterschiedliche Behinderungsarten und mehrere Sprachen abdecken. Da reicht eine Call-Center-Erfahrung nicht aus. Sollten die Anrufe den Umfang erreichen, den die Bundesregierung prognostiziert - also 700 täglich -, dann ist uns allen auch jetzt schon klar, dass das heute existierende Hilfesystem finanziell und personell besser ausgestattet werden muss. Es bietet bereits heute nicht genügend Räume, Personal und Ausstattung, um wirklich allen zu helfen. Melden sich mehr, braucht es auch mehr Angebote. Das ist eine einfache Rechnung. Ein weiterer Punkt muss in der Umsetzung noch nachgebessert werden: die geplanten Sprachangebote. Hier will die Bundesregierung der europäischen Richtlinie folgen und lediglich Übersetzungen für Englisch, Türkisch und Russisch anbieten. Aber dieses Angebot greift zu kurz. Ich habe eingangs auf die Vielzahl der Gewaltformen verwiesen, für die die Notrufnummer zuständig sein soll. Dazu gehört auch Zwangsprostitution, die ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat. In der Bundesrepublik haben wir es mit einer Welle von zwangsprostituierten Roma aus Rumänien, Bulgarien und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern zu tun. Für sie brauchen wir ebenso dringend das Hilfetelefon. Ihre Sprachen müssen im Angebot enthalten sein. Auch die Vertreterinnen von Frauen mit Behinderung äußern sich kritisch zum bisherigen Notrufkonzept der Bundesregierung. Weil für die Umsetzung immer noch unklar ist, ob wirklich alle Frauen mit Behinderungen das Nothilfetelefon auch nutzen können. Dies würde nämlich erfordern, dass für jede Behinderungsart eine adäquate Nutzungsmöglichkeit bereitgestellt werden müsste. Es reicht eben nicht, gehörlosen Frauen mitzuteilen, sie könnten ja ein Faxgerät benutzen. Es geht außerdem um die Befähigung der Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen am Telefon, auf verschiedene Behinderungsarten auch angemessen zu reagieren. Einen Schwerpunkt bildet die "einfache Sprache" - die Fähigkeit, komplexe Inhalte in einfache Sprachformen für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu "übersetzen". Frauen mit solcher Behinderung sind - ähnlich wie gehörlose Frauen - in besonders hohem Masse von Gewalt betroffen. Meine Gespräche mit Vertreterinnen der Hilfesysteme haben die Forderungen nach einer begleitenden Evaluierung unter Beteiligung der bestehenden Hilfenetze, unter anderem Frauenhäuser, Beratungsstellen, Hilfetelefone, bestätigt. Nach einer Anlaufzeit des bundesweiten Hilfetelefons, aber nicht später als ein Jahr nach dem Start, sollte ein erneuter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Schutz- und Hilfeeinrichtungen vorgelegt werden. Die Einrichtungen vor Ort müssen von Anfang an in die Überlegungen zur Umsetzung des Hilfetelefons einbezogen werden. Denn noch einmal: Dieses Hilfetelefon wird einen Lotsencharakter haben. Die eigentliche Hilfe muss vor Ort geleistet werden und gesichert sein. Innerhalb der EU gibt es die Forderung, dass eine international besetzte, unabhängige Expertengruppe die Umsetzung der Hilfetelefone auf der nationalen Ebene überwachen soll. Dieser Forderung schließt sich die Linke an. Nach all dem Gesagten wird deutlich, dass die im Gesetz vorgesehene Evaluierung des Hilfetelefons nach fünf Jahren völlig an der Realität vorbei geht. Bereits in der Einführungsphase ist eine wissenschaftliche Begleitung notwendig, damit rechtzeitig Schwachstellen erkannt und beseitigt werden können. Die Evaluierung muss sich auf das gesamte Hilfesystem erstrecken und sollte nicht nur das zentrale Hilfetelefon abdecken. Die Bundesregierung muss also trotz der im Gesetzentwurf erkennbaren guten Absicht noch deutlich nacharbeiten. Damit sollte sie schnell beginnen, damit die dringend nötige Hilfe dann 2013 auch in vollem Umfang geleistet werden kann. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jedes Jahr fliehen in Deutschland etwa 40 000 Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt in eines der etwa 360 Frauenhäuser. Jede vierte in Deutschland lebende Frau hat körperliche oder sexuelle Gewalt durch aktuelle oder frühere Partner erlebt. 60 Prozent der Betroffenen leben mit Kindern zusammen. Häusliche Gewalt ist die häufigste Ursache für Verletzungen bei Frauen, häufiger als Verkehrsunfälle, Überfälle und Vergewaltigungen zusammen. Diese Zahlen machen deutlich: Gewalt gegen Frauen ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Gewaltfreiheit gehört zu den zentralen Grundwerten des menschlichen Zusammenlebens. Die Ausübung von Gewalt verletzt Menschen in ihren verfassungsmäßig verbürgten Grundrechten und beschränkt sie in ihrer Entfaltung und Lebensgestaltung. Es ist Aufgabe des Staates, Gewalt gegen Frauen auch im sozialen Nah-raum zu verhindern, ihr vorzubeugen und für Schutz und Hilfe für die Opfer zu sorgen. Wir sind uns einig: Die Einrichtung des Hilfetelefons ist richtig. Ich möchte an dieser Stelle jedoch noch einmal da-rauf hinweisen, dass eine gute Umsetzung nur in Zusammenarbeit mit den Fachfrauen aus den bereits bestehenden Notrufen und Beratungsstellen gelingen kann. Die Besetzung des Beirats muss nun zügig angegangen werden, damit die Fachfrauen die Umsetzung des Gesetzes aktiv mitgestalten können. Es muss abgesprochen werden, wie das Hilfetelefon qualitativ ausgestaltet werden muss, welche Aspekte die Evaluation beinhalten soll und wie das Ziel erreicht wird, das Telefon bundesweit bekannt zu machen. Ich finde es richtig, dass der Bund im Sinne der öffentlichen Fürsorge die Kosten der Einrichtung des Hilfetelefons übernimmt. Der Bund ist zuständig und darf die Länder damit nicht alleine lassen. Unklar bleibt bisher jedoch, wer die Folgekosten trägt. Die Schutzräume und Beratungsstellen sind von zentraler Bedeutung für den nachhaltigen Erfolg des neuen Angebots des Hilfetelefons. Die Kommunikation mit den Ländern muss deutlich verbessert werden, damit es nicht zu Kürzungen bei den Hilfeeinrichtungen vor Ort kommt. Lokale Strukturen müssen erhalten bleiben, da der Hilfebedarf bei erfolgreicher Umsetzung des Hilfetelefonangebots steigen wird. Denn das Bundesangebot ist auf eine Erstberatung ausgerichtet, es vermittelt an die lokalen Angebote. Damit sich die Situation nachhaltig verbessern kann, müssen Länder und Kommunen die Mittel aufstocken, anstatt etwa mit Verweis auf das vom Bund geschaffene Angebot Einsparungen vorzunehmen. Der Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt darf nicht von Fragen der Finanzierung abhängen. Noch immer sind die Frauenhäuser nicht durchgehend finanziell abgesichert. Das trägt dazu bei, dass Opfern häuslicher Gewalt nicht immer und überall ein unmittelbarer und freier Zugang zu einem Frauenhaus gewährleistet werden kann. In schwierigen Haushaltszeiten wird an freiwilligen Zuschüssen gespart. Dort, wo der Aufenthalt über Tagessätze finanziert wird, haben manche Frauen mangels Anspruch auf soziale Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch, SGB II, nur unter großem bürokratischem Aufwand Zugang zu einem Frauenhaus. Dies betrifft volljährige Schülerinnen, Studentinnen und Auszubildende, wenn sie den Tagessatz nicht selbst aufbringen können. Auch Migrantinnen mit einer räumlichen Beschränkung müssen viele Barrieren überwinden, um aus einer gewaltvollen Partnerschaft zu flüchten. Die aktuell von der Universität Bielefeld vorgelegte Studie zur Lebenssituation und zu Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen macht deutlich, dass diese Gruppe von Frauen bislang unzureichend vor Gewalt geschützt wird. Insbesondere Frauen, die in Einrichtungen leben, haben es schwer, aus Gewaltsituationen zu entkommen. Es bedarf Maßnahmen zur Stärkung des Selbstvertrauens, eines respektvollen Umgangs mit beeinträchtigten Frauen durch Personen in Ämtern und Hilfeeinrichtungen sowie barrierefreier Unterstützungsangebote. Auch die Mitarbeiterinnen des Hilfetelefons müssen für die besonderen Bedarfe von Frauen mit Behinderungen geschult werden. Eine Erreichbarkeit zu jeder Zeit muss sichergestellt werden, da ein nicht durchgegangener Anruf dazu führen kann, dass die Frauen keinen zweiten Anlauf nehmen oder nehmen können. Wir sind dazu verpflichtet, uns dafür einzusetzen, dass Frauen, die von Gewalt betroffen sind, unmittelbare und unbürokratische Hilfen erhalten. Sie dürfen nicht von Amt zu Amt geschickt werden, um ihren Leistungsanspruch überprüfen zu lassen. Die Tagessatzfinanzierung ist daher grundsätzlich der falsche Weg der Finanzierung für die Frauenhäuser und Schutzeinrichtungen. Wir brauchen ein gemeinsames Konzept von Bund, Ländern und Kommunen, um bundesweit eine qualitativ hochwertige, bedarfsgerechte Infrastruktur an Hilfeangeboten, zu der alle von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen freien Zugang haben, sicherzustellen. Dieser Appell richtet sich vor allem an die Regierung. Die Opposition ist seit langem bereit, über eine strukturelle Novellierung der Finanzierung der Frauenhäuser zu sprechen. Legen Sie den lang angekündigten Bericht zur Lage der Frauenhäuser vor! Dann können wir gemeinsam ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen angehen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8008, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7238 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das sind alle Mitglieder des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Altmaier, Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein, Burkhardt Müller-Sönksen, Gabriele Molitor, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Barrierefreies Filmangebot umfassend ausweiten - Mehr Angebote für Hör- und Sehbehinderte - Drucksache 17/7709 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Kunst und Kultur sind unsere geistige Nahrung. Sie erweitern den Horizont jedes Einzelnen und tragen zur Identitätsbildung unserer Bürgerinnen und Bürger und Gesellschaft bei. Sie bereichern uns mit Lebensmut und Lebensfreude. Ohne den Zugang zu Kunst und Kultur wäre das Leben für uns alle ärmer. Diese Wirkungen gelten ebenso für Menschen mit Behinderungen. In Deutschland leben etwa 9,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung, also mehr als 11,7 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Darunter befinden sich circa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen sowie weitere Millionen gehörlose, schwerhörige und ertaubte Menschen. Aus Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich für uns - und es sollte selbstverständlich sein: Auch Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Zugang zum Angebot an Kunst und Kultur in unserem Land, ohne Abstriche! Inklusion bedeutet für uns, dass Kunst und Kultur sich für Menschen mit Behinderungen ohne Hindernisse erschließen lassen sollen. Das schließt den Kinofilm ein. Wir als christlich-liberale Koalition wollen mit unserer Initiative, dass Teilhabe behinderter Menschen auch bei Film, Kino und den audiovisuellen Medien nicht nur Theorie bleibt, sondern Wirklichkeit wird. Die Behindertenbeauftragte meiner Fraktion, Maria Michalk, hat den Film und das Fernsehen als notwendigen Bestandteil der barrierefreien Organisation unserer Gesellschaft bezeichnet: "Barrierefreiheit bezieht sich nicht nur auf bauliche Vorhaben, sondern auch auf barrierefreie Kommunikation, auf ein barrierefreies Film- und Fernsehangebot sowie ein barrierefreies Internet." Für blinde und sehbehinderte Menschen bietet sich als Instrument der Barrierefreiheit von Kinofilmen die Audiodeskription an, für hörbehinderte Menschen die Untertitelung. Die Audiodeskription eines 90-Minuten-Films kostet circa 5 000 Euro. Die durchschnittlichen Untertitelungskosten betragen bei einem entsprechenden Film circa 1 000 Euro. Gemessen an den Produktionsbudgets vieler Kinofilme sind dies sehr kleine Summen. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben die Notwendigkeit der barrierefreien Ausstattung bereits in der Vergangenheit erkannt. Die fünfte Novelle des Filmförderungsgesetzes, FFG, von 2009 sieht Förderungshilfen für Filme mit deutscher Audiodeskription und mit deutschen Untertiteln vor, so haben wir es von der Union gewollt. Dadurch sollte ein Anreiz für das barrierefreie Abspielen für Seh- und Hörbehinderte geschaffen werden - § 15 Abs. 1 Nr. 6 lit. h. FFG. Die Herstellung einer Endfassung mit einer deutschen Audiodeskription und einer Untertitelung kann als eines von drei notwendigen Kriterien herangezogen werden, die für den kulturellen Eigenschaftstest erfüllt sein müssen. Nach Aussage der Filmförderungsanstalt, FFA, gibt es zu dieser Fördermaßnahme noch keine aussagekräftigen Zahlen und keine Nachweise funktionierender Umsetzung. Was bisher ermittelt wurde, gleicht mehr einem Nullzustand. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband stellt hierzu fest: "Die Produzenten von Audiodeskriptionen ... können bisher keinen Auftrag für eine Hörfilmproduktion auf die Novellierung des Filmförderungsgesetzes zurückführen, das heißt, dass eine Audiodeskription für einen Film produziert wurde aufgrund der Nennung des Kriteriums 6h beim Filmförderantrag. ... Aus unserer Sicht haben die allgemeinen Förderungskriterien des FFG keine positive Auswirkung auf eine erhöhte Produktion von Audiodeskriptionen." Über diese Neuerung in der letzten FFG-Novelle hi-naus gibt es Fördermöglichkeiten für praktisch alle Glieder der Produktions- und Verwertungskette von Filmen: die Verleihförderung und die Förderung des Video-/ DVD-Bereichs sowie für die Filmtheater. Was nützt ein barrierefrei ausgestatteter Film, wenn in den Kinosälen die Kopfhörer für die Übermittlung der Audiodeskription fehlen? Zwar hat für Hör- und Sehgeschädigte das Ansehen von Kinofilmen per DVD oder Video eine besondere Bedeutung, trotzdem sollen auch sie nach unserer Auffassung am Gemeinschaftserlebnis Kino teilhaben können. Die Resonanz auf alle diese Förderangebote ist jedoch verschwindend gering. Es besteht Handlungsbedarf. Offensichtlich spielen die Kosten eine entscheidende Rolle. Möglicherweise muss bei allen Akteuren ein entsprechendes Problem- und Bedarfsbewusstsein verbessert werden. Der Film muss sich stärker öffnen für die Hör- und Sehgeschädigten. Im Präsidium der Filmförderungsanstalt haben wir mehrfach auf diese Problematik hingewiesen und wiederholt für den Ausbau der barrierefreien Angebote plädiert. Inzwischen haben wir erste positive Resonanzen da-rauf erhalten. Wir begrüßen, dass die Allianz Deutscher Produzenten - Film & Fernsehen in einem Rundschreiben bei ihren Mitgliedern dafür geworben hat, dass möglichst viele Filme entsprechend ausgerüstet werden. Dies lässt vorsichtig hoffen, dass die Filmwirtschaft nicht nur die Berechtigung dieses Anliegens von Millionen Hör- oder Sehgeschädigter im Land anerkennt, sondern dass sie auch den Nutzen für sich selbst erkannt hat: Sie kann mit ihren Produktionen deutlich mehr Zuschauer und Zuhörer erreichen. Weitere erste Ansätze gibt es erfreulicherweise schon, unter anderem durch die Berlinale, die regelmäßig Wettbewerbsfilme mit Audiodeskription zeigt, und durch den Deutschen Hörfilmpreis. Beispielgebend ist der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung: Er kooperiert seit 2007 mit der Deutschen Hörfilm gGmbH und bietet hierbei regelmäßig Hörfilme im Kleisthaus in Berlin an. Auch die Rundfunkanstalten, vor allem die öffentlich-rechtlichen, sehen wir in der Pflicht. Die Haushalts- und Betriebsstättenabgabe, die ab dem Jahr 2013 eingeführt werden soll, werden auch hör- und sehbehinderte Menschen zahlen müssen. Also haben sie auch Anspruch darauf, die öffentlich-rechtlichen Sendungen und Fernsehfilme rezipieren zu können. Großbritannien erweist sich hier als vorbildlich. Die britischen Sender haben sich auf eine Hörfilmquote von 20 Prozent verpflichtet. Wir appellieren an die Bundesländer, zusammen mit den Rundfunkanstalten ähnliche Zielmarken ins Auge zu fassen. Wir erkennen an, dass es auch hier erste Bewegung gibt. Die Ankündigung der ARD vom September dieses Jahres, wonach bis 2013 alle Erstsendungen mit Untertiteln versehen werden sollen, werden wir auf ihre Re-alisierung hin überprüfen. Im Rahmen der bevorstehenden Novellierung des Filmförderungsgesetzes müssen wir ein besonderes Augenmerk auf den barrierefreien Film legen. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bereits eine Prüfung angekündigt hat, ob die Erleichterung der Förderbedingungen für barrierefreie Filme zu einer Steigerung des Angebots geführt hat. Sollte sich in der Tat keine Ausweitung des barrierefreien Angebots zeigen, sind im Gesetzentwurf für die nächste FFG-Novelle entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Wir haben in unserem Antrag verschiedene Handlungsoptionen aufgezeigt. So sollte geprüft werden, ob Kinos für Investitionen in die barrierefreie Ausstattung ihrer Säle Ermäßigungen ihrer Abgabe an die Filmförderungsanstalt erhalten können. Außerdem könnten geförderte Filmproduktionen ab einer bestimmten Förderhöhe zur barrierefreien Ausstattung des Films verpflichtet werden. Ziel sollte es sein, eine Regelung zu finden, die den Bedürfnissen von seh- und hörbehinderten Kinobesuchern besser gerecht wird. Darüber hinausgehende Perspektiven zeigt der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Hubert Hüppe auf: "Neben mehr Hörfilmen im Fernsehen und im Kino muss auch das Angebot an Filmen und Sendungen in leichter Sprache und mit Untertitelungen ausgebaut werden. Außerdem sind Angebote in Gebärdensprache immer noch äußerst rar. Wer wirksame Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention will, kann den derzeitigen Zustand nicht einfach akzeptieren". Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband hat im Oktober 2011 unter seiner Präsidentin Renate Reymann eine Resolution "Mehr Barrierefreiheit in Film und Fernsehen" verabschiedet. Ihre anerkennenswerten Vorschläge werden in unsere weiteren Beratungen mit einfließen. Wir betreten mit unserer nationalen Initiative Neuland. Denn wir haben eine Rechercheumfrage in einer Vielzahl europäischer Staaten unternommen: Diese Umfrage ergab, dass kein europäisches Land bei der Normsetzung zur barrierefreien Ausstattung von Kinofilmen weiter vorangeschritten ist als Deutschland. Auch die Europäische Union ist über unverbindliche Empfehlungen der EU-Kommission bislang nicht hi-nausgegangen. Kein akzeptabler Zustand! Mit dem vorliegenden Antrag verfolgen wir das Ziel, alle Beteiligten stärker für die Notwendigkeit der barrierefreien Ausstattung von Filmen zu sensibilisieren. Die Filmbranche ist aufgerufen, dem Geist der 2009 in das FFG aufgenommenen Förderhilfen stärker gerecht zu werden, den Briefen Taten folgen zu lassen. Der vorliegende Antrag ist auch eine Einladung an die anderen Fraktionen, dieser Initiative beizutreten, denn warum sollten wir nicht gemeinsam für mehr Partizipation sorgen! Dorothee Bär (CDU/CSU): "Deutschland wird inklusiv" - so heißt die Dachkampagne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention der Bundesregierung. Das Schwerpunktthema in diesem Jahr ist Arbeit und Barrierefreiheit. Die Kampagne macht mit sehr eindrücklichen Bildern zum Beispiel von unerreichbaren Geldautomaten darauf aufmerksam, dass man "einfach alles erreichbar" machen kann. Alle, die keinerlei Behinderungen haben, vergessen sehr leicht, wie beschwerlich der Weg durch eine Stadt mit einem Rollstuhl sein kann. Erst wenn man Eltern wird, wird man ansatzweise daran erinnert, steht man mit Kinderwagen und vollen Einkaufstaschen vor einer endlosen Treppe. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich in einer alltäglichen Situation daran erinnert wurde, wie es ist, einen wunderbaren Film nicht sehen zu können. Ich begann den Oscar-nominierten Film von Caroline Link "Jenseits der Stille" zu Hause an meinem Fernseher anzusehen. Die Einstellungen waren aus irgendwelchen Gründen automatisch so, dass die Audiodeskription eingeschaltet war. Im ersten Moment dachte ich, es gehöre zu dem Film dazu, die Beschreibung der mündlichen Szenerie war einfach wunderschön und sehr exakt. Nach einer Weile schaltete ich dann die Audiodeskription aus, aber ich musste noch oft daran denken, welch einmalige Filmerlebnisse sehbehinderte Menschen mit anderen Menschen auch im Kino würden teilen können, gäbe es nur regelmäßig das Angebot dazu. Die Digitalisierung der Kinos bietet dazu derzeit eine einmalige Chance. Ich danke dem BKM, der Filmwirtschaft, der FFA, dem Bund und den Ländern ausdrücklich für das gemeinsame Förderprogramm zur Digitalisierung der Kinos und bitte darum, dass die Förderungsrichtlinien der Filmförderungsgesellschaften in dieser Hinsicht um verpflichtende Richtlinien zur Barrierefreiheit ergänzt werden (in Form von Audiodeskription und Untertiteln). Der Bundestag hat beschlossen, dass hierfür im Jahr 2010, dieses Jahr und auch 2012 jeweils vier Millionen Euro bereitgestellt werden. Dabei kann auch die technische Voraussetzung für die Filmvorführungen mit Audiodeskription in Kinos geschaffen werden. Durch diese simple technische Voraussetzung (Kopfhörer) und natürlich durch ein großes Film-angebot mit Audiodeskription würden wir vielen sehbehinderten Menschen ein "inklusives" Filmerlebnis ermöglichen. Das ist natürlich nur ein Teil des barrierefreien Filmangebots. Angebote mit Gebärdensprache sowie mit deutschen Untertiteln und in einfacher Sprache müssen ebenso ausgebaut werden. Hier sind besonders die öffentlich-rechtlichen Sender gefordert und kommen dem auch bereits teilweise nach. Auch durch den einfachen Schritt der Überarbeitung der Brandschutzverordnungen können wir Rollstuhlfahrern auch in Gruppen den barrierefreien Kinogenuss ermöglichen. Unser gemeinsames Ziel muss es schlichtweg sein, mehr Bewusstsein für die Problematik zu schaffen. Der Zeitpunkt ist durch die Digitalisierung der Kinos und durch die Umstellung auf die Haushalts- und Betriebsstättenabgabe günstig. Ich würde mich daher sehr freuen, wenn das Haus gemeinsam für unseren Antrag stimmen würde, damit Deutschland ein "inklusives" Land wird, das viele gemeinsame (Kino-)Erlebnisse ermöglicht. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Filme sind ein zentraler Bestandteil unseres kulturellen Lebens. Sie sind Gesprächsstoff am Arbeitsplatz, in der Familie und im Freundeskreis. Mitreden können über Filme, das wollen auch Menschen, die sinnesbehindert sind. Und dabei handelt es sich nicht um eine kleine Minderheit. Bei uns in Deutschland sind circa 1,2 Millionen Menschen sehbehindert oder blind sowie ebenso viele schwerhörig oder gehörlos. Und sie wollen beim Film auch mitfiebern, mitleiden und mitlieben können. Hörfilme machen das möglich und Filme mit Untertitelung auch. Aber davon gibt es leider immer noch viel zu wenige. Gerade bei den aktuellen Produktionen ist dieser Mangel zu beklagen. Dieser Situation widerspricht Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention, die klipp und klar "die volle und wirksame Teilhabe am kulturellen Leben" fordert. Heute Vormittag haben wir hier bereits über die Forderung der SPD nach Umsetzung der UN-Konvention in allen Lebensbereichen beraten. Es gibt einige wunderbare Initiativen, wie den alljährlichen Hörfilmpreis, vergeben vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. Hier bin ich regelmäßig dabei und kann erfahren, mit welcher Begeisterung die barrierefreien Filmpräsentationen aufgenommen werden. Oder es gibt den LUX-Filmpreis des Europäischen Parlamentes. Damit ist die Finanzierung der Erstellung einer Fassung für hör- und sehbehinderte Menschen verbunden. Jedem Mitgliedsland wird eine entsprechende Kopie bereitgestellt und die Verbreitung auf DVD gefördert. Der prämierte Film geht anschließend auf Tournee durch die Mitgliedsländer. Preisträger war im vergangenen Jahr die herausragende deutsche Produktion "Die Fremde", die auch den Deutschen Filmpreis bekommen hat. Dieser Film wurde im Sommer in Berlin in bearbeiteter Fassung präsentiert. Solche Initiativen sind schon deshalb wichtig, weil sie das Problembewusstsein schärfen und auf den drängenden Handlungsbedarf hinweisen. Als wir vor drei Jahren das Filmförderungsgesetz novelliert haben, haben wir bei der Produktionsförderung im § 15 FFG gemeinsam beschlossen, dass wenigstens eine Endfassung eines geförderten Films in einer Version mit deutscher Audiodeskription für Sehbehinderte und mit deutschen Untertiteln für Hörgeschädigte hergestellt wird. Allerdings war dies eine von acht Bedingungen, von denen drei erfüllt sein müssen, damit Fördergelder fließen. In der Praxis haben die Produzenten dann eher andere Voraussetzungen gewählt. Ich hatte da, ehrlich gesagt, auch ein wenig darauf gesetzt, dass in der Filmbranche an dieser Stelle auch ein Stück gesellschaftspolitische Verantwortung zugunsten von barrierefreien Filmfassungen wahrgenommen wird. Bin aber leider enttäuscht worden. Ich selbst habe mich an den Vorstand der Filmförderungsanstalt gewandt, um zu erfahren, für wie viele geförderte Filme eine Endfassung mit einer deutschen Audiodeskription und einer Untertitelung hergestellt worden sind. Auch wenn es dazu noch keine aussagekräftigen Zahlen gibt, deutet doch alles darauf hin, dass sich kaum ein Produzent für die Bedingung der Erstellung einer barrierefreien Filmfassung entschieden hat. Hier müssen wir nachlegen. Die Förderbedingung ist ganz offensichtlich zu weich formuliert. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert eine klare Regelung, die nicht mehr zu umgehen ist. Wir werden auch die Länderförderer auffordern, ähnlich zu verfahren. Auch die Fördermöglichkeiten für Untertitelung und Audiodeskription in der Verleih- und Videoförderung haben bisher keine wirkliche Verbesserung der Situation gebracht, weil einfach viel zu wenig Gebrauch gemacht wird davon. Das Gleiche gilt für Förderung von Modernisierungsmaßnahmen im Rahmen der Kinoförderung nach dem FFG. Danach kann theoretisch der Umbau von Kinos zum Einbau von Induktionsschleifen für den Einsatz von Kopfhörern für hörgeschädigte Menschen gefördert werden. Auch diese Fördermöglichkeit wird kaum genutzt. Auch hier müssen wir Anreize schaffen, damit wirklich etwas passiert. Wenn bisher immer das Kostenargument als größtes Hindernis vorgebracht wurde, dann eröffnen sich mit der Digitalisierung doch jetzt ganz neue Möglichkeiten. Demnächst wird es in der Regel nur noch digitale Endfassungen von Filmen geben. Mit der digitalen Filmdistribution und digitalen Filmvorführung müssen nicht mehr aufwendig einzelne barrierefreie Kopien gefertigt werden, sondern jeder Film kann kostengünstig digital sowohl mit Audiodeskription als auch Untertitelung versehen werden. Dieses Angebot kann dann nach Belieben aktiviert werden. Deshalb fordern wir, dass sich diese neuen Möglichkeiten auch in den verschiedenen Förderrichtlinien niederschlagen. Das neue Filmförderungsgesetz wird ab 2014 in Kraft treten. Wir bereiten es jetzt vor, aber das dauert. Wir sollten jetzt prüfen, ob wir nicht schon vorher Übergangsregelungen - etwa über untergesetzliche Richtlinienänderungen - finden können. Ich bin dafür! Die SPD-Bundestagsfraktion erarbeitet derzeit einen Antrag, mit dem wir den Handlungsbedarf für den gesamten Kultur- und Medienbereich aufzeigen, der sich aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ergibt. Darin fordern wir konkrete Maßnahmen, die einen gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Kultur, Information und Kommunikation sicherstellen. Auch unsere Forderungen zum Filmbereich finden sich hier. Ganz wichtig: Die nötigen Anpassung gehen über das Filmförderungsgesetz hinaus. Denn die Anreize für barrierefreie Filme müssen sich im gesamten Filmförderungssystem niederschlagen. Auf die Länderförderer bin ich schon eingegangen. Auf Bundesebene müssen auch für den Deutschen Filmförderfonds die entsprechende Richtlinien verbindlich werden. Ebenso muss das in der kulturellen Filmförderung in der Zuständigkeit des Kulturstaatsministers umgesetzt werden. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen bleibt da viel zu zögerlich. Die Analyse ist zwar richtig, aber die angemessenen Schlussfolgerungen werden nicht gezogen. Wenn wir hier wirklich etwas ändern wollen, dann brauchen wir nur zu handeln. Der Koalitionsantrag beschränkt sich nur auf das Filmförderungsgesetz. Wir müssen aber alle Förderungsinstrumente in den Blick nehmen. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns in den anschließenden Ausschussberatungen hier einander annähern. Denn im Ziel sind wir uns doch einig: Wir wollen mehr Filme mit Audiodeskription und Untertitelung. Ich wünsche mir, dass wir im Interesse unserer sehbehinderten und hörgeschädigten Mitbürger zu einer gemeinsamen Beschlussempfehlung kommen können. Die SPD-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Dr. Claudia Winterstein (FDP): Wir alle sehen gerne Filme. Einige gehen gerne ins Kino, andere wiederum genießen Filme zu Hause auf Blu-ray, DVD oder im Fernsehen. Circa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen sowie weitere Millionen gehörlose, schwerhörige und ertaubte Menschen in Deutschland können das Filmerlebnis nur eingeschränkt erleben, da das Angebot von barrierefreien Filmen in Deutschland bisher leider sehr gering ist. Aus Art. 30 der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich, dass Kunst und Kultur sich ohne Abstriche auch für Menschen mit Behinderungen erschließen lassen müssen. Das schließt den Film mit ein. Die technischen Errungenschaften vereinfachen es, Filme teilhabegerecht zu gestalten. Insbesondere die Digitalisierung der Kinos kann dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für den barrierefreien Film zu verbessern. Durch den Einsatz von Audiodeskription und Untertitelung können auch Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen am Erlebnis Film teilhaben. Die Audiodeskription ist eine akustische Bildbeschreibung, mit deren Hilfe Blinden und sehbehinderten Menschen eine verbesserte Wahrnehmung ermöglicht wird. In kurzen Worten werden handlungstragende, visuelle Elemente wie Szenerie, Gestik und Mimik beschrieben. Der Text wird sprachlich genau fixiert und in den Dialogpausen eingesprochen. Die Untertitelung für Gehörgeschädigte beschreibt zusätzlich zu den sprachlichen Inhalten auch Umgebungsgeräusche im Bild. Zudem können durch die Einfärbung der Untertitel die Texte den jeweiligen Hauptcharakteren zugeordnet werden. Diese Hilfsmittel können eingesetzt werden, ohne dass die übrigen Kinobesucher davon etwas mitbekommen. Durch eine Kinobrille, welche die Untertitelung des Filmes nur dem Brillenträger anzeigt, oder durch die Benutzung eines Kopfhörers, der die Audiodeskription einzig dem Hörer vermittelt, kann auf Sondervorstellungen im Kino verzichtet werden. Handlungsbedarf haben der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit gesehen. So existiert bereits eine Reihe von Fördermöglichkeiten für barrierefrei produzierte Filme: Das FFG sieht Förderungsmöglichkeiten für programmfüllende Filme mit deutscher Audiodeskription und mit deutschen Untertiteln für Menschen mit Hörbehinderungen vor. Ebenso sind die Kosten für die Herstellung von ausführlicher Untertitelung oder von Audiodeskription sowohl im Rahmen der Verleihförderung als auch im Rahmen der Videoförderung nach dem FFG anerkennungsfähig. Dennoch ist die Anzahl der bisher produzierten barrierefreien Filme sehr gering. Auch die Förderungsmittel, welche für die barrierefreie Ausstattung von Kinosälen für Hör- und Sehbehinderte gewährt werden können, sind wenig beantragt worden. Die gemeinsame Aufgabe liegt nun darin, den barrierefreien Film weiterzuverbreiten und ihn aus seiner Nische hervorzuholen. Einige Institutionen haben die Bedeutung und das Potenzial bereits erkannt. Die Berlinale hat seit 1999 jährlich mindestens zwei Filme, darunter auch Wettbewerbsfilme, mit Audiodeskription gezeigt. Insbesondere der Deutsche Hörfilmpreis erbringt in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag. Die Deutsche Hörfilm gGmbH leistet im Bereich des barrierefreien Films sehr konstruktive Arbeit. Mit dem vorliegenden Antrag der christlich-liberalen Koalition soll bei allen relevanten Akteuren der Filmbranche das schon vorhandene Problem- und Bedarfsbewusstsein noch weiter gesteigert werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, zu prüfen, ob Kinos für Investitionen in die barrierefreie Ausstattung ihrer Vorführsäle Ermäßigungen ihrer Abgabe an die Filmförderungsanstalt, FFA, erhalten können. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob geförderte Filmproduktionen ab einer bestimmten Förderhöhe zur barrierefreien Ausstattung des Films verpflichtet werden können. Mit der nächsten FFG-Novelle sollte eine Regelung gefunden werden, deren Ziel es ist, die Bedürfnisse von seh- und hörbehinderten Kinobesuchern besser einzubeziehen. Auch die Rundfunkanstalten sehen wir in der Pflicht. Sie sollen ihr barrierefreies Angebot erweitern. Damit könnten sie Nutznießer einer wachsenden Zielgruppe sein. Die Filmbranche ist aufgerufen, dem Ziel der Förderhilfen stärker gerecht zu werden. Unser Ziel ist es, dass sich mittelfristig Investitionen in die barrierefreie Ausstattung von Filmen aus dem Markt refinanzieren lassen. Wir freuen uns auf die gemeinsame Beratung im Ausschuss. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, dass jeder von uns in Deutschland Filme uneingeschränkt erleben kann. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Auf meine Frage an die Bundesregierung, welche in den Jahren 2009 und 2010 mit Bundesmitteln geförderte Filme barrierefrei - Audiodeskription, Untertitelung und Gebärdensprache - produziert worden sind und welche nicht, antwortete der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, am 30. Dezember 2010: "Die 2009 und 2010 von der Filmförderungsanstalt, dem Deutschen Filmförderfonds und der kulturellen Filmförderung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM, geförderten Filme sind zum überwiegenden Teil noch nicht fertiggestellt. Erst die sich an die Fertigstellung anschließende Verleihförderung ermöglicht auch eine direkte Förderung barrierefreier Fassungen. Eine genaue Bezifferung der in den Jahren 2009 und 2010 mit Bundesmitteln geförderten, barrierefreien Filme ist daher zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich. Im Bereich der Filmförderung ist auf folgende Maßnahmen der Bundesregierung hinzuweisen: Das Fünfte Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes, das am 1. Januar 2010 in Kraft getreten ist, sieht auf Initiative des BKM eine Erleichterung der Förderbedingungen für Filme mit Audiodeskription und ausführlicher Untertitelung für hörbehinderte Menschen vor. Hierdurch soll ein Anreiz für die Herstellung barrierefreier Fassungen von Kinofilmen geschaffen werden. Da der Großteil der deutschen Filme eine Förderung nach dem Filmförderungsgesetz erhält, geht die Bundesregierung von einer gesteigerten Verfügbarkeit deutscher Kinofilme mit Audiodeskription und erweiterter Untertitelung aus. Eine verpflichtende Regelung zur Herstellung barrierefreier Fassungen aller geförderten Filme wurde auch von den im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eingebundenen betroffenen Verbänden nicht als sinnvoll erachtet. Zudem sind die Kosten für die Herstellung von ausführlicher Untertitelung für hörbehinderte Menschen oder von Audiodeskription für blinde und sehbehinderte Menschen sowohl im Rahmen der Verleihförderung als auch im Rahmen der Videoförderung nach dem Filmförderungsgesetz anerkennungsfähig. Ein Teil der Kosten für die Erstellung barrierefreier Fassungen von Kinofilmen für die Aufführung im Kino oder die Herausbringung auf DVD können daher über die Förderung finanziert werden. Als Modernisierungsmaßnahme im Rahmen der Kinoförderung nach dem Filmförderungsgesetz ist auch der Umbau von Kinos zur Einrichtung von geeigneten Plätzen für Rollstuhlfahrer oder der Einbau von Induktionsschleifen für hörgeschädigte Menschen förderfähig. Auch die mit dem Kinoprogrammpreis des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien verbundenen Fördermittel könnten für derartige Maßnahmen eingesetzt werden." Das ist also die - öffentlich für alle zugängliche - Antwort der Bundesregierung vor einem Jahr, nun der grandiose Antrag der Koalitionsfraktionen mit teilweise wörtlichen Übereinstimmungen - hier ist Abschreiben ja durchaus erlaubt - und inhaltlich genauso inhaltslos und allgemeinkonkret. Da dies der einzige in einen Antrag gegossene Beitrag der Koalition am Vorabend des Welttages der Menschen mit Behinderungen und des 5. Jahrestages der Annahme der Behindertenrechtskonvention in der UNO-Vollversammlung ist, frage ich, inwieweit die Koalition den Geist dieser Menschenrechtskonvention begriffen hat. Zu Recht verweist die Koalition in ihrem Antrag auf Art. 30 "Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport", aber es ist zu dieser Thematik nicht der einzig wichtige Artikel. Grundlage sind auch Art. 2 bis 5, 8 "Bewusstseinsbildung", 9 "Barrierefreiheit", 21 "Recht der freien Meinungsäußerung, Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen", 24 "Bildung" und 29 "Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben". Die Koalition "vergisst" beim Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention, dass zu Beginn jedes Artikels steht, dass der Staat die nachfolgenden Rechte zu gewährleisten hat. Es geht also nicht um "sollte" und "könnte", um Prüfaufträge und Bitte-Bitte-Gespräche, sondern um die Wahrnahme von - spätestens seit dem 26. März 2009 gesetzlich verankerten - Pflichten der Bundesregierung. Die Koalition stellt - wie bei allen Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen - auch bei diesem Antrag unter Punkt II die Formulierung "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel ..." voran. Nun haben wir vor einer Woche gerade den Bundeshaushalt 2012 beschlossen, und trotz entsprechender Vorschläge von den Linken wurden zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, auch in den Bereichen Kultur und Medien, keine nennenswerten Akzente gesetzt. Nichts, was in diesem Antrag steht, steht nicht auch schon im Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011. Wozu also dieser Antrag? Statt Prüfaufträge brauchen wir endlich wirksame Maßnahmen. Auch wenn ich mich wiederhole: Die Linke fordert, dass bei allen Förderungen mit Mitteln der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Barrierefreiheit ein verbindliches Kriterium sein muss. Das heißt auch: keine Förderung einer Filmproduktion, welche nicht auch mit Audiodeskription, Untertitelung und Gebärdensprache produziert wird; keine Förderung von Filmfestivals und Filmveranstaltungen mit Filmen, die nicht barrierefrei zur Verfügung stehen, und keine Förderung von Baumaßnahmen und Investitionen in Kulturstätten, die auch nach der Maßnahme nicht barrierefrei sind. Die Linke fordert ein Baurecht in Bund und Ländern, welches barrierefreies Bauen nicht nur als Empfehlung, sondern als grundsätzlich zwingende Verpflichtung vorsieht. Die Linke fordert, dass Bundestag und Bundesregierung bei der Bereitstellung barrierefreier Angebote an Kultur und Information beispielhaft vorangehen. Das schließt entsprechende Angebote bei der Übertragung von Sitzungen des Bundestages - auch wenn sie mal nicht so kulturvoll und inhaltsreich sind - mit ein. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor wenigen Monaten hatte ich die große Ehre, der Jury des Deutschen Hörfilmpreises anzugehören. Dort habe ich in tief beeindruckender Weise erfahren, welche Bedeutung der barrierefreie Zugang zu Filmen für blinde und sehbehinderte Menschen hat. Die Hörfassungen der 2011 mit Preisen ausgezeichneten Filme "Die Päpstin", "Lippels Traum" und "Ganz nah bei Dir" zeigen beispielhaft, was möglich ist. Meine erste Reaktion auf diese Juryarbeit war die Frage, warum das Angebot an barrierefreien Filmen in Deutschland immer noch so gering ist - auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Denn Hörfilmfassungen können mit einem relativ geringen Aufwand, mit circa 55 Euro pro Filmminute, erstellt werden. Damit lassen sich Zugangsbarrieren für über eine Million blinde und sehbehinderte Menschen absenken und ihre Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe deutlich erweitern. Bei der Untertitelung für hörbehinderte Menschen fallen die Kosten sogar noch geringer aus. Weil das Angebot so unzureichend ist, habe ich mich im März 2011 mit schriftlichen Fragen an die Bundesregierung gewandt und wollte unter anderem wissen, ob die Erleichterung der Förderbedingungen für Filme mit Audiodeskriptionen für blinde und sehbehinderte Menschen und für Filme mit ausführlicher Untertitelung für Hörbehinderte, die die letzte Novelle des Filmfördergesetzes ja vorsieht, zu einer Zunahme des Anteils von barrierefreien Filmen bei den durch Bundesmitteln geförderten Filmen geführt hat. Die Bundesregierung konnte keine Auskunft geben mit dem Hinweis, dass die in den Jahren 2009 und 2010 geförderten Filmen zum überwiegenden Teil noch nicht fertiggestellt seien. Diese Antwort halte ich für unzureichend. Die Bundesregierung hätte ja bei der FFA oder auch bei Firmen und Institutionen, die mit der Herstellung von barrierefreien Filmen beschäftigt sind, nachfragen können, ob zumindest eine Tendenz abzusehen ist, was die Wirksamkeit der Neuregelungen im FFG angeht. Wir haben uns deshalb selbst auf die Suche gemacht - mit einem negativen Resultat. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, der einen guten Überblick in der Sache hat, signalisierte uns, dass so gut wie keine positiven Tendenzen abzusehen seien. Die wichtigsten Produzenten von Audiodeskriptionen - DHG, Bayerischer Rundfunk, Hörfilm e. V. - konnten keinen Auftrag für Audiodeskriptionen und Hörfilmproduktionen auf die Novellierung des FFG und die Einführung des Förderkriteriums 6 h - Herstellung einer deutschen Audiodeskription und deutschen Untertitelung - zurückführen. Bei den FFA-Anträgen wird dieses Kriterium wohl auch nur in ganz wenigen Fällen angekreuzt. Mit dieser Erkenntnis wandten wir uns dann im Juni an Herrn Staatsminister Neumann und auch an Herrn Börnsen von der Unionsfraktion - mit einer deutlichen Problemanzeige und auch dem Angebot, hier gemeinsam nach einer schnellen und sachgerechten Lösung zu suchen. Ich freue mich, dass die Regierungskoalition mit ihrem Antrag, den sie nun einbringt, zumindest andeutet, dass auch sie hier inzwischen eine Aufgabe sieht und sich damit - zumindest in der Problemanzeige - in unsere Richtung bewegt. Enttäuschend ist aber, dass der Antrag sich an vielen Stellen nur mit Prüfaufträgen begnügt. Statt klare Handlungsaufträge zu erteilen, regiert über weite Strecken der Konjunktiv. Das ist nicht ausreichend. Gut wäre es auch gewesen, zwischen den Fraktionen koordinierter vorzugehen und einen interfraktionellen Antrag auszuarbeiten - so wie wir das vorgeschlagen hatten. Wenn es nun Hinweise aus der Koalition gibt, dass wir in der weiteren Beratung eine gemeinsame Beschlussempfehlung erarbeiten können, in die dann auch weitere Anträge und Überlegungen einfließen, dann ist das ein gutes Signal und wäre auch für uns ein gangbarer Weg. Bedingung wäre allerdings, dass wir bei den konkreten Handlungsaufträgen weiterkommen. Wir Grüne wollen rasch mehr barrierefreie Filme - und das nicht um Jahre aufschieben, bis Regelungen in einer kommenden FFG-Novelle greifen. Angesichts der überschaubaren Kosten und nicht zuletzt auch der Marktchancen für barrierefreie Filme müsste eine solche rasche Ausweitung des Angebots doch möglich sein! Deshalb von unserer Seite nochmals ein klares Gesprächsangebot und der Wunsch, gemeinsam nach schnell wirksamen Lösungen zu suchen. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht glauben: Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich weiß, dass wir alle gemeinsam noch die Kraft hätten, weiter zu beraten. Dennoch werde ich die Sitzung jetzt beenden und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Freitag, den 2. Dezember 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 22.46 Uhr) Berichtigung 141. Sitzung, Seite 16809 B, erster Absatz, erster Satz ist wie folgt zu lesen: "Wenn ich die Studie richtig im Kopf habe, dann enthält sie hinsichtlich der Betriebsgrößen eine Staffelung: ganz kleine weniger, mittlere mehr, ganz große noch weniger Antibiotika." Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 01.12.2011 Beckmeyer, Uwe SPD 01.12.2011 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 01.12.2011 Brehmer, Heike CDU/CSU 01.12.2011 Dittrich, Heidrun DIE LINKE 01.12.2011 Dyckmans, Mechthild FDP 01.12.2011 Edathy, Sebastian SPD 01.12.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 01.12.2011 Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter CDU/CSU 01.12.2011 Funk, Alexander CDU/CSU 01.12.2011 Gabriel, Sigmar SPD 01.12.2011 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 01.12.2011 Goldmann, Hans-Michael FDP 01.12.2011 Granold, Ute CDU/CSU 01.12.2011 Hoff, Elke FDP 01.12.2011 Höger, Inge DIE LINKE 01.12.2011 Dr. h. c. Kastner, Susanne SPD 01.12.2011 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 01.12.2011 Kossendey, Thomas CDU/CSU 01.12.2011 Kurth (Quedlinburg), Undine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01.12.2011 Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine FDP 01.12.2011 Lindemann, Lars FDP 01.12.2011 Möller, Kornelia DIE LINKE 01.12.2011 Movassat, Niema DIE LINKE 01.12.2011 Niebel, Dirk FDP 01.12.2011 Nietan, Dietmar SPD 01.12.2011 Ortel, Holger SPD 01.12.2011 Petermann, Jens DIE LINKE 01.12.2011 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 01.12.2011 Reiche (Potsdam), Katherina CDU/CSU 01.12.2011 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01.12.2011 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 01.12.2011 Schlecht, Michael DIE LINKE 01.12.2011 Dr. Schwanholz, Martin SPD 01.12.2011 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 01.12.2011 Steinbrück, Peer SPD 01.12.2011 Dr. Westerwelle, Guido FDP 01.12.2011 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 01.12.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 01.12.2011 Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Abgeordneten Harald Weinberg (DIE LINKE) (145. Sitzung, Drucksache 17/7901, Frage 98) Möchte die Bundesregierung geschlossen die von dem aktuellen Urteil des hessischen Landessozialgerichts verunmöglichte Fusionskontrolle der Krankenkassen durch das Bundeskartellamt wiederherstellen, und geht es bei dem Treffen des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie mit dem Bundesminister für Gesundheit und dem Bundeskartellamt Anfang Dezember 2011 (FAZ vom 23. November 2011, Seite 12) um die Ausgestaltung der Umsetzung, oder will sie zunächst prüfen, ob sie die Wiederherstellung der Fusionskontrolle überhaupt befürwortet? Die Bundesregierung wird die Auswirkungen des Urteils des Landessozialgerichts Hessen auf die Fusionskontrolle bei gesetzlichen Krankenkassen auch im Hinblick auf eventuell bestehenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehr sorgfältig prüfen. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Norbert Schindler (CDU/ CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Optimierung der Geldwäscheprävention (Tagesordnungspunkt 16) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll der Wirtschaftsstandort Deutschland wirksamer vor Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung geschützt werden. Dazu wenden hier die von der Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, im Deutschland-Bericht vom 19. Februar 2010 identifizierten Defizite im deutschen Rechtssystem bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung beseitigt und weitere Anpassungen an EU-Verordnungen vorgenommen. Dies ist insgesamt zu begrüßen, auch weil sich die veranschlagten Bürokratiekosten und die Informationspflichten für Wirtschaft, Bürger und Verwaltung im Rahmen halten. Absolut inakzeptabel ist für mich jedoch die Absenkung des Schwellenwertes für Bareinzahlungen von Nichtkunden auf Konten anderer Banken. So unterliegen Barzahlungen bis 15 000 Euro, zum Beispiel beim Kauf eines Autos, nicht der besonderen Sorgfaltspflicht des Verkäufers, während Bareinzahlungen bei einer anderen Bank als der eigenen schon bei einer Summe von 1 000 Euro einer besonderen Überprüfung bedürfen. Die Absenkung des Schwellenwertes für Bareinzahlungen von 15 000 Euro auf 1 000 Euro von Nichtkunden auf Konten bei anderen Kreditinstituten in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GwG hat nämlich einen erheblichen Mehraufwand zur Folge. Entgegen der Gesetzesbegründung hat die Absenkung des Schwellenwerts nicht nur deklaratorischen Charakter, wie in der Begründung der Forderung des Bundesrats zur Streichung dieser Änderung ersichtlich ist: Während die EG-Geldtransferverordnung eine auf die wesentlichen Auftraggeberdaten beschränkte Identifizierung zulässt, erfordert die geldwäscherechtliche Identifizierung die Erhebung zahlreicher zusätzlicher Kundendaten sowie die Feststellung und Verifizierung sämtlicher wirtschaftlich Berechtigter, die Abklärung politisch exponierter Personen etc. Die Feststellung dieser Daten müsste vor bzw. gleichzeitig mit dem Geschäft durchgeführt werden. Dies stellt eine in zahlreichen Praxisfällen nicht zu erfüllende Anforderung dar. In den übrigen Fällen wird hierdurch die Wirtschaftlichkeit solcher Transaktionen nachhaltig infrage gestellt. Daher ist damit zu rechnen, dass nicht wenige Kreditinstitute als Reaktion auf eine solche Neuregelung das Zahlscheingeschäft ganz oder für Transaktionsbeträge ab 1 000 Euro einstellen werden. Dies dürfte insbesondere auch Auswirkungen auf öffentliche Institutionen ohne eigene Kassen und Spendenorganisationen haben. Die zur Abstimmung stehende Neuregelung ist eine Zumutung insbesondere für kleine Banken und Sparkassen und deren Kunden, die meist jahrzehntelang, basierend auf gewachsenem Vertrauen, Bareinzahlungen auch für Dritte oder bei Fremdbanken vornehmen konnten. Diese Kunden, wie der Leiter einer Drogeriefiliale, der seine Bareinnahmen bei der nächstgelegenen Bank einzahlen muss, oder die Oma, die ihrem Enkel Bargeld auf sein Konto bei einer anderen Bank einzahlt, werden im wahrsten Sinne des Wortes bis auf die Unterhose gescannt, obwohl sie den Bankangestellten jahrelang bekannt sind. Die Bank muss bei jeder Bareinzahlung auf Fremdkonten einen Auftraggeberdatensatz anlegen, um ihren Prüf- und Datenerhebungspflichten nachzukommen. Dies widerspricht eklatant der Aussage der Bundesregierung in der Vorbemerkung des Gesetzentwurfs, dieser leiste einen wichtigen Beitrag zum Ziel, die bürokratischen Lasten aus gesetzlich veranlassten Informationspflichten zu reduzieren. Abschließend noch eine Nebenbemerkung: Die großen Gauner, um die es bei Geldwäsche und Terrorismusbekämpfung geht, finden sicherlich andere Wege als Kleinstbeträge bar auf institutsfremde Konten einzuzahlen. Aus den genannten Gründen kann ich diesem Gesetzentwurf nur mit Bauchgrimmen zustimmen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Die OSZE ausbauen und stärken (Tagesordnungspunkt 13) Manfred Grund (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag weist ein grundlegendes Defizit auf: Er geht über Gemeinplätze nicht hinaus. Er erschöpft sich darin, altbekannte Probleme zu beschreiben, bietet aber keine neuen Lösungen. Das ist zu wenig für einen solchen Antrag. Dabei handelt es sich um ein wichtiges Thema. Nach wie vor ist die OSZE die einzige umfassende Sicherheitsorganisation im euroatlantischen Raum. Als solche ist sie bislang unentbehrlich. Daher können wir der grundsätzlichen Intention, die OSZE wieder zu stärken, nur zustimmen; denn es ist ja richtig, dass sich die OSZE in einer latenten Krise befindet. Zwar leistet die OSZE in ihrer humanitären Dimension und besonders mit ihren Wahlbeobachtungsmissionen eine wichtige Funktion. Doch den nach dem Kalten Krieg in der Charta von Paris formulierten Anspruch, eine funktionierende Sicherheitsarchitektur in Europa zu schaffen, hat die OSZE nicht erfüllen können. Die schwelenden Konflikte um Abchasien und Südossetien, Berg-Karabach und Transnistrien hat sie nicht überwinden können. Auch die Rüstungskontrolle befindet sich vorerst in einer Sackgasse: Aufgrund der fortdauernden russischen Truppenpräsenz in Georgien und Moldau hat die NATO die Ratifikation des AKSE-Vertrages abgelehnt. Russland hat im Gegenzug die Anwendung des KSE-Vertrages ausgesetzt. Wenn es um die Sicherheit in Europa geht, ist die OSZE heute weitgehend nur noch ein gemeinsames Forum. Deshalb ist es auch nicht ganz unverständlich, wenn Russland und einige andere Länder an der OSZE eine zu einseitige Orientierung auf die humanitäre Dimension kritisieren. Im Dezember fand der Gipfel von Astana statt. Das war immerhin das erste Gipfeltreffen der OSZE seit mehr als zehn Jahren. Der Gipfel von Astana sollte der OSZE neues Gewicht verleihen. Er war auch kein Misserfolg. Denn trotz der langjährigen Kontroversen um die Ausgestaltung der humanitären Dimension haben die Mitgliedstaaten den gesamten Rechtsbestand der OSZE, einschließlich der menschrechtlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien, ausdrücklich bestätigt. Doch die Verständigung auf einen Aktionsplan zur Reform der OSZE ist zunächst gescheitert - vor allem an Differenzen über die schwelenden Konflikte. Nach wie vor haben wir im Bereich der zwischenstaatlichen Sicherheit ein starkes Integrationsgefälle in Europa. Wir haben eine enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit in der NATO und zunehmend auch in der EU. Die osteuropäischen Länder und gerade auch Russland sind in diese Sicherheitsarchitektur aber nur unzureichend eingebunden. Es ist berechtigt, dass Russland diese mangelnde Einbindung kritisiert. Präsident Medwedew hat deshalb seinen Vorschlag für einen neuen Sicherheitsvertrag vorgelegt. Der vorliegende Antrag weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass der russische Vertragsentwurf keine befriedigende Antwort zur Rolle der NATO und der EU in einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur bietet. Im Übrigen bietet er auch keine Antwort zum Verhältnis zwischen der humanitären und der zwischenstaatlichen Dimension von Sicherheit. Diese wichtige Frage beantwortet aber auch der vorliegende Antrag nicht. Er übergeht sie einfach. Aber das bedeutet sicher nicht, dass wir die Vorschläge des russischen Präsidenten abtun sollten. Präsident Medwedew hat eine Diskussion begonnen, und er hat dabei zunächst vor allem die russischen Interessen formuliert. Das ist auch völlig legitim. Wir sollten diese Diskussion mit Russland ernsthaft führen. Die OSZE hat sie im sogenannten Korfu-Prozess aufgenommen. Sie muss aber auch mit den anderen sicherheitspolitisch relevanten Organisationen in Europa geführt werden. Der vorliegende Antrag betont das Erfordernis, den Dialog über die künftige Sicherheitsarchitektur mit Russland auch im NATO-Russland-Rat zu führen. Zugleich aber wird die Rolle der EU dabei mit Schweigen übergangen. Dabei liegt mit der Meseberger Initiative inzwischen ein gemeinsamer Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Medwedew vor, einen institutionalisierten Dialog über die künftige Sicherheitsarchitektur auch zwischen der EU und Russland aufzunehmen. Als Voraussetzung wollen beide Seiten zunächst gemeinsam Fortschritte bei der Lösung des Transnistrien-Konfliktes erreichen. Sicherlich wird sich auch dieses Ziel nicht einfach und von heute auf morgen erreichen lassen. Trotzdem erscheint mir dieser Weg, bei konkreten Problemen anzufangen, der richtige Weg zu sein. Allein mit neuen oder geänderten Verträgen werden wir noch keine bessere Sicherheitsarchitektur in Europa schaffen, keine nachhaltige Stärkung der OSZE und auch keine bessere Einbeziehung Russlands erreichen. Dafür müssen wir vielmehr eine Agenda gemeinsamer Ziele entwickeln. Wir müssen die Fähigkeit zur praktischen Zusammenarbeit erproben. Anders als der vorliegende Antrag hat die Meseberger Initiative dafür einen neuen Ansatz eröffnet. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: - Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Montenegro zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Empfehlung der EU-Kommission vom 12. Oktober 2011 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 14) Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Wer in diesen Tagen eine Suchmaschine im Internet mit dem Begriff "Europa" füttert, wird über das Ergebnis nicht sonderlich überrascht sein. Neben einer definitorischen Beschreibung Europas und der Website der Europäischen Union finden sich die weiteren Treffer in folgenden Stichworten zusammengefasst: Schuldenkrise, Ratingsenkung, Schuldenfalle, Abwertung, Euro-Angst und manches mehr in dieser Richtung. Wenn wir heute über die Frage debattieren, wie sich der Deutsche Bundestag zur möglichen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro verhält, dann ist - bevor ich zur Sache selbst komme - eines klar: Europa hat nach wie vor eine enorme Anziehungskraft, wird in seiner Bedeutung vielleicht von unseren Nachbarn außerhalb der Europäischen Union noch klarer als Chance begriffen, und Europa ist seit mehr als 60 Jahren Garant für Frieden, Freiheit und Wohlstand auf diesem Kontinent. Wir sollten uns dies angesichts der Tatarenmeldungen, die einander durch die Schlagzeilen zu jagen scheinen, wieder einmal ins Gedächtnis zurückrufen, ohne dass wir die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen, kleinzureden. Ich will eine zweite Vorbemerkung machen: Wenn wir die hinter uns liegenden Beitrittsverhandlungen ehrlich ansehen, müssen wir zugeben, dass da nicht alles optimal gelaufen ist, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Nicht von ungefähr hat die Europäische Kommission in ihrer jüngsten einschlägigen Mitteilung vom 12. Oktober vorgegeben, zukünftig die Kapitel 23 (Judikative und Grundrechte) und 24 (Justiz, Freiheit und Sicherheit) als erste Kapitel in den Beitrittsverhandlungen abarbeiten zu wollen. Die Erfahrungen aus den Beitritten Griechenlands, Rumäniens und Bulgariens, aber auch die Begegnung mit letzten Stolpersteinen in den gerade zu Ende gegangenen Beitrittsverhandlungen mit Kroatien machen dies notwendig, und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ankündigung der EU-Kommission mit Nachdruck. Ich rate dazu, Realismus und Ehrlichkeit auch als Leitschnur zu wählen, wenn es um die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Montenegro geht. Nach unserer Ansicht bleibt der Fortschrittsbericht der Kommission an vielen Stellen zu vage und gibt die tatsächliche Situation nicht in ausreichendem Maße wider. Auch wenn wir durchaus anerkennen, dass Montenegro in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht Fortschritte erzielt hat, was vor knapp zwei Jahren zur Aufhebung der Visumpflicht für die montenegrinische Bevölkerung bei der Einreise in den Schengen-Raum führen konnte, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass in vielen Bereichen noch sehr, sehr viel tun ist, bis die Kopenhagener Kriterien als erfüllt angesehen werden können. Ich will einige wenige Punkte exemplarisch nennen: Erstens. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments, ein Punkt, der uns als Deutscher Bundestag in besonderem Maße zu interessieren hat, ist nicht ausreichend gegeben. Die Ausstattung mit qualifizierten Mitarbeitern und dem nötigen technischen Equipment muss deutlich verbessert werden, damit die Kolleginnen und Kollegen ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Regierung auch tatsächlich nachkommen können. Zweitens. Die Verwaltung muss dahin gehend optimiert werden, dass beschlossene Reformvorhaben auch umgesetzt werden. Erste Erfolge in der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption dürfen nicht den Blick darauf verstellen, dass diese Probleme einer nachhaltigen Entwicklung Montenegros (mindestens bisher) deutlich entgegenstehen. Drittens. Damit einher müssen die Anstrengungen auf wirtschaftlichen Gebiet gehen. Wir anerkennen ausdrücklich das Ziel der Regierung von Montenegro, schon 2012 die Stabilitätskriterien aus dem Maastricht-Vertrag einzuhalten, machen aber gleichwohl schon heute darauf aufmerksam, dass hierzu auch weitere Bemühungen um Diversifizierung der Wirtschaft und bei der Privatisierung von Staatsbetrieben notwendig sind. Viertens. Wir sehen deutliche Defizite auf dem Gebiet der Meinungs- und Pressefreiheit. Bedrohungen und Anwendung von Gewalt gegen journalistisch Tätige müssen nicht nur ordnungsgemäß untersucht, sondern auch strafrechtlich verfolgt werden. Ich will in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass ich mir gewünscht hätte, wenn der Antrag der SPD - die Grünen nehme ich da aus - auch wenigstens ein bisschen kritische Selbstreflexion hätte erkennen lassen. Die Beitritte von Rumänien und Bulgarien und die ziemlich schlampig geführten Beitrittsverhandlungen sind genauso ein Produkt ihrer Regierungszeit wie die Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone. Die Folgen sind ja nun hinlänglich bekannt. Ich halte es für ein Gebot der Redlichkeit, bestehende Defizite offen zu benennen, und dies zu einem Zeitpunkt vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, auch und gerade um der Akzeptanz willen, die dieser Schritt auch in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland braucht. Ein weiterer Punkt: Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, dass uns die Fortschrittsberichte der EU-Kommission an einigen Stellen zu undifferenziert ausgefallen sind. Daher unser Vorschlag, sich in den anstehenden Beitrittsverhandlungen nicht nur auf die Zwischenberichte der EU-Kommission zu verlassen, sondern die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen, unter Einbeziehung der deutschen Auslandsvertretung eigene Berichte an den Deutschen Bundestag zu übermitteln. Wer, wenn nicht die deutschen Vertretungen im Ausland, können uns besser und fortlaufend darüber informieren, wie die Vorgaben umgesetzt werden. Wir tun gut daran, vor Aufnahme der Beitrittsverhandlungen eines deutlich zu machen: Es gibt keine politischen Rabatte bei der Übernahme des Aquis, es darf auch keine Kopplungsgeschäfte geben. Wir dürfen uns auch nicht unter Zeitdruck setzen lassen oder uns womöglich selbst unter Zeitdruck setzen. Gerade hier gilt: Qualität geht vor Schnelligkeit. Jedem muss klar sein: Ein Beitrittskandidat kann die einmal aufzunehmenden Verhandlungen über einen Beitritt selbst beschleunigen, indem er bereits vor Verhandlungsbeginn daran geht, die nötigen Reformen einzuleiten und auch umzusetzen. Island hat da in der jüngsten Vergangenheit ein gutes Beispiel gegeben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und Montenegro zu. Wir werden diesen Prozess konstruktiv wie kritisch begleiten. Peter Beyer (CDU/CSU): Weshalb befürworten wir eine positive Stellungnahme des Deutschen Bundestages zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro? - Weil es zum jetzigen Zeitpunkt sachlich richtig ist. Der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission betont an verschiedenen Stellen, dass die Republik Montenegro noch große Anstrengungen unternehmen muss, um EU-Standards zu erreichen. Das ist sicherlich eine zutreffende Aussage. Doch es ist immer gut, sich nicht auf die alleinige Lektüre von Berichten zu verlassen. Aus diesem Grunde ist eine sogenannte Fact-Finding-Mission, bestehend aus den Berichterstattern unserer Fraktion, wiederholt nach Montenegro gereist, um sich ein eigenes Bild zur Vorbereitung der Entscheidung des Deutschen Bundestages zu machen. Es ist sachlich gerechtfertigt und richtig, dass wir jetzt der Republik Montenegro ein Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nennen. Ich komme deshalb zu diesem Ergebnis, weil ich als Leiter der erwähnten Fact-Finding-Mission die Gelegenheit hatte, mich in einer Vielzahl von Gesprächen mit Vertretern von Regierung, Opposition, der Zivilgesellschaft, Nichtregierungsorganisationen und den Medien in der montenegrinischen Hauptstadt, Podgorica, selbst zu informieren. Exemplarisch möchte ich anhand von zwei Kernbereichen schildern, wie sich die aktuelle Situation in Montenegro darstellt. Zunächst nenne ich den Bereich der organisierten Kriminalität und der Bekämpfung derselben mit den Mitteln staatlicher Strafverfolgungsmittel. Im September 2010 ist eine neue Strafprozessordnung in Kraft getreten. Nicht nur die Juristen unter uns wissen, dass eine wohlstrukturierte Strafprozessordnung den Staatsanwälten diejenigen Instrumente mit an die Hand gibt, die benötigt werden, um kriminelle Strukturen effizient zu bekämpfen. Bei der Generalstaatsanwaltschaft ist ein Sonderdezernat eingerichtet worden. In diesem haben spezialisierte Staatsanwälte mit ihren Mitarbeiterstäben den Kampf gegen das organisierte Verbrechen aufgenommen. Konkrete Erfolge konnten erzielt werden, und das nicht selten nach verhältnismäßig kurzer Ermittlungsdauer. So wurden zum Beispiel Verhaftungen vorgenommen und Vermögen im Wert von über 50 Millionen Euro aus nachweislich illegalen Geschäften konfisziert. Dies ist für ein kleines Land wie Montenegro, in dem circa 625 000 Einwohner leben, eine beachtliche Summe. Man geht noch weiter: Im Wege einer Beweislastumkehr müssen die Beschuldigten den legalen Erwerb von konfiszierten Vermögen nachweisen, bei dem nicht klar ist, ob es legal oder illegal erworben worden ist. Gelingt den Beschuldigten dieser Nachweis nicht, bleibt das Vermögen konfisziert. Ich stelle diesen Punkt deshalb prominent heraus, weil der Kampf gegen das organisierte Verbrechen eines der Kernthemen ist, mit denen die Republik Montenegro umgehen muss. Um beim Justizwesen zu bleiben, nenne ich aus diesem Bereich einen weiteren Punkt: Im bereits erwähnten Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist die Rede davon, dass erst noch Strukturen geschaffen werden müssen, um bei Richtern und Staatsanwälten eine an europäischen Rechtsnormen orientierte Aus- und Weiterbildung sicherzustellen. Dieser Informationsgehalt ist veraltet; erfreulicherweise möchte ich hinzufügen. In der Zwischenzeit ist die montenegrinische Regierung dieser Forderung nämlich nachgekommen und hat eine Akademie zur Aus- und Weiterbildung von Richtern und Staatsanwälten errichtet. Hier werden die genannten Berufsgruppen insbesondere auch im EU-Recht geschult. Im Rahmen eines Twinning-Projekts mit Frankreich bedient man sich zur Aus- und Weiterbildung von Richtern und Staatsanwälten darüber hinaus fachkompetenter Unterstützung. Als zweiten Beispielbereich möchte ich die Situation der Medien in der Republik Montenegro herausgreifen. Ja, es stimmt, dass bei der Eigentümerstruktur der Presselandschaft, der Qualität der Berichterstattung und auch bei der Freiheit der Presseberichterstattung noch große Anstrengungen unternommen werden müssen. Ich habe mich auch mit einer Reihe von Pressevertretern getroffen, die den kritischen oppositionellen Medien zuzuordnen sind. Als ich dieselben Journalisten letztes Jahr traf, wurde mir noch ein recht düsteres Bild gezeichnet. Als ich sie erneut Anfang November, und zuletzt diese Woche traf, hatte sich das Bild erfreulicherweise aufgehellt. Man brachte das in Zusammenhang mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den jetzigen Premierminister Igor Luksic. Auch die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen bestätigten diesen Eindruck. Es findet nunmehr eine engere Einbindung statt. Man verspürt ein ernsthaftes Interesse und Bemühen, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft einen guten Weg für das Land zu finden, was nicht zuletzt der EU-Annäherung zugutekommt. Die Regierung, Nichtregierungsorganisationen und Medien sehen sich heute als Partner, beispielsweise bei der Ausarbeitung von Gesetzen und beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Die Dynamik, die in der Republik Montenegro festzustellen ist, wollen wir durch ein positives Votum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nunmehr unterstützen und sodann konstruktiv, aber auch kritisch begleiten. Montenegro gehört zu Europa, nicht nur geografisch. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen begründet keinen Automatismus. Wir werden sehr genau und streng darauf achten, dass die Republik Montenegro nicht nur formal auf dem Papier Gesetze verabschiedet, sondern dass diese umgesetzt, angewendet und durchgesetzt werden. Zu diesem Zwecke wird sich die Unionsfraktion auch künftig nicht allein auf Berichte von dritter Seite verlassen, sondern sieht es als ihre Pflicht an, sich auch weiterhin vor Ort selbst zu informieren. Zudem haben wir in unserem Antrag berücksichtigt, dass nicht nur die EU-Kommission, sondern auch die deutsche Regierung dazu verpflichtet ist, ein eigenes Monitoring der Fortschritte durchzuführen und uns, den Parlamentariern im Bundestag, darüber zu berichten. Damit haben wir ein Instrument der größtmöglichen Kontrolle geschaffen, um den weiteren EU-Annäherungsprozess Montenegros kritisch und konstruktiv zu begleiten. Im Übrigen gilt auch für Montenegro: Wer beitritt, muss beitragen. Josip Juratovic (SPD): Gerade in Zeiten der Finanz- und Währungskrise ist es wichtig, dass wir uns darauf zurückbesinnen, weshalb es die Europäische Union eigentlich gibt. Dafür eignet sich die heutige Debatte über die europäische Integration von Montenegro. Die Europäische Union ist das Produkt von europäischer Friedenspolitik. Durch die europäische Einigung wurden vor allem die Kriegsgegner Deutschland und Frankreich so eng miteinander verbunden, dass ein neuerlicher Krieg undenkbar ist. Die Europäische Union ist also der Garant für Frieden in Europa. Dieser Gedanke begleitete auch den weiteren Beitrittsprozess, oder besser: die Beitrittspolitik der Europäischen Union! Für Griechenland, Spanien und Portugal war die europäische Perspektive ein stabilisierender Faktor für die Zeit nach den jeweiligen Diktaturen. Diese jungen Demokratien konnten durch die EU-Mitgliedschaft gestärkt werden. Auch nach Ende des Kalten Krieges warb die Europäische Union für ihr Friedensmodell und konnte mit einer ersten Erweiterung in Richtung Osten und Südosten zu Stabilität in den neuen Mitgliedsländern beitragen. Im Nachhinein können wir sicher feststellen, dass mancher Beitritt aus wirtschaftlichen Aspekten vielleicht zu früh war. Und wir konnten lernen, dass die neuen Mitgliedstaaten nicht automatisch Demokratien nach deutschen Maßstäben wurden. Aus politischen Aspekten und zur Friedenssicherung war dieser Beitritt der 10 im Jahr 2004 und der beiden Nachzügler Bulgarien und Rumänien jedoch äußerst wichtig! Bei allen notwendigen Relativierungen hat sich nämlich wiederum gezeigt, dass das EU-Modell ein Erfolgsmodell für Frieden unter den Völkern ist. Wir haben aber auch gelernt, dass der Umbau der Justiz und der staatlichen Institutionen sehr schwierig ist, viel Engagement erfordert und nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist. Das Beispiel Zypern zeigt uns, dass territoriale Konflikte nicht unbedingt einfacher gelöst werden können, sobald ein Land einmal EU-Mitglied ist. Die Frage der Situation von Minderheiten ist eine riesige Herausforderung, mit der auch langjährige Mitgliedstaaten ihre Probleme haben. Doch wir haben daraus gelernt und bereits für Kroatien einen neuen und schwierigeren Weg zur EU-Mitgliedschaft gefunden, der dem Land mehr abverlangt. Ich bin mir sicher: So gut wie Kroatien war bisher kein anderer Staat auf die EU-Mitgliedschaft vorbereitet! Und dennoch haben wir auch im Fall Kroatien festgestellt, dass die schwierigsten Kapitel, die erst am Ende behandelt wurden, eine lange und ausführliche Beratung erfordern. Deswegen ist es richtig, dass die Kommission die Kapitel 23 und 24 zum Rechtstaat bereits zu Beginn der Verhandlungen mit Montenegro öffnen will. Zu Recht ist man von der Idee abgekommen, dass alle Staaten des Westbalkans zu einem Termin der EU beitreten könnten. Die Staaten auf dem Balkan sind unterschiedlich weit von der Europäischen Union entfernt. Wir werden ihnen nicht mit einem gemeinsamen Beitrittstermin gerecht, sondern mit einer klaren Beitrittsperspektive für jeden einzelnen Staat. Wir sollten denen, die besonders weit sind, nicht den Weg zur Europäischen Union versperren; gute Arbeit darf nicht bestraft werden. Andererseits denke ich auch an die Menschen im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina. Ich weiß, dass sie unsere besondere Aufmerksamkeit benötigen und dass sie nicht weiter abgehängt werden dürfen, als sie es heute schon sind. Für sie gilt: Wir müssen ihnen eine europäische Perspektive geben. Und diese Perspektive wird ihnen auch dadurch gegeben, wenn sie sehen, dass erfolgreiche Arbeit in anderen Staaten auch von der Europäischen Union honoriert wird! Erfolgreiche Arbeit hat Kroatien in den letzten Jahren geleistet. Innerhalb kürzester Zeit konnten wir zusehen, wie sich ein Land verändert, das den Willen dazu aufbringt! Wir konnten sehen, wie sich durch die Beitrittsverhandlungen eine enorme Dynamik entfaltete. Und: Kroatien hat mit Ivo Josipovic den richtigen Präsidenten zur richtigen Zeit. Auch Montenegro hat mit Premierminister Igor Luksic einen reformorientierten und zudem sehr jungen Mann an der Spitze des Landes. Montenegro hat sich erfolgreich und kontinuierlich an die Europäische Union herangearbeitet. Deswegen muss der Europäische Rat am 9. Dezember auch der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zustimmen, und wir können hierfür heute im Deutschen Bundestag unsere Unterstützung bekunden. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro ist ein Signal an alle anderen Staaten des Westbalkan, dass sich harte Arbeit auszahlt! Ich appelliere an die Bundesregierung: sorgen Sie für faire Verhandlungen mit Montenegro. Fair heißt: Die Kopenhagener Kriterien und die institutionelle Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union sind maßgeblich. Die für alle beitrittswilligen Staaten aufgestellten Kriterien sind Punkt für Punkt zu erfüllen, aber es darf auch keine neuen, darüber hinausgehenden Hürden geben. Der Beitrittsprozess ist kompliziert, deswegen müssen wir Politiker ihn so transparent wie möglich gestalten. Die Situation auf dem Westbalkan ist stabiler als vor 10 Jahren, aber die Konflikte im Nordkosovo und die Nichtexistenz einer Regierung in Bosnien und Herzegowina halten uns vor Augen, dass gerade auch die europäische Perspektive ein Aspekt zur Friedenssicherung ist, der nicht aufgegeben werden darf. Montenegro ist ein einzelner Beitrittskandidat, doch weitere beitrittswillige Staaten schauen ganz genau auf Montenegro, und darauf, wie die Europäische Union mit Montenegro umgeht. Wir Sozialdemokraten haben einen Antrag eingebracht, um mit der Bundesregierung das Einvernehmen über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Montenegro herzustellen. Ich bitte Sie um Unterstützung unseres Antrags. Zugleich freue ich mich, dass wir uns hier im Deutschen Bundestag in dieser Angelegenheit weitgehend einig sind. Die Anträge der Koalition und der Grünen sind in ihren Forderungen nahezu deckungsgleich mit unserem Antrag. Wir stimmen deswegen dem Antrag der Grünen zu und enthalten uns beim Antrag der Koalition. Oliver Luksic (FDP): Wir erleben die größte Krise seit Jahren - und die Anziehungskraft der Europäischen Union scheint ungebrochen. Das ist ein deutliches Erfolgszeichen der EU-Erweiterungspolitik. In den alten Mitgliedstaaten treten Errungenschaften, die wir der EU zu verdanken haben, zunehmend in den Hintergrund. Die Kandidatenländer zeigen uns, welche Anstrengungen die Mitgliedschaft in der EU wert ist. Die Krise zeigt auch, dass die Einschätzung der EU als "wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg" nicht mehr gilt. Der Beitrittsprozess zeigt viel eher die politische Gestaltungsmacht, die die EU entfalten kann. Die EU-Mitgliedschaft, das ist für die Bevölkerung auf dem Westbalkan gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wohlstand, politischen Werten, persönlichen Freiheiten und kulturellen Begegnungen. Der Eiserne Vorhang wird erst so endgültig zur Seite geschoben. Frieden, Freiheit und Wohlstand auf dem Balkan beruhen auch auf der europäischen Perspektive. Sie ist von zentraler Bedeutung für eine stabile Region. Aus den letzten Beitrittsrunden haben wir die Erfahrung mitgenommen, dass individuelle Reformfortschritte entscheidend sein müssen für die Annäherung an die EU. Wir sprechen hier vom Regattaprinzip. Es wird bei zukünftigen Beitritten keine politischen Rabatte und zeitlichen Automatismen mehr geben, stattdessen ist die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten entscheidend. Wenn diese erfüllt sind, ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit der EU, weitere Fortschritte im Prozess der Annäherung an die EU nicht aufzuhalten. Die Glaubwürdigkeit ist das entscheidende Element: Zwar sollen Reformen in den Kandidatenländern nicht um der EU willen erfolgen, sondern es sollte klar sein, dass die Länder selbst das größte Interesse an ihrer Umsetzung haben - Reformkräfte müssen aber nicht unnötig geschwächt werden, indem gemachte Zusagen nicht eingehalten werden. Dazu gehört auch, dass Fortschritte auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft nicht zur Verhandlungsmasse für die Fortschritte anderer Kandidaten gemacht werden. So dürfen die Fortschritte Montenegros nicht an den Kandidatenstatus für Serbien gekoppelt werden. Generell gilt: Die FDP steht zur Thessaloniki-Agenda von 2003 und damit zum langfristigen Ziel eines EU-Beitritts der Länder des Westbalkans, die ein Teil Europas sind. Das tun wir nicht aus altruistischer Großzügigkeit, sondern mit klaren Interessen im Blick: Der Westbalkan darf keine Insel innerhalb Europas werden. Montenegro ist dabei ein Vorbild für die gesamte Region. Grenzkonflikte oder ethnische Spannungen sind nicht vorhanden, damit ist Montenegro ein wichtiger Stabilitätsfaktor in der Region. Die Regierung von Premierminister Luksic verfolgt einen klaren Kurs Richtung Europa und hat in den letzten Jahren enorm wichtige Reformen angestoßen. Gerade die jüngere Generation in Montenegro setzt auf die europäische Zukunft ihres Landes und steht voll hinter den Reformen. Diesen Pro-Europa-Kurs gilt es anzuerkennen. Bei allen noch bestehenden Defiziten hat Montenegro die für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen nötigen Fortschritte gemacht: Es hat gute Fortschritte bei den politischen Kriterien und insgesamt zufriedenstellende Ergebnisse erzielt, besonders im Hinblick auf die sieben Schlüsselprioritäten. Der Rechtsrahmen und der institutionelle Rahmen wurden verbessert, um die Arbeit in zahlreichen Bereichen zu verbessern, so bei der Professionalisierung und Entpolitisierung der öffentlichen Verwaltung, der Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht des Gerichtswesens, der Korruptionsbekämpfung, der Medienfreiheit und der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Auch im wirtschaftlichen Bereich sehen wir gute Fortschritte, ebenso was die Übernahme des Acquis angeht. Hier regen wir als FDP-Fraktion zusätzlich die Einführung einer nationalen Schuldenbremse an, um den Konsolidierungskurs nachhaltig zu stärken. Aber wir dürfen auch bestehende Defizite nicht verschweigen, auch das gehört zur Glaubwürdigkeit. Daher weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass wir den Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission in Teilen für zu optimistisch halten. Erhebliche Anstrengungen sind noch nötig, was die Funktionsfähigkeit des Parlaments angeht, damit es seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung ausüben kann. Die Verwaltung muss weiter gestärkt werden, und zudem sind Verbesserungen nötig auf dem Gebiet der Presse- und Meinungsfreiheit. Hier bestehen nach wie vor Defizite. So werden Drohungen und Gewaltanwendungen gegenüber Journalisten noch immer nicht ordnungsgemäß untersucht oder strafrechtlich verfolgt. Auch in den Bereichen der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität und in den zentralen Bereichen Justiz, Recht und Inneres wird über die nächsten Jahre die Umsetzung der verabschiedeten Reformen entscheidend sein. Daher befürworten wir die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen unter der Maßgabe, dass ein Rahmen geschaffen wird, der die nachhaltige Implementierung von Reformen garantiert. Das heißt, die Reformen dürfen nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern müssen in Wirklichkeit umgesetzt werden. Wir sehen den Kommissionsvorschlag dazu als ein geeignetes Instrument: Die kritischen Bereiche - Kapitel 23 und 24 -, also Justiz, Grundrechte und innere Sicherheit, sollen zu Beginn des Verhandlungsprozesses angegangen werden. Dazu werden Aktionspläne erstellt, die klare Fristen und Zielvorgaben für die einzelnen Bereiche enthalten und von denen die Öffnung neuer Verhandlungskapitel abhängig gemacht wird. Auch diese neue Vorgehensweise zeigt, dass wir aus den Erfahrungen der letzten Beitritte gelernt haben. Wir erwarten dazu zusätzliche Berichte der Europäischen Kommission und fordern auch die Bundesregierung auf, die Fortschritte auf dem Weg zum Beitritt zu bewerten. Die FDP steht für eine glaubwürdige Erweiterungspolitik, für die die individuellen Fortschritte in den Kandidatenländern der Maßstab sind. Sind die Kopenhagener Kriterien erfüllt, sehen wir die Zukunft der Länder des westlichen Balkans klar in der EU. Montenegro hat einen deutlichen Schritt gemacht, jetzt muss auch ein deutlicher Schritt vonseiten der EU erfolgen, um die Glaubwürdigkeit der Erweiterungspolitik nicht aufs Spiel zu setzen. Thomas Nord (DIE LINKE): Montenegro stellte am 15. Dezember 2008 einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union. Seit dem 17. Dezember 2010 ist der Balkanstaat offizieller Beitrittskandidat der EU. Die Kommission hat in ihrer Erweiterungsstrategie am 12. Oktober 2011 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro empfohlen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens am Beginn der 1990er-Jahre ist die Möglichkeit des EU-Beitritts für alle Länder des Westbalkans eine Perspektive auf dauerhaften Frieden. Das haben wir immer betont, und hier besteht Einvernehmen zwischen allen Fraktionen im Bundestag. Die Linke begrüßt die Empfehlung der Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro. Gleichwohl muss ich einige kritische Bemerkungen formulieren. Wir stimmen in dem Punkt überein, dass der Bericht der Europäischen Kommission zu optimistisch formuliert ist. Daher teilen wir die Meinung, dass Monitoring-Prozesse vor der Aufnahme als Vollmitglied in die EU notwendig sind. Die Erfahrungen mit den Beitrittsprozessen in Bulgarien und Rumänien dürfen sich nicht wiederholen. Im Rahmen der Verhandlungen dürfen allein die Kopenhagener Kriterien gelten. Die Linke lehnt zusätzliche und beliebig formulierbare Kriterien, die sich von Beitrittskandidat zu Beitrittskandidat ändern, ab. Als besonders problematisch sehen wir es, dass die Bedingungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für Montenegro zur Auflage gemacht werden, bevor es offiziell der Währungsunion angehört. Vor der Krise lagen die Wachstumsraten bei 5 Prozent bis 6 Prozent, für das Jahr 2012 liegt die Prognose aktuell bei 2,1 Prozent. Diesen Blick blendet der ansonsten eher umsichtige Antrag der Grünen erstaunlicherweise aus. Wenn nun eine strikte Einhaltung der zwei Maastricht-Kriterien verlangt wird, besteht die ernsthafte Gefahr, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Montenegro vollständig abgewürgt wird. Ein weiterer Punkt: Bekanntlich sind die Beziehungen zwischen Montenegro und Serbien nach der Abspaltung Montenegros angespannt. Durch die relativ frühe Anerkennung des Kosovo durch Montenegro ist es zu einer weiteren Verschärfung der politischen Lage gekommen. Fünf Mitgliedstaaten der EU - Zypern, Slowakei, Rumänien, Spanien und Griechenland - erkennen das Kosovo aus Sorge vor Nachahmung durch ethnische Minderheiten in ihren eigenen Ländern nicht als unabhängigen Staat an. Wenn die EU nun die Beitrittsverhandlungen mit Montenegro eröffnet und von Serbien die Anerkennung des Kosovo zur Vorbedingung für die Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten macht, kann das zu weiteren Spannungen auf dem Westbalkan, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, aber auch im Kosovo-Konflikt führen. Deshalb ist es mehr als fraglich, ob mit den vorliegenden Anträgen "die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Region weiterhin mit hoher Priorität und nachhaltig" vorangetrieben wird, wie es im Antrag der SPD heißt. Die Leistungen der Bundesregierungen gerade am Beginn des Zerfalls von Jugoslawien in den 1990er-Jahren sind hier doch deutlich kritischer zu bilanzieren. In dem vorliegenden Antrag von CDU/ CSU und FDP wird Montenegro als "aus der Föderation mit Serbien entlassen" bezeichnet. Dies ist eine erhebliche Schönfärberei der tatsächlich abgelaufenen Prozesse. Erstens hat Montenegro den Sezessionsprozess initiiert, und außerdem ist das Referendum mit 55,49 Prozent oder 230 661 Stimmen angesichts der von der EU geforderten Mindestzahl von 55 Prozent äußerst knapp ausgegangen. Die politischen Spannungen sind auch heute noch allgegenwärtig. Zweitens wird in dem Antrag der Regierungsfraktionen der Weg der Haushaltsdisziplin, der Privatisierung und der Deregulierung gelobt, den Montenegro gegangen ist. Zu den sozialen Verwerfungen, die damit einhergegangen sind, findet sich kein Wort. Die Linke hat die Deregulierung und die neoliberale Ausrichtung der EU immer kritisiert. Diese Kritik gilt auch im Falle von Montenegro und für den Weg, den Montenegro gegangen ist. Übrigens wird unsere Kritik an der neoliberalen Agenda der Lissabonner Verträge gerade jeden Tag aufs Neue bestätigt. Auch das kann ich ihnen nicht erlassen. Im Dezember 2009 ist der Vertrag in Kraft getreten, im April 2010 wurde er das erste Mal für die Rettung von Börsen und Banken gebrochen. Wir brauchen in der Europäischen Union Kapitalverkehrskontrollen und keine Kapitalverkehrsfreiheiten. Wir wollen eine europäischen Bank für öffentliche Anleihen. Die Finanzierung der Staaten muss von den frei wuchernden Kapitalmarktzinsen abgekoppelt werden. Wir wollen eine soziale Fortschrittsklausel in der Europäischen Union verankern. Nur dann, wenn diese Punkte geändert werden, gibt es für Montenegro eine echte Perspektive für den Beitritt zu einer dauerhaft stabilen Europäischen Union. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am 19. Dezember wird Kroatien den Beitrittsvertrag zur Europäischen Union unterschrieben. Damit ist ein sechsjähriger Prozess auf der Zielgeraden angekommen, der einmal mehr gezeigt hat, welche Transformationskraft der Beitrittsprozess freisetzen kann. Montenegro steht heute in den Startlöchern dieses Prozesses. Den Verlauf hat Montenegro erfolgreich absolviert. Montenegro hätte sicher eine bessere Leistung zeigen können, aufgrund des ambitionierten Schlussspurts können wir aber heute sagen, dass Montenegro für den anstehenden Prozess bereit ist. Montenegro hat gezeigt, dass es willens ist, auch schwierige Hürden zu nehmen. Diesen Willen wird es auch weiterhin brauchen. Wir entscheiden heute nicht über den Beitritt Montenegros zur Europäischen Union. Wir entscheiden einzig über die Aufnahme von Verhandlungen. Beitreten wird Montenegro erst, wenn es alle notwendigen Reformen umgesetzt und alle Anforderung für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt hat. Montenegro kann also erst beitreten, wenn es auf der Zielgeraden angekommen ist und die Ziellinie überquert. Vor Montenegro liegt ein langer und schwerer Weg. Große Herausforderungen warten in den Bereichen Justiz und Grundrechte sowie Recht, Freiheit und Sicherheit. Weitgreifende Reformen sind insbesondere bei der Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität sowie der Antidiskriminierung notwendig. Es ist gut und richtig, dass die EU-Kommission diese Schlüsselbereiche so früh wie möglich angehen will, um innerhalb der Verhandlungen auch überzeugende Erfolgsbilanzen zu ermöglichen. In diesem Punkt hat die Kommission aus dem Beitrittsprozess Kroatiens die richtigen Schlüsse gezogen. Wir halten außerdem die Entpolitisierung von Justiz und Verwaltung, die Sicherstellung einer starken Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft für zentrale Herausforderungen. Hier liegen die Grundvoraussetzungen für eine funktionierende Demokratie. Schließlich spielt auf dem gesamten westlichen Balkan die Frage der Minderheiten eine wichtige Rolle. Ich denke dabei vor allem an die schwierige Situation der Roma. Sie leben vielerorts in Zuständen, die Menschen nicht würdig sind. Sie sehen sich Diskriminierung ausgesetzt, ihnen werden noch immer soziale und wirtschaftliche Rechte vorenthalten. Diese Probleme muss Montenegro, wie auch alle anderen Staaten des westlichen Balkans, so schnell wie möglich angehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Europäische Union nach wie vor ein Problem im Umgang mit den Minderheiten hat. Ich erinnere nur an den Umgang mit Roma in Frankreich im letzten Jahr und in Ungarn, in der Slowakei und in Tschechien in diesem Jahr. Ungarn hat während seiner Ratspräsidentschaft einen Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma vorgelegt. Die EU muss diesen guten Ansatz konsequent weiterverfolgen und auch die Staaten des westlichen Balkans frühzeitig einbeziehen. Ich möchte auch noch ein paar Worte zur Umweltfrage im Beitrittsprozess sagen: Wir Grüne setzen uns seit jeher dafür ein, dass der Zustand der Umwelt, hohe Umweltstandards und vor allem deren Einhaltung eine gewichtige Rolle in Beitrittsverhandlungen spielen. Engagement in Bezug auf Natur und natürliche Ressourcen ist dabei nicht einfach nur ein Selbstzweck, sondern auch eine Frage der Selbstbehauptung gegen mangelnde Korruptionsbekämpfung in künftigen EU-Staaten. Es gibt kaum einen anderen Bereich, der mit Korruption so eng verbunden ist, wie Umweltverschmutzung oder Raubbau an der Natur, sei es bei Bauvorhaben, Infrastrukturprojekten oder der öffentlichen Vergabe. Wenn wir Korruption als eine der großen Herausforderungen auf dem westlichen Balkan bekämpfen wollen, dann brauchen wir gute und hohe Umweltstandards und Reformen, die die Einhaltung dieser Standards auch sicherstellen. Wir glauben, dass Montenegro es schaffen kann, diese Herausforderungen erfolgreich zu bestehen. Wir unterstützen daher die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro. Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den Prozess zurückkommen und auch ein paar Worte zu den anderen Staaten des westlichen Balkans sagen. Die Beitritte von Rumänien und Bulgarien haben gezeigt, wie Beitritte nicht ablaufen dürfen. Bei Rumänien und Bulgarien wurde die Strecke kurzerhand verkürzt und darauf vertraut, dass die Länder auch nach Überquerung der Ziellinie noch bis in den ursprünglichen Zielbereich weiterlaufen. Das hat nicht funktioniert, Rumänien und Bulgarien haben sich nach dem Beitritt ausgeruht, der Reformeifer ist schnell erlahmt. Daraus hat die EU gelernt: Vor Überschreitung der Ziellinie musste Kroatien die Kopenhagener Kriterien erst vollständig erfüllen bzw. die Erfüllung absichern. Kroatien musste die vollständige Strecke zurücklegen. Diese Anforderungen legen wir auch an Montenegro und alle anderen künftigen Beitritte an. Beitritt erst nach Erfüllung aller Kriterien. Das Reformtempo muss das individuelle Beitrittstempo jedes einzelnen Staates bestimmen. Diese harte Konditionalisierung ist richtig, sie stellt den westlichen Balkan aber auch vor ein großes Problem. Die Staaten werden nicht gleichzeitig am Ziel - also in der EU - ankommen. Kroatien ist schon da, Montenegro startet, Serbien wird bald die Verfolgung aufnehmen. Wann das Kosovo, wann Bosnien und Herzegowina an den Start gehen, ist noch völlig offen. Die Aufnahme der Verhandlungen mit Mazedonien sind auf nicht absehbare Zeit durch den Namensstreit mit Griechenland blockiert. In dieser Ungleichzeitigkeit steckt aber eine große Gefahr. Daher gilt es, parallel zu den künftigen Beitrittsverhandlungen auch Wege und Formen zu finden, das Kosovo und Bosnien nicht zurückzulassen. Wir müssen diese Staaten mitnehmen. Die ungleichzeitige europäische Integration darf nicht die Isolierung anderer Staaten bedeuten. In dieser Frage sind wir dem westlichen Balkan noch Antworten schuldig. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Visa-Warndatei und zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Tagesordnungspunkt 19) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Mit dem Gesetz über die Visa-Warndatei ziehen wir endlich Konsequenzen aus den Ergebnissen des Visa-Untersuchungsausschusses, der im Jahre 2005 seine Arbeit beendet hat. Zu Recht kann man die Frage stellen: Warum werden diese Konsequenzen erst sechs Jahre später 2011 gezogen? Ich könnte Ihnen eine Reihe von Adressaten nennen, an die man diese Frage stellen könnte, mit Sicherheit aber nicht an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wir sind froh, dass jetzt endlich ein zustimmungsfähiger Gesetzentwurf auf dem Tisch liegt. Die Visaaffäre liegt also schon etwas zurück, und deshalb lohnt es sich, noch einmal in Erinnerung zu rufen, um welchen Sachverhalt es sich eigentlich handelt. Im Kern geht es um das Phänomen einer illegalen Einreise mit formal legalen Papieren. Illegale Einreise stellt man sich so vor, dass in der Dunkelheit der Nacht Menschen, geführt von Schleppern und Schleusern, die Neiße durchwaten und so in unser Land gelangen. Das gibt es auch heute noch, aber das ist nicht der Sachverhalt, um den es hier geht. Hier geht es darum, dass vieltausendfach Menschen mit einer Legende in unser Land geschleust wurden. Da gab es eine ganze Latte von Reisebüros, geführt von Kriminellen, die Busreisen aus der Ukraine, Russland oder anderen Ländern zu den Burgen am Rhein oder anderen Zielen organisierten, deren Teilnehmer dann nicht selten auf Großbaustellen landeten, übrigens nicht nur in Deutschland. Manche Busreise mit einem deutschen Schengen-Visum endete in Portugal, wo es ganze Dörfer gibt, deren Einwohner zum überwiegenden Teil ukrainischer Abstammung sind. Da gab es Volkstanzgruppen, die nicht bei einem bestimmten Trachtenfest ankamen, sondern wo die nahezu ausschließlich weiblichen Gruppenmitglieder am Ende als Zwangsprostituierte in Bordellen anschaffen mussten. Da gab es die beiden russischen Schachspieler und ihren Trainer mit tschetschenischen Wurzeln, die angeblich an einem internationalen Turnier in Düsseldorf teilnehmen wollten und in Wahrheit zum familiären Umfeld eines in Deutschland aufhältigen Terroristen gehörten. Und da gab es die Handballnationalmannschaft von Sri Lanka, die sich zu einem Trainingslager in Bayern angemeldet hatte. Der bayrische Handballverband war glücklich, mit seiner Auswahl ein Freundschaftsspiel mit exotischem Flair veranstalten zu können. Das Einzige, was in Bayern nie ankam, waren die Handballer, weil Sri Lanka alles Mögliche hat, aber eben keine Handballnationalmannschaft. Alle illegalen Zuwanderer verfügten über legale Visa, die sie sich erschlichen hatten, gerade auch durch die Unterstützung von kriminellen Einladern oder Verpflichtungsgebern, also denjenigen, die hier in Deutschland für die Finanzierung des Aufenthalts bürgen. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Warndatei gerade nicht nur auf die Antragsteller bezieht, die wir meistens nicht kennen, sondern auf die Personen in Deutschland, zu denen sie fahren wollen oder die für die Kosten ihres Aufenthalts vorgeben, aufkommen zu wollen. Warum konnten die Mitarbeiter der Visastellen diesen Missbrauch nicht bekämpfen? Erstens weil die Erlasslage des damals von Joschka Fischer geführten Auswärtigen Amts sie gezwungen hat, auch bei Zweifelsfällen ein Visum zu erteilen. Diese Erlasslage hat sich mittlerweile geändert. Zweitens ist aber das große Problem, dass viele Mitarbeiter in den Visastellen zwar vor Ort einen Zettelkasten haben, in dem alle die zu finden sind, bei denen im Rahmen von Visaverfahren schon einmal etwas schiefgelaufen ist. Es gibt aber keine Vernetzung mit Daten in Deutschland oder von anderen Visastellen. Wenn also jemand als unseriöser Einlader oder Verpflichtungsgeber in St. Petersburg aufgefallen ist, dann weiß das die Visastelle in Moskau nicht, erst Recht nicht die in Kiew. Wenn ein Einlader in Deutschland wegen illegaler Beschäftigung verurteilt worden ist, dann blinkte bisher in Baku oder Ulan-Bator keine Warnleuchte auf, falls dieser Einlader in einem dortigen Visumverfahren angegeben wurde. Genau diese Defizite werden jetzt beseitigt. In die Visa-Warndatei werden Personen aufgenommen, die in Zusammenhang mit einer für das Visumverfahren relevanten Katalogstraftat wie Schleusung, illegale Beschäftigung, Menschenhandel oder schwerste Betäubungsmitteldelikte verurteilt worden sind. Es geht also nur um solche Straftaten, die klassisch einen Bezug zum grenzüberschreitenden Verkehr haben. Darüber hinaus werden Warndaten von Personen gespeichert, die sich im Visumverfahren selbst rechtswidrig verhalten haben, also die falsche Angaben gemacht oder Kosten nicht übernommen haben. Ich will auch auf den großen Sicherheitsgewinn verweisen, der mit der Einführung der Visa-Warndatei verbunden ist. Wir erinnern uns an die beiden sogenannten Rucksackbombenattentäter, die im Ruhrgebiet zwei Regionalzüge in die Luft sprengen wollten. Da hieß es immer, die seien den Sicherheitsbehörden völlig unbekannt gewesen und man hätte ihre Einreise nicht verhindern können. Das ist so nicht richtig. Sie selbst waren zwar den Sicherheitsbehörden nicht bekannt und Einlader für ihren Aufenthalt waren die Universitäten, in denen sie angeblich studieren wollten. Aber in einem Fall war den Behörden der Verpflichtungsgeber bekannt, der für ihren Aufenthalt als Bürge auftrat, weil dieser in einem Islamistenverfahren bereits abgeurteilt worden war. In diesem Fall wäre die Warnlampe angegangen. Das will ich an dieser Stelle auch noch einmal erwähnen, weil es immer wieder falsch dargestellt wird. Wir beschließen über eine Visa-Warndatei, nicht über eine Visaverbotsdatei. Wenn das System anschlägt, dann heißt das erst einmal nichts anderes, als dass sich der entsprechende Mitarbeiter mit dem Visaantrag näher befassen wird. Es bedeutet nicht, dass damit die Erteilung des Visums automatisch ausgeschlossen ist. Wir wissen doch alle, dass das Visageschäft ein Massenverfahren ist. Deshalb wünscht sich das Auswärtige Amt auch Mechanismen, um zu einer Beschleunigung zu kommen, wie etwa den verstärkten Einsatz von privaten Dienstleistern. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Das setzt aber voraus, dass es in diesem Massenverfahren illegalen Zuwanderern und Kriminellen nicht leicht gemacht werden darf, wie Fische im Wasser einfach mit durch die Kontrollen durchzuschwimmen. Wir müssen ein Sicherheitsnetz spannen. Deshalb hat die Visa-Warndatei eine doppelt positive Wirkung. Diejenigen, bei denen ein Missbrauch befürchtet werden muss, werden herausgefiltert und alle anderen dürfen davon ausgehen, dass ihre Visaanträge in Zukunft schneller bearbeitet werden als in der Vergangenheit. Deshalb geht auch die Kritik des Bundesverbandes der Deutschen Industrie an unserem Gesetzentwurf in die völlig falsche Richtung. Da wird kritisiert, dass künftig Unternehmen als Antragsteller im Visumverfahren gespeichert werden, wenn sie falsche Angaben gemacht haben, weil diese Angaben auch auf Informationen von Dritten beruhen und dafür die Unternehmen nichts könnten. Erstens bedeutet die Visa-Warndatei ja nicht, dass in Zukunft von diesem Unternehmen ein Angestellter oder Geschäftspartner kein Visum mehr erhält, und zweitens sollten die Unternehmen gerade dankbar sein; denn mit der Visa-Warndatei werden sie dazu veranlasst bei dem Dritten, der falsche Angaben gemacht hat, ebendas nächste Mal besser hinzugucken, und genau das soll die Warndatei auch bewirken. Peinlich ist es geradezu, dass der BDI uns in Zusammenhang mit Verpflichtungsgebern zwingen will, sehenden Auges Lücken im Gesetz zuzulassen. Ich sage es ganz klar: Der BDI erhebt Forderungen, die ganz klar illegale Zuwanderung nach Deutschland erleichtern würden. Das halte ich für völlig inakzeptabel und mit den Compliance-Grundsätzen, zu denen sich viele Unternehmen in Deutschland verpflichtet haben, nicht vereinbar. Deshalb will ich auch ausdrücklich hervorheben: Mit der CDU/CSU ist genau aus diesen Gründen die Einführung einer Visafreiheit für die Ukraine oder Russland nicht zu machen. Das sage ich gerade auch im Lichte des Prozesses gegen Frau Timoschenko, der mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nichts zu tun hatte. Ich will schließen mit einem ausdrücklichen Dank an alle Mitarbeiter unserer rund 200 Visastellen in aller Welt, die einen ganz schweren Job machen, der nichts mit dem Vorurteil über die meist cocktailschwenkende Prägung der Arbeit im Auswärtigen Amt zu tun hat. Diese Mitarbeiter haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen Instrumente zur Verfügung stellen, die ihre Arbeit erleichtern. Die Visa-Warndatei leistet dazu einen guten Beitrag. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Der Missbrauch von Visa kann in vielfältigen Konstellationen erfolgen. So befinden sich unter den aufgedeckten Fällen der letzten Jahre nicht nur Verbrechen des Menschen- und Kinderhandels, sondern vor allem auch "Einschleusungen" von islamistischen Hass- und Gewaltpredigern nach Deutschland. Aber auch folgende Fallkonstellation ist leider keine Seltenheit: Letzte Woche kontrollierten Bundespolizisten am Flughafen München eine 22-jährige Brasilianerin, als diese nach São Paulo fliegen wollte. Bei der Ausreisekontrolle fiel den Beamten auf, dass die junge Frau 45 Tage länger als die erlaubten, visafreien 90 Tage in Deutschland war. Bei ihrer Befragung gab die Südamerikanerin an, sie sei von einem ihr bekannten Portugiesen zum Arbeiten nach Deutschland eingeladen worden. Nachdem sie hier ankam, habe sie sich bei einer Familie in Hannover um den Haushalt kümmern müssen und das Haus nur in Begleitung verlassen dürfen. Die Frau war allerdings für touristische Zwecke nach Deutschland eingereist. Die Bundespolizei ermittelt nun gegen alle Beteiligten wegen unerlaubter Arbeitsaufnahme, Einschleusung, unerlaubter Einreise und unerlaubten Aufenthalts. Schließlich hätte sich die junge Frau bereits vor der Einreise ein Visum besorgen und eine Arbeitserlaubnis beantragen müssen. Der Fall zeigt, dass oftmals die Kriterien für die Ablehnung eines Antrages nicht zwingend in der Person des Antragstellers, sondern vielmehr in der Person des Einladers begründet sind. Dies kann jedoch erst durch gezogene Quervernetzungen infolge eines Datenabgleichs mit problematischen anderen Visumantragstellern bei anderen Auslandsvertretungen belegt werden. Umso wichtiger ist daher die Schaffung einer zentralen Visa-Warndatei, auf die die deutschen Auslandsvertretungen Zugriff haben. Aber nicht nur die deutschen Auslandsvertretungen sollten Zugriff auf die Visa-Warndatei haben, sondern auch die deutschen Sicherheitsbehörden. Schließlich ist die Vergabe von Visa, die zur Einreise nach und zum Aufenthalt in Deutschland berechtigen, immer noch einer der sensibelsten Punkte für die Sicherheit unseres Landes. Sie stellt ein potenzielles Einfallstor nicht nur für kriminelle, sondern auch für terroristische Aktivitäten dar. Es ist daher konsequent, dass der vorliegende Gesetzentwurf auch ein Verfahren zum Datenabgleich beinhaltet. Damit wird er den sicherheitspolitischen Interessen im Visumverfahren zumindest in Bezug auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus gerecht. Nach ihrer Errichtung sollte auch die gemeinsame Datei über rechtsextremistische Gewalttäter in diesen Datenabgleich einbezogen werden. So wird es möglich, künftig die Daten aus dem Visumverfahren mit bestimmten Daten aus der Antiterrordatei automatisiert abzugleichen. Dies ermöglicht eine Rückmeldung der Sicherheitsbehörden an die Visumbehörden, wenn Personen aus dem terroristischen Umfeld beabsichtigen, nach Deutschland einzureisen. Die Einreise kann dann kurzfristig verwehrt werden. Die Visa-Warndatei trägt damit auch bereits dem Gedanken der besseren Vernetzung der Sicherheitsbehörden Rechnung. Die schrecklichen und abscheulichen Ereignisse rund um die Zwickauer Zelle haben uns deutlich vor Augen geführt, dass gerade eine bessere Zusammenarbeit und Vernetzung der Sicherheitsbehörden notwendig ist, um schlimmste Verbrechen aufzuklären und geplante zu verhindern. Die zentrale Visa-Warndatei legt den Grundstein hierfür, indem sie durch die Informationen aus den Auslandsvertretungen, der Bundespolizei, den Staatsanwaltschaften und den Ausländerbehörden gespeist wird. Der von mir eingangs geschilderte Fall zeigt, dass oftmals die Zuständigkeiten von mehreren Behörden betroffen sind, wenn es um den Missbrauch von Visa geht. Die Visa-Warndatei hilft, solche Zusammenhänge herzustellen. Insbesondere können Netzwerke der organisierten Kriminalität früher aufgedeckt und gefährliche Bedrohungen rechtzeitiger erkannt werden. Darüber hinaus fördert der Informationsaustausch die Zusammenarbeit und Kooperationsbereitschaft zwischen den betroffenen Behörden. Eine Minimierung der Risiken durch den Visamissbrauch in Deutschland ist dringend erforderlich. Die Visa-Warndatei stellt eine erhebliche Verbesserung für die Arbeit der Auslandsvertretungen und der mit dem grenzüberschreitenden Verkehr beauftragten Behörden dar. Bestehende Lücken werden durch sie geschlossen und die Lage der inneren Sicherheit in Deutschland verbessert. Dies verdient eine breite Unterstützung in diesem Hohen Hause. Rüdiger Veit (SPD): Bereits anlässlich der ersten Lesung am 21. September 2011 habe ich in meiner - ebenfalls zu Protokoll gegebenen - Rede mit selbstkritischem Blick auf die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzgebungsvorhabens mit Charles-Louis Montesquieu zusammengefasst: "Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, ein Gesetz nicht zu erlassen." Das hat sich durch die öffentliche Anhörung der Sachverständigen am 24. Oktober 2011 und in den gestrigen Beratungen des Innenausschusses auch nicht geändert, sondern verstärkt: Mit Ausnahme der Sachverständigen von der Bundespolizei und vom Bundeskriminalamt - Herrn Polizeidirektor Carsten Glade und Herrn Vizepräsidenten Jürgen Maurer - haben die Sachverständigen mehr oder weniger eindeutig ihre Zweifel zum Ausdruck gebracht, ob es eines solchen Gesetzes denn überhaupt bedarf; das heißt, sie haben genau wie wir von der SPD-Fraktion schon in Zweifel gezogen, ob es überhaupt erforderlich und geeignet ist, ganz zu schweigen von der Frage, ob es sich dabei um verhältnismäßige Eingriffe in die persönliche Freiheit bzw. das Recht auf informelle Selbstbestimmung handeln würde. Denn zur Verhinderung unerwünschter Visaerteilungen kann schon heute auf eine Vielzahl der verschiedensten Dateien zurückgegriffen werden: das Bundeszentralregister für Strafsachen, das Ausländerzentral-register, die Antiterrordatei, das Gewerberegister, vor allem aber jetzt auf europäischer Ebene das EU-Visa-Informationssystem, VIS. Außerdem wurde im Rahmen der Sachverständigenanhörung auch das Problem überdeutlich, dass ein wie auch immer gearteter Eintrag in eine Visa-Warndatei mehr oder weniger zwangsläufig zur Versagung des Visums führen wird und es womöglich ein sehr dornenreicher und jedenfalls sehr langwieriger Weg für die betroffenen Antragsteller oder auch ihre Einlader sein kann, festzustellen, aufgrund welcher Tatsachen, Vermutungen oder in Dateien aufgefundener Erwähnungen die Visaversagung erfolgt ist. In der ersten Lesung des Gesetzentwurfes haben die Redner der Koalition, also von CDU/CSU und FDP, betont, dass eine derartige Visa-Warndatei zur Beseitigung erheblicher Sicherheitsmängel, wie sie im Visa-Untersuchungsausschuss deutlich geworden seien, notwendig wäre. Sie vergaßen und vergessen dabei völlig, dass es eben gerade nicht nur das Verschulden der Visaantragsteller selbst oder der Einlader war, die zur unerwünschten Visaerteilung geführt haben, sondern vor allem auch mindestens rechtswidriges, wenn nicht gar kriminelles Verhalten von einigen wenigen Mitarbeitern der Konsularabteilungen. Diese würden sich aber wohl auch über Warnsachverhalte - in welcher Datei auch immer - hinweggesetzt haben. Außerdem hatte ich schon in meiner Rede anlässlich der ersten Lesung versucht, Folgendes klarzumachen: Von einem gewissen zusätzlichen Wert wäre eine eigene nationale Warndatei nur für circa 7 Prozent Langzeitvisa. Gerade diese Antragsteller oder auch ihre Einlader werden nun aber jenseits des sonstigen touristischen Massengeschäftes sicherlich eingehender und sorgfältiger geprüft, und gerade in diesem Personenkreis verbirgt sich schon deswegen kaum derjenige, der letztendlich zu nichtlegitimen Zwecken in die Bundesrepublik einreisen will. Sollte es neben dem Visa-Informationssytem auf europäischer Ebene aber doch noch einen zusätzlichen Nutzen für eine nationale Warndatei geben - also für jene 93 Prozent kurzfristige Visa -, könnten alle diejenigen mit nichtlegitimen Anliegen oder Absichten die nationale Warndatei ja problemlos umgehen: durch die Beantragung eines Schengen-Visums in einem der anderen EU-Staaten, mit dem sie dann ohne weitere nationale Prüfung ohnehin nach Deutschland einreisen können. Ein Weiteres kommt hinzu: Man muss ja feststellen, dass die Politik der Bundesregierung auch auf diesem Gebiet wenig innere Logik hat. Denn wie passt eine geplante Verschärfung des Verfahrens durch die Visa-Warndatei mit anderen außenpolitischen Initiativen für mehr Visafreiheit - gerade in osteuropäischen Ländern - zusammen? Wie passen Pläne zur teilweisen Privatisierung des Konsularbereichs - und man kann sich doch denken, wie leicht es dann erst zu Korruption und dergleichen kommen kann - mit den ansonsten von der Bundesregierung propagierten und angestrebten verschärften Sicherheitsmaßnahmen zusammen? Unter allen erdenklichen Gesichtspunkten ist also eine eigene nationale Regelung - wenn sie denn überhaupt je einen Mehrwert hätte, was ich bestreite - völlig wirkungslos, zumindest widersprüchlich und jedenfalls überflüssig. Mit dem schon erwähnten Satz des guten alten Montesquieu könnten Sie von der Koalition also alle weiteren Bemühungen ad acta legen, bevor Sie - Sie von der Koalition tun dies ohnehin offenbar nicht - oder aber andere - beispielsweise unsere Sachverständigen in der Anhörung - zusätzliche Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit oder zum Datenschutz anstellen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Schon in der 15. Wahlperiode wurde im Bundestag als Mittel zur Unterstützung unserer Behörden eine Visa-Warndatei für sinnvoll erachtet. Es war immer klares Ziel, dass das Visa-verfahren die Einreise von Schwerstkriminellen verhindern soll. Derzeit haben deutsche Behörden nicht die Möglichkeit, bei Visumanträgen die beteiligten Personen auf rechtswidriges Verhalten im erforderlichen Ausmaß zu überprüfen. Deshalb musste eine Lösung her, die sowohl den Bedürfnissen des internationalen Reiseverkehrs, der Abwehr von Verbrechern, aber auch dem Datenschutz und den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren gerecht wird. Die Koalition aus FDP und Union schafft nun diese Visa-Warndatei. Der Visamissbrauch wird durch diese Datei eingedämmt werden; die Rechtssicherheit für die Anwender wird erhöht. Die am Visumantrag beteiligten Personen sollen gezielt auf rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit Delikten wie Terrorismusbezug, Menschenhandel, Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz überprüft werden. Durch die Einführung der Visa-Warndatei werden die Visumbehörden in ihrer Arbeit unterstützt. Bisher haben Auslandsvertretungen lediglich separat Daten über die am Visumverfahren beteiligten Personen gespeichert. Im Verdachtsfall müssen diese dann jeweils bei einzelnen anderen Auslandsvertretungen oder Behörden nachfragen. Die Visa-Warndatei hilft, diese Lücke zu schließen. Dort werden zentral Angaben von Personen gespeichert werden, die rechtskräftig wegen Straftaten mit Bezug zum Visumverfahren oder sonstigen Auslandsbezug verurteilt wurden; darunter fallen schwere Straftaten, insbesondere Menschenhandel und Verstöße gegen das Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz. Weiter werden am Visumverfahren beteiligte Personen, etwa Antragsteller und Einlader, gespeichert, wenn sie falsche Angaben gemacht haben oder ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Der FDP ist in diesem Zusammenhang der zurückhaltende Umgang mit Datentransfers wichtig. Die Datenspeicherung ist auf das Nötigste begrenzt. Gespeichert wird nur ein Datensatz pro Person bzw. Organisation, nicht jeder einzelne Visumantragsvorgang. Das ist geeignet, erforderlich und angemessen. Die Speicheranlässe sind eng umgrenzt und abschließend nummerisch aufgezählt. Die zugriffsberechtigten Behörden sind nur die am Visumverfahren beteiligten Behörden: Auswärtiges Amt, Auslandsvertretungen, Ausländerbehörden und Behörden, die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragt sind. Die Informationen in der Visa-Warndatei dienen den Behörden für die Sachverhaltsaufklärung und ermöglichen ihnen eine umfassende Sachverhaltsbewertung. Eine Speicherung hat nicht automatisch die Ablehnung eines Visumantrags zur Folge, vielmehr soll der betroffenen Behörde eine alle wichtigen Aspekte umfassende Ermessensentscheidung ermöglicht werden. Sie muss wissen, an welcher Stelle sie weiter nachfragen muss. Die Rechte der Betroffenen sind zentral berücksichtigt durch Protokollierungs-, Datensicherungs- und Löschungsvorschriften sowie den Auskunftsanspruch. In Ergänzung zu dieser Visa-Warndatei wird eine Organisationseinheit beim Bundesverwaltungsamt geschaffen, wo einzelne Daten von Personen aus dem Visumverfahren mit einem sehr eng begrenzten Teilbereich der Antiterrordatei abgeglichen werden. Damit sind auch Top-Gefährder identifizierbar. Durch dieses Vorgehen kann sicherheitsrelevanten Interessen Rechnung getragen werden, ohne durch einen unkontrollierten Datenabgleich unverhältnismäßig in die Schutzrechte der Betroffenen einzugreifen. Eine anlasslose Speicherung der Daten findet nicht statt. Vielmehr wird ein besonderes Verfahren eingerichtet. Wenn beim Abgleich an neutraler Stelle festgestellt wird, dass die betreffende Person in der Datei gespeichert ist, wird die Sicherheitsbehörde, die die Daten eingestellt hat, darüber informiert. Das bedeutet "Rechtsstaatlichkeit durch Verfahren". Freiheit und Sicherheit mit menschlichem Gesicht in einer Gesellschaft des Miteinanders. Das ist das Leitbild für die innenpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre. Der vorliegende Gesetzentwurf wird dem auf vorbildliche Weise gerecht. Wir erleichtern so den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stärken zugleich die Sicherheit unseres Landes - ohne ausufernde Datenerfassung. Die FDP sorgt in der gemeinsamen Koalition dafür, dass Freiheit und Sicherheit in einem angemessenen, ausgewogenen Verhältnis bleiben. Wir setzen die Dinge um, die mit SPD-Regierungsbeteiligung über ein Jahrzehnt liegen geblieben waren. Ulla Jelpke (DIE LINKE):Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einrichtung einer sogenannten Visa-Warndatei. Angeblich sollen so vermeintlicher Visummissbrauch, die unerkannte Einreise von Kriminellen und potenziellen Terroristen verhindert werden. Dafür sollen Daten über Straftaten mit Bezug zum Ausland und Daten von Einladern und Bürgern, die in der Vergangenheit falsche Angaben gemacht haben oder anderen Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, gespeichert werden. Außerdem soll ein Abgleich mit der Antiterrordatei stattfinden, wie er heute schon bei einigen ausgewählten Staaten insbesondere im Nahen und Mittleren Osten durchgeführt wird. Ich habe für die Fraktion Die Linke schon in der ersten Lesung kritisiert, dass die Bundesregierung jeden Beweis für die Erforderlichkeit dieser Datei schuldig bleibt. Nach den Beratungen im Ausschuss und einer öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf muss ich hier feststellen: Die Bundesregierung bleibt diesen Beweis auch weiter schuldig, und das, obwohl die Koalitionsfraktionen sich mal wieder nicht zu blöd waren, einen Beamten der Bundespolizei und des Bundeskriminalamtes als vermeintlich unabhängige Sachverständigen zu benennen. Aber selbst von ihnen gab es keine Zahlen zur vermeintlichen Bedrohung durch Visummissbrauch. Deutlich weniger als 2 000 Personen sind in diesem und im vergangenen Jahr an der Grenze abgewiesen worden, weil bei der Einreise festgestellt wurde, dass sie im Visumverfahren falsche Angaben gemacht hatten. Wohlgemerkt, diese vermeintlichen Visumerschleichungen sind auch mit dem bestehenden Instrumentarium festgestellt worden, eine Datei mit allerlei Daten war dazu nicht erforderlich. Die sonstigen Sachverständigen in der Anhörung des Innenausschusses haben die Erforderlichkeit der Datei vehement bestritten. Die Bundesregierung hat schon in der Gesetzesbegründung verpasst, etwas dazu zu sagen. Bundesregierung und Koalition konnten auch in der ersten Debatte hier im Haus keine Argumente vorbringen, warum die Einrichtung dieser Datei erforderlich sein soll. Und nun ist es auch in der Anhörung nicht gelungen überzeugend darzulegen, wozu eine solche Datei erforderlich ist. Dies gilt vor allem für den pauschalen Abgleich der Visumdaten mit der Antiterrordatei. In der Gesetzesbegründung findet sich dazu rein gar nichts, da wird lediglich der technische Mechanismus des Abgleichens beschrieben. Auch in der Anhörung wurde rein gar nichts an Argumenten vorgebracht, die für einen pauschalen Abgleich der Daten aus einem Visumverfahren mit der Antiterrordatei sprechen würden. Ganz im Gegenteil. Der Landesdatenschutzbeauftragte für Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, hat sogar davon gesprochen, dass dieser Abgleich verfassungsrechtlich hoch problematisch sei. Schließlich sollen hier Hunderttausende Menschen pro Jahr durchgerastert werden, ob bei ihnen Bezüge zum internationalen Terrorismus bestehen. Bislang gibt es keinerlei Hinweise, dass mutmaßliche Terroristen oder Unterstützer das Visumverfahren nutzen, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Insofern fehlt es auch hier an der Erforderlichkeit der Regelung. Ich habe aber den Eindruck, dass das die Koalition ohnehin nicht juckt. Selbst der Sachverständige des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, benannt von der FDP-Fraktion, hat deutliche Kritik an einem Aspekt der Datei geäußert. Ich spreche von der Speicherung von Personen, die bei der Einladung falsche Angaben gemacht haben oder ihren Verpflichtungen aus der Bürgschaft für die Eingeladenen nicht nachkommen konnten. Der Gesetzentwurf sieht nicht vor zu prüfen, ob für diese geringen Verfehlungen im Visumverfahren ein Vorsatz vorliegen muss. Es kann sich also einfach mal jemand vertun, und schon landet er in dieser Datei und ist auf Jahre hinaus gebrandmarkt. Er muss damit rechnen, dass zukünftig Einladungen an Verwandte, Freunde oder Geschäftspartner aufgrund dieses Eintrags scheitern. Denn es ist ja klar, dass ein Treffer in der Visa-Warndatei in der Behördenlogik zur Versagung des Visums führt, sonst brauchte man so eine Datei ja gar nicht. Von Regierung und Koalition wird zwar tapfer das Gegenteil behauptet, aber das ist in hohem Maße unglaubwürdig. Schon heute wird ja bei dem kleinsten Verdacht auf Missbrauch ein Visum verweigert. Mit der Visa-Warndatei legen Sie den Grundstein für eine noch restriktivere Praxis bei der Erteilung von Einreiseerlaubnissen. Sie wollen Visumantragsteller, Einlader, Bürgen und weitere verfahrensbeteiligte Personen auf eine Art und Weise durchleuchten, wie sie in der EU einmalig sein dürfte. Sie wollen Daten in einer Datei ein weiteres Mal speichern, die längst schon woanders - im Bundeszentralregister, im Ausländerzentralregister, bei den Auslandsvertretungen und nicht zuletzt im Visainformationssystem der EU - gespeichert sind. Am Schluss will ich noch auf einen Punkt eingehen, der für die Einführung einer solchen Datei ins Feld geführt wurde und den ich bedenkenswert finde. Es geht um die Bekämpfung von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Wenn Sie den Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution helfen wollen, dann müssen Sie den Opferschutz verbessern. In einer Anhörung des Menschenrechtsausschusses gestern wurde vorgetragen, was dazu nötig wäre: Erteilung von Aufenthaltstiteln für die Opfer ohne Vorbedingungen, Verbesserung von Beratungs- und Hilfsangeboten, Zugang zu psychologischer Hilfe und Therapie auch über das Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltserlaubnis zum Einklagen von entgangenem Lohn und Schadensersatz. Das wird von der Union alles rundweg abgelehnt. Wenn Sie hier vorgeben, Menschenhandel bekämpfen zu wollen, ist das schlicht zynische Heuchelei. Wir werden dieses Vorgehen nicht mittragen und lehnen den Gesetzentwurf ab. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Sachverständigenanhörung des Innenausschusses am 24. Oktober 2011 hat unsere ablehnende Haltung zur Errichtung einer Visawarndatei nochmals verstärkt. Fünf der sieben Sachverständigen hielten die Visa-Warndatei für nicht erforderlich. Das verwundert nicht: Denn erstens werden die in der Visa-Warndatei zu speichernden Daten überwiegend bereits in einer Vielzahl von anderen Dateien gespeichert, auf die die Visumbehörden Zugriff haben. So werden dieselben Daten bereits im Ausländerzentralregister, im Bundeszentralregister sowie im Visa-Informationssystem, VIS, erfasst. Warum kleinere Erweiterungen an diesen Dateien hinsichtlich des Datenumfangs oder einer erleichterten Datenabfrage nicht ausreichen, sondern eine technisch enorm aufwendige neue Struktur eingerichtet werden soll, hat die Bundesregierung bis heute nicht beantwortet. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, dass die Bundesregierung noch nicht einmal bereits bestehende Möglichkeiten nutzt, die Kommunikationswege zwischen den Sicherheitsbehörden zu verbessern. So können nach Art. 3 des Beschlusses des Rates aus dem Jahr 2007 über den Zugang von Polizei und Nachrichtendiensten zum VIS (EU-Ratsdok. Nr. 11077/1/07 vom 11. Oktober 2007) die Mitgliedstaaten selbst bestimmen, welchen nationalen Sicherheitsbehörden sie einen Onlinezugriff auf das VIS ermöglichen. Bislang hat die Bundesregierung von ihrem Recht, der Polizei, den Strafverfolgungsbehörden und den Nachrichtendiensten den Zugriff auf das VIS zu gewähren, nicht Gebrauch gemacht. Zweitens ist eine Visa-Warndatei nicht erforderlich, weil 93 Prozent der Visumsanträge Schengen-Visa und lediglich 7 Prozent nationale Langzeitvisa betreffen. Für 93 Prozent aller Visaverfahren steht mit dem VIS also eine hinreichende Datenbank zur Verfügung. Daten über den Missbrauch von Langzeitvisa sind dagegen nicht bekannt, eine Datenbank für solche Visaverfahren also auch nicht erforderlich. Drittens ist die Bundesregierung nicht einmal in der Lage, darzulegen, wie hoch die Missbrauchszahlen überhaupt sind, die durch die Warndatei verhindert werden sollen. Nachdem der Polizeidirektor der Bundespolizei in seiner schriftlichen Stellungnahme zunächst 1 686 Fälle der Visaerschleichung im Jahr 2010 zählte, musste er in der Anhörung eingestehen, dass ihm die Zahl gerichtlich festgestellter Straftaten nicht bekannt ist. Erhoben würden lediglich Fälle, die sich für die Bundespolizei beim Aufgreifen als Visaerschleichung darstellten. Das ist offensichtlich keine seriöse Grundlage um den tatsächliche Missbrauchsgefahr einordnen zu können. Die Sachverständigen bestätigten des Weiteren unsere Auffassung, dass die Visawarndatei nicht verhältnismäßig ist. Problematisch ist, dass der Gesetzentwurf für das einen Eintrag auslösende Verhalten keine Mindestschwelle vorsieht noch es einer Vorsatzschuld bedarf. Der einzige Anknüpfungspunkt für die Speicherung der Daten ist die Einschätzung des Sachbearbeiters, dass eine falsche Angabe vorliegt. Damit wird jede vermeintliche, auch geringfügige und unwissentliche Falschangabe Anlass zur Speicherung in der Visa-Warndatei. Die größte Gefahr birgt die Visa-Warndatei jedoch deshalb, weil zu befürchten ist, dass jeder Eintrag in der Visawarndatei zu einer automatischen Ablehnung des Visumantrags führen wird. Zwar behauptet die Bundesregierung Gegenteiliges, das ist aber nicht realistisch. Durchschnittlich haben die Sachbearbeiter in den Auslandsvertretungen ein bis zwei Minuten Zeit, um über einen Visumantrag zu entscheiden. Es ist also eine Wunschvorstellung, dass bei einem Eintrag in der VisaWarndatei die Auslandsvertretungen den Einzelfall näher prüfen, geschweige denn die Betroffenen anhören werden. Es wird darauf hinauslaufen, dass versehentlich falsch abgegebene Erklärungen oder gar Falscheintragungen zu einer monatelangen Einreisesperre führen werden. Da die Verteidigungsmittel gegen eine nicht gerechtfertigte Visumablehnung insbesondere aus dem Ausland nur spärlich und wenig effizient sind, kann es für die Betroffenen zu erheblichen Einschränkungen kommen. Selbstverständlich unterstützen wir Grünen das Ziel der Bundesregierung, Visummissbrauch und schwerer Kriminalität mit Auslandsbezug entgegenzuwirken. Die Regierung geht aber einen falschen und voreiligen Weg. Aus vermeintlichen Sicherheitsgründen versucht sie, die Rechte der am Visumverfahren Beteiligten zu unterlaufen. Sie missachtet das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das auch für Ausländerinnen und Ausländer gilt und den Staat verpflichtet, personenbezogene Daten sparsam zu erheben, und zwar nur dann, wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse besteht. Noch viel problematischer als die Warndatei ist der vorgeschlagene Abgleich mit der Antiterrordatei. Anders als bei der Warndatei erfolgt ein Abgleich mit der Antiterrordatei nicht nur bei Personen, die in der Vergangenheit auffällig geworden sind, sondern bei ausnahmslos allen Personen, die am Visumverfahren beteiligt sind und keinen Anlass für eine Überprüfung gegeben haben. Mit dieser Regelung werden friedliche Menschen, die ihre Verwandten für einen Besuch einladen oder sich an internationalen Jugend-, Wissenschafts- und Studierendenaustauschprogrammen beteiligen, pauschal als mögliche Terroristen verdächtigt. Es ist bezeichnend für die rückwärtsgewandte Politik der Bundesregierung, dass sie immer noch meint, Ausländerinnen und Ausländer seien grundsätzlich ein Sicherheitsrisiko. Abgesehen von der negativen Signalwirkung, die von einer solchen Sicherheitsmaßnahme ausgeht, hat die Bundesregierung auch hier nicht aufgezeigt, warum diese stigmatisierende Maßnahme erforderlich sein soll. Es ist völlig unklar, warum die Bundesregierung mit einem halbgaren Gesetzentwurf vorprescht, anstatt die Erfahrungen mit dem Visainformationssystem abzuwarten, um dann zu prüfen, ob weitere Maßnahmen überhaupt notwendig sind. Ein nationaler Alleingang wird ohnehin die Sicherheit in unserem Land angesichts des offenen Schengen-Raums und des gemeinsamen europäischen Visasystems nicht verbessern. Mit der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Abschottungspolitik wird höchstens der Ruf Deutschlands im Ausland geschädigt. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergewährung der Sonderzahlung (Tagesordnungspunkt 21) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Mit dem heute vorgelegten Gesetz zur Wiedergewährung der Sonderzahlung werden wir das Weihnachtsgeld für Besoldungs- und Versorgungsempfänger des Bundes, also unsere Beamten, Richter, Soldaten und Ruheständler, zum 1. Januar 2012, drei Jahre vorfristig, wiederaufleben lassen. Hierüber freue ich mich sehr, nicht in erster Linie wegen der damit verbundenen finanziellen Verbesserungen für unsere Beamten und Versorgungsempfänger. Die wichtigere Botschaft, die von diesem Gesetz ausgeht, ist ganz sicher, dass sich diese Regierung der besonderen Leistungsfähigkeit seiner Beamten bewusst ist und dass wir unsere gegebenen Versprechen einhalten. Für die Opposition sind das natürlich schlechte Nachrichten. Sie, meine Damen und Herren, müssen ihre beamtenpolitischen Drehbücher umschreiben. Die Inszenierung mit dem angeblichen Vertrauensbruch der Regierung kann leider nicht noch drei Jahre aufgeführt werden. Die Beamtinnen und Beamten werden mit diesem Gesetz letztlich viel mehr Vertrauen in unser Regierungshandeln gewinnen, als Sie es ihnen gerne noch eine Weile eingeredet hätten. Ich habe genau an dieser Stelle am 30. September 2010 die Verlängerung der Aussetzung der Sonderzahlung mit den gravierenden haushaltspolitischen Zwängen erklärt. Es war schon damals ein von vielen unterschätztes, aber letztlich sehr wichtiges Verhandlungsergebnis unserer Fraktion, dass die Sonderzahlung nicht wie ursprünglich von der Regierung vorgesehen, komplett gestrichen, sondern nur um weitere vier Jahre suspendiert wurde. Und genau deshalb konnte ich seinerzeit versprechen, dass wir diese Zeit nutzen werden, um die Wiedergewährung schnellstmöglich zu bewerkstelligen. Ebenso habe ich schon damals beteuert, dass die Suspendierung der Sonderzahlungen nur so lange aufrechterhalten wird, wie es finanzpolitisch unbedingt nötig ist. Diese Zusage halten wir heute ein, und ich darf Ihnen versichern, die Entscheidung war nicht leicht. Die Sonderzahlung drei Jahre früher wieder aufleben zu lassen, kostet immerhin 1,5 Milliarden Euro. Deshalb ist die eigentliche Botschaft heute, dass der öffentliche Dienst, auch mit seinen Sorgen und Nöten, für uns kein unscheinbarer Dienstleister ist, der selbstverständlich zu funktionieren hat. Regierung wie Fraktion sind sich darüber im Klaren, wie stark die Belastungen der vergangenen Jahre waren. Die eine oder andere rote Linie wurde dabei sicher unterschritten, auch zu Zeiten der SPD, Herr Hartmann. Was beweist das? Unser Beamtentum steht eben nicht unter staatlicher Patronage und wird auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten nicht von Konsolidierungsmaßnahmen verschont. Aber sobald sich die finanziellen Spielräume ergeben, müssen auch im öffentlichen Dienst die hervorragenden Leistungen adäquat vergütet werden. Um dieses "atmende" System beneiden uns viele europäische Nachbarn. Diese finanzpolitische Seriosität ist einer der Gründe dafür, weshalb wir stärker aus der Krise herausgekommen sind, als wir hineingegangen sind. Wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind stolz darauf, bereits in der vergangenen Wahlperiode und mit der christlich-liberalen Koalition auch in dieser Legislatur, das Dienst- und Besoldungsrecht entscheidend fortentwickelt zu haben. Wir sind noch lange nicht am Ende: So werden wir zum Beispiel die Richtlinien für Sonderurlaub und Erschwerniszulagen für Schicht- und Wechseldiensttätige verbessern. Gerne hätten wir heute auch noch in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund verabschiedet, ein Gesetz mit über 20 Punkten zur Attraktivitätssteigerung in der Bundesverwaltung, also ein Anreizprogramm für Fachkräfte zum Einstieg in den öffentlichen Dienst. Dass wir das Gesetz dringend und schnellstens benötigen, ist jedem außer der SPD klar. Mit der von Ihnen beantragten öffentlichen Anhörung verzögern Sie unverständlicherweise die in den Behörden dringend erwartete Inkraftsetzung. Ich bin gleichwohl optimistisch, dass wir das Fachkräftegewinnungsgesetz noch in diesem Jahr beschließen werden. Die Leistungsfähigkeit und der Leistungswille des öffentlichen Dienstes sind ein unschätzbarer Standortvorteil Deutschlands im weltweiten Wettbewerb. Das wurde insbesondere in Europa nie deutlicher als zur Zeit. Mit dem Fächer an bereits beschlossenen Dienst- und Besoldungsrechtsreformen, mit der Zustimmung zum heute vorgelegten Gesetz und in Erwartung der nächsten bereits in der Pipeline befindlichen Gesetzesvorhaben sichern wir uns diesen Wettbewerbsvorteil. Wir modernisieren damit den öffentlichen Dienst konsequent weiter, und wir würdigen damit die Leistungen und das Vertrauen unserer Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger in besonderer Weise. Am Ende lohnt es sich wie immer, der CDU/CSU zu vertrauen. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Das zentrale Anliegen der Haushaltsbeschlüsse in der vergangenen Woche war es, die Neuverschuldung zurückzuführen. Dabei ist es der christlich-liberalen Koalition in den parlamentarischen Beratungen gelungen, die im Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2012 vorgesehene Nettokreditaufnahme von 27,2 Milliarden Euro noch um mehr als eine weitere Milliarde auf 26,1 Milliarden Euro abzusenken. Die heute zu beschließende Wiedergewährung der Sonderzahlung ist angemessen und wurde dabei bereits berücksichtigt. Mit dem Gesamtvolumen des Bundeshaushalts werden dennoch weiterhin die Vorgaben der Schuldenbremse übererfüllt. Dies ist auch deswegen von Bedeutung, weil nur auf der Grundlage geordneter Staatsfinanzen der Bund jetzt und in der Zukunft seine Personalausgaben bestreiten kann. Deutschlands leistungsfähige öffentliche Verwaltung ist ein wichtiger Standortvorteil im internationalen Wettbewerb. Das Berufsbeamtentum bietet in besonderer Weise Garantie für die rechtsstaatliche, unparteiische und wirksame Ausführung der Gesetze. Um diese hohe Leistungsfähigkeit zu erhalten, gilt es, die Attraktivität des Berufsbeamtentums für qualifizierte Nachwuchskräfte nicht aus den Augen zu verlieren. Denn für die vielfältigen und anspruchsvollen Aufgaben des Öffentlichen Dienstes des Bundes wird gut ausgebildetes und zum Teil hoch spezialisiertes Personal benötigt. Dass dieser Trend in Zukunft weiter anhalten wird, belegen beispielsweise auch die gestiegenen Anforderungen an Ermittlungsbeamte, die gegen Internetkriminalität vorgehen. Sie müssen über ein vertieftes technisches Verständnis verfügen und dies kontinuierlich auffrischen, um den perfiden und täglich wechselnden Tatvarianten auf die Schliche zu kommen. Dass solche Kenntnisse natürlich auch in der Wirtschaft hoch begehrt und dementsprechend gut vergütet werden würden, ist offensichtlich. Es sind dabei grundsätzlich die gleichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die für den gesamten Arbeitsmarkt gelten. Ein wichtiger Bestandteil zum Erhalt der Attraktivität ist neben den vielfältigen Möglichkeiten für einen beruflichen Aufstieg und zur Weiterbildung daher auch eine angemessene und leistungsbezogene Vergütung der Tätigkeit. Die christlich-liberale Koalition hat daher zu Recht beschlossen, die Sonderzahlung für Bundesbeamte wieder auf 60 Prozent zu erhöhen. Mit der Erhöhung steigern wir jedoch nicht nur die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Berufsbeamtentums. Die christlich-liberale Koalition bringt hierdurch auch ihre Wert-schätzung und Anerkennung für die von den Beamten in den vergangenen Jahren geleisteten Sparbeiträge zur Konsolidierung des Haushaltes des Bundes zum Ausdruck. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten haben die Beamten mit ihrem Sparbeitrag in erheblicher Weise zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beigetragen und damit eine Vorreiterrolle übernommen. Die vorgenommenen Einsparungen waren wichtig, um die Grundlagen für die zukünftige Einhaltung der Schuldenbremse nach Art. 109 GG zu schaffen. Aufgrund der verbesserten wirtschaftlichen Lage ist es jedoch angemessen, die bestehende Sonderzahlung wieder auf das Niveau des Jahres 2005 zu erhöhen. Genau dies wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf umgesetzt. Es wäre das völlig falsche Signal an die Beamtinnen und Beamten des Bundes gewesen, wenn wir trotz der überwundenen Krise und erholter Konjunktur die angekündigte Wiederbelebung der Sonderzahlung nicht bereits für das Jahr 2012 umgesetzt hätten. Die Schuldenbremse und der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichten uns auch weiterhin zu einer schrittweisen Konsolidierung des gesamten Bundeshaushalts in den kommenden Jahren. Beide Mechanismen dienen der Einhaltung der Generationengerechtigkeit, zu der sich die christlich-liberale Koalition verpflichtet hat. Die heute zu beschließende Erhöhung der Sonderzahlung widerspricht diesen Vorgaben nicht; denn sie stellt einen angemessenen und gerechten Ausgleich für die bereits erbrachten Einsparungen durch die Beamten zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes dar. Dies verdient eine breite Unterstützung. Michael Hartmann (SPD): Nur zu gerne hätten wir heute Abend nicht nur über die Sonderzahlungen bei den Bundesbeamtinnen und -beamten beraten und beschlossen, sondern zugleich das Gesetz über die Fachkräftegewinnung verabschiedet. Doch das soll nun nicht sein. In einem ungewohnten Akt plötzlicher Handlungsfähigkeit wurde zu dem aus unserer Sicht eigentlich unproblematischen Paragrafenwerk klammheimlich in einem Änderungsantrag eine Ungehörigkeit eingebaut: Den politischen Beamten soll es besser gehen, wenn sie in den einstweiligen Ruhestand geschickt werden. Da dieser nach dem bevorstehenden Regierungswechsel in der Tat da und dort drohen kann, ist diese Fürsorge für die verbliebenen Anhänger der Koalition im Regierungsapparat verständlich, hinzunehmen ist sie aber nicht. Deshalb wollen wir in einer Anhörung geklärt wissen, was in aller Welt die verfeindeten Partner dazu treibt, dem Bundestag den goldenen Handschlag für jene ganz oben im Beamtenapparat klammheimlich unterjubeln zu wollen, während der Vertrauensbruch beim Weihnachtsgeld mit gedrechselten Begründungen heute endlich zurückgenommen wird. Besser wird dadurch nichts. Sie wissen nicht, was Sie an den deutschen Beamten im Bundesdienst haben. An die ganz oben denken Sie in Fürsorge für den Tag danach. Wir reden hier über Ministerialdirektoren und Staatssekretäre, denen immer schon klar war, dass sie in den Status des politischen, also jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzbaren Beamten wechseln. Diese kassieren ein monatliches Grundgehalt von rund 9 500 beziehungsweise 11 500 Euro. Geht es nach der Koalition, könnten diese unterfinanzierten Staatsdiener dann um bis zu 635 Euro monatlich ihre Versorgung erhöhen. Erklären Sie das doch bitte mal einem Polizeiobermeister der Bundespolizei, der lebenslang in A8 festhängt und keine Chance auf Beförderung hat. Es wird Ihnen nicht gelingen. Vielleicht ist Ihnen der Schaden gleichgültig oder nicht bewusst. Gutmachen werden Sie ihn jedenfalls nicht mehr. Während großzügig mit den politischen Beamten verfahren werden soll, ist auch jetzt keinerlei Bewegung bei der Mitnahmefähigkeit der Versorgung beim Wechsel in die Privatwirtschaft erkennbar. Diesem Vorschlag von uns und allen berufsständischen Vereinigungen wie auch den Gewerkschaften stellen Sie sich entgegen. In der Großen Koalition hat der damalige Innenminister Schäuble im letzten Moment auf die Bremse getreten. Und Schwarz-Gelb zeigt so gar keine Bewegung. Dabei wäre dies ein wirkliches und wirksames Instrument moderner Gesetzgebung in Zeiten des demografischen Wandels, das jungen Menschen den Weg in den öffentlichen Dienst offen hielte. Es wird Zeit, dass die Beschäftigten des Bundes wieder wertgeschätzt werden. Mit dieser Regierung wird dies aber nichts mehr. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Mit dem Gesetz zur Wiedergewährung der Sonderzahlung, das wir heute beschließen, führt die Koalition zum 1. Januar 2012 die Sonderzahlung für Beamte, Soldaten und Richter des Bundes auf 60 Prozent der Monatsbezüge zurück. Damit wird das Niveau von 2004 drei Jahre früher als geplant wieder erreicht. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2006 war das Weihnachtsgeld um die Hälfte reduziert worden mit der Aussicht, dass die Zahlung ab Januar 2011 wieder aufgenommen werden sollte. Als dann 2010 beschlossen wurde, dass die zweite Hälfte der Sonderzahlung, die seitdem auf die monatlichen Bezüge angerechnet wurde, noch bis 2015 ausgesetzt bleiben würde, führte das bei vielen Beamten zu Enttäuschung und Frustration. So verständlich diese Reaktionen sein mögen, die Koalition steht zu der Entscheidung, die 2010 mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz getroffen wurde und die zum damaligen Zeitpunkt richtig war. Deutschland hatte mit einer äußerst hohen Staatsverschuldung zu kämpfen. Wir befanden uns infolge der Finanzkrise im schlimmsten Konjunkturtief der Nachkriegsgeschichte. Daher steht außer Frage, dass der öffentliche Dienst seinen Sparbeitrag zu leisten hatte in einem Zeitraum, in dem auch in der freien Wirtschaft Weihnachts- und Urlaubsgelder gekürzt und Arbeitnehmervergünstigungen eingespart wurden. Das Beamtentum kann in solchen Situationen nicht abgekoppelt von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gesamtentwicklung behandelt werden. Die Bundesverwaltung hat ihren Sparbeitrag in den letzten Jahren erbracht. Durch Maßnahmen wie die Kürzung der Sonderzahlung und des Urlaubsgeldes - um nur einige zu nennen - konnten rund 3 Milliarden Euro eingespart werden. Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, die Kürzung zum 1. Januar 2012 anstatt erst 2015 wieder zurückzunehmen. Die Wirtschaft entwickelt sich momentan viel besser als gedacht. Zur Zeit stehen wieder viele Tariferhöhungen in der Industrie an. Zudem können wir deutliche Steuermehreinnahmen verbuchen, sodass die Ausgaben von circa 500 Millionen Euro jährlich, die mit der Wiedergewährung der Sonderzahlung verbunden sind, trotz des Sparzwangs vertretbar bleiben. Die Einhaltung der Schuldenbremse wird dadurch nicht gefährdet. Bundeswirtschaftsminister Rösler sprach in einer Pressemeldung am Mittwoch von einer "breit angelegten und auch gefestigten Binnenkonjunktur" und wies darauf hin, dass Deutschland für das Winterhalbjahr gute Voraussetzungen vorzuweisen hat, um die weltwirtschaftliche Flaute gut zu überstehen. Skeptikern gegenüber kann man nicht genug betonen, wie wichtig es ist, im öffentlichen Dienst Anreize zu schaffen und an den Beschäftigungsbedingungen weiter zu arbeiten. Spricht man mit Beamten des Bundes, dann hört man leicht die Unzufriedenheit über wachsende Arbeitsbelastung durch Stelleneinsparungen und über Besoldung und Versorgung heraus, die hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückbleiben. Der Fachkräftemangel ist kein Thema, das uns in ferner Zukunft tangieren wird. Schon heute gibt es einen Bedarf an gut ausgebildetem Personal im öffentlichen Dienst, der über das Angebot auf dem Arbeitsmarkt hinausgeht. Es reicht einfach nicht mehr, die Beamten mit dem Hinweis auf ihren sicheren Arbeitsplatz zu beschwichtigen. Ingenieure mit Fachhochschulabschluss zum Beispiel können in der freien Wirtschaft vielfach höhere Gehälter erzielen als mit einem Einstieg in den öffentlichen Dienst. Aus diesem Grund wählen sie oft die auf Anhieb lukrativer erscheinende Karriere. Regierung und Gesetzgeber bleiben gefragt, auf Dauer die Attraktivität des öffentlichen Dienstes als Arbeitgeber zu erhalten und zu steigern. An dieser Stelle setzt die Koalition mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz an, das ebenfalls heute im Plenum beschlossen werden sollte. Wir haben im Gesetzentwurf verankert, dass Ingenieursanwärter mit A11 eine Besoldungsstufe höher eingestuft werden können als bisher, wenn der jeweilige Dienstherr diesen Anreiz für angemessen hält. Außerdem sind Stellenzulagen im Bereich der Bundeswehr betroffen, sowie eine Prämie von 125 Euro monatlich für Soldaten auf Zeit, die sich zwischen Anfang 2011 und Ende 2013 um mindestens zwei Jahre weiterverpflichten. Wichtig ist auch ein Personalgewinnungszuschlag für Beamte und Soldaten, den der öffentliche Dienst des Bundes dringend zur Attraktivitätssteigerung in der Anwerbung von Fachkräften braucht. Auch soll die Möglichkeit geschaffen werden, die Verringerung von Bezügen bei zum Bund wechselnden Landesbeamten auszugleichen. Auf diese und weitere Verbesserungen werden Beamte und Soldaten nun dank der SPD höchstwahrscheinlich noch länger warten müssen. Sie hat zum Gesetzentwurf eine öffentliche Anhörung mit Sachverständigen gefordert. Aus meiner Sicht wird hier ein sinnvolles parlamentarisches Mittel der Informationsgewinnung instrumentalisiert, um den parlamentarischen Prozess unnötig in die Länge zu ziehen und der Koalition Steine in den Weg zu legen. Die Leistung der Beamten des Bundes, ob in Hinsicht auf ihren Sparbeitrag oder auf ihre Arbeitsleistung, muss angemessen gewürdigt werden. Wir freuen uns, gemeinsam mit dem Koalitionspartner mit der Wiedergewährung der Sonderzahlung einen Erfolg zu erzielen. Petra Pau (DIE LINKE): Über Jahre hinweg wurden Beamtinnen und Beamten sowie Richtern und Soldaten jährliche Sonderzahlungen gekürzt. Bekannter sind diese Zuwendungen als "Weihnachtsgeld". Nun sollen die seit langem ausgesetzten Bezüge ab 1. Januar 2012 wieder in Kraft treten. So weit der gute, oder sagen wir, der bessere Teil der Botschaft der nun vorliegenden Beschlussfassung. Worum geht es? Einem Polizeikommissar der Bundespolizei im gehobenen Dienst wurden zwischen 2003 und 2010 über 8 000 Euro gestrichen. Das ist schon eine erkleckliche Summe. Bei Beamtinnen und Beamten mit geringeren monatlichen Bezügen waren zwar die Verluste geringer. Dafür schlug das Minus bei ihnen heftiger ins Kontor. So oder so, ihnen wurden soziale Härten zugemutet. Und das alles bei derselben Arbeit, die ihnen abverlangt wurde. Oder einfacher gesagt: Weniger Lohn für die gleiche oder sogar für mehr Arbeit! Das war die politische Linie, die dahinter steckte. Deutschland ist das einzige EU-Land, in dem die Reallöhne in den zurückliegenden Jahren nicht stiegen, sondern fielen. Bundesbeamte gehören zu den Betroffenen. Die Linke hat das immer abgelehnt. Neben der politischen, der finanziellen und der sozialen Dimension gibt es aber auch noch eine moralische. Ich erinnere an eine Einschätzung des Vorsitzenden vom Beamtenbund dbb und der Tarifunion. Peter Heesen bezeichnete die Kürzung der Sonderzahlungen schlichtweg als "glatten Vertrauensbruch", Vertrauen, das Bundesregierungen nahezu aller Couleur verspielt haben. Der vorliegende Gesetzentwurf beziffert die jährlichen Kosten für die Wiedereinführung der sogenannten Sonderbezüge mit 500 Millionen Euro. Er verschweigt, wie viel den Beamten vorenthalten wurden. Deshalb werden Sie einen Vorwurf so schnell auch nicht wieder los. Sie haben Beamte um 3 Milliarden geschröpft, Multimillionäre um zig Milliarden entlastet und Banken Hunderte Milliarden hinterher geworfen. Mein letzter Punkt: Die Sonderzahlungen sollen ab 2012 auf dem Niveau von 2006 wieder gewährt werden. Das heißt, sie orientieren sich linear am Gehalt der jeweiligen Beamtinnen und Beamten. Wer also mehr bezieht, bekommt noch mehr dazu. Ich halte das nicht für allzu sozial und solidarisch. Vielmehr sollten Angehörige des einfachen und mittleren Dienstes besser behandelt werden, sagt die Linke. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese schwarz-gelbe Regierung ist leider nicht der Weihnachtsmann, auch wenn sie in den letzten Monaten versucht, sich ein rotes Mäntelchen überzuwerfen. Der von der schwarz-gelben Koalition eingebrachte Gesetzentwurf zur Aufhebung der Kürzung von Sonderzahlungen für Beamtinnen und Beamte ist kein Geschenk, sondern die seit Jahren überfällige Rücknahme von Kürzungen am falschen Ende. Denn die Beamtinnen und Beamten sind keine in ihrer Gesamtheit hoch besoldete Gruppe. Allein in der Besoldungsgruppe A unterscheiden wir gesetzlich 14 verschiedene Besoldungsgruppen für den einfachen, mittleren, gehobenen und höheren Dienst. Die Aufgaben der Bundesbeamten sind den Besoldungsgruppen entsprechend vielfältig und anspruchsvoll. Nicht nur die Bundespolizei arbeitet im Schichtdienst und nicht nur Soldatinnen und Soldaten, aber vor allem sie traf in den letzten fast 15 Jahren eine Realität, aus der hohe Belastungen in Verantwortung für unseren Staat folgten. Besonders die Beamtinnen und Beamten im einfachen und mittleren Dienst haben die Einsparmaßnahmen hart getroffen. Diese wurden bereits unter der von CDU und SPD geführten Regierungskoalition, unter dem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, beschlossen. Wenn jetzt die SPD hier einwendet, in der Sache durchaus zu Recht, dass die schwarz-gelbe Regierung einen Zickzackkurs fährt, sollte sie auch ihre eigene Verantwortung bei den Kürzungen der Beamtenbesoldung vor Augen haben. Denn während der Großen Koalition wurde zulasten der Beamtenschaft ein Konsens aufgekündigt, den zuvor die rot-grüne Regierungskoalition in einem die Betroffenen, insbesondere die Gewerkschaften, einbeziehenden Verfahren beschlossen hatte. Dieser umfasste unter anderem auch den grundsätzlichen Ansatz, dass Wettbewerb der Beamtinnen und Beamten untereinander kein Allheilmittel im Staatswesen sein kann. Denn die Staatsbediensteten nehmen gesetzlich definierte Aufgaben wahr, für deren Erfüllung die Mechanismen der Wirtschaft nicht ohne Weiteres übergestülpt werden können. Die Kürzung des sogenannten Weihnachtsgeldes als Sonderzahlung von 60 Prozent auf nur noch 30 Prozent war im Übrigen auch ein Beschluss der Großen Koalition. Die jetzige Regierungskoalition hat die in der 16. Wahlperiode beschlossenen Einsparmaßnahmen im öffentlichen Dienst nicht nur aufrechterhalten, sondern im Juni 2010 im Rahmen ihres vorgeblich 80 Milliarden Euro enthaltenden Sparpakets nochmal Kürzungen im öffentlichen Dienst von insgesamt zwei Milliarden Euro angekündigt. Deshalb beschloss die CDU/CSU-FDP-Koalition vor einem guten Jahr auch, die Kürzungen für Sonderzahlungen bis zum Jahr 2015 beizubehalten. Vom Verfahren her, insbesondere auf Wahlkampfversprechen, aber auch auf den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz bezogen, war dies ein bemerkenswerter Vertrauensbruch. Es mutet jetzt fast ein wenig populistisch an, wenn der Gesetzentwurf zum Weihnachtsgeld zeitlich fast mit der Eröffnung aller Weihnachtsmärkte zusammenfällt. Das Jahr 2011 ist praktisch rum, den Bundesbeamtinnen und -beamten kommen die höheren Sonderzahlungen daher erst ab 2012 zugute. Für das Jahr 2011 also wird das Geld nicht ausgeschüttet. Inhaltlich begrüßen wir gleichwohl diesen Gesetzentwurf als eine notwendige und einen seit Jahren überfälligen Schritt. Durch die Hintertür soll nun aber ein Geschenk an politische Beamtinnen und Beamte gemacht werden. Der Änderungsantrag zum Gesetz zur Unterstützung der Fachkräftegewinnung im Bund und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften ist am Dienstagabend äußerst kurzfristig eingebracht worden. Die Bundesregierung will den politischen Beamten, folglich auch ihren eigenen Staatssekretären, unter dem Deckmantel der Fachkräftegewinnung eine Versorgungserhöhung von monatlich bis zu 635 Euro gewähren. Das ist in der Tat ein Geschenk. Die erhöhten Versorgungsbezüge folgen rechnerisch daraus, dass sie während des drei Jahre möglichen, vorläufigen Ruhestands für politische Beamtinnen und Beamte in die Versorgungsberechnung einbezogen werden. Als die CDU noch eine Volkspartei war (zu Zeiten Helmut Kohls), hatte sie in Koalition mit der FDP genau diese Berechnungsgrundlage für ungerechtfertigt erachtet und deshalb abgeschafft. Das wirft erneut die Frage auf, ob es den Bestrebungen dieser Regierung im Dienstrecht nicht an jeder klaren Linie fehlt. Hier möchten meine Fraktion und ich darauf hinweisen, dass bei einer Dienstrechtsreform auch die immer schwerer begründbare Ungleichbehandlung der öffentlichen Angestellten gegenüber den Beamtinnen und Beamten gründlich überdacht werden muss. Sicher sehen auch wir den Reformbedarf angesichts der schweren Schieflage der öffentlichen Haushalte. Gerade deshalb fordern wir keinen Zickzackkurs, sondern ein durchdachtes, langfristig angelegtes Grundsatzkonzept für den öffentlichen Dienst. Neben dem wichtigen Gesichtspunkt der Entlohnung müssen weitere, für die Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit von Beamtinnen und Beamten sowie von Angestellten des öffentlichen Dienstes ebenso wichtige berufliche Rahmenbedingungen einbezogen werden. Hierzu zählen Familienfreundlichkeit, die Versetzungspolitik, die Organisation des Schichtdienstes, die Übertragung von mehr Eigenverantwortung und vieles mehr. All das fordern wir hier heute erneut ein. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Zusatztagesordnungspunkt 5) Max Straubinger (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, mit zahlreichen Änderungen des Sozialgesetzbuches vornehmlich die technischen Verfahrensweisen effizienter zu gestalten. Zum Beispiel soll auf den Versand einer Rentenanpassungsmitteilung verzichtet werden, wenn sich bei der jährlichen Rentenanpassung der aktuelle Rentenwert nicht erhöht. Es werden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erweiterte Datenübermittlung zwischen den Meldebehörden und der gesetzlichen Rentenversicherung geschaffen. Insbesondere durch die Übermittlung von Daten über Wiederverheiratungen soll künftig verhindert werden, dass Hinterbliebenenrenten zu lange gezahlt werden. Es wird aber auch der Sozialschutz ausgeweitet. So wird unter anderem die Versicherungspflicht von Teilnehmern an dualen Studiengängen einheitlich für alle geregelt. Besonders wichtig ist uns die Regelung für Ehrenbeamte, die eine Aufwandsentschädigung und eine vorgezogene Altersrente erhalten. Für sie wird eine fünfjährige Übergangsregelung geschaffen, damit sich die Aufwandsentschädigung nicht als Hinzuverdienst nachteilig auf die Rente auswirkt. Diese Vertrauensschutz gewährende Regelung für die Vergangenheit ist durch ein Sozialgerichtsurteil notwendig geworden, um die Anrechnung auf die Rente zu verhindern. Im Rentendialog wird über eine unbefristete Regelung debattiert werden. Der einzig erkennbar gangbare Umsetzungsweg wäre derzeit jedoch, die Aufwandsentschädigung nicht mehr steuerpflichtig und damit auch nicht mehr abgabepflichtig zu stellen. Dies käme jedoch der Schaffung eines Sonderrechtes für Ehrenbeamte gleich. Die von uns eingebrachten Änderungen beruhen auch auf Vorschlägen aus dem Bundesrat. Folgende in der Kabinettsfassung vorgesehenen Regelungen werden ergänzt bzw. modifiziert: Erstens. Ich begrüße es außerordentlich, dass die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung bei Bezug von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld künftig direkt an das Versicherungsunternehmen überwiesen werden sollen. Die privaten Krankenkassen haben diese Lösung ermöglicht, indem sie säumigen Bedürftigen im Basistarif ihre Beitragsschulden erlassen wollen. Ein jahrelanger politischer Streit ist endlich beigelegt. Mehrere Tausend bedürftige Privatversicherte können endlich aufatmen; sie sind nicht mehr mit Beitragszahlungsforderungen konfrontiert. Es geht hier nicht darum, Bedürftige gegenüber der Versicherung zu outen. Vielmehr werden die fristgerechte Beitragszahlung und damit die dauerhafte Aufrechterhaltung des vollen Versicherungsschutzes gewährleistet. Auch die Beitragszahlung von gesetzlich krankenversicherten Bedürftigen wird unmittelbar mit dem Versicherer abgewickelt. Das Verfahren hat sich bewährt. Wir erstatten den Sozialversicherungsträgern die bisher erbrachten Beitragszahlungen für Eingliederungsmaßnahmen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich für behinderte Menschen für die Vergangenheit. Zukünftig sind die Rentenversicherungsbeiträge von den Sozialversicherungsträgern zu zahlen. Zweitens. Wir haben die in der Kabinettsfassung vorgesehene Verlängerung des Moratoriums über die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger für rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentlichen Hand noch einmal überdacht. Es handelt sich um die zweite Verlängerung, ohne dass bisher in der Sache nennenswerte Ergebnisse erzielt worden sind. Mit einer Fristverlängerung weit in die nächste Legislaturperiode hinein wären die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zulasten der gewerblichen Wirtschaft weiter verfestigt worden, die daraus resultieren, dass im Wettbewerb stehende Unternehmen derselben Branche unterschiedlichen beitragsrechtlichen Belastungen unterliegen. Diese Auswirkung des Moratoriums ist bereits mehrfach von der Europäischen Kommission kritisiert worden. Wir sind daher zu der Überzeugung gekommen, dass im Gesetz sicherzustellen ist, dass eine Lösung der Zuständigkeitsfrage schneller, als im Kabinettsentwurf vorgesehen, umgesetzt werden muss. Statt der in der Kabinettsfassung vorgesehenen Verlängerung des Moratoriums bis Ende 2014 wird das Moratorium daher bereits zum 31. Dezember 2012 auslaufen. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung ist beauftragt, bis Ende Mai 2012 ein Konzept zur Neuregelung der Unfallversicherungsträger für rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentlichen Hand vorzulegen. Drittens. Damit eine längere Freistellung aus einem Arbeitszeitkonto nicht zum Verlust der Versicherungspflicht und des Versicherungsschutzes führt, haben wir neu geregelt, dass bei einer Freistellung für einen Zeitraum von mehr als einem Monat aus einem Arbeitszeitkonto die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach drei Monaten endet. Bislang sieht das Gesetz explizit nur dann das Fortbestehen des Beschäftigungsverhältnisses vor, wenn während der Freistellung Arbeitsentgelt aus einem Wertguthaben fällig ist. Daraus ziehen die Spitzenverbände der Sozialversicherung den Schluss, dass bei einer Freistellung für einen Zeitraum von mehr als einem Monat aus einem Arbeitszeitkonto die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nach einem Monat endet. Diese Auslegung führt zum Wegfall des Sozialversicherungsschutzes für den betroffenen Beschäftigten. Um den Sachverhalt rechtssicher zu regeln, wird die Grenze künftig gesetzlich auf drei Monate festgelegt. Ottmar Schreiner (SPD): Wie von der Bundesregierung gewohnt, wurde auch der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze im Eilverfahren als Zusatzpunkt auf die heutige Tagesordnung gesetzt. Das Jahresende naht, Altlasten müssen schnell und ohne Rücksicht abgearbeitet werden. Verluste gibt es überall, so könnte man dieses Vorgehen interpretieren. Der Schwerpunkt der geplanten Gesetzesänderungen liegt nicht so sehr im SGB IV, sondern in "anderen Gesetzen", wie im Titel des Regierungsentwurfs jedoch verharmlost genannt wird. Zum einen soll die Finanzierung von Rentenversicherungsbeiträgen für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen im sogenannten Eingangs- und Berufsbildungsbereich geändert werden. Um behinderten Menschen eine angemessene Rente zu sichern, werden die Beiträge zur Rentenversicherung aufgestockt. Bund und Länder übernehmen je zur Hälfte diese Aufwendungen. Das ist richtig und wurde bisher nicht infrage gestellt, weil es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. Die jetzige Bundesregierung sieht diesen Sachverhalt jedoch anders und wollte die geltende Rechtslage sogar rückwirkend ab 2008 ändern. Das Bundearbeitsministerium hatte schon im Jahr 2007 der Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Deutschen Rentenversicherung eine Weisung erteilt, nach der die Rentenversicherungsbeiträge aus Beitragsmitteln zu finanzieren seien. Daraufhin hatte die BA beim Bayerischen Landessozialgericht eine Klage eingereicht. Das entsprechende Gerichtsurteil des Landessozialgerichts München zeigt, dass weder für die Bundesagentur für Arbeit noch für die Deutsche Rentenversicherung nach Wortlaut des geltenden Gesetzes eine Erstattungspflicht besteht. Die Bundesregierung interessiert das nicht. Sie ist nämlich der Meinung, dass "eine Erstattungspflicht des Bundes an die Träger der Einrichtungen im Wesentlichen nur für die im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt tätigen behinderten Menschen (§ 41 SGB IX) bestehe. Für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen werde deshalb ausdrücklich klargestellt, dass die Rehabilitationsträger die gesamten Beiträge zu erstatten haben". Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung demnach die geltende Rechtslage ändern und damit ihr Vorgehen legitimieren. Das ist eine unsachgemäße Verschiebung finanzieller Lasten vom Steuer- zum Beitragszahler. Dies wird meine Fraktion nicht mittragen. Unser diesbezüglicher Änderungsantrag, der eine Beibehaltung der geltenden Rechtslage fordert, wurde gestern im Ausschuss für Arbeit und Soziales von der Regierungskoalition abgelehnt. Ein weiteres Vorhaben, mit dem der Bund finanziell entlastet werden soll, betrifft das Entschädigungsrentengesetz. Die Bundesregierung will die Erstattung der Aufwendungen für Opfer des Nationalsozialismus an die Deutsche Rentenversicherung durch den Bund entfallen lassen. Auch hier handelt es sich um einen Sachverhalt, der gesamtgesellschaftlich geschultert werden muss und nicht einseitig der Versichertengemeinschaft aufgebürdet werden kann. Auch bei der Bereinigung von nationalsozialistischem Unrecht will sich die Bundesregierung ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung entziehen. Unser Änderungsantrag in dieser Sache wurde auch abgelehnt. Ein weiterer für meine Fraktion wichtiger Punkt wäre gewesen, eine Verlängerung der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen in DDR-Betrieben durchzusetzen. Die Aufbewahrungsfrist ist Regelungsbestandteil des SGB IV. Nach geltendem Recht läuft diese Frist zum 31. Dezember 2011 wegen Untätigkeit der Regierungskoalition aus. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Bund ist aber auch nach nunmehr 20 Jahren eine große Anzahl der Versichertenkonten von DDR-Beschäftigten mit rund 12 Prozent ungeklärt. Der Fristablauf hätte zur Folge, dass die Betroffenen mit Rentenkürzungen konfrontiert werden. Aber auch hier folgt die Bundesregierung nicht unserem Änderungsantrag. Schließlich hat der Deutsche Gewerkschaftsbund in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf auf eine Regelungslücke im Arbeitnehmer-Entsendegesetz in Verbindung mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz hingewiesen und einen Vorschlag für deren Schließung unterbreitet, den wir nachdrücklich unterstützen und in unserem Änderungsantrag auch gefordert haben. Ich möchte das bestehende Problem wie folgt verdeutlichen: Ein Gebäudereiniger wird als Leiharbeiter zum Beispiel in ein Hotel entliehen. Wie sieht die Entlohnung aus? Erhält der Gebäudereiniger nun als Leiharbeiter den Tariflohn der Leiharbeit in Höhe von 7,60 Euro oder wird er auf Basis des im Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) bestehenden Gebäudereinigermindestlohns in Höhe von 8,40 Euro vergütet? Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu entschieden, dass der als Maler eingesetzte Leiharbeiter nur dann Anspruch auf den tariflichen Mindestlohn des Maler- und Lackiererhandwerks gemäß AEntG hat, wenn der Entleihbetrieb in den Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fällt. Um die Löhne zu drücken, entscheiden sich die Entleiher daher immer mehr für Leiharbeiter. Die Folge ist ein weiteres Absinken des Lohnniveaus. Daher besteht die völlig berechtigte Forderung, diese Rechtsunsicherheit aufzuheben. Um diesen Umgehungstatbestand zu beseitigen, bedarf es einer kleinen Änderung im AEntG: Der Verleiher soll dem Leiharbeitnehmer, dessen Tätigkeiten in den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nach dem AEntG fallen, den nach diesem Tarifvertrag geltenden Lohn zahlen. Dies gilt auch dann, wenn der Entleiher nicht in den Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fällt. Aber auch hier zeigte sich die Bundesregierung leider beratungsresistent. Die überwiegenden Stellungnahmen der Sachverständigen im Rahmen der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf Ende Oktober waren in vielen Punkten vernichtend. Aber die Bundesregierung erweist sich als beratungsresistent. Meine Fraktion hat zu dem Vierten SGB-IV-Änderungsgesetz einen Änderungsantrag eingebracht, der unerwünschte Folgewirkungen vermieden hätte. Die Koalitionsparteien haben dies abgelehnt und einen eigenen Änderungsantrag vorgelegt, der sich fast nur auf redaktionelle Änderungen beschränkt. Aus diesem Grund werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Der Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des "Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze" (4. SGB-IV-Änderungsgesetz) ist ein klassisches Omnibusgesetz, wie es sie am Ende eines Jahres des Öfteren gibt. Und dieser "Omnibus" hat viele Passagiere, deren Ankunft mehr oder minder stark herbeigesehnt wird. Er ist jetzt auch schon eine ganze Zeit unterwegs, und da ist es gut, dass er nun - noch rechtzeitig vor Jahresschluss - sein Ziel, das Bundesgesetzblatt, ansteuert. Leitgedanken dieses Gesetzes sind Bürokratieabbau, Effizienzsteigerung und praxisnahe Regelungen. Dazu gehören die Entlastung von Kleinst- und Kleinunternehmen durch die freiwillige Teilnahme an der elektronischen Betriebsprüfung, die Reduzierung von Meldekopien für Unfallversicherungsmeldungen, die Korrek-turen bei der Gewährung von Zuschlägen zur Witwenrente und der Vorschriften zum Rentensplitting sowie die Befreiung von sogenannten "BIWAQ"-Beschäftigungen von der Versicherungspflicht zur Arbeitsförderung. Diese vorgeschlagenen Gesetzesänderungen entlasten die Sozialversicherungen und erleichtern die Betriebspraxis. Dies begrüßen wir sehr. Dazu gehört aber auch, dass wir Vorschläge der Justiz-, Arbeits- und Sozialminister der Länder aufgreifen, um der stetig steigenden Zahl von Verfahren vor den Sozialgerichten besser begegnen zu können. Eine funktionierende Sozialgerichtsbarkeit ist der Grundstein des Vertrauens der Bürger in unseren Rechts- und Sozialstaat. Deshalb ist es auch hier wichtig, effizient zu arbeiten, ohne das Gerichtssystem durch Kürzungen zu belasten. Praxisnähe zeigt auch die Klarstellung des Zuschuss-charakters der Arbeitgeberzahlung an berufsständische Versorgungswerke, damit die bewährte Beitragseinzugs-praxis der Versorgungswerke beibehalten werden kann. Allerdings hatte die FDP-Bundestagsfraktion auch einige kritische Fragen zum ursprünglichen Entwurf. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass das Moratorium der Zuständigkeit der öffentlichen Unfallkassen für rechtlich selbstständige Unternehmen der öffentlichen Hand nur um ein Jahr verlängert wird. Nach sechs Jahren, die ergebnislos verstrichen sind, sind wir der Meinung, dass es jetzt höchste Zeit ist, dass die zuständigen Stellen zeitnah Vorschläge für eine Neuregelung vorlegen. Wir sind ferner froh, dass gesetzlich klargestellt wird, dass auch eine längere Freistellung aus einem Arbeitszeitkonto nicht zum Verlust der Versicherungspflicht und des Versicherungsschutzes führt. Diese Regelung geht auf die Lebenswirklichkeit und unterschiedliche Erwerbsbiographien der heutigen Zeit besser ein. Wir begrüßen, dass die Beiträge (Zuschüsse) zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung bei Bezug von Arbeits-losengeld II und Sozialgeld zukünftig von den zuständigen Sozialleistungsträgern nicht mehr an den unmittelbar Leistungsberechtigten, sondern direkt an das Versicherungsunternehmen überwiesen werden sollen. Hierdurch werden Fehlsteuerungen vermieden, und das Beitragszahlungsverfahren auch bei privat krankenversicherten Leistungsbeziehenden nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch wird erheblich vereinfacht. Wir haben uns darum bemüht, bei der Erstattungspflicht für Rentenversicherungsbeiträge an die Träger für anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen eine angemessene Regelung zu finden. Dass die Rückwirkung aus dem Gesetzentwurf gestrichen wurde, war uns aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ganz besonders wichtig. So oder so beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf eine Summe von Einzelregelungen, die eine klare Tendenz aufweisen und unter dem Strich ein wirksamer Beitrag zur Reformpolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen sind. Viele Kollegen auch der Opposition haben im Ausschuss zu verstehen gegeben, dass sie einige Punkte des Gesetzentwurfs sehr unterstützen. Diesen Kollegen rufe ich zu: Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu! Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Vor gut fünf Wochen, am 24. Oktober 2011, hatten wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales eine Anhörung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Deren Ergebnisse haben den Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen von Union und FDP zumindest an einer Stelle zu denken gegeben. Es geht um die geplante Änderung, dass die Beiträge für die Rentenversicherung für Menschen mit Behinderung, die im Eingangsverfahren oder im Berufsbildungsbereich von Werkstätten für behinderte Menschen tätig sind, nicht mehr vom Bund, sondern von den Rehabilitationsträgern DRV und BA an die Träger der Werkstätten erstattet werden sollen. Diese Regel sollte auch rückwirkend gelten. Auf meine Frage in der Anhörung, ob denn irgendwer aus dem Kreis der Sachverständigen dieser Rückwirkung zustimme und zu rechtfertigen wisse, hat sich niemand auch nur ansatzweise zustimmend geäußert. Nicht einmal der vom Kollegen Schiewerling nochmals gezielt gefragte Vertreter des Bundesrechnungshofs wollte sich dazu positiv äußern. Wir können also festhalten: Niemand aus dem Kreis der Sachverständigen konnte oder wollte sich für eine Regelung aussprechen, die rechtsstaatlich hoch problematisch gewesen wäre und zudem die rechtskräftigen Entscheidungen des Landessozialgerichts München vom 25. Februar 2010 und des Bundessozialgerichts ausgehebelt hätte. Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP erst auf den Druck der Fachleute und nicht zuletzt den der Linken wieder auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit zurückgekehrt sind, ist es gut, dass Sie letztendlich die Rückwirkung doch noch aus dem Gesetzentwurf gestrichen haben. Sie tun damit das rechtsstaatlich Zwingende, scheuen aber davor zurück, das politisch Notwendige auch gleich noch zu erledigen: Denn es ist und bleibt falsch, die Kosten für gesamtgesellschaftliche Aufgaben auf die Deutsche Rentenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit, also letztendlich auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler abzuwälzen. Stehen Sie zu den Zusagen, die sie auch der Deutschen Rentenversicherung schriftlich gegeben haben: Akzeptieren Sie das Urteil des Landessozialgerichts Bayern und verzichten Sie auch für die Zukunft auf die Abwälzung der Beiträge auf die Bundesagentur und die Rentenversicherung. Zwei Aspekte sind mir noch wichtig: Erstens. Sowohl der DGB als auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung haben gefordert, die dual Studierenden in puncto Versicherungspflicht mit Azubis gleichzustellen. Die Fraktion Die Linke teilt diese Position. Deshalb begrüßen wir diesen Aspekt des Gesetzentwurfs ausdrücklich. Zweitens. Hartz IV ist ein dreifach schlechtes Gesetz: Es verfolgt die falschen Ziele, denn es bedeutet Armut per Gesetz. Es ist zudem handwerklich schlecht gemacht und wird oftmals schlecht in der Verwaltung umgesetzt. Das führt zu vielen Klagen vor den Sozialgerichten, die die Gerichte, vor allem aber auch die Betroffenen belasten. Deshalb fordern Sozialrichter und Sozialrichterinnen, dass die Jobcenter wieder an den entstehenden Justizkosten beteiligt werden müssen. Die Linke hält diesen Vorschlag für gut und für machbar. Bis vor fünf Jahren waren die Jobcenter mit einer Pauschgebühr an den Prozesskosten beteiligt. Genau diese Pauschgebühr müsste und könnte wieder eingeführt werden. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu regeln. Weil also der vorliegende Gesetzentwurf mehr aus Tiefen denn aus Höhen besteht, Letztere genau genommen fast nicht zu finden sind, lehnt die Linke den Gesetzentwurf ab. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es verlässt bekanntlich kein Gesetz den Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Dies gilt auch im vorliegenden Fall des heute abzustimmenden Gesetzentwurfes zur Änderung des "Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze". Es hätte jedoch weitergehender Veränderungen bedurft, um aus diesem Gesetz ein wirklich gutes zu machen. Zwar haben die Koalitionsfraktionen von Union und FDP die rückwirkende Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge für die Werkstattbeschäftigten im Eingangs- und Berufsbildungsbereich durch die zuständigen Sozialversicherungsträger zurückgenommen. Dies ist ebenso begrüßenswert wie die Änderungen bezüglich des Moratoriums in der Unfallversicherung. Aber diese Schritte reichen nicht aus. So verdeutlichte die öffentliche Anhörung des Arbeits- und Sozialausschusses am 24. Oktober 2011, dass es zusätzlicher Änderungen bedurft hätte, um dem selbst gesteckten Ziel der schwarz-gelben Bundesregierung, "die Sozialverwaltungs- und Sozialgerichtsverfahren effizienter zu gestalten sowie Vereinfachungen für Arbeitgeber einzuführen" auch nachzukommen. Deutlich kritisiert wurde in der Anhörung die Verlagerung der Kosten für die Sozialversicherungsbeiträge für Werkstattbeschäftigte auf die Sozialversicherungsträger. Dies bedeutet eine jährliche Mehrbelastung der Beitragszahler von 120 Millionen Euro (Bundesagentur für Arbeit) bzw. 32,5 Millionen Euro (Rentenversicherung). Einhellige Meinung der Sachverständigen war, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, behinderte Menschen gegen Altersarmut abzusichern. Anstatt die Beschäftigungschancen von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, komme es lediglich zu einer Kostenverschiebung. Man kann von der Systematik des Sozialrechts zwar durchaus begründen, warum die zuständigen Rehabilitationsträger auch Kostenträger sein sollen. Doch in der jetzigen Situation der Unterfinanzierung der Bundesagentur für Arbeit werden Menschen mit Behinderung so in die Rolle des Kostenfaktors gedrängt. Der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit, BA, ist schließlich ohnehin stark belastet. Die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund geht zulasten der BA. Ihre Einnahmen werden ab 2014 um mehr als vier Milliarden Euro pro Jahr gesenkt. Bedenklich ist zudem, dass mit der neuen Direktüberweisung der Krankenversicherungsbeiträge von SGB-II-Leistungsempfängern an die privaten Krankenversicherungen nicht auch andere Mängel des Gesetzes neu geregelt und behoben wurden. So kritisierte das Bundessozialgericht etwa die Regelungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II als verfassungswidrig, wonach der zuständige Träger den Betrag zu zahlen habe, der auch für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen sei. Wenn also die SGB-II-Träger künftig den vollen Beitragssatz an die privaten Krankenversicherungen zahlen, müsste das im Umkehrschluss - unter Beibehaltung des erwähnten Halbsatzes - wohl auch für die gesetzlichen Krankenversicherungen der Fall sein. Ob das im Interesse der schwarz-gelben Bundesregierung liegt, mag ich bezweifeln. Problematisch ist ferner, dass sich die Bundesregierung mit der Entscheidung, die Beiträge für Leistungsempfänger mit privater Krankenversicherung unmittelbar an den Versicherer zu überweisen, in ihrer Verhandlungsposition gegenüber der privaten Krankenversicherung geschwächt hat. So antwortete uns die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (17/7452), dass sie seit geraumer Zeit in Gesprächen mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung bezüglich eines Forderungsverzichts für die sogenannten Altschuldenfälle (ALG-II-Empfänger mit Beitragsrückständen von mehr als drei Monaten) sei. Die Bundesregierung muss sich nun die Frage gefallen lassen, welches Druckmittel sie noch in der Hand hat, um diese Gespräche zum Erfolg zu bringen. Am Gesetzentwurf ist weiter das Vorhaben zu kritisieren, Aufwandsentschädigungen für kommunale Ehrenbeamte sowie für ehrenamtlich in kommunalen Vertretungskörperschaften Tätige oder für Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Versichertenälteste oder Vertrauenspersonen der Sozialversicherungsträger nach einem Bestandsschutz bis zum 30. September 2015 als rentenschädlichen Zuverdienst anzusehen (Art. 4 Nr. 27 und 38 des Gesetzentwurfes). Dies gilt zumindest für den steuerpflichtigen Anteil der gezahlten Aufwandsentschädigung über 2 100 Euro im Jahr. Mit diesem Schritt folgt die Bundesregierung ihrer Logik aus dem Rechtskreis des SGB II. Auch dort werden pauschale Aufwands-entschädigungen oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euro als Einkommen berücksichtigt. Ich halte eine solche Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Gerade ehrenamtliches Engagement in der Kommunalpolitik, in der Rechtspflege und in öffentlich-rechtlichen Körperschaften wie der Selbstverwaltung der Sozialversicherung muss besonders anerkannt werden. Es bildet gewissermaßen das Wurzelwerk der Institutionen unseres Rechts- und Sozialstaats. Nicht hinreichend sind die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Änderungen für eine effizientere Verwaltungs- und Sozialgerichtspraxis. In der Ausschussanhörung zum Gesetz bezifferte etwa Herr Helbig, Vizepräsident des Berliner Sozialgerichts, eindrücklich den enormen Anstieg sogenannter Hartz-IV-Klagen an den Sozialgerichten. So sei die Zahl der Klagen im Bereich SGB II und SGB XII von 7 000 im Jahr 2005 auf 32 000 Klagen im Jahr 2010 gestiegen. Ursächlich für die hohe Klagequote seien insbesondere mangelhafte Bescheide sowie Probleme des materiellen Rechts. Eine wirklich substanzielle Entlastung des Sozialgerichts sei nicht über eine Einschränkung des rechtlichen Zugangs herstellbar, wie dies insbesondere einige CDU-geführte Bundesländer immer wieder forderten. Vielmehr sei es geboten, eine vorgerichtliche Klärung durch Anhörungsmöglichkeiten der Betroffenen herbeizuführen. Explizit sprach sich Herr Helbig für die Wiedereinführung der Pauschgebühren für SGB-II-Träger aus. Solch grundsätzlicher Vorschläge scheint sich die schwarz-gelbe Bundesregierung jedoch zu verschließen. Wir sind der Meinung, dass es notwendiger Änderungen des materiellen Rechts in den jeweiligen Büchern des Sozialgesetzbuches (siehe hierzu etwa Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache 17/3207 oder 17/3435) bedarf. Außerdem muss endlich ein modernes Patientenrechtegesetz her, das die weit verstreuten Rechtspositionen von Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Heilbehandlerinnen und -behandlern zusammenführt (siehe Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, 17/6348). Und gleichzeitig gilt es, die Verfahrens-, Leistungs- und Partizipationsrechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Leistungen sozialgesetzbuchübergreifend zu stärken. Bündnis 90/ Die Grünen haben hierzu einen Antrag verabschiedet, der die individuellen und kollektiven Rechte von Nutzerinnen und Nutzern sozialer Leistungen stärkt und mithin zu weniger Streitverfahren führt (17/7032). Zum jetzigen Zeitpunkt für nicht sonderlich sinnvoll erachten wir die im Gesetzentwurf vorgesehene Zuordnung bestimmter Klagen gegen Entscheidungen und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Vertragsarztrecht, Art. 8 Nr. 1 des Gesetzentwurfes. Zwar ist es richtig, die umstrittenen Abgrenzungen und Unsicherheiten zwischen den Zuständigkeiten der Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und der Kammern für Angelegenheiten des Vertragsarztrechts klären zu wollen. Vielmehr sollte jedoch, wie es der Deutsche Richterbund vorschlägt, die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts abgewartet werden. Auch die im Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vorgenommene Präzisierung ändert daran nichts. Lassen Sie mich zudem noch etwas zur geplanten Verschiebung der Festlegung des aktuellen Rentenwertes vom 31. März auf den 30. Juni des jeweiligen Jahres sagen. Eine solche Verschiebung des Rentenwertes wird von grüner Seite, genauso wie im Übrigen von der Rentenversicherung Bund, abgelehnt. Von der Festlegung des aktuellen Rentenwertes bis zum Zeitpunkt, an dem die Mitteilungen über Rentenanpassungen in den Briefkästen der Rentnerinnen und Rentner liegen, vergeht notwendigerweise eine gewisse Zeit. Unser Ziel ist eine möglichst frühzeitige und umfassende Information der Rentnerinnen und Rentner. Positiv hervorzuheben ist die geplante Änderung, wonach künftig Teilnehmer von dualen Studiengängen einheitlich sozialversichert werden sollen. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu: "Die Regelung trägt der Tatsache Rechnung, dass einheitliches Merkmal dualer Studiengänge die enge Verzahnung zwischen theoretischem Unterricht an der Hochschule oder Akademie und der praktischen Phasen im Ausbildungsbetrieb, das hohe Maß an Praxisphasen sowie typischerweise die Zahlung einer Vergütung vom Arbeitgeber an die Studierenden ist. Diese Umstände rechtfertigen es, die Studienteilnehmer sozialversicherungsrechtlich so zu behandeln wie die zur Berufsausbildung Beschäftigten, mit denen sie im Übrigen auch in wirtschaftlicher Hinsicht vergleichbar sind." Hintergrund der Regelungsänderung ist ein Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 zur Sozialversicherungsfreiheit "praxisintegrierter dualer Studiengänge". Um dieses Urteil umzusetzen, verfassten der GKV-Spitzenverband, die Deutsche Rentenversicherung Bund und die Bundesagentur für Arbeit ein Rundschreiben zur Aufhebung der Versicherungspflicht mit Wirkung zum 1. Oktober 2010. Die Entscheidung des Gerichts stand der Auffassung der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung eigenen Angaben zufolge allerdings entgegen. Nach Ansicht der Spitzenorganisationen sei es vielmehr gerechtfertigt, "die Studienteilnehmer versicherungsrechtlich so zu behandeln wie Arbeitnehmer oder Auszubildende, mit denen sie im Übrigen auch in wirtschaftlicher Hinsicht vergleichbar sind". Die Bundesregierung plant, die Neuregelung zum 1. Januar 2012 umzusetzen. Auf meine Frage in der Ausschussanhörung am 24. Oktober zu möglichen Übergangsfristen antwortete der Vertreter der Deutschen Rentenversicherung, dass die vorgesehene Regelung bereits zum 1. Januar 2012 technisch kein Problem sei. Da auch die Bundesregierung keinen Änderungsbedarf sieht, gehen wir davon aus, dass dem Anliegen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nach einem geringen Aufwand bei der Umstellung entsprochen wird. 1Ergebnis Seite 17387 C 2Ergebnis Seite 17407 C 3Ergebnis Seite 17423 C 4Anlage 4 5 Anlage 6 6Anlage 5 7Anlage 3 8Anlage 7 9Anlage 8 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 17344 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 146. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 146. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2011 17343 Deutscher Bundestag - 15. Wahlperiode - 38. Sitzung - 4. April 2003 4 17454 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 146. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2011 Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 146. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2011 17455