Plenarprotokoll 17/158 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 158. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2012 I n h a l t : Wahl der Abgeordneten Ingrid Remmers als ordentliches Mitglied in den Eisenbahninfrastrukturbeirat Wahl des Abgeordneten Peter Aumer als Schriftführer Absetzung des Tagesordnungspunktes 13 b Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Nachträgliche Ausschussüberweisungen Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeordneten Norbert Barthle Begrüßung der Präsidentin des Parlaments der Republik Albanien, Frau Jozefina Topalli Tagesordnungspunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV-Neuordnungsgesetz – LSV-NOG) (Drucksachen 17/7916, 17/8495, 17/8616) Gitta Connemann (CDU/CSU) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Max Straubinger (CDU/CSU) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) Heinz Paula (SPD) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Alexander Süßmair (DIE LINKE) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Marlene Mortler (CDU/CSU) Anton Schaaf (SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Impulse für den Standort Deutschland – Für eine moderne Industriepolitik (Drucksache 17/8572) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Marktwirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft (Drucksache 17/8585) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Hubertus Heil (Peine) (SPD) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Edelgard Bulmahn (SPD) Christian Lindner (FDP) Roland Claus (DIE LINKE) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Garrelt Duin (SPD) Tagesordnungspunkt 25: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Drucksache 17/8452) b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt unterzeichnen und ratifizieren (Drucksache 17/8461) c) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Karin Roth (Esslingen), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Millennium-Entwicklungsziele ernst nehmen – Infektionserkrankungen wirksam durch eine nationale und europäische Förderung von Product Development Partnerships bekämpfen (Drucksache 17/8183) d) Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutsches Ressourceneffizienzprogramm – Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften (Drucksache 17/8575) e) Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Privatisierung des Duisburger Hafens (Drucksache 17/8583) f) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a GO-BT: Technikfolgenabschätzung (TA) Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung (Drucksache 17/6026) g) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen der Kreditwirtschaft zur Umstellung bestehender Einzugsermächtigungen auf das SEPA-Lastschriftmandat (Drucksache 17/8072) Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten (Drucksache 17/8494) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), Gabriele Hiller-Ohm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Hinweisgebern – Whistleblowern (Hinweisgeberschutzgesetz – HinwGebSchG) (Drucksache 17/8567) Tagesordnungspunkt 26: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der immissionsschutzrechtlichen Verordnungen zur Begrenzung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der Betankung von Kraftfahrzeugen (21. BImSchV) und zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen und Lagern von Ottokraftstoffen (20. BImSchV) (Drucksachen 17/8321, 17/8406 Nr. 2.1, 17/8480) d) – l) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 381, 382, 383, 384, 385, 386, 387, 388 und 389 zu Petitionen (Drucksachen 17/8469, 17/8470, 17/8471, 17/8472, 17/8473, 17/8474, 17/8475, 17/8476, 17/8477) Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts (Drucksachen 17/6052, 17/6645, 17/7505 (neu), 17/7931, 17/8568) Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen (Drucksachen 17/5707, 17/7521, 17/7930, 17/8569) Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: EU-Fiskalpakt – Auswirkung auf Demokratie und Sozialstaat Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) Norbert Barthle (CDU/CSU) Klaus Hagemann (SPD) Joachim Spatz (FDP) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Link, Staatsminister AA Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) Michael Roth (Heringen) (SPD) Otto Fricke (FDP) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Alexander Ulrich (DIE LINKE) Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) Manfred Zöllmer (SPD) Jürgen Hardt (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) und zur Änderung weiterer Gesetze (Drucksachen 17/7576, 17/8615) Daniel Bahr, Bundesminister BMG Bärbel Bas (SPD) Karin Maag (CDU/CSU) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jens Ackermann (FDP) Erwin Rüddel (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der Sonneborn-Regelung (Drucksache 17/7848) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) Manuel Höferlin (FDP) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Verfahren gegen deutsche politische Stiftung einstellen – Demokratisierungsprozess in Ägypten fortsetzen (Drucksache 17/8578) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) Hans-Ulrich Klose (SPD) Volker Kauder (CDU/CSU) Niema Movassat (DIE LINKE) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Marina Schuster (FDP) Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Abgeordneten Monika Lazar, Jerzy Montag, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Strafbarkeit der Genitalverstümmelung (Drucksache 17/4759) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ute Granold (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Marina Schuster (FDP) Yvonne Ploetz (DIE LINKE) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Florian Hahn, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung für die zivile Sicherheit (Drucksache 17/8573) b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rahmenprogramm der Bundesregierung „Forschung für die zivile Sicherheit (2012 bis 2017)“ (Drucksache 17/8500) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF René Röspel (SPD) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Florian Hahn (CDU/CSU) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken – Rahmenfrist verlängern – Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwickeln (Drucksache 17/8574) b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser absichern (Drucksache 17/8579) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitslosengeld statt Hartz IV – Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern (Drucksache 17/8586) Angelika Krüger-Leißner (SPD) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern (Drucksache 17/8451) Helga Daub (FDP) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Ingbert Liebing (CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Klaus Brähmig (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren – Mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen (Drucksache 17/7654) Rüdiger Veit (SPD) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Sevim Daðdelen (DIE LINKE) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 11: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (Drucksachen 17/8236, 17/8506) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF Manfred Zöllmer (SPD) Harald Koch (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren (Drucksache 17/8376) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Helmut Brandt (CDU/CSU) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 13: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG KOM(2011) 824 endg.; Ratsdok. 18008/11 (Drucksachen 17/8426 Nr. A.44, 17/8617) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2011) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11 (Drucksachen 17/8426 Nr. A.46, 17/8618) Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit (Drucksache 17/8492) Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Drucksache 17/8320) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) Dr. Daniel Volk (FDP) Richard Pitterle (DIE LINKE) Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 26: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und -pflanzen (Drucksachen 17/8344, 17/8614) c) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Patente auf Leben (Drucksache 17/8584) Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die soziale Dimension von Bologna stärken (Drucksache 17/8580) Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Diana Golze, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Militärische Verwendung von Minderjährigen beenden – Ehemalige Kindersoldatinnen und Kindersoldaten unterstützen (Drucksache 17/8491) Ute Granold (CDU/CSU) Christoph Strässer (SPD) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Pascal Kober (FDP) Katrin Werner (DIE LINKE) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit (Drucksache 17/8581) Dietrich Monstadt (CDU/CSU) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Mechthild Rawert (SPD) Jens Ackermann (FDP) Harald Weinberg (DIE LINKE) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Berichterstattung des Abgeordneten Peter Altmaier (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts (Zusatztagesordnungspunkt 4) Anlage 3 Neuabdruck der Antwort des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage der Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (157. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2, Mündliche Frage 68) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (Tagesordnungspunkt 11) Holger Krestel (FDP) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG KOM(2011) 824 endg.; Ratsdok. 18008/11 – Beschlussempfehlung und Bericht: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2011) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11 (Tagesordnungspunkt 13 a und c) Peter Wichtel (CDU/CSU) Daniela Ludwig (CDU/CSU) Kirsten Lühmann (SPD) Patrick Döring (FDP) Herbert Behrens (DIE LINKE) Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit (Tagesordnungspunkt 16) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) Johannes Pflug (SPD) Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) Jan van Aken (DIE LINKE) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die soziale Dimension von Bologna stärken (Tagesordnungspunkt 17) Tankred Schipanski (CDU/CSU) Axel Knoerig (CDU/CSU) Ulla Burchardt (SPD) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) Nicole Gohlke (DIE LINKE) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und -pflanzen – Antrag: Keine Patente auf Leben (Tagesordnungspunkt 26 b und c) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) Dr. Matthias Miersch (SPD) Stephan Thomae (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 158. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2012 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir zwei Wahlen durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, für die aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidende Kollegin Sabine Leidig die Kollegin Ingrid Remmers als ordentliches Mitglied zu berufen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Kollegin hiermit gewählt. Der Kollege Ulrich Lange hat sein Schriftführeramt niedergelegt – unverständlicherweise. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als neuen Schriftführer schlägt die Fraktion der CDU/ CSU den Kollegen Peter Aumer vor. – Das ist offenkundig auch nicht ernsthaft umstritten. Dann ist der Kollege hiermit gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 13 b abzusetzen und die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energieeffizienz, Energieeinsparung, Erneuerbare-Energien-Gesetz – Haltung der Bundesregierung angesichts der unterschiedlichen Positionen der beteiligten Bundesministerien (siehe 157. Sitzung) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Marktwirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft – Drucksache 17/8585 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 25 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten – Drucksache 17/8494 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), Gabriele Hiller-Ohm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Hinweisgebern – Whistleblowern (Hinweisgeberschutzgesetz – HinwGebSchG) – Drucksache 17/8567 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts – Drucksachen 17/6052, 17/6645, 17/7505 (neu), 17/7931, 17/8568 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Altmaier ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Änderung telekommunikations-rechtlicher Regelungen – Drucksachen 17/5707, 17/7521, 17/7930, 17/8569 – Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: EU-Fiskalpakt – Auswirkung auf Demokratie und Sozialstaat ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Verfahren gegen deutsche politische Stiftung einstellen – Demokratisierungsprozess in Ägypten fortsetzen – Drucksache 17/8578 – ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitslosengeld statt Hartz IV – Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern – Drucksache 17/8586 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Schließlich mache ich noch auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 26. Januar 2012 (155. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes – Drucksache 17/8364 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Der am 26. Januar 2012 (155. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts – Drucksache 17/8427 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Norbert Barthle hat am 1. Februar seinen 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses möchte ich ihm dazu auch auf diesem Wege herzlich gratulieren. (Beifall) Heute hat im Übrigen ein Mann Geburtstag, der weltweit als eine der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit gilt. Gerhard Richter, in Dresden geboren, jetzt in Köln lebend, feiert heute, übrigens in Berlin, seinen 80. Geburtstag, zu dem ich ihm im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren möchte. (Beifall) Wir verdanken ihm ein grandioses Lebenswerk, und wir sind stolz, dass wir hier, im Reichstagsgebäude, in der Eingangshalle West, eine seiner außergewöhnlichen Arbeiten haben: „Schwarz Rot Gold“, korrespondierend mit der Nationalflagge auf dem Platz der Republik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat die Präsidentin des Parlaments der Republik Albanien, Frau Jozefina Topalli, mit ihrer Delegation Platz genommen. (Beifall) Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen und allen Ihren Kolleginnen und Kollegen weiterhin viel Erfolg bei dem ebenso engagierten wie zweifellos mühsamen Weg der weiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Ihres Landes. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 3 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV-Neuordnungsgesetz – LSV-NOG) – Drucksachen 17/7916, 17/8495 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/8616 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Proteste höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Gitta Connemann für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gitta Connemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin von der Leyen! Frau Ministerin Aigner! Ich bin auf einem Hof in Ostfriesland aufgewachsen. Mein Vater war Landwirt, wie es heute mein Bruder ist. Wir sind in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung groß geworden. Mein Vater engagierte sich dort ehrenamtlich. Deshalb sind für mich die Begriffe, um die es heute geht, wie LKK, LBG oder LAK Begriffe, die für mich und meine Familie mit Schutz zu tun hatten. Bei Krankheit half uns die HLKK, und nach dem schweren Unfall meines Vaters unterstützte uns die Berufsgenossenschaft. Meine Mutter erhält heute eine Bäuerinnenrente. Die landwirtschaftliche Sozialversicherung bedeutete und bedeutet auch noch heute für uns Schutz und Sicherung. Meine Familie steht stellvertretend für viele Landwirte, Gärtner, Waldbauern, Fischer, Imker und ihre Familien. Sie alle vertrauten und vertrauen nach wie vor auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung, auf ihr eigenständiges System für den Fall der Not – Hilfe vom Berufsstand für den Berufsstand –, und zwar seit 1888. Aber wir müssen feststellen, dass dieses System in die Jahre gekommen ist. Der rasante Strukturwandel im grünen Bereich hält an. Kleinere Höfe sind heute kaum mehr wettbewerbsfähig, und die anderen stehen in brutalster Konkurrenz. Discounter diktieren die Preise. Die Verbraucher in unserem Land haben sich leider an Lebensmittel zum Schleuderpreis gewöhnt – mit entsprechenden Folgen für die Betriebe. Die Konsequenz: Die Zahl unserer grünen Betriebe nimmt Jahr für Jahr stetig ab, mit Ausnahme der Betriebe des Gartenbaus. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf unsere Kulturlandschaft, sondern gerade auch auf unsere berufsständische Sicherung. Auf einen aktiven Landwirt kommen heute 2,5 Altenteiler. Der Bund puffert 70 Prozent der Ausgaben ab. Das machte im Jahr 2011 circa 3,9 Milliarden Euro aus dem Agraretat aus, Frau Ministerin Aigner – aus einem Etat, den Sie deshalb zu Recht als soziale Leistung ansehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damit werden nicht nur Leistungen der Versicherten finanziert, sondern auch ein recht großer Verwaltungsapparat. In Deutschland gibt es zwei Bundesträger, nämlich einen für den Gartenbau und einen für die neuen Länder. Hinzu kommen sieben regionale Träger von Schleswig-Holstein bis Bayern. Die Aufsicht liegt bei den jeweiligen Ländern. Der Bund zahlt zwar, bestellt aber nicht die Musik. Das schafft manchmal Probleme. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrechnungshof schon lange, aus den neuen Trägern einen einheitlichen Bundesträger zu bilden. Der Bundesrechnungshof verspricht sich davon mehr Effektivität, mehr Wirtschaftlichkeit und stärkere Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes. Unterstützung bekam der Bundesrechnungshof schon sehr frühzeitig vom Berufsstand; denn hohe Verwaltungskosten belasten das ohnehin magere Budget der Versicherten. Bereits 2007 kam es im Rahmen der Großen Koalition zu einer Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, und zwar verbunden mit einem damals einmaligen Vorgang. Die Versicherten selbst nahmen sich damals nämlich in die Pflicht: Sie schlugen vor, eigene Ansprüche zu kürzen, um das System zu sichern. So sollten stabile Beiträge erreicht werden. Das war ein einmaliger Vorgang, für den wir dem Berufsstand noch heute zu Dank verpflichtet sind. Das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich. Wir haben dieses Ziel mit Maßnahmen unterstützt, unter anderem mit der Forderung, die Verwaltungskosten um 20 Prozent zu reduzieren. Danach hat sich unendlich viel getan. Daran haben sehr viele mitgewirkt: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, aber auch die ehrenamtlich Engagierten in der Selbstverwaltung, in der Landwirtschaft, im Gartenbau und bei den Forsten. Für die Union sage ich ihnen allen an dieser Stelle Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber einige Ziele sind nicht erreicht worden. Die Verwaltungskosten blieben zu hoch, und mit Ausnahme des Gartenbaubereichs blieben auch die regionalen Beitragsunterschiede. Heute wird ein Mutterkuhbetrieb oder ein Pferdehaltungsbetrieb je nach Region unterschiedlich zur Kasse gebeten, und das trotz gleichen Risikos. Das führt in Deutschland zu durchaus schmerzhaften, spürbaren Wettbewerbsverzerrungen. Das können wir dauerhaft nicht akzeptieren und nicht zulassen. Darauf reagierte übrigens einmal mehr die Landwirtschaft selbst. Ein Gutachten wurde in Auftrag gegeben mit der Vorgabe: Zukünftig sollen identische Betriebe in Deutschland dieselben Beiträge zahlen. Herr Professor Bahrs machte dazu Vorschläge, zuerst der landwirtschaftlichen Sozialversicherung und dann auch dem Gesetzgeber. Daran schloss sich eine Diskussion an – innerhalb und außerhalb der Landwirtschaft, zwischen den unterschiedlichen Sparten, zwischen den Ländern übrigens auch –, die an der einen oder anderen Stelle durchaus sehr schmerzhaft war. Es wurde leidenschaftlich diskutiert. Das ist nachvollziehbar; denn alle Beteiligten wussten und wissen um die Bedeutung dieses Systems. Hoffnungen und Ängste wurden vorgetragen, Argumente für und wider wurden ausgetauscht. Am Ende der Diskussion innerhalb des Berufsstands gab es ein Ergebnis, und dieses Ergebnis lautete: Für uns bedeutet ein Bundesträger mehr Chance als Risiko. Weil wir eine kluge Politik machen, hören wir auf die Betroffenen und haben gesagt: Wir werden handeln, und zwar in diesem Sinne. Die Bundesregierung hat den Auftrag angenommen. Sie stellte übrigens 150 Millionen Euro zusätzlich bereit, um die Neugestaltung zu flankieren. Das ist ein erheblicher Schritt. Dafür sage ich an dieser Stelle der Bundesregierung und dem Haushaltsausschuss, Frau Ministerin Aigner und Frau Ministerin von der Leyen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung legte den Gesetzentwurf vor, über den wir heute abstimmen werden. Etwas, das uns als Union ungeheuer wichtig ist, steht ganz am Anfang dieses Gesetzentwurfs, nämlich dass die Eigenständigkeit dieses Systems erhalten bleibt. Mich hat die Forderung vonseiten der Linken gestern betroffen gemacht. Sie haben gesagt: Wir brauchen kein eigenständiges System, führen wir doch das System in die gesetzliche Rentenversicherung über. Das zeigte: Man hat sich mit dem System nicht befasst, und man hat übrigens wohl auch nicht mit dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung gesprochen. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Doch!) Angesichts dessen sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Wir wollen dieses System. Deshalb sind solche Forderungen mit uns nicht umzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung hat die Grundlage für einen einzigen Träger in ganz Deutschland geschaffen. Er wird zukünftig den Namen tragen: Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Er umfasst die bisherigen neun Träger. Die Aufgaben werden zukünftig zweistufig auf Bundesebene und regionaler Ebene wahrgenommen. So entsteht eine völlig neue Solidargemeinschaft. Bis 2017 soll die neue Selbstverwaltung die Möglichkeit haben, Maßstäbe für einheitliche Beiträge in ganz Deutschland zu entwickeln, übrigens mit entsprechenden Differenzierungen. Wir werden eine feste Obergrenze für die Verwaltungskosten festlegen. Ich sage für die Union: Dies ist ein kluger Gesetzentwurf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Mit unseren Anträgen reagieren wir als Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf. Ich habe selten eine Anhörung erlebt, in der die Sachverständigen sich so einig in ihrer grundsätzlichen Zustimmung waren. Es wurde gesagt: Dieser Entwurf trägt den Belangen der Landwirtschaft Rechnung; denn der Bestand des Systems wird gewährleistet. Allerdings wurde an einigen Punkten Nachbesserungsbedarf angemahnt. Wir haben deshalb, liebe Marlene Mortler, lieber Max Straubinger, lieber Edmund Geisen, lieber Toni Schaaf, miteinander gerungen und am Gesetzentwurf entsprechend gefeilt. Das war mit sehr viel Arbeit verbunden. Mein Dank gilt deshalb nicht nur den Mitarbeitern der Ministerien, den Kollegen in den Ausschüssen für Arbeit und Soziales und für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, sondern auch den Berichterstattern der CDU, der CSU, der FDP und durchaus auch der SPD. Unser Ergebnis kann sich sehen lassen. Erstens. Dieses Ergebnis ist gut für den Gartenbau. Seit 100 Jahren besteht die Gartenbauberufsgenossenschaft. Sie lebte schon früh, was jetzt mit diesem Gesetzentwurf bezweckt wird: Die Versicherten werden zentral betreut, und die starke fachliche Begleitung hat zu einer beispiellosen Präventionsarbeit in den Betrieben geführt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die Zahl der Arbeitsunfälle wurde von Jahr zu Jahr verringert. Dadurch wurde übrigens nicht nur menschliches Leid verhindert, sondern es wurden auch Kosten gesenkt. Da die Gartenbaubetriebe mit landwirtschaftlichen Betrieben nicht immer vergleichbar sind, hatten diese Angst um ihr eigenes Profil. Wir haben diese Ängste aufgegriffen und viele Forderungen aufgenommen. So bleibt die zentrale fachliche Betreuung erhalten. Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht nämlich die Fachkunde – ein ganz wichtiges Kriterium – und nicht die Ortsnähe. Wir stellen sicher, dass mehrere Beitragsmaßstäbe gebildet werden können, nicht nur nach Gefahrenklassen, sondern auch nach dem Arbeitswert, der heute schon im Gartenbau verwendet wird. Die Haftpflichtversicherungsanstalt der Gartenbau-BG kann zukünftig als eigenständige berufsständische Einrichtung betrieben werden. Darüber hinaus werden über 2017 hinaus Fachgremien geschaffen, übrigens mit eigenen Vorschlagsrechten. Sie sind also kräftig ausgestattet. Zweitens. Wir entsprechen nicht nur dem Anliegen des Gartenbaus, sondern auch dem der Waldbesitzer und damit letztlich dem der Landwirtschaft. Diese wünschten sich ein auf Dauer eingerichtetes Fachgremium, um eigene Vorschläge zur Präventionsarbeit entwickeln zu können. Eine weitere Forderung der Waldbesitzer war die Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Errichtungsausschusses; auch diesem Anliegen tragen wir Rechnung. Diese Forderung wurde vom Deutschen Bauernverband und von fast allen Sachverständigen geteilt. Zukünftig wird der Errichtungsausschuss 27 Mitglieder umfassen. Damit ist gewährleistet, dass jeder Träger mit drei Personen, die unterschiedlichen Gruppen angehören – den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern und welcher Gruppe auch immer –, vertreten ist. Drittens. Für uns als Union nahmen die Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen ganz großen Raum ein. Wir wollen die Reform nicht gegen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern mit ihnen machen. Wir erkennen durchaus, welche Vorleistungen diese in der Vergangenheit erbracht haben. Viele von ihnen haben schon etliche Fusionen, Reformen und Organisationsänderungen hinter sich; sie haben sie übrigens stets mitgetragen. Dass die Sozialversicherung ein Erfolgsmodell ist, ist auch und gerade den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verdanken. Deswegen sage ich auch an ihre Adresse Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben, auch ohne Änderungsanträge, frühzeitig dafür gesorgt, dass die Gemeinsame Personalvertretung nicht nur zu den Sitzungen des Errichtungsausschusses eingeladen, sondern auch informiert und beteiligt wird. Denn es soll nicht über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern mit ihnen geredet werden. Dafür brauchen sie Informationen. Um die gerade in der Anfangszeit erforderliche Kontinuität zu gewährleisten, haben wir ihre Amtszeit bis Ende 2012 verlängert. Auf unseren Antrag hin hat das Gesetz eine weitere Zielvorgabe erhalten: Die Neuorganisation muss sozialverträglich erfolgen. Dieser Grundsatz ist bei der Aufstellung aller neuen Regelungen zu beachten. Damit können wir gegebenenfalls Ängste nehmen. Auf Wunsch der Personalvertretung verpflichten wir den neuen Träger, allen Mitarbeitern schriftlich zu bestätigen, dass die bisherigen Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse fortgesetzt werden, und zwar ohne jegliche Änderung. Vorgesehen war auch eine zwangsweise Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Dazu sage ich für die Union sehr deutlich: Das halten wir für unzumutbar; denn die Einschnitte für die Betroffenen sind erheblich. Jemand, der im mittleren Dienst beschäftigt ist und zwei Kinder hat, die in der Ausbildung sind, braucht das Einkommen. Deshalb fordern wir in unseren gemeinsamen Anträgen, dass Dienstordnungsangestellte, die nach Besoldungsordnung A besoldet werden, nur mit ihrer eigenen Zustimmung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können. Ich glaube, das ist weise und sozialverträglich. Es gibt natürlich auch Forderungen, die wir nicht erfüllt haben. Dazu gehören beispielsweise Forderungen der Länder, die das bisher bestehende System am liebsten in toto festgeschrieben hätten. Ich sage an die Adresse der Länder sehr deutlich: Damit hätten wir den neuen Träger in einer Art und Weise gefesselt, dass er von vornherein nicht in der Lage gewesen wäre, die Ziele, die wir ihm vorgeben, zu erfüllen. Das wäre vollkommen kontraproduktiv. Wir geben ihm ein Stück Freiheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bei der Hofabgabeklausel nehmen wir gewisse Änderungen vor; darauf werden meine Kollegen noch eingehen. Ich muss allerdings sagen: Die Forderung der Grünen nach Abschaffung bzw. ersatzloser Streichung dieser Klausel hat mich sehr erschrocken. Auch wenn es vielleicht keine nennenswerte Zahl von Petenten, die davon wirklich betroffen sind, gibt, ist dies eine Forderung ins Blaue hinein. Denn keiner von uns weiß heute, wie sich eine solche Änderung zum Beispiel auf die Entwicklung des Bodenmarktes auswirken würde. Boden ist schon heute ein knappes Gut. Unsere Bauern beklagen den Landfraß. Dem sollten wir keinen Vorschub leisten, sondern wir sollten lieber die Ergebnisse der Gutachten des Agrarministeriums abwarten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich sage an dieser Stelle: Wir sind heute sicherlich nicht das letzte Mal zusammengekommen, um über die landwirtschaftliche Sozialversicherung zu sprechen. Die landwirtschaftliche Sozialversicherung ist kein statisches System; denn der Strukturwandel wird anhalten. Mit diesem Gesetzentwurf gewährleisten wir nach der heutigen Entscheidung den Bestand des Systems, das sich seit 1888 bewährt hat. Wir machen es fit für die Zukunft und schaffen die gleichen Voraussetzungen für alle Betriebe in Deutschland. Enden möchte ich mit einem Satz des Sachverständigen Dr. Bahrs aus der Anhörung. Er wurde gefragt: Glauben Sie, dass wir mit diesem Gesetzentwurf die Grundlage für mehr Gerechtigkeit schaffen? Präsident Dr. Norbert Lammert: Das muss jetzt aber etwas mehr gerafft erfolgen, Frau Kollegin. Gitta Connemann (CDU/CSU): Glauben Sie mir, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich glaube es aufs Wort. (Heiterkeit) Gitta Connemann (CDU/CSU): Wunderbar. Glauben Sie mir, Herr Präsident, auch wenn Sie nicht bei der Anhörung waren. – Genau dieser Gutachter sagte: Wir schaffen die Grundlage für mehr Gerechtigkeit. – Deswegen bitte ich heute, dem Gesetzentwurf und unseren Bemühungen um mehr Gerechtigkeit zuzustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wenn ich hinsichtlich der elenden Bewirtschaftung der Redezeit nicht der Gerechtigkeit verpflichtet wäre, wäre auch für mich manches einfacher. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Nächster Redner ist der Kollege Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Connemann, wenn der Präsident Ihnen schon glaubt, dann müsste ich Ihnen an sich ebenfalls glauben. Das tue ich heute auch einmal. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja! – Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]) Ich teile natürlich Ihre Einschätzung, dass wir uns heute nicht das letzte Mal über die landwirtschaftliche Sozialversicherung unterhalten. Den Optimismus, den Sie hier bezüglich des Systems ausstrahlen, kann ich allerdings nicht in Gänze und uneingeschränkt teilen. Wir tragen die Last des Strukturwandels seit vielen Jahrzehnten auch über Steuermittel und über Mittel unseres Haushaltes; das ist eine bewusste Entscheidung. Wer dieses System kennt und sich damit und auch mit seiner Entstehungsgeschichte beschäftigt hat, der weiß, dass die Ausprägung dieses Systems, wie wir es heute kennen, letztendlich auf eine Vereinbarung aus dem Jahre 1971 zwischen Willy Brandt, Herbert Wehner und dem damaligen Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes Heereman zurückgeht. (Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist das!) Damals ist ein weiteres Standbein eingeführt worden, das uns heute allen so wichtig ist, nämlich die landwirtschaftliche Krankenkasse. Manche wissen das vielleicht aus eigener Anschauung, weil sie, wie ich, in landwirtschaftlichen Betrieben aufgewachsen sind, und sie wissen auch, wie es damals war, wenn der Großvater krank war. Die Großmutter ging dann, wie bei mir zu Hause, an den Schrank und nahm nach jedem Besuch des Arztes Geld heraus, um ihn bar zu bezahlen. Damals waren 40 Prozent der Landwirte schlecht oder gar nicht krankenversichert. Vor allen Dingen konnten sich eine Krankenversicherung die kleinen und mittleren Landwirte nicht leisten. Wir als Sozialdemokraten haben damals auch diese soziale Frage aufgegriffen und dieses Problem im Sinne der sozialen Gerechtigkeit letztendlich auch gelöst. Darum bekennen wir uns zu dem System der sozialen Sicherung auch im landwirtschaftlichen Bereich. Das ist für uns und unsere Agrarpolitik in den letzten Jahrzehnten essenziell gewesen. Aus dem Grunde werden wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung heute auch nicht versagen, obwohl wir bis zu gewissen Graden natürlich auch Kritik an dem gegenwärtigen Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, anzumerken haben. Klar ist, dass wir dieses soziale Sicherungssystem nicht ohne Weiteres in andere Bereiche übertragen können. Klar ist aber auch, dass wir ein effizientes und schlankes System brauchen, im Sinne der Beitragszahler und auch im Sinne der Steuerzahler. Aus dem Grunde ist es konsequent, das, was die Sozialdemokraten schon 1995 anlässlich der damaligen Reform und auch später gefordert haben, nämlich die Schaffung eines einheitlichen Bundesträgers, heute umzusetzen, auch wenn die Ausgestaltung in einzelnen Bereichen nach meiner Einschätzung noch einer gewissen Klarheit bedarf. Wir alle wollen, dass die Zahl der Beschäftigten bei den jetzigen Trägern im Zuge der Verschmelzung auf einen Träger erhalten bleibt. Nach meiner Einschätzung reicht es hier nicht, wenn man die fragliche Formulierung in „fachlich umfänglich“ ändert, weil es vor allen Dingen im Bereich der Landesbauernverbände in erheblichem Maße Auslagerungen von Dienstleistungen gibt. Ich zitiere aus dem Spiegel vom 22. November 1976: Nebenbei nimmt der BBV – der Bayerische Bauernverband – aber bei einschlägigen Versicherungsberatungen in den BBV-Geschäftsstellen noch „Unkostenvergütungen“ von den berufsständischen Sozialversicherungsträgern ein: … 400 000 Mark. Das war damals. Ich glaube, dieses Verfahren ist kritisch zu hinterfragen. Nicht alle Landesbauernverbände sind in dieser Form von den Sozialversicherungsträgern bezahlt worden. Entsprechend bezahlt worden sind Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Aber ich kann nicht erkennen, warum für die aufgrund der Mitgliedschaft zu erbringende Beratungsdienstleistung eines Landesbauernverbandes oder eines Bauernverbandes in Gänze dann auch noch Geld für das Entgegennehmen und das Weiterleiten der Anträge gezahlt wird. Von diesem Gedankengang muss man sich trennen. Wenn man sich anschaut, wie die Vertreterversammlungen zusammengesetzt sind, dann erkennt man natürlich, warum das so sein könnte. Ich spekuliere einmal: Die beiden großen Listen, über die in dem Fall die Zusammensetzung der Vertreterversammlung entscheidend mitbestimmt – zum einen über die der Landwirte und zum anderen über die der Landwirte mit Beschäftigten –, sind Landesbauernverbandslisten. Insofern hat das Ganze für mich etwas Überkommenes. Es geht hier darum, sich Klarheit zu verschaffen und für mehr Klarheit zu sorgen. Das System der landwirtschaftlichen Sozialversicherung hat in hervorragender Weise den vorauszusehenden Strukturwandel bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bewältigt. Diese Erkenntnis hat es – das sieht man, wenn man die Diskussionen der Anfangszeit in den Plenarprotokollen verfolgt – schon damals gegeben. Der Grund dafür, dass das System instabil ist, ist natürlich der Strukturwandel, dem das System der Versicherung zum Beispiel mit der Schaffung der Hofabgabeklausel begegnen wollte. Ich glaube, dass uns das System der Sozialversicherung, an dem wir heute so etwas Ähnliches wie eine Notreparatur vornehmen und in das wir die Aufsicht über den Gartenbau einfügen, damit es längerfristig existieren kann, sorgenvoll beschäftigen wird; denn mehr als 50 Prozent der an sich versicherungspflichtigen Landwirte haben sich aus dem System befreien lassen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau! Richtig!) Wir als Politiker haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das System immer weiter entsolidarisiert wird. Jetzt haben wir das in der Weise mitzutragen, dass wir dem System immer mehr Mittel aus öffentlichen Haushalten zuführen müssen, um die Altlasten, also die Kosten für die Renten, zu finanzieren, da diese aus den Versicherungsbeiträgen der Versicherungspflichtigen nicht mehr finanziert werden können. Auch die zukunftsfähigen Vollerwerbsbetriebe entfernen sich von diesem System immer weiter; denn sie sind letztendlich in der Lage – weil sie sich als Unternehmer verstehen – eigenständig Vorsorge zu treffen. Insofern steht bei diesen Betrieben der Solidargedanke relativ weit hinten. Das zeigt eine weitere Gefahr dieses Systems auf: Ich habe berechtigte und ernsthafte Zweifel, ob sich dieses System nach 2020, wenn sich die Zahl der Vollerwerbsbetriebe wiederum halbiert haben wird, in der Weise, wie wir das jetzt noch kennen, fortführen lassen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der mit dem System intendierte Strukturwandel zeigt auch die Grenzen dieses Systems auf. Daher hat ein wesentlicher Punkt, den Sie hier nicht angesprochen haben, die sogenannte Hofabgabeklausel, an sich längst ihre agrarstrukturelle Bedeutung verloren. Wir müssen erkennen, dass wir eine ganze Reihe von kleinen und mittleren Betrieben haben, deren Besitzer an sich hervorragend gewirtschaftet haben, aber relativ wenig eigene Fläche haben. Diese Betriebsinhaber haben hinterher unter Umständen einen Anspruch auf 400, 480 oder knapp 500 Euro Rente aus der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, haben aber keine erheblichen Pachteinnahmen, wenn sie ihren Betrieb aufgeben und weiterverpachten. Insofern müssen sie ihren Betrieb eigentlich unter anderen Voraussetzungen weiterführen. Das können sie aber nicht, weil wir sie zwingen, ihren Hof abzugeben. Dazu kommt, dass etwa 70 Prozent der befragten 186 000 Betriebe, die noch in Vollerwerb sind, keine oder eine nicht geregelte Hofnachfolge haben. Das macht deutlich, dass die Streichung der Hofabgabeklausel und die Neufassung der Voraussetzungen für den Bezug der Altersrente längst überfällig sind. Das hätte längst geschehen müssen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In einer Gesellschaft, in der wir auch von Menschen, die älter als 65 Jahre sind, erwarten, dass sie sich einbringen und eventuell noch beruflich oder unternehmerisch tätig sind, ist es ein Anachronismus, wenn man jemanden zwingen will, seine berufliche Tätigkeit nur deshalb aufzugeben, um in den Genuss der Rente zu kommen. Ich sehe dahinter eher das Lobbyinteresse des Deutschen Bauernverbandes, der auf dieser Klausel besteht, weil in diesem Verband diejenigen vertreten sind, die besonders schnell in den Genuss kommen wollen, bestimmte Flächen pachten zu können. Diejenigen bestimmen dort nämlich die Politik, die zukunftsfähige Betriebe haben. Insofern sollten wir, glaube ich, etwas ehrlicher damit umgehen und diesen Lobbyinteressen nicht in der Form nachkommen, wie wir es bislang getan haben. Es kann nicht nach dem Motto „Bezahlen ja, aber Rente nein“ gehen. Ich glaube, wir sollten zu flexibleren Regelungen kommen. Wenn das heute nicht gelingt, dann sollten wir zumindest demnächst noch einmal den Versuch unternehmen, die Klausel zu streichen, zumal schon seit den 80er-Jahren klar ist, dass 30 bis 40 Prozent aller Übergabeverträge Scheinverträge sind. Ich war zehn Jahre lang auf der kommunalen Ebene Mitglied eines Grundstücksverkehrsausschusses und habe die Pachtverträge der Kunden meiner tierärztlichen Praxis gesehen und gelesen, was unter welchen Voraussetzungen übergeben oder verpachtet worden ist. Demnach ist die Zahl von 30 bis 40 Prozent Scheinverträgen realistisch. Wir drängen die alten Landwirte in eine Situation der Rechtsunsicherheit, die nicht hinzunehmen ist, zumal auch die Scheinpächter im Regelfall zu 100 Prozent von der landwirtschaftlichen Rentenversicherung befreit sind oder schon Zahler sind und insofern keine erheblichen Beitragsausfälle zu befürchten sind. Seien wir ehrlich: Weg mit der Hofabgabeklausel! Sie hat sich überlebt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Geisen hat nun das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gut aufgestellten grünen Branchen wie Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Gartenbau waren schon immer der Erdungsanker für die ganze Gesellschaft. Die Eigenständigkeit der grünen Berufe hat sich immer für die Allgemeinheit gelohnt und zur Erhaltung florierender ländlicher Räume beigetragen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die stetigen Veränderungen und die demografischen Entwicklungen zwingen natürlich auch hier die Politik zur Anpassung. Ein Gesetz zur Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist also dringend geboten, will man die Eigenständigkeit und die Selbstverwaltung erhalten, die sich über fünf Jahrzehnte bewährt haben. Für die FDP lautete immer die klare Devise: „Das Gute bewahren und zeitgemäße Anpassungen vornehmen“. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu gehören die wesentlichen Prämissen wie: Souveränität wahren, Solidarität der grünen Berufe stärken und gute Rahmenbedingungen für die Zukunft setzen. Der vorliegende Gesetzentwurf zur Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung mit den Änderungsvorschlägen der christlich-liberalen Koalition wird den genannten Ansprüchen gerecht. Besonders für den Gartenbau, aber auch für die Forstwirtschaft und insbesondere für die Junglandwirte haben wir mehr erreicht, als je zu hoffen war: Ihre berechtigten Anliegen konnten wir aufnehmen und angemessen in die neuen Strukturen überführen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dafür haben wir uns als FDP-Fraktion besonders stark gemacht, und darauf bin ich persönlich auch besonders stolz. Ich freue mich aber auch darüber, dass wir den Belangen des Personals mit den Forderungen der Gewerkschaften und Personalvertretungen gerecht geworden sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) An dieser Stelle möchte ich den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen und den beiden beteiligten Ministerien einmal ganz herzlich für die vielen konstruktiven Gespräche danken, die dazu beigetragen haben, dass wir einen sehr breiten Konsens gefunden haben – sogar auch mit einem großen Teil der Opposition. Danke den Beteiligten! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das gilt natürlich auch besonders für meine Kollegen aus dem Haushaltsausschuss, die diese Organisationsreform trotz strikter Sparvorgaben insgesamt mit 150 Millionen Euro begleiten bzw. flankieren werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle ganz kurz die Entwicklung der Landwirtschaft skizzieren. Verglichen mit 1960 ist die Zahl der Betriebe um mehr als zwei Drittel gesunken. Während ein Landwirt damals 10 Menschen mit Nahrungsmitteln versorgte, so ernährt er 50 Jahre später über 127 Menschen. Das ist eine Steigerung um mehr als das Zwölffache, wobei die Qualität zunehmend höherwertig wird. Das ist Ausdruck des tiefgreifenden Strukturwandels, den die Landwirtschaft hinter sich hat. Diesen gilt es gesamtgesellschaftlich zu begleiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dem Strukturwandel in der Landwirtschaft will und muss die Bundesregierung Rechnung tragen. So übernimmt der Bund – ähnlich wie im Bergbau – inzwischen rund 70 Prozent der Kosten für die Alterssicherung der Landwirte und rund 57 Prozent der gesamten LSV-Ausgaben. Damit ist klar: Die LSV muss neu organisiert werden. Ein Festhalten an den kleinteiligen Organisationsstrukturen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gefährdet auf längere Sicht die Eigenständigkeit des agrarsozialen Sicherungssystems. Deshalb bin ich sehr zufrieden, dass wir als christlich-liberale Koalition endlich den einheitlichen Bundesträger auf den Weg bringen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich freue mich, dass wir nach jahrelangem Einsatz bei der Hofabgaberegelung eine Menge an Erleichterungen erreicht haben. So wird die Altersgrenze bei Abgabe unter Ehepartnern aufgehoben, gewerbliche Tierhaltung auf gewerblichen Rückhaltflächen weiter möglich sein und die Abgabe zwischen Gesellschaftern erleichtert. Dieser Erfolg war anfangs überhaupt nicht abzusehen. Schon zu Oppositionszeiten habe ich für die FDP Anpassungsbedarf angemeldet, mich aber immer für die Beibehaltung der Klausel ausgesprochen. Warum? Ich habe in diesem Zusammenhang zunächst sehr viele Gespräche mit Vertretern des Berufsstandes geführt. Mir kam und kommt es darauf an, gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösung zu finden. Der Tenor war eindeutig: Die Pflicht zur Hofabgabe soll besonders im Interesse der jungen Generation beibehalten werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das hilft jungen Landwirten, frühzeitig in Betriebe zu investieren und diese zu modernisieren. Eines möchte ich betonen: Es haben nicht immer diejenigen recht, die am lautesten rufen. Wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, dass eine komplette Abschaffung der Hofabgabeklausel zwangsläufig das Ende der eigenständigen Alterssicherung der Landwirte bedeutet hätte. Das wollen wir nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch ein Wort zum Gartenbau. Wir von der FDP-Fraktion haben uns in den Gesprächen mit der Bundesregierung immer für die besonderen Belange des Gartenbaus eingesetzt; denn eines ist klar: Die Situation im Gartenbau unterscheidet sich deutlich von der in der Land- und Forstwirtschaft. Sowohl die Mitglieder- als auch die Kostenstruktur weisen jetzt schon in die richtige Richtung. Reformen wurden konsequent angegangen, und im Gartenbau wird zudem eine vorbildliche Präventionsarbeit geleistet. Deswegen war es uns als FDP-Fraktion so wichtig, den Gartenbau angemessen an der neuen Struktur zu beteiligen. Wir konnten vier zentrale Forderungen aus dem Bereich des Gartenbaus umsetzen: die fachliche Trennung, die Beibehaltung einer eigenständigen fachlichen Betreuung am Standort der jetzigen Hauptverwaltung in Kassel, die Möglichkeit einer eigenständigen Beitragsbemessung sowie den Erhalt eines dauerhaften Fachausschusses mit beratender Funktion. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, dass die christlich-liberale Koalition im Gegensatz zu den früheren Reformen mit dem jetzigen Gesetz die landwirtschaftliche Sozialversicherung auf ein solides, bezahlbares und zukunftsfestes Fundament stellen wird. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Matthias Birkwald ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gibt es Reformbedarf. Darin sind sich alle einig. Uneinig sind wir uns darüber, ob dieser Reformbedarf mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung auch tatsächlich befriedigt werden kann. Die Linke sagt: Nein, das ist nicht der Fall. (Beifall bei der LINKEN) Frau Connemann, ich will gar nicht darum herumreden: Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält einige richtige Maßnahmen, Absichten und Regelungen. Es ist gut, dass die Beitragszahlungen an die Berufsgenossenschaften vereinheitlicht werden; denn es ist nicht einzusehen, warum die Menschen Beiträge in unterschiedlicher Höhe zahlen müssen, nur weil sie in verschiedenen Regionen Deutschlands leben und arbeiten. Deshalb begrüßt die Linke, dass die Beiträge bis zum Jahr 2018 angeglichen werden. Im vergangenen Jahr hat die landwirtschaftliche Sozialversicherung insgesamt 6,3 Milliarden Euro ausgegeben. Deutlich mehr als die Hälfte dieser Ausgaben, nämlich knapp 60 Prozent oder 3,7 Milliarden Euro, wurden vom Bund, also durch Steuergelder, finanziert. Deshalb ist es durchaus richtig, eine zweistufige Organisation mit einer Bundesebene für zentrale Aufgaben einzuführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Sie haben auch einige personalrechtliche Verbesserungen in diesen Gesetzentwurf eingefügt. Die sind vor allem beamtenrechtlicher Art. Dagegen ist nichts zu sagen, aber die wirklich wichtigen Kritikpunkte blenden Sie leider aus. Sie wollen weder die paritätische Vertretung der Arbeitnehmer im Gartenbau beibehalten, noch wollen Sie die Forderungen der Landfrauen nach einer Frauenquote berücksichtigen. Dazu sage ich: Die Linke steht hier fest an der Seite der Landfrauen. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD) Selbstverständlich muss eine Frauenquote in den Selbstverwaltungsgremien des Bundesträgers und damit auch auf den Wahllisten eingeführt werden. In diesem Punkt stimmen wir übrigens auch ausdrücklich dem Entschließungsantrag der Grünen zu. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Abschaffung der sogenannten Halbparität, wie sie noch in der Gartenbau-Berufsgenossenschaft besteht, bedeutet nichts anderes als eine Schwächung der Position der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Halbparität bedeutet, dass hier die Unternehmerseite und die Arbeitnehmerseite bisher auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Das hat im Gartenbau übrigens auch zu hervorragenden Ergebnissen geführt. Am betrieblichen Unfallschutz ist das deutlich zu erkennen. Die neue Drittelparität bedeutet nun nicht etwa, dass zu den Arbeitsmarktparteien ein neutraler Dritter hinzukäme. Mitnichten! Die Dritten in der Runde sollen ebenfalls Unternehmerinnen und Unternehmer sein, nur eben welche ohne Angestellte. Ich sage Ihnen: Diese Schwächung der Interessenvertretung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung will mit der vorliegenden Reform „eine dauerhafte Erhaltung des eigenständigen agrarsozialen Sicherungssystems“ hinbekommen. Diesem Ziel hat bisher niemand widersprochen. Ob dieses Ziel mit der Organisationsreform, wie sie der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorsieht, erreicht werden kann, ist allerdings mehr als fraglich. Warum? In der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gibt es immer mehr Leistungsempfängerinnen und -empfänger und immer weniger Beitragszahlerinnen und -zahler. Diesen unbestreitbaren Trend kann auch die heute zur Diskussion stehende Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung nicht wegzaubern. Die Entwicklung ist in der Alterssicherung der Landwirte zum Beispiel dramatisch zu nennen. Es gibt mehr als doppelt so viele Menschen, die eine Rente aus der Alterssicherung der Landwirte beziehen, als es Bauern und Bäuerinnen gibt, die Beiträge zahlen. Das wird ohne massive Steuerzuschüsse auf die Dauer nicht zu stemmen sein. Deshalb sagen wir, Frau Connemann: Wir müssen uns mit aller Vorsicht und mit Rücksicht auf die gewachsenen Strukturen zumindest einmal fragen, ob und, wenn ja, inwiefern ein eigenständiges Alterssicherungssystem in der Landwirtschaft langfristig noch tragfähig sein wird. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das klang gestern etwas anders!) Mit den jetzt auf dem Tisch liegenden Reformvorschlägen wird das Ziel einer zukunftsfähigen und dauerhaften Alterssicherung für die Landwirte, jedenfalls aus unserer Sicht, nicht erreicht. (Beifall bei der LINKEN) In der aktuellen Reformdebatte über eine gute Altersvorsorge und die Vermeidung von Altersarmut fordern zum Beispiel der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Sozialverband Deutschland, die Volkssolidarität und die Linke, nach und nach alle Erwerbstätigen – in welcher Art und Weise auch immer sie erwerbstätig sind – in ein System der Alterssicherung einzubeziehen. Eine solche Erwerbstätigenversicherung wäre zeitgemäßer, sie wäre solidarischer, und sie wäre nachhaltiger. (Beifall bei der LINKEN) Ich weiß ja: Diese Frage kann man nicht von heute auf morgen entscheiden; das ist völlig klar. Aber es wäre doch sinnvoll, wenn die Bundesregierung sie im „Regierungsdialog Rente“ wenigstens einmal diskutieren würde. Gründe dafür gibt es genug. Denn im Gegensatz zur gesetzlichen Rentenversicherung ist die Alterssicherung der Landwirte von vornherein nur als Zuschuss gedacht gewesen. Die durchschnittliche Rente liegt heute bei etwa 460 Euro; bei der Ehegattin sind es gerade einmal 237 Euro. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Außerdem – das ist schon gesagt worden – lassen sich knapp 50 Prozent der Landwirte von der Versicherungspflicht befreien. Das heißt, die Hälfte der Landwirte flieht quasi bereits aus dem eigenständigen Alterssicherungssystem. Das scheint mir Grund genug zu sein, wenigstens einmal darüber nachzudenken, die Bauern und Bäuerinnen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Bemerkung zum Schluss zur Hofabgabeklausel. Diese Klausel beruht auf der Annahme, dass der bäuerliche Hof von Generation zu Generation weitergegeben und weiterbetrieben wird. Das ist heute aber oft realitätsfremd. Die Linke fordert deshalb – gemeinsam mit der SPD und den Grünen –, dass die Landwirtinnen und Landwirte, auch ohne ihren Hof abgeben zu müssen, eine Rente erhalten können. Die Hofabgabeklausel ist eine Regelung von gestern. Sie muss heute dringend abgeschafft werden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Mit welchen Folgen?) Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Friedrich Ostendorff ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grünen begrüßen die Einführung eines Bundesträgers in der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Gartenbau und Forst. Trotzdem sehen wir erheblichen Änderungsbedarf, wie unserem Antrag zu entnehmen ist. Wir Grünen sind auch nicht dabei, wenn, wie einige meinen, gesagt wird, die landwirtschaftliche Sozialversicherung sei keine heilige Kuh mehr und schlachtreif. Wir werden jedenfalls nicht an den Grundfesten der sozialen Absicherung, die vor über 40 Jahren Willy Brandt und Josef Ertl eingeführt haben, rütteln. Ich kann mich, wie auch einige andere hier, noch gut daran erinnern, dass viele Bäuerinnen und Bauern nach Jahrzehnten harter Arbeit ohne Gebiss, ohne Brille, ohne notwendige ärztliche Versorgung und Hilfe leben mussten. Ein Arztbesuch ging heftig an die Substanz der Betriebe. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Richtig! Ja, so war es!) Nach Einführung der LSV änderte sich das grundlegend. Da war die Zeit der Brotkrumenstipperei vorbei. Wo im Gesetz muss kräftig nachjustiert werden? Rund 70 Prozent des Agrarhaushalts des Bundes entfallen auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung. Damit ist der Bund der Hauptfinanzier und trägt die Hauptverantwortung. Also bestimmt auch der Bund und nicht der Deutsche Bauernverband die Richtung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Deshalb kann es nicht sein, dass von den Kassen lediglich eine einzige gutachterliche Stellungnahme, nämlich von Professor Dr. Bahrs, zur künftigen Beitragsgestaltung vorgelegt wurde. Um das Ganze ohne Scheuklappen beurteilen zu können, erwarten wir von der LSV, dass weitere gutachterliche Stellungnahmen zur Beitragsgestaltung eingeholt werden, damit die Entscheidungsträger verschiedene Varianten vergleichen können. Es ist doch schon erstaunlich, dass die Beiträge zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung umso höher ausfallen sollen, je kleiner die landwirtschaftliche Nutzfläche oder der Tierbestand ist. Das wird dann als Beitragsgerechtigkeit verkauft. Was ist die Konsequenz daraus? Ich kann es Ihnen sagen: Die großen Agrarbetriebe werden wachsen, und die kleinen Bauernhöfe werden weichen, ganz im Sinne Ihrer Wachstums- und Exportstrategie. Das Unfallrisiko wollen auch wir Grünen stärker einbeziehen. Aber erklären Sie uns in diesem Hause doch einmal, wieso in einem Betrieb mit 40 Kühen mehr als doppelt so hohe Unfallkosten pro Kuh anfallen sollen wie in einem Betrieb mit 400 Kühen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen die selber nicht!) Das entbehrt einer gewissen Logik; darüber muss man noch einmal nachdenken. Ein anderes Thema – es wurde schon angesprochen – ist die Eigenständigkeit des Gartenbaus. Sie hat sich bewährt und muss unbedingt erhalten bleiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für die Gärtner ist nämlich schon lange ein Bundesträger zuständig. Ein Lob gilt auch der guten Präventionsarbeit im Bereich des Gartenbaus, von der wir in der Landwirtschaft noch meilenweit entfernt sind. Deshalb müssen wir dort die Fachbeiräte dauerhaft installieren. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann können Sie dem Gesetz ja zustimmen!) Auch Sie haben das gemerkt und mussten entsprechend handeln. Aber es muss deutlich festgeschrieben werden, dass sie erhalten bleiben. Auch im Forstbereich brauchen wir diese Fachbeiräte. Wer Unfälle verhindert, hat immer einen Bonus verdient. Das muss Anreiz sein, um die Kassen zu schonen. Ein weiteres großes Ärgernis – auch das wurde schon angesprochen – ist die Übertragung von Beratungsleistungen an den Bauernverband. Was machen denn die 20 bis 25 Prozent der Bauern und Bäuerinnen, die nicht im Bauernverband sind? Man könne ja Mitglied werden, heißt es dann vom DBV. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist wirklich Quatsch, Herr Ostendorff!) Auch deshalb wollen wir, dass die Beratung ausschließlich durch die Fachleute der LSV erfolgt. Hier sitzt die Kompetenz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ja, Frau Connemann, da müssen Sie noch nacharbeiten. Die deutsche Landwirtschaft ist nicht, wie von Ihnen, mit dem Deutschen Bauernverband gleichzusetzen, sondern umfasst viel mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist ein Unsinn!) Auf unseren Feldern, meine Damen und Herren, ackert nicht nur der Deutsche Bauernverband, sondern ackern weiß Gott auch viele andere. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer hat den Schwachsinn aufgeschrieben?) Grüne setzen sich für möglichst demokratische Entscheidungsstrukturen ein. (Widerspruch bei der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl!) Die Landwirtschaft hat hier einen hohen Nachholbe-darf – das darf festgestellt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist wichtig, dass die kleinen Wahllisten – Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, Bundesverband Deutscher Milchviehhalter, Nebenerwerbslandwirte, Waldbesitzer, aber auch Gärtner – gleichberechtigt innerhalb der Vertretungsorgane der LSV beteiligt werden. Wir wollen für die kleinen Wahllisten eine Mindestvertretung festgelegt sehen. Das wäre auch gut für den inneren Frieden des Sozialversicherungssystems. Zur umstrittenen 55 Jahre alten Hofabgabeklausel: Sie gehört nach unserer Meinung abgeschafft, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Alexander Süßmair [DIE LINKE]) wie es – und hier gilt es, ein besonderes Lob auszusprechen – meine Kollegin Behm schon seit langem fordert. Sie passt nicht mehr zum Bild einer sich wandelnden Gesellschaft, in der die Bäuerin immer öfter das Zepter auf den Höfen schwingt. Sie von der Koalition haben aber noch das antiquierte Leitbild der Frau als dienende, mithelfende Familienangehörige des Bauern, des Unternehmers. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Wie ist das denn bei dir zu Hause? – Heiterkeit bei der CDU/CSU und bei der FDP) Das ist gestrig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja peinlich!) Auch deshalb setzen wir uns für eine stärkere Vertretung der Frauen in den Gremien der LSV ein. Übrigens – das sei hier berichtet – hat gestern der NRW-Landtag entschieden – bei Enthaltung der FDP und Einzelner aus der CDU –, den Antrag der Grünen auf Abschaffung der Hofabgabeklausel anzunehmen. Das hat der NRW-Landtag gestern entschieden! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Damit hat NRW dem Wunsch von über 70 Prozent derjenigen entsprochen, die sich bei der top agrar-Umfrage für die Abschaffung aussprachen. Zum Schluss will ich Ihnen sagen: Im Zuge der Einführung des Bundesträgers haben Sie uns – im Gegensatz zur SPD – nicht beteiligt. Aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der LSV sind bei der Umstrukturierung unserer Meinung nach nicht angemessen beteiligt worden. Auch ihre Rechte wurden bisher mit Füßen getreten. (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP – Marlene Mortler [CDU/CSU]: Oh, Oh! Das glaubt er selber!) Es ist gut, Kooperation anzumahnen, Herr Geisen – hören Sie bitte zu! –, wie Sie es getan haben, aber dazu bedarf es vor allem konkreter Schritte und nicht nur einer Anmahnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das war peinlich zum Schluss!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Wir sind uns über die Fraktionen hinweg einig, dass es aufgrund des Strukturwandels in der Landwirtschaft einer Änderung bedarf, um das eigenständige agrarsoziale Sicherungssystem in die Zukunft zu führen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem getroffenen Kompromiss, der in vielen Wochen und Monaten erarbeitet worden ist – ich danke in diesem Zusammenhang ausdrücklich unseren Berichterstatterinnen und Berichterstattern, Gitta Connemann und Marlene Mortler auf unserer Seite sowie Herrn Dr. Geisen und Frau Happach-Kasan; ich danke aber auch für die Unterstützung aus den Ministerien und danke den beiden Bundesministerinnen Ursula von der Leyen bzw. Ilse Aigner für die Zusammenarbeit –, einen guten Kompromiss gefunden haben und damit die Grundlagen für das Weiterbestehen eines eigenständigen agrarsozialen Sicherungssystems hier in Deutschland legen. Wir haben in diesem Hohen Haus schon mehrere Organisationsreformen beschlossen. Ich erinnere nur daran, dass wir 1996 die Reduzierung der Versicherungsträger von ehemals 25 bzw. 27 auf dann insgesamt 9 in die Wege geleitet haben. Sicherlich ist in dieser bewegten Zeit auch manches im Leistungsrecht verändert worden. Die Frau Kollegin Connemann hat auf einen Aspekt hingewiesen, dass nämlich durch entsprechende Veränderungen bei der Unfallversicherung Beitragsstabilität für die Unternehmer – wohlgemerkt: für die Unternehmer und nicht für die Arbeitnehmer – erreicht werden soll. Hier ist zu berücksichtigen, dass sehr viele Landwirte die Landwirtschaft als Nebenerwerb betreiben und daher in Bezug auf Altersvorsorge, Pflegeversicherung und Krankenversicherung zwar in anderen gesetzlichen Sicherungssystemen sind, aber in der Unfallversicherung der LSV Mitglied sind. Bei anstehenden Veränderungen der Organisationsstruktur der LSV muss diese somit meines Erachtens ein eigenständiges System bleiben, weil nur in einem solchen System die besonderen Belange des Berufsstandes Berücksichtigung finden können und die Sozialverträglichkeit für alle Bäuerinnen und Bauern weiterhin gewährleistet werden kann. Andere gesetzliche Sicherungssysteme können dies nicht leisten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir stehen deshalb dazu, dass dies so bleibt und dass weiterhin vor allen Dingen bei der Präventionsarbeit im Bereich der Unfallversicherung – das gilt für alle Sparten: Landwirtschaft, Forst und Gartenbau – im Interesse der betroffenen Mitglieder Fortschritte erzielt werden. Denn ein tödlicher oder schwerer Unfall in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft oder auch im Gartenbau führt zu schweren seelischen oder körperlichen Verletzungen und bringt gewaltiges Leid in die Unternehmerfamilien. Ein entscheidendes Ziel ist deshalb die Präventionsarbeit. Ich bin davon überzeugt, dass mit den geplanten Änderungen weiterhin Fortschritte auf diesem Gebiet erzielt werden. Deswegen können wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben. Ich danke, dass auch die SPD-Fraktion trotz einiger Kritikpunkte letztendlich ebenfalls zustimmt. (Zurufe von der SPD) Ich möchte mich jetzt auf die Punkte konzentrieren, die kritisiert werden. Kollege Ostendorff hat den Beitragsmaßstab kritisiert. Er hat davon gesprochen, dass ein anderes Gutachten angeblich bessere Vorschläge insbesondere für kleinere Betriebe enthält. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt keine Alternative!) Aber ist es nicht so, Herr Kollege Ostendorff, dass jeder Betrieb ein Grundrisiko darstellt? Ein Grundrisiko muss sich in der Beitragsbemessung entsprechend niederschlagen. Das bedeutet nicht, dass wir kleine Betriebe und damit Teile des Berufsstandes benachteiligen. Letztendlich muss die Selbstverwaltung darüber in einer eigens verfassten Satzung entscheiden. Grundsätzlich stellt, wie gesagt, jeder Betrieb ein Grundrisiko dar. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht doppelt so hoch! Das kann man doch nicht begründen!) Daneben muss die Gestaltung der Arbeitsabläufe berücksichtigt werden. Hier stellt man eben fest: Es ist wahrscheinlich, dass in größeren Betrieben, die professionalisierter sind und die einen höheren Maschineneinsatz aufweisen, bessere Ertragsergebnisse erzielt werden und weniger Unfälle passieren. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt eben nicht! Das ist eine falsche Annahme!) Das ist das Ergebnis vieler Untersuchungen und spiegelt auch unsere Erfahrungen wider. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kannst du nicht belegen!) Vor diesem Hintergrund ist das Gutachten von Professor Bahrs eine gute Grundlage für die zukünftige Erarbeitung eines gemeinsamen Beitragsmaßstabes für ganz Deutschland. Damit können Wettbewerbsverzerrungen, die bereits Frau Connemann in ihren Ausführungen angesprochen hat, vermieden werden. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erzähl mal deinen bayerischen Bauern! Da wirst du verhauen!) Es ist ebenfalls wichtig, dass in Bayern Betriebe mit 50 Kühen genau den gleichen Beitrag zur Unfallversicherung zahlen wie Betriebe in Schleswig-Holstein oder im Osten Deutschlands. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein Zweites. Es wurde von Ihnen, Herr Ostendorff, aber auch von Herrn Priesmeier kritisiert, dass die Beratung der Bäuerinnen und Bauern in sozialen Fragen von den Landesbauernverbänden durchgeführt wird. Diese Beratungsleistungen werden ortsnah erbracht. Ich kann Ihnen die Situation in Niederbayern und in der Oberpfalz darlegen. Ich habe zufälligerweise die Zahlen parat. Für Niederbayern, die Oberpfalz und Schwaben gibt es einen gemeinsamen Träger. Nach Ihren Vorstellungen dürfte es nur zwei Beratungsstellen geben, nämlich eine in Landshut und eine in Augsburg. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Auf jeden Fall Augsburg!) Weil der Bauernverband diese Beratung übernimmt, gibt es in Niederbayern neun und in der Oberpfalz sieben Beratungsstellen. Die Beratungen finden also wesentlich ortsnäher statt. Gutachten – ich verweise auch auf den Bundesrechnungshof – haben belegt, dass diese Beratungsleistungen günstiger sind, als wenn sie zentral durchgeführt würden. Die Beratung ist auch nicht von der Mitgliedschaft im Deutschen Bauernverband, im Bayrischen Bauernverband oder in einem nordrhein-westfälischen Bauernverband abhängig, wie es Herr Ostendorff dargestellt hat. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genauso ist es!) Jeder wird unbürokratisch beraten, wie er es benötigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch!) Das ist das Entscheidende. Sie insistieren immer in der Öffentlichkeit, dass man dem Bauernverband beitreten muss, um eine Beratungsleistung in Anspruch nehmen zu können. Das ist in keiner Weise der Fall. Die Beratungsleistung wird unabhängig davon erbracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Straubinger, darf der Kollege Priesmeier eine Zwischenfrage stellen? Max Straubinger (CDU/CSU): Gerne; denn das verlängert meine Redezeit. – Herr Dr. Priesmeier. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Herr Kollege Straubinger, teilen Sie meine Einschätzung, dass die Beratungsleistung, die zum Beispiel das Landvolk in Niedersachsen oder in Schleswig-Holstein im Blick auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung erbringt, qualitativ hochwertig ist, verglichen mit den Beratungen, die der Bayrische Bauernverband erbringt? Erklären Sie mir einmal, warum in Niedersachsen kein Geld seitens des Trägers an den Bauernverband fließt, dies in Bayern aber sehr wohl der Fall ist. Das hat eine lange Tradition. Mein Vorgänger aus meinem Wahlkreis, Martin Schmidt-Gellersen – vielleicht ist er in diesem Hause noch bekannt; er ist vor vielen Jahren, 1986, ausgeschieden –, hat einmal gesagt: Der Bayrische Bauernverband ist der Wurmfortsatz der CSU. – Es tut mir leid, in diesem Zusammenhang sehe ich diese Interessenkollision. Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Kollege Priesmeier, es mag immer unglückliche und unqualifizierte Äußerungen Einzelner geben. Die Aussage trifft nicht zu. Wir wünschen uns noch mehr Zuspruch. Die CSU ist eine Volkspartei (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Die Zeiten sind aber vorbei!) und bekommt großen Zuspruch, und zwar über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg, sicherlich auch von den Bäuerinnen und Bauern, weil sie wissen, dass sie sich auf uns verlassen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die verlassen Sie! Das werden immer mehr!) Wir stehen vor allen Dingen für das eigenständige agrarsoziale System. Vorhin hat der Kollege Birkwald dargestellt, dass das agrarsoziale System mit der heutigen Entscheidung nicht in die Zukunft zu führen sei. Ich glaube, der Kollege Birkwald hat noch nie etwas von der Defizithaftung des Bundes begriffen, (Lachen bei der LINKEN – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da wäre ich vorsichtig! Nicht mit Steinen schmeißen, wenn man im Glashaus sitzt!) die mit CDU/CSU und FDP gewährleistet ist. Mit den Linken in unserer Gesellschaft ist sie nicht zu gewährleisten und offensichtlich auch nicht mit der SPD. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Aber das ist eine andere Frage. Es geht darum, dass Beratungsleistungen nah beim Bürger, nah bei den Bäuerinnen und Bauern und nah bei den Betroffenen erbracht werden. Dies ist meines Erachtens eine gute Symbiose. Es wird, Herr Kollege Priesmeier, dem Bayrischen Bauernverband nur die Beratung in sozialen Fragen vergütet, nicht mehr und nicht weniger, und das ist Leistung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Von allen Oppositionsfraktionen wird die Hofabgabeklausel kritisiert. Sie wird im Sinne der Betroffenen modifiziert. Ich bin dem Kollegen Geisen für seine Ausführungen ausdrücklich dankbar. Er hat sehr richtig dargestellt, dass es für die Fortführung eines Betriebes entscheidend ist, dass in den Betrieben frühzeitig Weichenstellungen getroffen werden, damit im Betrieb entsprechende Investitionen getätigt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich sage auch ganz offen: Wer mit 65 Jahren nicht weiß, wem er den Betrieb einmal übergeben soll oder will, der weiß es auch mit 70 oder 75 nicht, und der wird es auch mit 80 Jahren nicht wissen. Plötzlich fällt dann der Herrgott eine Entscheidung, und hinterher gibt es einen Scherbenhaufen, den die möglichen Erben dann aufzuräumen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer weiß, was es bedeutet, einen landwirtschaftlichen Betrieb in einer Erbengemeinschaft mit möglicherweise 10, 15 oder 20 Erben weiterführen zu müssen, der weiß haargenau, dass der landwirtschaftliche Betrieb vor die Hunde geht – das sage ich so platt – und letztendlich garantiert zum Verkauf angeboten wird. Das mag im Sinne der Linken sein, das mag in eurem Sinne sein – hier möchte ich nichts unterstellen –, (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das war schon eine Unterstellung!) aber die CDU/CSU ist dafür, dass es eine Umstrukturierung in der Landwirtschaft gibt und diese vor allem zeitgerecht erfolgt. Deshalb ist die Hofabgabeklausel auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil in der agrarsozialen Gesetzgebung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Heinz Paula für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Heinz Paula (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns einig: Die landwirtschaftliche Sozialversicherung braucht Zukunft. Der von Ihnen zunächst vorgelegte Gesetzentwurf hätte diesem Ziel nicht wesentlich gedient. So war es gut, dass wir eine Anhörung gefordert haben. Ich kann nur feststellen: Diese Anhörung war sehr wertvoll. Es kamen wichtige Vorschläge, und Gott sei Dank wurden einige von Ihnen übernommen. Wir als Sozialdemokraten haben Gespräche mit allen Betroffenen geführt, wobei wir hohe Sachkompetenz angetroffen haben. Wichtige Vorschläge wurden eingebracht. An dieser Stelle darf ich mich besonders bei der gemeinsamen Personalvertretung, bei Verdi, der IG BAU und anderen Gruppierungen des Gartenbaus bedanken. Hier konnten wichtige Punkte angesprochen werden. Wir haben immer wieder festgestellt: Die Kompetenz des Personals bei der LSV ist sehr hoch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben bewiesen, dass sie alle Reformen, die zweifelsohne oft schmerzhaft waren, mitgetragen haben. Deswegen ist es nur folgerichtig, dass Sie Punkte unseres Änderungsantrags aufgegriffen haben. Hierzu gehören unter anderem sozialverträgliche Lösungen für die berechtigten Belange des Personals, zum Beispiel keine Versetzungen in den vorzeitigen Ruhestand ohne Zustimmung des Personals. Dies sollten wir allerdings auch für die Besoldungsgruppe B gelten lassen. Herr Staatssekretär Fuchtel weist zu Recht darauf hin, dass es von zentraler Bedeutung ist, einen offenen Umgang mit allen Informationen in allen Phasen der Umstrukturierung zu gewährleisten. Dadurch können zum einen Verunsicherungen vermieden und zum anderen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglicht werden. Allerdings frage ich mich, weshalb Sie dann nicht konsequent diesen Schritt mitgehen, sondern eine explizite Beteiligung der gemeinsamen Personalvertretung in der Errichtungsphase verweigern. Diese Haltung führt mit Sicherheit nicht zum Ziel. Frau Connemann, hier verschenken Sie Chancen, mit denen Sie einen weiteren Beweis für kluge Politik hätten liefern können. Wenn Sie das Personal loben – und zwar zu Recht, denn hier wird wirklich eine sehr gute Arbeit geleistet –, dann hätten wir allerdings auch erwartet, dass Sie das Personal konsequent unterstützen. Ich wundere mich manchmal schon: Man verfügt über einen großen Sachverstand, und zur gleichen Zeit beauftragt man Dritte. Kollege Priesmeier hat sehr deutlich darauf hingewiesen. Unterstützen Sie bitte das Personal, indem Sie die Aufgaben auch bei der LSV bestehen lassen. Es kommen enorme Herausforderungen auf die Selbstverwaltung zu. Wir wissen: Es wird noch sehr viel Detailarbeit geleistet werden müssen. Aufgabe der Politik ist es, allen Beteiligten ein Agieren auf gleicher Augenhöhe zu ermöglichen. Dies haben Sie, wie gesagt, nicht geschafft. Ich finde es auch nicht hinnehmbar, dass Sie zum Beispiel die Parität beim Gartenbau nicht mehr weiter aufrechterhalten. Lassen Sie mich kurz einen letzten Punkt ansprechen. Sie haben sich geweigert, die Forderung von Frau Scherb, der Präsidentin des Deutschen Landfrauenverbandes, aufzugreifen, dass Frauen angemessen in den Führungs- und Entscheidungsgremien vertreten sein müssen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich hoffe, dass die Selbstverwaltung bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes mehr Mut hat als Sie. Sie wissen: Wir werden Ihrem Entwurf zustimmen, weil wir Sozialdemokraten immer an der Seite der Versicherten sowie der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen und wir trotz aller Mängel und Schwierigkeiten an diesem System festhalten wollen. Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren: Der Spruch „Nach der Reform ist vor der Reform“ wird auch hier gelten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) Ich glaube, wir können hier noch gemeinsam, zusammen mit den Betroffenen, weitere wichtige Schritte in die Wege leiten. Ich bedanke mich. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Happach-Kasan hat nun das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war etwas überrascht, aber ich freue mich darüber, dass der liberale Agrarminister Josef Ertl in dieser Debatte eine Würdigung erfahren hat. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön. (Beifall bei der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Das war auch ein Guter! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das waren noch andere Zeiten bei der FDP! Dahin sehnen Sie sich zurück, was? Die heutige Splitterpartei!) – Er war ein Guter, so wie die Arbeitsgruppe „Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz“ der FDP-Fraktion ebenfalls eine gute ist. Wir fühlen uns mit ihm solidarisch. Die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, die Schaffung eines einheitlichen Bundesträgers, ist ein wichtiges Reformvorhaben dieser Legislaturperiode. Ich freue mich sehr, dass auch die Sozialdemokraten diesem wichtigen Reformvorhaben zustimmen; die Begründung der Grünen, es abzulehnen, hat mich nicht überzeugt. (Beifall bei der FDP) In der parlamentarischen Beratung ist der Gesetzentwurf der Regierung entscheidend weiterentwickelt worden. Ich will auch einmal sagen: Es ist ein Beispiel für das Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie, dass wir einen solchen Gesetzentwurf der Regierung so weiterentwickelt haben, dass es ein richtig guter Gesetzentwurf geworden ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Vorrednerinnen und Vorredner haben ausgeführt, dass es insbesondere in den Bereichen des Gartenbaus und der Waldbauern zu entscheidenden Verbesserungen gekommen ist, dass ihre Interessen nun besser berücksichtigt werden. Ich glaube, dass das gut ist. Gerade der Gartenbau als ein sehr zukunftsträchtiger Bereich der grünen Berufe hat bei der Frage der Prävention, der Verhinderung von Arbeitsunfällen durch eine entsprechende Beitragsgestaltung und entsprechende Fortbildungsmaßnahmen, Enormes geleistet. Ich meine, er sollte für den gesamten Bereich der Landwirtschaft Vorbild sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will daran erinnern – Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen –: Gerade die Landwirtschaft ist unfallträchtig. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Das hat auch Gründe!) Mit 70 meldepflichtigen Arbeitsunfällen je 1 000 Vollarbeitskräfte ist die Zahl dreimal so hoch wie in der übrigen gewerblichen Wirtschaft. Mit zwölf tödlichen Arbeitsunfällen je 100 000 Vollarbeitskräfte liegt die Zahl sechsmal so hoch wie in der übrigen gewerblichen Wirtschaft, deutlich höher als im Baugewerbe. Ich glaube, es gibt eine Menge zu tun, um die Zahl der Unfälle und damit auch das Leid in den Familien zu mindern. Man muss sagen: Da geht es zum einen um die Fortbildung und zum anderen um die Beitragsgestaltung; ich glaube, das ist sehr wichtig. Wir müssen feststellen, dass in kleineren Betrieben vielfach ein höheres Unfallrisiko als in größeren Betrieben besteht. Das drückt sich in der Beitragsgestaltung aus. Das ist richtig, um Anreize zu schaffen, damit auch in kleineren Betrieben weniger Unfälle passieren. Wir sind uns bewusst, dass die Unfälle insbesondere im Bereich der Tierhaltung passieren, bei den Deckbullen genauso wie bei den nicht enthornten Rindern. Deswegen ist die Frage der Enthornung nicht nur eine Frage des Tierschutzes, sondern auch eine Frage des Arbeitsschutzes. Darüber müssen wir alle uns im Klaren sein. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Wir sind der Auffassung, dass wir mit diesem Reformvorhaben einen wichtigen Schritt gemacht haben, die landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunftsfähig zu gestalten. Es wird nicht die letzte Reform sein; das muss es auch nicht. Aber es ist für die jetzige Zeit eine richtige Maßnahme, die im Bereich der Verwaltung zu Minderausgaben führt und das gesamte System so gestaltet, dass es von den Selbstverwaltungsorganen weiterentwickelt werden kann. Wir freuen uns auf die zukünftigen Beratungen zu diesem Thema. Danke schön. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Alexander Süßmair ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Süßmair (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf der Koalition zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung, kurz: LSV, liegt ein neuer Versuch vor, das heute noch eigenständige soziale Sicherungssystem der Landwirtschaft zu bewahren und langfristig zu sichern. Mit dem Schritt zur Schaffung eines bundeseinheitlichen Trägers der LSV ist die Linke im Prinzip einverstanden. Die ambitionierten Ziele, bei der Verwaltung Kosten einzusparen und ein einheitliches Beitragssystems zu schaffen, sind schon mit der letzten Reform der LSV vor vier Jahren nicht erreicht worden. Das wurde in der Anhörung zum Gesetzentwurf durch den Vertreter des Bundesrechnungshofs noch einmal eindrucksvoll dargelegt. Ob sich das Ziel durch das LSV-Neuordnungsgesetz erreichen lässt, bezweifeln wir stark. Mehrere Vorredner haben diese Position der Linken geteilt. Im Gegenteil: Die Reform kostet erst einmal zusätzliches Geld, nämlich 175 Millionen Euro. Die mittelfristigen Einsparungsmöglichkeiten durch Personalabbau sind übersichtlich. Dr. Mehl vom Thünen-Institut hat dies in der Anhörung sehr deutlich dargestellt. Der Anteil der Personal- und Verwaltungskosten beträgt maximal 5 Prozent der Beiträge der Versicherten. Würde man nun 50 Prozent der Kosten im Bereich Personal und Verwaltung einsparen, was völlig illusorisch ist, würde das gerade einmal 2,5 Prozent an Beitragseinsparung bringen. Dass Sie darüber hinaus in Art. 1 § 8 des Gesetzentwurfs ausdrücklich die Arbeitsvergabe an Dritte, also das Auslagern von Aufgaben, regeln, ist für uns völlig daneben. (Beifall bei der LINKEN) Dies geschieht nämlich alles zulasten der Arbeitsplätze und somit zulasten der Beschäftigten bei der LSV, und das lehnt die Linke ab. (Beifall bei der LINKEN) Trotzdem wird es allein aus Gründen der strukturellen Entwicklung in der Landwirtschaft unvermeidbar sein, einen Bundesträger zu errichten und eine Entwicklung einzuleiten, die eine angepasste Struktur der Sozialversicherung ermöglicht. Ob dies aber für eine langfristige und ausreichende soziale Sicherung in der Renten- und Krankenversicherung ausreicht, bleibt mehr als fraglich; denn ohne die staatlichen Zuschüsse würde das System schon lange nicht mehr tragfähig sein. Daher muss für die Zukunft die Frage gestellt werden dürfen, ob die Einbringung in ein größeres Solidarsystem nicht sinnvoller ist. Die Ausführungen meines Kollegen Birkwald und auch die Anmerkungen von Herrn Kollegen Priesmeier von der SPD sind durchaus berechtigt und sollten auch berücksichtigt werden. (Beifall bei der LINKEN) Verbesserungsvorschläge gab es in der Anhörung und in den darauffolgenden Verhandlungen genug, sie sind aber von Ihnen unserer Meinung nach kaum berücksichtigt worden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wie bitte?) So ist das Überleben der LSV durch die Einbindung des Bereichs Gartenbau existenziell, (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wir leben alle unter demselben Himmel, aber wir haben nicht alle denselben Horizont!) aber die Berufsgenossenschaften mit ihren Besonderheiten der bereits existierenden bundeseinheitlichen Organisation, des einheitlichen Beitragsmaßstabs, der paritätischen Vertretung von Beschäftigten und Arbeitgebern in den Gremien und der herausragenden Unfallprävention werden nun ohne Not an die Wand gedrückt; dabei hätte man diese Struktur beibehalten können. Der von Ihnen im Änderungsantrag vorgeschlagene Sonderausschuss für den Gartenbau hat lediglich beratende Funktion, er hat also auf die Entscheidungsfindung keinen Einfluss. Das kritisieren wir von der Linken ausdrücklich. (Beifall bei der LINKEN) Weitere aufgeworfene Probleme, die hier auch schon angesprochen wurden, bleiben unberücksichtigt. So ist die Hofabgabeklausel, die vorsieht, dass die Landwirte ihren Betrieb aufgeben müssen, wenn sie ihre Rente ausbezahlt bekommen wollen, immer noch verankert. Sie haben zwar endlich die Diskriminierung der Ehefrauen abgeschafft, was wir begrüßen, aber man hätte die Hofabgabeklausel im Zuge der angestrebten Reform generell daraufhin überprüfen müssen, ob sie ihre Funktion überhaupt erfüllt und jungen Bäuerinnen und Bauern tatsächlich eine Chance gibt. Herr Straubinger, eine Anmerkung: In Österreich gibt es diese Abgabeklausel nicht. Dort ist der Altersdurchschnitt deutlich niedriger als in Deutschland. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau so ist das!) Es gibt also andere Möglichkeiten, junge Menschen in der Landwirtschaft zu fördern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dasselbe gilt für die Verbesserungen bei der Personalvertretung, die von den Gewerkschaften und den Personalräten vorgeschlagen wurden. Auch hiervon ist in Ihrem Gesetzentwurf so gut wie nichts wiederzufinden. Auch das kritisiert die Linke. Weil die Reform unserer Überzeugung nach eben nicht zu einem gerechteren und solidarischeren Beitragssystem führen wird, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung verfolgt mit dem Gesetzentwurf unter anderem das Ziel, die Verwaltungskosten zu reduzieren. Das ist richtig und wichtig. Das hat der Kollege von der Linken gerade schon angemerkt. Der Bundesrechnungshof – Sie kennen die Stellungnahme – hat berechnet, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung jeder Mitarbeiter 350 Prozent mehr Versicherte betreut als in der Alterssicherung der Landwirte. 350 Prozent! Das zeigt, wie groß das Potenzial für effizientere Strukturen in der Alterssicherung der Landwirte insgesamt ist. Hier muss gehandelt werden. Mit diesem Gesetzentwurf springen Sie allerdings viel zu kurz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Hofabgabeklausel zumindest einschränken will. Aber auch bei der Hofabgabe springt die Bundesregierung zu kurz, und wer zu kurz springt, der verfehlt oft gänzlich das Ziel. Die Hofabgabeklausel gehört abgeschafft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Familiäre Strukturen in den landwirtschaftlichen Betrieben sind heute anders als vor 50 Jahren. Die Zahl der Kinder nimmt ab. Die Lebensentwürfe der Menschen sind vielfältiger geworden. Immer mehr Kinder von Landwirtinnen und Landwirten arbeiten gar nicht mehr in der Landwirtschaft. Derzeit geben in Deutschland zwei Drittel der Betriebsinhaber über 45 Jahren an, keine gesicherte Hofnachfolge zu haben. Hofabgaben scheitern oft daran, dass sich keine Junglandwirtinnen und Junglandwirte finden, die den Hof übernehmen wollen. Mit der Hofabgabeklausel zwingen Sie Landwirtinnen und Landwirte jedoch, sich zu entscheiden: entweder weiterarbeiten und keine Rente beziehen oder eine Rente beziehen und den Hof nicht mehr bewirtschaften. Das ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Die Hofabgabeklausel muss weg. Sie ist ungerecht, altersdiskriminierend und hat sich überlebt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Mittlerweile sind knapp 50 Prozent der potenziell in der Alterssicherung der Landwirte Versicherten von der Versicherungspflicht befreit; das ist schon gesagt worden. Die Hofabgabe läuft auch deswegen völlig ins Leere. Dieser hohe Anteil kommt unter anderem daher, dass immer mehr Landwirtinnen und Landwirte zusätzlich einer anderen versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen und sich von der Versicherungspflicht befreien lassen können, und das schon ab einem Einkommen, das über der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Insgesamt wird oft nicht ausreichend für das Alter vorgesorgt, sodass Altersarmut vorprogrammiert ist. Auch das ist ein Punkt, Frau Ministerin von der Leyen, den Sie im Regierungsdialog und bei der Bekämpfung von Altersarmut berücksichtigen sollten. Also: Auch den Landwirten droht Altersarmut. Auch dieses Problem müssen wir anpacken. In der Alterssicherung der Landwirte gibt es heute bei 600 000 Rentnerinnen und Rentnern gerade einmal 250 000 Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, also mehr als doppelt so viele Rentnerinnen und Rentner wie Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Hinzu kommt, dass der demografische Wandel natürlich auch vor der Landwirtschaft nicht haltmacht und den strukturellen Wandel damit noch verstärkt. Es ist klar, dass die Alterssicherung für Landwirte nicht dauerhaft lebensfähig ist, wenn wir nicht umfassend reformieren. Deshalb brauchen wir eine umfassende und vor allen Dingen auch nachhaltige Perspektive für die Alterssicherung der Landwirtschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich persönlich bin davon überzeugt, dass diese Perspektive nur die Integration der landwirtschaftlichen Alterssicherung in die gesetzliche Rentenversicherung sein kann. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Norbert Schindler [CDU/CSU]) Das ist zugegebenenermaßen nicht einfach und eine große Herausforderung. Wir müssen uns meines Erachtens aber dieser Herausforderung stellen, um die Alterssicherung von Landwirtinnen und Landwirten nachhaltig sicherzustellen, die jetzt am Tropf des Steuerzahlers hängt. Wenn man die demografische und strukturelle Entwicklung betrachtet, wird klar, dass wir nachhaltige Lösungen finden müssen. Mit diesem Gesetzentwurf springen Sie definitiv zu kurz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Grünen möchten auch in der Landwirtschaft flexible Übergänge in den Altersruhestand schaffen. Deswegen fordern wir die Abschaffung der Hofabgabe. Wir möchten eine gerechte und nachhaltige Finanzierung der Alterssicherung der Landwirte, und wir brauchen einen besseren Schutz gegen Armut im Alter, auch und gerade für Landwirtinnen und Landwirte. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Marlene Mortler ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marlene Mortler (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ganz offen: Ich bin glücklich und zufrieden, dass wir heute dieses Gesetz zum Abschluss bringen. Es hat viele Nerven, viel Zeit und viel Arbeit gekostet, aber es hat sich gelohnt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Deshalb mein herzliches Dankeschön an alle, die konstruktiv mitgearbeitet und mitgewirkt haben, an die Kolleginnen und Kollegen, an das Ministerium für Arbeit und Soziales, also an Sie, Frau von der Leyen, und an – ich sage einmal – unsere Ministerin Frau Ilse Aigner. Die Errichtung des Bundesträgers, die wir heute beschließen, ist für mich ein Quantensprung. Warum? Denken wir nur einmal an die Diskussionen der vergangenen Jahre, aber auch der vergangenen Monate: Wie viele Zweifel, wie viel Kritik und wie viel Widerstand gab es in den Ländern und bei den Trägern? Fast alle dachten, sie wären am Ende die Verlierer. Unser Ziel war, dass es am Ende unter den Bäuerinnen und Bauern, aber auch unter den Beschäftigten möglichst viele Gewinner gibt. Ich danke dafür, dass für diese Maßnahme von 2012 bis 2014 zusätzlich 150 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Das ist nicht selbstverständlich; denn gerade unter Rot-Grün wurden die Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallversicherung über Jahre hinweg gekürzt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]) Unser Ziel, die Eigenständigkeit eines bewährten Systems zu erhalten, es zukunftsfest zu machen, dem Strukturwandel Rechnung zu tragen, eine moderne Organisationsstruktur aufzubauen, Kräfte und Kompetenzen zu bündeln mit dem Ziel, mehr Gerechtigkeit und einen bundeseinheitlichen Beitragssatz nach dem Motto „gleiche Betriebe, gleiche Beiträge“ zu schaffen, ist erreicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ferner ist eine Sozialversicherung für alle erreicht. Das ist vielen noch nicht bewusst. Wir haben nun eine große Solidargemeinschaft für die Alterssicherung, für die Unfall-, die Kranken- und die Pflegeversicherung geschaffen – alles unter einem Dach. Es ist die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Ich kann nur an alle Beteiligten und Betroffenen appellieren: Leben Sie diese Solidargemeinschaft! Ich darf an dieser Stelle einen der Experten der Anhörung, nämlich Herrn Mertz vom Zentralverband Gartenbau, zitieren, der wörtlich gesagt hat: Unsere Heimat ist die landwirtschaftliche Sozialversicherung. – Schöner kann man es nicht sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben nach der Anhörung im Sinne dieser Solidargemeinschaft nachgebessert. Ich nenne nur die Stichwörter Errichtungsausschuss, Teilnehmer und Erhöhung der Zahl der Mitglieder. Die Regionalbeiräte werden in dauerhafte Fachausschüsse überführt. Das heißt, die ganze Kritik, die hier von der Opposition kam, ist obsolet, weil wir im Grunde genommen vieles, vor allem das Wichtige, aufgegriffen haben. Ein Beispiel ist die Vermögenszuordnung. Unter den Trägern gab es eine riesige Diskussion darüber, wie viel Geld der Bundesträger an Mindestausstattung zu Beginn braucht. All diese Probleme haben wir gut gelöst. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Darüber hinaus war uns wichtig – dies hat die Kollegin Connemann schon sehr intensiv ausgeführt –, dass wir auch weiterhin motivierte Mitarbeiter brauchen. Wir wussten durch all die Gespräche von ihren Sorgen und Befürchtungen: Kann ich meinen Arbeitsplatz behalten? Muss ich meinen Dienstort verlassen? Aber ich sage auch: Es gibt neue Zukunftschancen und aus meiner Sicht auch neue Weiterentwicklungsmöglichkeiten; denn das hervorragende Fachwissen und das überdurchschnittliche Engagement werden bei den einzelnen Trägern bundesweit dringend benötigt, und zwar nicht nur in der arbeitsintensiven Aufbauphase. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir als Abgeordnete können uns natürlich besonders gut in diese Situation hineinversetzen. Ich habe meinen Arbeitsplatz in Berlin zwar freiwillig gewählt, aber mein Lebensmittelpunkt ist in Mittelfranken – mein Bauernhof und meine Familie sind dort –, (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sodass ich ein Stück weit diese Sorge: „Was kommt auf mich zu?“, gut nachvollziehen kann. Der ausgehandelte Fusionstarifvertrag, auf den ich gern noch einmal verweise, konnte mit Augenmaß – das ist nicht selbstverständlich – (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Nee, für Schwarz ist das nicht selbstverständlich!) geschlossen werden. Er ist ganz wichtig und kann von der Opposition aus meiner Sicht nicht kritisiert werden. Er wurde zwar kritisiert, aber es gibt keinen Grund dazu; denn wir haben im Grunde genommen alle Bedenken ausgeräumt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Den Belangen der Tarifvertragsangestellten und der DOAngestellten wurde Rechnung getragen; die A-Besoldung wurde berücksichtigt. Wenn jetzt bei der B-Besoldung auch noch das hohe Fachwissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berücksichtigt wird, dann kann eigentlich gar nichts mehr schiefgehen. Gerade hier gibt es hochqualifizierte Führungskräfte, deren Fachwissen aus meiner Sicht nicht verloren gehen sollte, weil wir es weiterhin dringend brauchen. Zu den Linken. Gestern im Ausschuss hat es sich noch anders angehört: (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja! Genau so ist es!) nicht zukunftsfest, nicht tragfähig, strukturelle Probleme bleiben, Eigenständigkeit ist nicht gegeben, anderswo eingliedern – all das sind Stichworte aus der gestrigen Ausschusssitzung. Ich halte das für ein fatales Signal an die Bäuerinnen und Bauern und an die Beschäftigten, wenn Sie schon jetzt ein Gesetz kritisieren, das noch nicht einmal beschlossen, geschweige denn in Kraft getreten ist. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wann sollen wir es denn sonst kritisieren? Das ist der Sinn der Opposition, Frau Kollegin! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir sind hier im Parlament! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was wahr ist, muss wahr bleiben!) Die Aussage der Linken, dass sie fest an der Seite der Landfrauen stehen, habe ich mir gemerkt. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ich bin auch Landfrau!) Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich hier eingelassen haben. Marlene Mortler und Gitta Connemann sind zum Beispiel Landfrauen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN) Wenn wir in Zukunft weiterhin unseren Sachverstand einbringen – ich bin nebenbei Bäuerin –, dann kann eigentlich gar nichts schiefgehen. Es kann auch nichts schiefgehen, wenn Sie eine Maßnahme, die unter der Regierung Kohl mit Minister Theo Waigel 1995 beschlossen worden ist, nämlich die sogenannte Defizithaftung in der landwirtschaftlichen Alterskasse, auch weiterhin mittragen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Bauern die Folgen des Strukturwandels untereinander selbst finanziell ausgeglichen. Seit 1995 wird der finanzielle Ausgleich der Folgen des Strukturwandels durch die Bundesregierung über die Defizithaftung abgesichert. Wir stehen auch in Zukunft dahinter. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Das ist Unfug! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: 1995! Nicht 1971! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Unter Theo Waigel eingeführt!) Aufgabenübertragung an Dritte. Lieber Kollege Ostendorff, heute bin ich etwas freundlicher zu dir, weil wir einen tollen Gesetzentwurf verabschieden. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke schön! Mein Gott, was ist los? Was habe ich getan?) Die Übertragung an Dritte ist nichts Neues; es gab sie schon immer. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Die gab es nicht immer! Das ist falsch! Nur in Bayern gab es die immer! Hinter Bayern ist die Welt nicht zu Ende!) Das ist auch in der allgemeinen Sozialversicherung möglich. Ich wiederhole einfach noch einmal, was Kollege Straubinger gesagt hat: LSV-Versicherte erhalten diejenigen Leistungen, die im Leistungs- und Kostenverzeichnis stehen, (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das stimmt nicht!) und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sie Mitglied des Bauernverbandes sind oder nicht. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das bei uns in Nordrhein-Westfalen!) Mehr noch: Der Bauernverband bei uns in Bayern nimmt ihm übertragende Aufgaben für alle Versicherten zum Nulltarif wahr. Das wollte ich zur Klarstellung sagen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Für alle! Nicht nur für Mitglieder! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das für ein Quatsch?) Mir ist es lieber, wenn jemand diese Aufgaben erfüllt, den ich für seriös halte, und nicht jemand, der irgendwelchen Firlefanz macht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb waren die Mitarbeiter in der Sozialversicherung!) Zur Hofabgabeverpflichtung. Ich verstehe nicht, wieso Sie die Hofabgabeverpflichtung zu einem Riesenproblem hochgepusht haben, nur weil einige wenige in Ihren Büros oder wo auch immer aufgetaucht sind und sich beschwert haben. Diese Erfahrung habe auch ich gemacht. Aber: Wir müssen an das Große und Ganze denken. Wir halten an dem Grundsatz „Keine Rente ohne Hofabgabe“ fest, weil wir auch an die jungen Menschen denken müssen. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen wir mal nach Österreich! Wie ist das denn in Österreich? In Österreich gibt es sie nicht!) Mein Sohn zu Hause wartet, ehrlich gesagt, schon darauf, dass der Vater den Hof endlich abgibt, (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist euer Problem! Das ist doch nicht Sache des Gesetzgebers!) und der Vater freut sich schon, dass er dann morgens nicht mehr als Erster aufstehen muss. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann regelt ihr das doch mal zu Hause! Oder soll der Gesetzgeber regeln, wie bei dir der Hof übergeben wird?) Meine Damen und Herren, wer abgabewillig ist, kann die Hofabgabeverpflichtung schon heute erfüllen, weil wir im Laufe der Jahre und Jahrzehnte ein breites Spektrum an Abgabemöglichkeiten geschaffen haben. Die verschiedenen Möglichkeiten müssen nur genutzt werden. Noch einmal: Wir müssen den Blick in diesem Fall auf die Jugend richten. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb hat Österreich sie abgeschafft!) Wir müssen vor allem die Frage, die Kollegin Connemann angedeutet hat, ernst nehmen: Was bedeutet es, wenn man die Hofabgabeklausel gänzlich abschafft? Mit dieser Frage müssen wir uns näher befassen. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fahren wir doch mal nach Österreich und gucken es uns dort an! Österreich ist doch nicht so weit weg von hier! Das können wir doch machen!) Ich weise an dieser Stelle darauf hin: Wir haben die Situation verbessert. Wir haben erreicht, dass in Zukunft ein Hof abgegeben bzw. die Zahlung einer Rente ausgelöst werden kann, egal wie alt bzw. jung – das ist entscheidend – die Bäuerin ist. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es könnte doch auch ein Bauer sein!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Marlene Mortler (CDU/CSU): Das heißt, der Altersunterschied von zehn Jahren, der bisher für Ehepaare galt, spielt in Zukunft keine Rolle mehr. Entscheidend ist, dass die Bäuerin abgabewillig ist. Wir haben dafür gesorgt, dass für den landwirtschaftlichen Betrieb keine Probleme entstehen. Damit haben wir eine Verbesserung erzielt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Ja, ich weiß. Die Frauenquote, Herr Präsident. Präsident Dr. Norbert Lammert: Nein, nein. Redezeitquoten. (Vereinzelt Heiterkeit und Beifall) Marlene Mortler (CDU/CSU): Herr Präsident, ich bin gnädig. Die weibliche Sicht der Dinge ist immer ein Gewinn. Da ein Bauernhof in der Regel aus Mann und Frau besteht, kommt es hier aber nicht auf die männliche oder die weibliche Sichtweise an, (Zurufe von der SPD: Oh! Oh!) sondern es geht um die Anliegen, die ein Betrieb als Ganzer hat. Daran orientieren wir uns. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält der Kollege Anton Schaaf das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Rück das mal gerade, Anton! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Los, Toni, jetzt sag mal etwas!) Anton Schaaf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Mortler, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wäre mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Schluss gewesen. Sie selber haben nämlich nach der Anhörung eine Presseerklärung herausgegeben, in der es hieß, dass in der Anhörung kein Verbesserungsbedarf deutlich geworden sei. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Kein großer! Kein substanzieller!) Ich sage Ihnen ganz klar: Hätten Sie als Parlamentarier nicht massiv an diesem Gesetzentwurf gearbeitet, würden Sie heute keine Zustimmung der SPD-Bundestagsfraktion bekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Marlene Mortler [CDU/CSU]: Die Substanz war da! Es ging um Kleinigkeiten!) Sie hätten überhaupt keine Chance. Ich hatte ganz klar den Eindruck, dass der Gesetzentwurf, der aus dem Ministerium kam, eher vom Bauernverband geschrieben worden ist und nicht etwa im Interesse der Gartenbauer war. All die Nachbesserungen, die wir vorgenommen haben, schützen zum Beispiel den Gartenbau davor, bei der Fusion völlig unterzugehen. Dazu waren in Ihren Vorlagen keine Regelungen vorgesehen; das wissen Sie ganz genau. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Es ist keine substanzielle Änderung geschehen!) Sie treten wirklich sehr einseitig für die Interessen des Bauernverbandes ein, Frau Mortler. Das ist ganz deutlich geworden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Es gilt immer das alte Struck’sche Gesetz!) Zur Drittbeauftragung. Ich sage Ihnen klipp und klar: Mein Eindruck von der Drittbeauftragung ist, dass sie am Ende ein Versorgungssystem für verdiente Bauernfunktionäre ist und deshalb erhalten werden soll. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ach! Das ist ja nicht wahr!) Das ist das, was dahintersteckt. Damit sollte man ehrlicher umgehen. Es geht um die Frage: Macht sie in ihrer jetzigen Form tatsächlich Sinn? Wir sagen: Nein, in dieser Form macht sie überhaupt keinen Sinn. Friedrich und Matthias, ihr sagt: Wir lehnen das ab. – Ja, es gibt durchaus Möglichkeiten, zu begründen, warum man diesen Gesetzentwurf ablehnt. Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden, weil dieser Gesetzentwurf, nachdem er im parlamentarischen Verfahren nachgebessert worden ist, die richtige Richtung einschlägt und zukünftig notwendige Veränderungen nicht verhindert oder kaputtmacht, sondern es ermöglicht, die Dinge weiterzuentwickeln. Deswegen haben wir uns entschlossen, ihm zuzustimmen. Es ist nämlich an der Zeit, bei der Fortentwicklung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung voranzukommen; das ist der Hintergrund. Ich möchte allerdings nicht, dass sich irgendein Mitglied der Regierungskoalition daran gewöhnt, dass Sozialdemokraten den Gesetzentwürfen der Koalition zustimmen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ach, Toni, hab dich nicht so!) Wir machen das nur, wenn sie einigermaßen brauchbar sind. Deswegen stimmen wir ihnen ja auch so selten zu. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Thema Hofabgabe. Wenn wir uns anschauen, welche Riesengefahr gerade auch in der Landwirtschaft besteht, dass die Menschen, die dort sehr viele Jahre gearbeitet, geschuftet haben, am Ende ihres Lebens altersarm werden, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) dann werden wir konstatieren müssen, dass wir mit dem System, das wir jetzt haben, einfach nicht vorankommen und die Bäuerinnen und Bauern nicht vor Altersarmut schützen werden. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Genau so ist es! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!) Das ist so ähnlich wie beim Thema Soloselbstständige und Ähnlichem. (Elke Ferner [SPD]: Genau!) Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir ein vereinheitlichtes System entwickeln können, das Altersarmut definitiv verhindert, und zwar zu Konditionen, die die Menschen auch tragen können. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Sozialdemokraten haben eine Antwort darauf gegeben, nämlich mit dem Vorschlag einer Erwerbstätigenversicherung. Im ersten Schritt könnte sich die Arbeitsministerin zumindest überlegen, eine Versicherungspflicht für alle Menschen einzuführen, die in irgendeiner Form erwerbstätig sind, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Landwirte sind ja versichert!) damit man hier vorankommt und Altersarmut verhindert. (Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]) Durch eine Versicherungspflicht würde zum Beispiel auch verhindert, dass sich Menschen von der Hofabgabe befreien lassen und am Ende als Sozialfall Leistungen in Anspruch nehmen müssen, weil sie keine ausreichenden Alterseinkünfte haben. An dieser Stelle bewegen Sie sich aber keinen Millimeter. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil der Deutsche Bauernverband das nicht will!) Am Gesetzentwurf, der ins Parlament eingebracht wurde, ist mir aufgefallen – hier bin ich sehr empfind-lich –, dass unsere Bundesarbeitsministerin an dieser Stelle offensichtlich überhaupt nicht aufgepasst und kein Herzblut gezeigt hat. Die Bundesarbeitsministerin ist eine Verfechterin der Rente mit 67. Sie hat sich klipp und klar dazu bekannt. Das ist auch in Ordnung. Ich habe damit nur wenige Schwierigkeiten. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Der Schaaf ist ein guter Mann!) Sie stimmt aber einem Gesetzentwurf zu, in dem ein Zwangsruhestand vorgesehen ist. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!) Die Ministerin handelt an dieser Stelle anders, als sie redet. Das ist bei dieser Ministerin aber sehr üblich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gott sei Dank haben die Koalitionäre das auf Verlangen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer korrigiert. Wir haben auch unseren Anteil daran, dass man hier weiter vorangekommen ist. Das ist aber typisch für diese Ministerin. Meine Damen und Herren, es gäbe wirklich viele Gründe, zu sagen: Wir machen da nicht mit. – Das ist immer begründbar. Wir sehen aber eine Chance dafür, das vernünftig weiterzuentwickeln. Wir sehen aber auch die Notwendigkeit, nach 2013 mit veränderten Mehrheiten tatsächlich noch einmal an die Dinge heranzugehen, die angesprochen worden sind, zum Beispiel auch an das Thema Parität. An meine Freunde von der FDP, weil Sie, Herr Geisen, dieses System völlig zu Recht so gelobt haben: Wir reden hier über Solidarität, über Kollektivität und über Parität. Es ist kein Teufelszeug, wenn man sich kollektiv absichert, wenn Menschen für Menschen einstehen und nicht individualisieren und privatisieren. Wenn Sie aus der Debatte irgendetwas mitnehmen wollen, dann nehmen Sie mit: Da, wo Menschen für Menschen einstehen, wo Solidarität, Parität und Kollektivität herrschen, sind die Systeme besser. Individualität führt letzten Endes zu Armut von Menschen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Mensch, Toni!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte möchte ich zunächst einmal auf einen Vorwurf seitens der Opposition eingehen, der hier nicht so im Raum stehen bleiben kann. Es geht um unser Frauenbild. (Elke Ferner [SPD]: Gucken Sie einmal in Ihre Fraktion! – Friedrich Ostendorff [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist die FDP gerade richtig!) Ich will darauf hinweisen, dass aus den Reihen der Koalition heute drei Rednerinnen das Wort ergriffen haben – alle drei sind übrigens Landfrauen; auch Christel Happach-Kasan, die für meine Fraktion gesprochen hat – und dass auf der Seite der Bundesregierung zwei Fachministerinnen dieses Vorhaben erarbeitet, begleitet und vorangetrieben haben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Für uns ist es vollkommen selbstverständlich, dass sich Frauen in dieser Debatte zu Wort melden und ihren wichtigen Beitrag leisten. Das wird auch dann der Fall sein, wenn die Selbstverwaltung jetzt den weiteren Fortgang in die Hand nimmt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wie viele waren es bei der Opposition? – Elke Ferner [SPD]: Wie hoch ist der Frauenanteil in Ihrer Fraktion?) Ich glaube, man kann feststellen, dass wir heute ein sehr komplexes und anspruchsvolles Gesetzgebungsvorhaben zu Ende bringen. Es ist schon deswegen abweichend von der Norm, weil es fachgebietsübergreifend bearbeitet wurde. Federführend ist die Sozialpolitik, aber einen wichtigen Beitrag haben ganz naturgemäß auch die Kollegen aus dem Fachausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erbringen müssen. Ich möchte mich bei allen Beteiligten dafür bedanken, dass dieses gemeinsame Wirken so gut gelungen ist und heute so erfolgreich abgeschlossen werden kann. Besten Dank dafür. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es war aber auch deshalb sehr komplex, weil ein einheitlicher Bundesträger in einem Bereich geschaffen wird, der sich seit 1888 historisch ganz unterschiedlich entwickelt hat, mit unterschiedlichen Interessen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West und zwischen den einzelnen Fachbereichen, also zwischen der Viehzucht, der Milchwirtschaft, dem Ackerbau, der Forstwirtschaft und dem Gartenbau, welcher sich wiederum in den Erwerbsgartenbau und den Landschaftsgartenbau aufteilt. Die Stichworte zeigen Ihnen schon: Es war extrem schwierig, das zusammenzuführen. Ich freue mich, dass das am Ende erreicht werden konnte. Das Struck’sche Gesetz ist mit diesem Gesetzgebungsvorhaben bekräftigt und unterstrichen worden. Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung eingebracht hatte, war nicht schlecht. Aber das, was wir abschließend nach Anhörungen und Änderungsanträgen heute vorlegen, ist gut, sogar ziemlich gut, so gut, dass auch die SPD ihr Herz über die Hürde werfen konnte und diesem Gesetzentwurf heute zustimmt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben angesichts der Komplexität sehr viel Wert darauf gelegt, dass alle Beteiligten in Anhörungen und vielen Gesprächen einbezogen wurden. Wir haben versucht, den Sorgen und Bitten der Betroffenen so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Für uns, für die FDP, war besonders wichtig, den Beschäftigten im Gartenbau Gewicht zu verleihen und zu helfen. Hier bestand anfangs der Beratungen die Sorge, berechtigt oder unberechtigt, dass sie gegenüber der Landwirtschaft und auch der Forstwirtschaft möglicherweise nicht ausreichend Gehör finden könnten. Diese Befürchtung kann heute so nicht mehr aufrechterhalten werden. Ich glaube, dass wir den Beschäftigten im Gartenbau an vielen Stellen ganz konkret geholfen haben und sie deswegen mit dem heutigen Ergebnis der Gesetzgebungsarbeit zufrieden sein können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drei Minuten Redezeit sind sehr kurz. Wir legen heute eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg der Modernisierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zurück. Das wird nicht die letzte Etappe sein. Aber das, was wir heute hier beraten und beschließen, ist ein gutes Gesetz, dem Sie mit Freude Ihre Zustimmung geben können. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe jetzt auf ein klares Votum für die Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir stellen jetzt fest, wie klar das Votum wird. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/8616, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/7916 und 17/8495 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Ich rufe auf die dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dann ist mit den Stimmen der Koalition und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8619. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatzpunkt 2 auf: 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Impulse für den Standort Deutschland – Für eine moderne Industriepolitik – Drucksache 17/8572 – Überweisungsvorschlag Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Marktwirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft – Drucksache 17/8585 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland verfügt über eine starke industrielle Basis. Deutschland ist ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort, eine erfolgreiche Industriegesellschaft. Das ist kein Zufall. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie das vor 15 Jahren am Ende der Regierungszeit Kohl Ende der 90er-Jahre war, als Wirtschaftsmagazine aus dem In- und Ausland die deutsche Volkswirtschaft quasi als „kranken Mann Europas“ darstellten. Dass wir heute besser dastehen, ist kein Wunder und kein Zufall, sondern Ergebnis harter Arbeit wie auch schmerzhafter Strukturreformen in der rot-grünen Zeit, die aber richtig waren, damit Deutschland vorankommen konnte. Dazu bekennen wir uns. (Beifall bei der SPD) Dass wir eine breite Wertschöpfungskette von der Grundstoffindustrie über den industriellen Mittelstand bis hin zu den kleinen Hightechschmieden haben, ist kein Zufall, sondern vor allen Dingen das Ergebnis von fleißiger Hände Arbeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich eingesetzt haben, von klugen Unternehmern, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben, von erfindungsreichen Ingenieuren, Forschern und Technikern in diesem Land. Darauf können wir stolz sein in Deutschland. Das ist Grund zu Selbstbewusstsein, aber es ist mitnichten ein Grund zu Selbstzufriedenheit oder gar zu Überheblichkeit. Denn wir stehen in den nächsten Jahren vor erheblichen Herausforderungen. Deshalb ist es kein Grund – das richtet sich an die Bundesregierung –, sich auf den Erfolgen der Vorgängerregierungen auszuruhen und die Hände tatenlos in den Schoß zu legen. Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen. Sie werden anstrengend. Wir können sie meistern, aber dafür müssen jetzt richtige Entscheidungen getroffen werden. Was sind die Herausforderungen? Das ist erstens der veränderte Altersaufbau bzw. die demografische Entwicklung in diesem Land. Immer mehr vertieft sich zurzeit die Spaltung des Arbeitsmarktes. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend Fachkräfte. Auf der anderen Seite sind viel zu viele Menschen in Deutschland abgehängt und ausgeschlossen. Während wir beispielsweise dafür sorgen müssen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland vorankommt und die Frauenerwerbsquote in diesem Land steigen kann, reichen Sie ein wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch unsinniges Betreuungsgeld aus: eine Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt für Frauen. Das ist der falsche Weg. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) Beim Thema Fachkräftesicherung fehlt Ministerin von der Leyen schlicht und ergreifend ein Konzept. Außer Spesen nichts gewesen. Ein Showeffekt in Meseberg: Das war alles. Es gibt kein Konzept. Genau das vermisst die Wirtschaft in Deutschland zu Recht. Ein Konzept zur Fachkräftesicherung? Fehlanzeige bei dieser Bundesregierung. (Beifall bei der SPD) Die zweite große Herausforderung, vor der das Industrieland Deutschland steht, ist der nach wie vor rasante technische Wandel. Er bleibt nicht stehen. Darauf müssen wir uns einstellen, sowohl bei Qualifizierung und Bildung, Ausbildung und Weiterbildung als auch vor allen Dingen dadurch, dass wir in diesem Land eine Forschungs- und Innovationspolitik betreiben, die die Chancen des technischen Wandels für gute Arbeitsplätze in einer stärker wissensbasierten Wirtschaft nutzt. Wo ist denn Ihr Konzept zur steuerlichen Forschungsförderung, das Sie groß angekündigt haben, geblieben? Was ist mit dem Anreiz, mehr private und öffentliche Investitionen zu verbinden, um Innovationen in diesem Land voranzubringen? Nein, meine Damen und Herren, Sie setzen die falschen Schwerpunkte. Wir müssen in Deutschland auf die besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen setzen. Das erreichen wir nur mit einer anderen Forschungs- und Qualifizierungspolitik, aber nicht mit immer niedrigeren Löhnen. (Beifall bei der SPD) Eine der größten Herausforderungen ist – das machen Gespräche mit Unternehmern in Deutschland deutlich – eine saubere, versorgungssichere und bezahlbare Energieversorgung. Wir haben gestern im Deutschen Bundestag leidenschaftlich darüber diskutiert. Die Art und Weise, wie diese Bundesregierung, namentlich die sich blockierenden Minister Röttgen und Rösler, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er überhaupt?) die Energiewende in diesem Land vor die Wand fährt, ist das größte Standortrisiko für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie zumindest auf Herrn Keitel, den BDI-Präsidenten, der diese Bundesregierung geradezu leidenschaftlich auffordert, sich endlich der Umsetzung der Energiewende zuzuwenden. Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie Ihrem Kommissar Oettinger, der auf die schöne Frage, was er zurzeit zur deutschen Energiepolitik sagt, antwortet: Welche Energiepolitik? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Weder beim Netzausbau noch bei der Integration erneuerbarer Energien und der Planungs- und Investitionssicherheit für die Modernisierung des Kraftwerksparks und den Bau neuer Kraftwerke kommen wir voran, weil Sie die Entwicklung verschlafen haben und Ihr Zickzackkurs die Versorgungssicherheit in Deutschland bei der Energieversorgung gefährdet. Ein Industrieland wie Deutschland braucht sichere, saubere und bezahlbare Energie. Auch da versagt diese Bundesregierung. Sie haben keinen Masterplan zur Umsetzung der Energiewende. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE] und Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Last, but not least: Neben der Demografie, neben dem technischen Wandel und neben den Themen Energiewende und Ressourcenknappheit ist es vor allem die internationale Verflechtung unserer Volkswirtschaft, die wir im Blick haben müssen; zum einen, weil aufstrebende Industriemächte in anderen Ländern die Konkurrenz verschärfen werden und weil wir im internationalen Wettbewerb mit China, Brasilien, Indien und auch Russland mithalten müssen. Zum anderen müssen wir eines im Blick haben: Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen, weil es Deutschland dauerhaft wirtschaftlich nicht gut gehen kann, wenn es dem restlichen Europa schlecht geht. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union, 40 Prozent gehen in die Euro-Zone. Deshalb ist es nicht richtig, zu glauben, dass wir die Krise im Euro-Raum lösen können, indem wir einfach nur Hilfskredite ausreichen und gleichzeitig harte fiskalische Auflagen machen. Wir brauchen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa eine Stärkung der industriellen Basis unseres Kontinents. Wir brauchen eine Stärkung der realen Wertschöpfung und nicht der Finanzwirtschaft. Dafür braucht man Geld, das ist keine Frage. Da wir auch in Deutschland die Schulden nicht weiter nach oben treiben dürfen und auch hier Haushaltskonsolidierung betreiben müssen, sage ich Ihnen: Wir brauchen das Aufkommen aus einer Finanztransaktionsteuer, um ein solches europäisches Aufbauprogramm auch in den nächsten Jahren schultern zu können. (Beifall bei der SPD) Wir alle erinnern uns an den Satz von Bill Clinton: „It’s the economy, stupid!“ Man muss diesen Satz heute abwandeln. Im Zuge der Finanzkrise muss man sagen: „It’s the real economy, stupid!“ Es ist die Realwirtschaft, also die reale Wertschöpfung, die ein Land erfolgreich macht. Das ist die gute deutsche Erfahrung. Zu den 5 Millionen Arbeitslosen sage ich Ihnen: Sie sind das Ergebnis der Politik von Helmut Kohl und wurden uns damals von Schwarz-Gelb hinterlassen. Wir haben den Reformstau aufgelöst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Sie erschaffen in Deutschland gerade einen neuen Reformstau. Ich sage Ihnen: Ab 2013 wird es für uns viel Arbeit geben, damit Deutschland ein erfolgreiches Industrieland bleibt und wir im produzierenden Gewerbe und im Mittelstand durch industriebezogene Dienstleistungen und auch durch soziale Dienstleistungen Wertschöpfung haben. Hier sind jetzt die Weichen zu stellen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Deshalb braucht Deutschland Impulse für ein industriepolitisches Konzept. Dieses Konzept, das wir heute vorlegen, fehlt Ihnen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat steht Deutschland, was das Wirtschaftswachstum anbelangt, im Moment ganz gut da. (Thomas Oppermann [SPD]: Aber nicht wegen euch!) Wir hatten seit der Wiedervereinigung zweimal in Folge das höchste Wachstum, aber auch im Bereich der Exporte steht Deutschland sehr gut da. Im letzten Jahr wurde die 1-Billion-Grenze, also die 1 000-Milliarden-Grenze, überschritten, und auch im Bereich des Arbeitsmarktes stehen wir sehr ordentlich da. Dass wir so gut dastehen, ist im Wesentlichen der Industrie und unseren industriellen Wertschöpfungen zu verdanken, an die wir alle gern unsere Sonntagsreden adressieren. Anders als in anderen Ländern liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Gesamtleistung in Deutschland bei rund 20 Prozent. Dieser Anteil ist fast doppelt so hoch wie beispielsweise in den USA, in Großbritannien oder auch in Frankreich. Der Anteil ist sogar höher als beispielsweise in Japan. Dies ist auch der Ausweis einer Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und der deutschen Industrie, die in den vergangenen Jahren in der Tat gemeinsam von den Unternehmen und den Arbeitnehmern, aber auch von den unterschiedlichen Regierungen in diesem Land erarbeitet wurde. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb ist es richtig, dass gerade im Bereich des Arbeitsmarktes mit der Agenda 2010 wesentliche Impulse gesetzt werden konnten, sodass die Belange des Arbeitsmarktes und die Interessen des Industriestandortes entsprechend berücksichtigt werden konnten und ein Arbeitsplatzaufbau stattfinden konnte. Deshalb finde ich es schade, dass die Letzten, die hier im Hause die Agenda 2010 von Rot-Grün verteidigen, von der heutigen Regierung sind. (Christian Lindner [FDP]: Wohl wahr!) Das Ergebnis ist, dass wir heute Arbeitsplätze aufbauen können. Im vergangenen Jahr gab es 131 000 mehr Erwerbstätige im verarbeitenden Gewerbe. Hinzu kommen noch mehrere Hunderttausend bei den unternehmensnahen Dienstleistungen, die im Wesentlichen mit der Industrie zusammenhängen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist die Realität, und das ist das Ergebnis guter Politik von verschiedenen Regierungen in den letzten zehn Jahren. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Auch der SPD! – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danke schön! Habe ich doch gesagt!) – Aber ihr distanziert euch davon und wollt nichts mehr davon wissen. All die Dinge, die dazu geführt haben, dass wir heute sehr gut dastehen, wollt ihr wieder rückgängig machen. Wir wollen beispielsweise den flexiblen Arbeitsmarkt beibehalten. Aber bei aller Freude über die gute Situation sollten wir jetzt natürlich nicht innehalten und uns ausruhen; (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das tut ihr aber!) das machen wir mit Sicherheit nicht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das tut ihr aber!) Jetzt gilt es, den Weg konsequent weiterzugehen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Energiewende!) und an den Stellen zu arbeiten, die für den Industriestandort von entscheidender Bedeutung sind. Ich möchte gern einige Punkte anführen: Zuvörderst ist die Infrastruktur zu nennen. Wir brauchen in Deutschland und auch in Europa eine herausragende Infrastruktur. Das gilt sowohl für weiche als auch für harte Faktoren. Wir brauchen Bildung und Ausbildung, Fachkräfte, Forschung und Entwicklung, aber auch Technologieoffenheit. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was tun Sie denn dafür?) Wir brauchen die harte Infrastruktur: Straßen, Schienen, Flughäfen, Wasserstraßen, aber auch Strom- und Gasleitungen genauso wie funktionierende Messestandorte oder auch Kultureinrichtungen wie Galerien und anderes mehr. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Telekommunikation!) Es gibt aber auch Felder, bei denen Anlass zur Sorge besteht, gerade bei dieser Infrastruktur. Ich freue mich über den Satz im Antrag der SPD-Fraktion, nach dem es einen neuen gesellschaftlichen Konsens beim Ausbau der Infrastruktur braucht. Lösungsmöglichkeiten werden im Antrag allerdings leider nicht offeriert, sondern es wird nur das Problem angesprochen. Dieses Problem haben wir gemeinsam. Dieses müssen wir lösen. Die Lösung kann sicher nicht darin bestehen, dass wir zu den vorhandenen Infrastrukturprozessen weitere Prozesse hinzufügen und dann alles noch länger dauert. Deshalb ist eine gemeinsame Anstrengung zur Bewältigung der großen Herausforderungen im Energiebereich, beim Netzausbau beispielsweise, gefordert. Ein ganz großes Thema für mich – deshalb will ich das an den Anfang stellen – ist die Technikfeindlichkeit, die ich in Deutschland an der einen oder anderen Stelle feststelle; (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vor allem beim Internet in der CDU!) ich gehe nachher noch auf die Themen Energie und Rohstoffe ein. Deutschland ist das Land der Dichter und Denker, der Tüftler und Erfinder. Ich gewinne aber zunehmend den Eindruck, dass wir darüber hinaus auch das Land der Nörgler und Neinsager sind. Das ist anders als in anderen Ländern. Wer heute nach China oder auch in viele aufstrebende Schwellenländer schaut, stellt fest, dass es dort noch eine geradezu offene Begeisterung für die Chancen gibt, die in der Technik liegen, während bei uns immer erst die – vermeintliche – Gefahr gesehen wird, die in einer Technik steckt. Ich bin der Meinung: Wir werden als Industriestandort lange nicht reüssieren können, wenn wir hier in Technikfeindlichkeit verfallen. Wir brauchen Technologieoffenheit und eine neue Technologiefreundlichkeit in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb machen Sie CCS kaputt!) Das beginnt selbstverständlich in der Schule, bei der Ausbildung und auch bei der Erziehung. Dort müssen wir diese Dinge vermitteln. Das heißt für mich für unser politisches Handeln aber auch, dass wir Technologien, die am Anfang ihrer Entwicklung stehen, von denen wir nicht wissen, ob sie letztlich erfolgreich sein werden, nicht schon am Anfang bekämpfen und ihre Entwicklung hemmen dürfen, sodass sie gar nicht erst reifen können. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das dem McAllister in Niedersachsen!) Die CCS-Technologie ist ein Beispiel dafür, die aktuelle Diskussion über das Thema Fracking im Energiebereich – Fracking wird zur Ausbeutung von Erdgas in unkonventionellen Lagerstätten seit Jahrzehnten erfolgreich angewandt – ist ein anderes. Aber das größte Fanal für mich ist der Wegzug der Grünen Gentechnologie von BASF, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer regiert denn hier in Deutschland? Bei Rot-Grün war die noch da!) wobei die nicht einmal ein großes Aufheben davon machen und dies etwa dem Standort zuschreiben, sondern schlicht feststellen, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen in diesem Land, parteiübergreifend, bei der Gentechnologie eher Gefahren und Probleme als Chancen sehen. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Zu Recht!) Das führt dazu, dass solche Technologien nicht mehr in Europa angewandt werden, sondern in anderen Teilen der Welt. Das ist wie in den 80er-Jahren, als es um die Herstellung des synthetischen Insulins ging: Die Fabrik war fertig, aber dann hat der heutige Weltstaatsmann Fischer als Umweltminister den Betrieb dieser Fabrik verhindert, weil das des Teufels war. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Dann tun Sie doch was, statt zu lamentieren! Das ist ja furchtbar!) Heute sind über 99 Prozent des Insulins, das weltweit verbraucht wird, synthetisch. Aber die Herstellung findet nicht in Deutschland statt; (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, machen Sie doch was! Jammern Sie nicht rum!) es gibt keine Wertschöpfung in diesem Bereich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb muss es parteiübergreifend unser Ziel sein, hier für Technologiefreundlichkeit und Technologieoffenheit zu sorgen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Neben der Infrastruktur und der Technologiefreundlichkeit gibt es zwei Dinge, die mich besonders umtreiben: die Energie- und die Rohstoffpolitik. In den vergangenen Jahren waren häufig die Arbeitskosten, auch die Besteuerung, von entscheidender Bedeutung bei der Wahl des Standortes und sind es teilweise auch heute noch. Wir haben im Bereich der Forschung und Entwicklung sehr viel erreicht. Diese Regierung gibt für Forschung und Entwicklung so viel aus wie keine zuvor. Wir stehen kurz davor, das Ziel, 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren, zu erreichen. Durch das ZIM-Programm und andere Programme für den Mittelstand haben wir es geschafft, Technologie in der Breite voranzubringen. Das wird uns auch attestiert. Wenn man aber die Rahmenbedingungen für Forschung und Industrie insgesamt betrachtet, stellt man fest, dass es noch ein Feld gibt, auf dem wir gegenüber vielen anderen Ländern Nachholbedarf haben: bei der steuerlichen Forschungsförderung. (Garrelt Duin [SPD]: Wer regiert hier eigentlich? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wann kommt die denn?) Dieser Mangel ist bei Forschungseinrichtungen ein zentrales Thema und führt dazu, dass sie nicht nach Deutschland kommen. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Wo bleiben die konkreten Vorschläge, Herr Pfeiffer?) Deshalb muss Ziel dieser Regierung sein – und ist es auch –, in dieser Legislaturperiode den Einstieg in die steuerliche Forschungsförderung zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Pfeiffer im Walde!) Bei der Energie- und Rohstoffpolitik ist zu berücksichtigen, dass die Energiekosten heute ein zentraler Standortfaktor sind. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist eine Oppositionsrede hier! – Edelgard Bulmahn [SPD]: Nur lamentieren!) Der Energiekostenanteil am Bruttoproduktionswert ist in der Industrie von 1990 bis 2008 von 2,3 auf 3,4 Prozent, also um rund 50 Prozent, gestiegen. Die Effizienzgewinne werden durch die Kostensteigerungen weitgehend neutralisiert. Die Preise für Industrierohstoffe sind heute für 76 Prozent der Unternehmen und 93 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland das größte Problem. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und was macht die Regierung? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Einen guten Eindruck!) Auch hierzu ein paar Zahlen: Während in Deutschland 1990 für 88 Millionen Tonnen Rohöl, die importiert wurden, umgerechnet gerade einmal 12 Milliarden Euro gezahlt wurden, waren es 2011 für 90 Millionen Tonnen 53 Milliarden Euro. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Regierung jammert über den Standort Deutschland!) Ähnlich verhält es sich beim Gas und beim Strom. Die Industriestrompreise sind in Deutschland gegenüber Frankreich deutlich höher: Rund 9 Cent sind es in Deutschland, während es 5 Cent in Frankreich sind. Das sind also zentrale Handlungsfelder. Diese Regierung hat bei der Verbesserung der Rohstoffeffizienz und der Erhöhung der Recyclingquote wesentliche Schritte getan. Auch mit Blick auf die Nutzung von heimischen Rohstoffen sind wir gut unterwegs. Aber wir brauchen auch Rohstoffimporte. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich als längst überfälligen Schritt die Rohstoffallianz, die jetzt von der deutschen Industrie gestartet worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist zuvörderst die Aufgabe der Industrie, für ihre Rohstoffversorgung zu sorgen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass jetzt namhafte Unternehmen mit nennenswerten Beträgen bereit sind, das Know-how, das wir in diesem Bereich hatten – vor 20 Jahren Degussa und Metallgesellschaft, um nur einige Beispiele zu nennen – und das, auch durch unternehmerische Fehlentscheidungen, verloren gegangen ist, wieder aufzubauen. Das wird ein langer, schwieriger Weg; es geht nicht von heute auf morgen. Wir werden das begleiten. Wir sehen diese Initiative als den Nukleus für die europäische Entwicklung an. Denn die europäische Ebene ist die richtige Betriebsgröße, um dauerhaft zu agieren. Ähnlich verhält es sich im Energiebereich. Dort gilt es, für die Industrie wettbewerbsfähige Bedingungen zu erhalten. Das müssen wir beim Umbau der Energieversorgung intelligent miteinander verbinden. Wir tun das beispielsweise durch den aktuellen Entwurf einer Verordnung zu abschaltbaren Lasten. Wenn nämlich in Zeiten des Spitzenverbrauchs nicht genug Energie erzeugt werden kann bzw. es sehr lange dauert, bis genug erzeugt werden kann und deshalb enorme Investitionen in Milliardenhöhe erfolgen müssen, dann kann man versuchen, dieses Problem durch Abschaltung zu lösen und nicht allein auf Erzeugung oder Speicherung zu setzen. Manche industrielle Großverbraucher sind in der Lage, innerhalb kürzester Zeit für Sekunden, Minuten oder Stunden vom Netz zu gehen. Auch Kühlhäuser – das ist ein Angebot, das über die Industrie hinausgeht – können entsprechend abschalten. So kann diesen Spitzen begegnet und die Versorgungssicherheit und Qualität der Stromversorgung sichergestellt werden. Auf all diesen Wegen sind wir unterwegs. Wir wollen uns nicht auf dem Stand, auf dem wir heute stehen, ausruhen – nämlich an der Spitze –, sondern stellen die Weichen so, dass wir auch dort bleiben. Denn wer nicht immer besser wird, der hört auf, gut zu sein. Diese Regierung wird diesen Weg mit Technologieoffenheit, Technologiefreundlichkeit und konsequenter Politik für eine sichere und preiswerte Rohstoff- und Energieversorgung weitergehen. Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam für den Industriestandort arbeiten. Auch die Opposition ist aufgerufen, mitzumachen. Das ist nicht nur Aufgabe der Regierung und kann nicht nur Aufgabe der Regierung sein, sondern das ist eine der zentralen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, vor denen wir stehen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Pfeiffer. Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Lötzer. Bitte schön, Frau Kollegin Ulla Lötzer. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Lötzer (DIE LINKE): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist in der Tat an der Zeit, hier endlich eine Debatte über die Zukunft der Industriepolitik in Deutschland zu führen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen sich dem Druck zunehmender Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt; sie sehen sich durch Ihre Politik, Herr Pfeiffer, aber auch demütigenden Arbeitsbedingungen, Niedriglöhnen und einem Armutssektor ausgesetzt. Und, ja, Herr Heil, Finanzmarktakteure haben großen Schaden auch in der Industrie angerichtet, mit Spekulationen, aber auch mit ihrem maßlosen Druck auf Maximalrenditen in der Industrie. Wenn ein Unternehmen beispielsweise die Gebäudesanierung seiner Fabrik verweigert, weil sie sich erst in vier Jahren statt in einem Jahr rechnet, ist das ein typisches Beispiel dafür. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen hat kürzlich in einem Gutachten festgestellt, das kohlenstoffbasierte Wirtschaftsmodell gefährde das Klimasystem und die Existenzgrundlagen. Er fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, eine große Transformation zur sozialökologischen Gesellschaft. Dies alles erfordert eine aktive und zukunftsorientierte Industriepolitik. In der Industriepolitik der Bundesregierung, Herr Pfeiffer, merkt man davon allerdings nichts. Sie blockieren den Wandel und versuchen auch noch, das hier heute zur Feierstunde für die Blockade zu erklären. (Beifall bei der LINKEN) Nehmen wir die Energiewende: Die EU-Kommission erkennt, dass das Ziel, den Energieverbrauch um ein Fünftel zu senken, verfehlt wird, und schlägt verbindliche Ziele vor. Sie laufen dagegen Sturm. CDU/CSU, FDP, aber auch die SPD fordern, dass die energieintensiven Industrieunternehmen noch weiter entlastet werden. Durch Ausnahmen bei der Ökosteuer, dem EEG, der KWK-Umlage, dem Emissionshandel und den Netzentgelten entgehen dem Staat alleine in diesem Jahr 9 Milliarden Euro. Die Ausnahmeliste der sogenannten verlagerungsgefährdeten Branchen beim Emissionshandel umfasst 169 Branchen. Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hubertus Heil? Ulla Lötzer (DIE LINKE): Aber gerne, wenn Sie die Uhr anhalten. Vizepräsident Eduard Oswald: Ja. – Bitte schön, Kollege Hubertus Heil. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Liebe Frau Lötzer, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir die Unternehmen, um die es geht, nicht deshalb bevorteilen wollen, weil wir nett zu ihnen sein wollen, sondern weil sie im internationalen Wettbewerb stehen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Heimat und frage Sie, was Sie den Beschäftigen der Salzgitter AG und der Peiner Träger sagen. In meiner Heimatstadt gibt es ein Elektrostahlwerk, das im internationalen Wettbewerb steht. Wenn das bei der Ökosteuer voll einbezogen wird, dann nützt das dem Weltklima überhaupt nichts, weil das zu Standortverlagerungen führt. Wir von Rot-Grün haben die Ökosteuer eingeführt, aber mit Augenmaß, indem wir gesagt haben: Den Industrien, die in internationaler Konkurrenz stehen, wollen wir das Geschäft nicht erschweren. Sie haben das Problem, dass 70 Prozent ihrer Kosten Rohstoff- und Energiekosten sind und nur 30 Prozent Personalkosten. Ein solches Unternehmen stärker zu belasten, beinhaltet die Gefahr, Arbeitsplätze zu verlieren. Was sagen Sie eigentlich der IG Metall, die sich in Peine, Salzgitter und anderswo mit dem Problem herumschlagen muss, dass Arbeitsplätze verloren gehen? Ich finde es ein bisschen billig, dass Sie andeuten, wir würden der Großindustrie das Geld hinterwerfen. Das ist eine plumpe antikapitalistische Rhetorik. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN: Oh!) Das hat nichts mit wirtschaftlichem Sachverstand zu tun. (Beifall bei der SPD) Ulla Lötzer (DIE LINKE): Lieber Kollege Heil, wie plump die antikapitalistische Rhetorik ist, können wir gerne überprüfen. Uns geht es nicht um Rhetorik. Den Arbeitsplätzen und auch der Umwelt ist nicht damit gedient, wenn es zu einer Verlagerung kommt. Aber die Ausnahmen – 169 Branchen beim Emissionshandel – haben inzwischen ein beunruhigendes Ausmaß angenommen. Es wird noch nicht einmal geprüft, ob bei den betreffenden Branchen die Gefahr besteht, dass Arbeitsplätze verlagert werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch, es wird geprüft!) – Nein, es gibt keine klaren Kriterien dafür. – Inzwischen konkurrieren die europäischen Regierungen darum, wer der energieintensiven Industrie die niedrigsten Preise bietet. Wir sind nicht für die völlige Abschaffung von Ausnahmen. Aber wir sind dafür, dass die Kriterien überprüft werden, dass Maßnahmen zur Energieeffizienz berücksichtigt werden und dass es eine europäische Harmonisierung gibt. Auf diese Weise kann man die Anzahl der Ausnahmen sinnvoll begrenzen und sozusagen einen Abschmelzungsprozess einleiten. Wir kritisieren, dass das nicht gemacht wird; wir sind aber nicht plump für die Abschaffung von Ausnahmen. (Beifall bei der LINKEN) Mit dem, was gemacht wird, wird der Klimafonds ausgetrocknet. Die dringend benötigten Mittel für die Gebäudesanierung sollen um eine halbe Milliarde Euro gekürzt werden. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben diese Kürzung über die Energiepreise zum Teil zu tragen. Die Ausnahmetatbestände gehören daher auf den Prüfstand. Kommen wir zur Solarindustrie. 130 000 Arbeitsplätze hängen daran. Viele Unternehmen sind in der Krise. Die Bundesregierung gefährdet die Nachfrage durch Ankündigungen weiterer Kürzungen im EEG-Bereich. Stattdessen sollten Sie sich überlegen, das 1 000-Dächer-Programm auf öffentliche Gebäude auszuweiten. Warum reden Sie hier ständig von Innovationen, fördern aber nicht intensiver die organische Photovoltaik oder die Einbindung der Zell- und Modulproduktion in Speichertechnologien? Warum gibt es nicht schon längst den von der IG Metall vorgeschlagenen Branchendialog unter Einbeziehung von Gewerkschaften und Umweltverbänden? Das wäre zukunftsfähige Industriepolitik. (Beifall bei der LINKEN) Kommen wir zur Rohstoffpolitik. Eine absolute Senkung des Verbrauchs ist notwendig. Auch hier werden alle gesetzten Ziele zur Umstellung auf ressourcenschonende Produktionsverfahren nicht erreicht. Im Rahmen des MaRess-Projektes wurde vom Wuppertal-Institut berechnet, dass die Schaffung von 700 000 Arbeitsplätzen möglich würde, wenn bis 203020 Prozent der Materialkosten durch Effizienzmaßnahmen eingespart würden. Die Realisierung erfordert allerdings auch hier klare politische Rahmenbedingungen, verbindliche Effizienzziele, eine schärfere Ökodesign-Richtlinie, klare Recyclingquoten, Forschung und Innovationsförderung für Substitution. Stattdessen führen Sie eine Verteilungsauseinandersetzung, die von Herrn Pfeiffer soeben noch gelobt wurde. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat Montag in der Enquete-Kommission die Allianz für Rohstoffsicherung zu Recht als Rückfall ins 19. Jahrhundert bezeichnet. Gestern haben Sie mit dem kasachischen Diktator ein Abkommen zur Rohstoffsicherung geschlossen. Im Dezember wurden dort Ölarbeiter, die für höhere Löhne demonstriert haben, erschossen. Sieht so Ihre zukunftsfähige Rohstoffpolitik aus? Sie kämpfen in Brüssel sogar gegen eine Transparenzrichtlinie, mit der Rechenschaft über soziale und ökologische Produktionsbedingungen und über Geldflüsse abgelegt werden soll. Rohstoffpolitik ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Sie muss an soziale, menschenrechtliche und ökologische Bedingungen geknüpft werden. Es braucht faire Abkommen, die den Rohstoffländern das Recht auf ihre Rohstoffe zugestehen. (Beifall bei der LINKEN) Ein Strukturwandel ist ohne gute Arbeit nicht zu machen. Ich freue mich ja, dass die SPD das in ihrem Antrag auch so sieht. Allerdings verstehe ich dann Ihr eben abgegebenes Bekenntnis zu Hartz IV nicht. Dass gute Arbeit wichtig ist, gilt gerade auch für die Zukunftsbranchen. Was tut aber die Regierung, um beispielsweise das Projekt der IG Metall „Saubere Energie – gute Arbeit“ zu unterstützen? Was tun Sie, um Sozialstandards international durchzusetzen? Nichts. Besser statt billiger wäre eine Devise für eine lebensfähige Zukunftsindustrie, Herr Pfeiffer. Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung müssen neu belebt werden. Das setzt eine Regulation der Finanzmärkte voraus, aber auch eine Ausweitung von Wirtschaftsdemokratie, eine Stärkung der Mitbestimmung im Betrieb, die Einrichtung von Branchendialogen und einen branchenübergreifenden Dialog zur sozialökologischen Transformation unter Einbeziehung von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, aber auch Umweltverbänden und anderen gesellschaftlichen Akteuren sowie eine Ausweitung direkter Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung. Statt Bekenntnisse zum freien Markt braucht es endlich wieder den gestaltenden Staat und eine Erneuerung von Demokratie. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Lötzer. – Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Martin Lindner. Bitte schön, Kollege Dr. Lindner. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Deutschland steht wirtschaftspolitisch exzellent da. Über 3 Prozent Wachstum, eine Arbeitslosenquote von etwas über 7 Prozent, ein durchschnittlicher Lohnzuwachs von 3 Prozent in den letzten Jahren sowie Exporte in Höhe von 1 Billion Euro sind ein exzellenter Ausweis für die Leistungsfähigkeit dieses Landes. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Der Erfolg hat viele Väter. Es gibt den Erfolg der rot-grünen Bundesregierung bei der Arbeitsmarktreform. Das ist unstreitig. Auch die schwarz-rote Vorgängerregierung hat bei der Bewältigung der Finanzmarktkrise ihren Beitrag dazu geleistet. Das gilt auch für das eine oder andere Konjunkturprogramm und das Kurzarbeitergeld. Das unterscheidet uns. (Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt fehlt nur noch euer Beitrag!) – Ich habe die Großzügigkeit, auch das zu erwähnen: Sie sind in dieser Frage so kleinkariert, dass man Sie mit bloßem Auge gar nicht mehr erkennen kann, Herr Kollege. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sie sind über 2 Prozent!) Schwarz-Gelb hat mit den steuerpolitischen Entlastungen für Familien, mit Forschungs- und Entwicklungsmitteln in Höhe von über 12 Milliarden Euro bei gleichzeitiger Haushaltskonsolidierung, mit Ordnungspolitik und mit der Finanzmarktregulierung – angefangen bei Opel und anderen – ein klares Profil gezeigt. Die Wirtschaftsminister dieser Bundesregierung, auch die meiner Partei, sind gestanden, während Sie sich populistisch weggeduckt haben. In der Frage der Euro-Stabilität ist diese Bundesregierung der Stabilitätsanker in Europa. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) All dies hat einen klaren Beitrag dazu geleistet, dass wir da stehen, wo wir stehen. Sie haben völlig recht: Es gibt überhaupt keinen Anlass, sich darauf auszuruhen. Deswegen haben wir Ihnen den über achtseitigen Antrag heute vorgelegt, in dem wir aufzeigen, was wir zukünftig noch vorhaben, um den Standort Deutschland und vor allen Dingen auch die Arbeitsplätze der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Industrie in Deutschland zu sichern. Herr Heil, auch Sie haben einen Antrag vorgelegt. Ich sage Ihnen etwas zur Genese dieses Antrages. Sie haben nach zwei Jahren in der Opposition gemerkt, dass man mit reinem Antiatom- und Antiinfrastrukturpopulismus möglicherweise die Leute neben sich im Saal und mit Hartz-IV- und Mindestlohnpopulismus die Leute auf der linken Seite stärkt. Aber Sie profitieren nicht davon. Sie haben auf einmal Ihr altes industriepolitisches Herz entdeckt und versuchen, frischen Lack über den alten Rost zu streichen. Dies ist Ihr Antrag. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das kann mir ein politischer Sektenführer aus Berlin nicht erzählen!) Ich erläutere Ihnen das an drei Stellen. Arbeitsmarktpolitik: Herr Heil, auch Sie haben sich gerade darauf bezogen. Was machen Sie seit zwei Jahren? Eine Überschrift in der Bild-Zeitung vom 15. März 2010 lautet: SPD plant Hartz-IV-Revolution. Abschaffung und Änderung der Hartz-IV-Gesetze, wegducken bei der Rente mit 67, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und Befristung von Leiharbeitsverhältnissen: Überall kehren Sie von dem Erfolgsrezept ab, das Sie damals zu verantworten hatten, dessen Lordsiegelbewahrer für Deutschland und für den Arbeitsmarkt wir aber mittlerweile sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Koalition steht. Sie ducken sich weg. Technologie, Gentechnologie: Lesen Sie einmal Ihren Parteitagsbeschluss vom 4. Dezember 2011, Beschluss Nr. 24. Das ist ein Katalog von Risiken. Chancen: Fehlanzeige. Grüne Gentechnologie, CCS-Technologie, Fracking sind mit der SPD nicht zu machen. Überall sind Sie weg; wenn es um die Wurst geht, werden Sie zum Vegetarier. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sind Sie in Niedersachsen in der Regierung, oder nicht? Da können Sie etwas tun im Bundesrat!) Infrastruktur: Schauen Sie sich einmal Stuttgart 21 an. Ich lese Ihnen einmal die HNA-Nachrichten vom 15. Oktober 2011 vor, um zu zeigen, aus welchem Holz Sie geschnitzt sind: SPD: „Die Luft ist raus bei Stuttgart 21.“ Die baden-württembergische SPD wird sich aus dem Wahlkampf vor der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 heraushalten. Heraushalten ist Ihre Devise! (Edelgard Bulmahn [SPD]: Man könnte fast den Eindruck gewinnen, wir wären an der Regierung! Das wäre toll!) Wegducken ist Ihre Devise! Nichtstehen ist Ihre Devise! Wenn man nachliest, was Sie unter neuem gesellschaftlichem Konsens bei Infrastrukturmaßnahmen verstehen – während wir die Netze ausbauen –, dann bekommt man einen klaren Blick dafür, was mit der SPD los ist. Sie kriechen vielleicht wieder unter die Rockschöße Ihres Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, aber ein Partner für Infrastruktur ist Ihre Partei ganz bestimmt nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich komme zum Thema Rohstoffe und Exporte: Kaum hat gestern die Bundesregierung dieses hervorragende Abkommen mit Kasachstan unterschrieben, geht das Geheule aus der Opposition schon wieder los. (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Es geht um den Schutz von Menschenrechten!) – Frau Lötzer, wenn wir Rohstoffpartnerschaften auf Gebiete beschränken, wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung gilt, dann werden wir nichts ausbuddeln können, dann werden wir leer ausgehen. Handel und internationale Exporte sind auch für diese Länder wichtig, damit sie sich entwickeln können. Wer jedoch diese Länder vom Handel ausgrenzt, der schützt Feudalismus und alte Strukturen. Auch in diesem Sinne steht diese Bundesregierung. Sie stehen nicht. (Beifall bei der FDP) Weitere Beispiele sind Angra 3 oder die Hermesbürgschaften. Auch hier ist die SPD dagegen. Am besten kann man Ihr Verhalten am Beispiel der Rüstungsexporte deutlich machen. Der außenpolitische Sprecher, Herr Mützenich, kritisierte beispielsweise im letzten Jahr die Bemühungen der Bundesregierung, beim Export von Eurofightern nach Indien zu helfen. Oder Frau Wieczorek-Zeul: Statt 126 Kampfflugzeuge zu kaufen, sollte die indische Politik auf die Bekämpfung von Armut setzen. Nachdem das Geschäft nicht zustande kam, hindert das Ihre verteidigungspolitische Sprecherin Kastner nicht daran, zu sagen: Die Franzosen haben uns vorgemacht, was möglich ist, wenn die Regierung aktive Industriepolitik betreibt. Das ist die SPD: Flipflop – zwei Sozis, drei Meinungen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) Das ist nicht seriös. Was Sie versuchen, ist doch ganz einfach zu beschreiben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist die FDP! 1,8 Prozent in Berlin!) Sie versuchen eine Aufspaltung: Finanzmärkte gleich böse und Realwirtschaft gleich gut. Das ist Ihre Wahlkampfstrategie. Das war im Handelsblatt von heute noch einmal deutlich nachzulesen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie glauben auch alles, was in der Zeitung steht!) – Na ja, ich muss Ihnen ja nur zuhören. Da wird von Abzockerbanden, Kasinobanken und Ähnlichem geredet. Sie fallen alleine in der Diktion schon vor Godesberg, Herr Heil. Das ist völlig unseriös. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind ein Sektenführer!) Ein Industrieland wie Deutschland braucht eine starke Finanzwirtschaft. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer bestreitet denn das?) – Das bestreiten Sie natürlich. Sie versuchen, einen künstlichen Gegensatz aufzubauen. Das haben Sie ja gerade in Ihrer Rede gemacht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zuhören! Ohren putzen!) Wie ernst Ihnen das ist, das konnte man heute wieder in der Zeitung nachlesen. Da gibt es Ihren ehemaligen Bundeskanzler. In der Zeitung steht: Die Londoner City feiert Gerhard Schröder Während die SPD einen Wahlkampf gegen die Banken plant, tingelt Gerhard Schröder durch die Londoner City. Der Ex-Kanzler und frühere SPD-Chef erntet in der Finanzgemeinde großen Applaus. (Ulrich Kelber [SPD]: Weiterlesen! Weiterlesen! – Zurufe von der FDP und der CDU/ CSU) Seine ehemaligen Jünger, die hier versammelt sind – damals Generalsekretär, Büroleiter oder Kanzleramtsminister, Pop-Beauftragter der SPD, erster Schlafanzugaufbügler des Bundeskanzlers usw. usw. –, (Heiterkeit bei der FDP) pflegen den Populismus, und Gerhard Schröder lässt sich in der Londoner City mit einer goldenen Sänfte durch die Gegend tragen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Karneval!) Ich zitiere weiter aus dem Handelsblatt: Am Kopf der Tafel, vor einer beleuchteten Prachtvitrine mit wuchtigen Silbertellern und Pokalen, sprach Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder gestern Abend vor … 150 handverlesenen, festlich gekleideten Gästen aus der Finanzbranche, … (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja nur neidisch!) und lässt sich dafür feiern, dass Sie damals die Leerverkäufe erlaubt haben. Das ist der Unterschied. Das ist alles nicht seriös, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie sind kein ernsthafter Partner für die Bürger und Unternehmen in der Industrie- und Wirtschaftspolitik. (Thomas Oppermann [SPD]: Und Sie sind ein Ausbund an seriöser Politik!) Sie müssen erst einmal Ihren eigenen Laden sortieren. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie müssen erst mal ins Parlament kommen!) – Ach, wissen Sie, Herr Heil, Sie waren einmal ein seriöser Partner. 1969, als wir gemeinsam regierten, da hatte Ihre Partei 45 Prozent und unsere 5 Prozent. Jetzt schauen Sie einmal, wie Sie sich in den letzten 40 Jahren entwickelt haben. Das hat eine Ursache. Sie sind eine Populistenpartei geworden, sonst gar nichts. Sie bleiben in der Opposition, das ist sicher. Wir bleiben ein verlässlicher Partner in der Wirtschaftspolitik, in der Industriepolitik, für die Bürgerinnen und Bürger und für dieses Land. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Kerstin Andreae. Bitte schön, Frau Kollegin Kerstin Andreae. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Deutschland ist ein erfolgreiches Industrieland. Und ja, wir wollen, dass das so bleibt. Die Industrie ist Partner bei der ökologischen Erneuerung. Wir brauchen eine Erneuerung; der Klimawandel und die begrenzten Kapazitäten zwingen uns dazu. Ökologie ist das Kernthema der Ökonomie. Deswegen unterscheiden wir Grüne nicht zwischen Ökoindustrien und anderen Industrien, sondern sagen: Jeder Industriezweig und jede industrielle Branche muss grün werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Holger Krestel [FDP] – Edelgard Bulmahn [SPD]: Grün anstreichen reicht aber nicht aus!) – Ich komme noch zur SPD. Ich möchte über die Aufgabe und die Chance der Industrie reden. Was ist das Leitbild einer Industriepolitik und der Industrienation Deutschland? Ich sage: Es ist die Aufgabe, aber auch die Chance der deutschen Industrie, Lösungen für die Probleme der Welt zu liefern. Fast jeder zweite Euro wird im Export verdient. Das zwingt auch dazu, Verantwortung zu übernehmen und sich um globale Probleme zu kümmern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was sind die Probleme? Die ökologischen Probleme sind die größten. Der Energiehunger weltweit wächst gigantisch. Rohstoffe werden immer knapper und dadurch teurer. Es ist doch die deutsche Wirtschaft, die die Anlagen für die effizienteste Kreislaufwirtschaft entwickeln muss. Sie muss Verfahren entwickeln, um Seltene Erden aus den Handys zu holen. Sie muss Antworten finden, wie wir den Lebensstandard sichern können, ohne Raubbau zu betreiben. Die Unternehmen wissen es längst: Die ökologische Modernisierung birgt enorme Wettbewerbschancen. Evonik-Chef Klaus Engel preist die Bedeutung einer nachhaltigen Produktion für die Wettbewerbsfähigkeit der Chemie. Die Autokonzerne stellen sich neu auf: Wer das Auto neu erfindet, wird die Nase vorn haben. Das betrifft nicht nur den Motor und die Bauweise, sondern vor allem das Nutzungskonzept und die Einbettung des Automobils in einen integrierten Verkehrsverbund mit Bahn und öffentlichem Nahverkehr. Liebe SPD, (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Rainer Brüderle [FDP]: Jetzt kommt eine Liebeserklärung!) wir haben einen grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, der den einfachen und richtigen Satz gesagt hat: „Weniger Autos sind natürlich besser als mehr.“ (Rainer Brüderle [FDP]: Das sieht die IG Metall anders! – Thomas Oppermann [SPD]: Das muss man aber wieder ein bisschen relativieren! Das kann man so nicht ganz stehen lassen! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist aber ein großer Irrtum von dem Ministerpräsidenten!) Das ist ein einfacher und richtiger Satz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ging ein Erzittern durch Baden-Württemberg. Und was macht die SPD? Die SPD antwortet mit der grandiosen Formulierung: „Wir haben Benzin im Blut.“ (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja lebensgefährlich!) Haben Sie Ideen in den Köpfen statt Benzin im Blut! (Rainer Brüderle [FDP]: Da gibt’s eine Ehekrise, Oppermann!) Wir brauchen neue Mobilitätskonzepte. Natürlich brauchen wir eine Antwort auf die Frage, wie sich die Automobilindustrie aufstellt; aber das geht doch nicht mit „höher, schneller, weiter, mehr“, sondern mit „besser, effizienter und schlauer“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) Moderne Industriepolitik – das ist für uns ökologische Industriepolitik – entscheidet sich an drei Dingen: an der Energiewende – ökologische Industriepolitik ist mehr als Solarzellen und Windräder – und an Bildung und Innovation als Zukunftsressourcen der Industrie. Was ist denn das Kapital, das wir haben? Wissen und Rohstoffe. Rohstoffe sind begrenzt; sie müssen auch noch für die reichen, die nach uns kommen. Aber Wissen ist unbegrenzt und unbegrenzt vermehrbar. Das ist unsere Kernressource, auf die wir achten müssen. Zur Energiewende. Die größte Sorge der Unternehmen gilt der Verfügbarkeit und dem Preis von Energie und Rohstoffen. Diese Sorge nehmen wir ernst; aber unsere Antwort ist nicht, mehr und mehr Unternehmen von der EEG-Umlage zu befreien, so wie Sie es gemacht haben; aus 600 Unternehmen wurden 6 000. Herr Riesenhuber, unsere Antwort ist auch nicht, Menschenrechte hinter die Rohstoffsicherung zu stellen. Menschenrechte sind unabdingbar notwendig; wir müssen sie immer wieder vorne anstellen. Deswegen war der Beitrag von Herrn Lindner an der Stelle wirklich fahrlässig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) Deutschland ist an einer Stelle Top Runner: beim Atomausstieg. Jetzt müssen wir aber auch Top Runner bei der Energiewende werden. Wer sagt: „Dann geht das Licht aus“, hat wohl nicht begriffen, was in den letzten Wochen passiert ist: Wir haben in der Größenordnung der Produktion von drei bis vier Atomkraftwerken Strom nach Frankreich exportiert; denn das Licht bei uns in Deutschland ging nicht aus. Vielmehr hatte Frankreich ein Problem mit der Versorgungssicherung. Und warum? Weil sie so verschwenderisch mit Energie umgehen: Sie heizen mit Strom, und das bei unzureichender Wärmeisolierung. In Frankreich kostet die Kilowattstunde an der Strombörse 34 Cent; das ist dreimal mehr als bei uns. Was lernen wir daraus für die Lösungen, die wir formulieren müssen? Energieeffizienz ist der Knackpunkt, wenn es um die Versorgungssicherheit geht, und sichert zudem geringe Energiekosten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier dürfen Sie das Pedal ruhig einmal durchdrücken. Sorgen Sie doch für Energieeffizienz! Was machen Sie? In Ihrem Antrag loben Sie zwar den Energieeffizienzfonds, aber leider sind im Jahr 2011 nur knapp 10 Prozent der Mittel abgerufen worden, weil die Förderrichtlinien nicht funktionieren. Sie haben die Mittel für Klimaschutz und Energieeffizienz halbiert. Rösler blockiert eine Energieeinsparverpflichtung von jährlich 1,5 Prozent. Auch im Bereich KfW-Förderprogramm, Städtebauförderung und Gebäudesanierung gibt es ein Hü und Hott. (Florian Toncar [FDP]: Ja, das ist der Bundesrat!) Unser Wachstumsfanatiker Wirtschaftsminister Rösler (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der würde schon gerne wachsen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist er denn?) will die wichtigste Wachstumsbranche in Deutschland beschädigen. Das ist nicht zu verstehen; denn die Branche der erneuerbaren Energien ist nicht nur eine mittelständisch geprägte Industrie. Wir reden nicht nur über ein paar Solarbetriebe, sondern wir reden über 400 000 Arbeitsplätze und ein enormes Entwicklungspotenzial. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Angriff Röslers auf das EEG ist leicht durchschaubar. Die erneuerbaren Energien werden immer erfolgreicher (Holger Krestel [FDP]: Nur mit Steuergeldern erfolgreich! Sie können nicht aus sich selbst heraus existieren!) und stellen natürlich eine Bedrohung für die klassischen Energieversorger dar. Was macht der Wirtschaftsminister? Er stellt sich vor das Oligopol, anstatt Wettbewerb zu fördern. Das ist völlig durchschaubar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, das ist ein Liberaler, ein Marktwirtschaftler!) Klar ist: Eine Überförderung ist schädlich. Klar ist auch – das sagt im Übrigen auch die Solarbranche –: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Solarbranche! Das sind die Lohndrücker! Die senken den Leuten den Lohn!) Die Vergütungssätze im Bereich Photovoltaik können und müssen weiter abgebaut werden. Die Branche der erneuerbaren Energien, also auch die Solarbranche, ist die erfolgreichste Industriebranche des letzten Jahrzehnts: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, in China! Aber nicht bei uns!) mit einer rasanten Entwicklung im Bereich unserer Energieversorgung, mit einem unvergleichlichen Zuwachs an Jobs und sehr innovativen Entwicklungen. (Holger Krestel [FDP]: Nur mit Steuergeldern! Jeder Deutsche muss dafür zahlen!) Wundert Sie es angesichts dieser Tatsache wirklich, dass China als Wettbewerber auf den Markt kommt und mitspielt? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! – Florian Toncar [FDP]: Überhaupt nicht! – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Sie wollen doch, dass man mehr Sanktionen macht!) Wundert Sie es, dass ein großer Player in einen Bereich einsteigt, wo Geld zu verdienen ist, wo hohe Renditen erzielt werden können? Doch wohl nicht! Wir erwarten von einem Wirtschaftsminister allerdings, dass er sich vor die deutsche Solarwirtschaft stellt und sie verteidigt. Wenn er das nicht kann, dann soll es die Kanzlerin tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zur SPD. Ich habe eine Äußerung Ihres Vorsitzenden Steinmeier gelesen, die für mich deutlich machte, dass er einen erstaunlich verkürzten Blick auf die Green Economy hat. Er sprach vom Zusammenbasteln von Photovoltaikzellen, die überwiegend aus China kommen. Im Zusammenhang mit der Windkraft sprach er von einem Dynamo auf einem Mast. Abgesehen davon, dass ein Atomkraftwerk auch nur eine große Dampfmaschine mit einer extrem gefährlichen Wärmequelle ist, offenbart dies ein großes Missverständnis. Photovoltaik – das ist eine mittelständische Maschinenbaufabrik, die Anlagen baut, das ist der Hersteller der Solarmodule, der Wechselrichter bis hin zur Handwerksfirma, die die Module aufs Dach baut. Windkraft – das ist der Stahlproduzent, die Baufirma und der Industriekletterer. Wir müssen immer die ganze Wertschöpfungskette in den Blick nehmen. Das ist vernünftige Industriepolitik. Liebe SPD, unter dem damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel hattet ihr das Programm „Ökologische Industriepolitik“. Davon lese ich jetzt nichts mehr. Ich fordere euch auf: Bekennt euch klar zur ökologischen Industriepolitik! (Rainer Brüderle [FDP]: Bekennt euch zu Hartz IV!) Haltet Kurs beim nachhaltigen Umbau der Industriegesellschaft! Nicht wackeln, nicht zaudern, sondern Kurs halten! Das ist unsere Bitte an euch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: Etwas zu Hartz IV bitte!) Wir brauchen eine innovative Wirtschaft. Wir haben mit Freude gelesen, dass die Koalition in ihrem Entschließungsantrag die steuerliche Forschungsförderung noch in dieser Wahlperiode umsetzen will. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Ja! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da sind wir aber mal gespannt!) Dies hören wir im halbjährlichen Rhythmus. Liefern Sie endlich! Wir machen mit. Setzen Sie die steuerliche Forschungsförderung um! Das ist unser Instrument, um Innovationen und Ideen voranzutreiben. Für uns Grüne ist klar: Ökologie muss ins Zentrum der Ökonomie. Die Industrie ist Partner, wenn es darum geht, anderes anders zu produzieren. Aber auch für die Industrie gilt: Es geht nicht um „höher, schneller, weiter“, sondern es geht um „besser, klüger und effizienter“. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Andreae. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Nüßlein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt wird wieder der Oettinger beschimpft, wie gestern! – Gegenruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]: Zuhören!) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Frau Kollegin Andreae, wir hatten vor kurzem Gelegenheit, ein Streitgespräch über das Thema Wirtschaftsentwicklung, Wirtschaftswachstum zu führen und die unterschiedlichen Ansätze darzulegen, das in der Welt abgedruckt wurde. Damals haben Sie versucht, mir glaubhaft zu machen, dass die Grünen sich vom Verzichtsumweltschutz abgewandt hätten und jetzt auch auf dem Pfad der Tugend, auf dem Pfad der Hochtechnologie angekommen seien, dass sie die ökologischen Probleme jetzt auch mithilfe der Technik lösen wollten. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir schon seit 20 Jahren!) Heute bin ich ein bisschen enttäuscht. Ich bin enttäuscht, dass Sie den baden-württembergischen Ministerpräsidenten zitiert haben. Er ist immerhin Ministerpräsident in einem Autoland, hat aber einen unglaublich dummen Satz gesagt: Weniger Autos sind … besser als mehr. Das ist doch genau dieser Verzichtsansatz, von dem ich gesprochen habe. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist ein Zitat von Daimler-Benz!) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie an dieser Stelle einmal würdigen, was sich in der Automobilbranche getan hat, wie der Kraftstoffverbrauch unserer Autos gesenkt wurde, welche Hochtechnologien in diesem Bereich entwickelt wurden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) Das hätte man an dieser Stelle einmal loben müssen. Das wäre sinnvoll und richtig gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Stattdessen haben Sie, wie üblich, einen ökologischen Tunnelblick. Sie teilen die Industrie in eine gute, weil ökologische Industrie, und eine böse, weil angeblich nicht ökologische Industrie. Das bedauere ich sehr. Nun zu dem, was Sie zu der Branche der erneuerbaren Energien gesagt haben. Ja, es ist richtig: Diese Branche wächst, und wir freuen uns darüber. Aber sie treibt unser industrielles Wachstum und unsere Industrie insgesamt nicht voran. Ganz vorne steht die Kraftwagen- und Kraftwagenteilebranche; ganz vorne stehen auch der Maschinenbau und die chemische Industrie. Das muss man der Richtigkeit halber hier einmal anführen. Die Welt ist nicht so klein und nicht so einfach, wie die Grünen sie gerne hätten. Wenn man über Industriepolitik diskutiert, muss man meiner Ansicht erst einmal sagen, was man sich darunter vorstellt. Ich glaube, dass die linke Seite dieses Hauses ein ganz anderes Verständnis davon hat als die rechte Seite. (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Gott sei Dank!) Frau Lötzer, wir wollen keinen Deutschland-Plan, der nicht aufgeht, keine staatliche Intervention, Dirigismus und Subventionen mit daraus resultierenden Fehlallokationen, sondern wir wollen gute und gesunde Rahmenbedingungen wie die, die die Kolleginnen und Kollegen aus unseren Reihen heute vorgestellt und andiskutiert haben. All die Dinge, über die wir heute im Zusammenhang mit der Industriepolitik diskutieren – das wird irgendwann einmal auch Sie einholen –, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Man kann nur liefern, wenn man etwas auf Lager hat!) stehen natürlich unter haushalterischen Restriktionen, und das ist gut so; denn Keynes funktioniert nur zur Hälfte, nämlich wenn es darum geht, in der Not staatlicherseits Geld auszugeben, aber Keynes funktioniert nicht, wenn es um das Sparen in der Zeit geht. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich es für zentral, dass wir die Schuldenbremse ins Grundgesetz eingefügt und auch für die Ausnahmetatbestände die richtigen Formulierungen gefunden haben. Ich bin der Überzeugung, dass dies ein Beispiel für andere europäische Staaten sein muss. Diese Schuldenkrise ist nicht zu lösen, indem man die Probleme mit einem Berg Geld zudeckt. Vielmehr muss man in den Schuldenstaaten zu Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit zurückkehren. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da waren Sie ja sehr erfolgreich!) Ich sage Ihnen ganz offen: Wer, wie etliche von ganz links, den Außenhandelsüberschuss Deutschlands verteufelt, geht das Thema von der falschen Seite an. Es geht doch nicht darum, unsere Wettbewerbsfähigkeit abzusenken, sondern es muss darum gehen, dass die anderen Staaten, die sich in einer schwierigen Situation befinden, ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen. Ich meine, wir sollten stolz darauf sein, dass die Exporte Deutschlands im letzten Jahr den Wert von 1 Billion Euro überschritten haben. Darauf sollte man doch stolz sein! (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [FDP] – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nicht jeder kann Exportweltmeister werden!) Wir haben diese Wettbewerbsfähigkeit wieder erreicht. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Voodoo-Ökonomie!) Das verdanken wir gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber insbesondere einer innovationsorientierten Partnerschaft zwischen Industrie und Mittelstand. Ich sage das ganz bewusst, weil man diese Verzahnung, die wichtig ist, nicht aus den Augen lassen sollte. Wenn man also über Industriepolitik redet, redet man auch über den Mittelstand; denn diese beiden hängen zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben etliches über Energieversorgung und Energiepolitik gehört. Mich haben die Schuldzuweisungen gestört, weil sie zu einfach waren. Wenn man, wie die SPD, immerhin elf Jahre lang mitregiert hat und für sich in Anspruch nimmt, schon sehr viel früher eine Energiewende eingeleitet zu haben, dann kann man sich heute nicht hinstellen und sagen: Wir haben in elf Jahren in der Infrastruktur nichts bewegt. Aber euch halten wir vor, dass ihr das letzte Jahr an der Stelle nichts zuwege gebracht habt. (Rolf Hempelmann [SPD]: Ihr habt es doch blockiert!) Da stimmen doch die zeitlichen Horizonte nicht. Das passt nicht zusammen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie noch einen Satz zu Oettinger! – Rolf Hempelmann [SPD]: Eure Laufzeitverlängerung hat das blockiert!) Die Energiewende und der Emissionshandel dürfen nach meiner festen Überzeugung nicht zu einer Deindustrialisierung in diesem Land führen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Gefahr ist bei dieser Regierung da! Das stimmt!) Das ist die oberste Priorität bei all dem, was wir jetzt tun. Deshalb ist die Austarierung der Kosten, die hier immer wieder gegeißelt wird, eine sehr richtige Maßnahme. Wir haben einen Fokus auf die Industriebranchen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Ich wehre mich dagegen – das wird ja vorgebracht –, dass man die Verlagerungsgefahr in den Vordergrund stellt, nach dem Motto: Die Unternehmen, die in Deutschland sind und nicht wegkönnen, müssen das dulden und erleiden, und auf die anderen Unternehmen, die ein Verlagerungspotenzial haben, müssen wir aufpassen. Das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass wir auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen aufpassen. Ich meine, das sollten wir gemeinsam tun. Ich halte es für relativ unfair und populistisch, wenn dagegen Stellung bezogen wird, dass wir die Eingriffe, die Rot-Grün seinerzeit beispielsweise bei der Härtefallregelung im EEG vorgenommen hat, entsprechend ausbauen. In dem Maße, wie sich die Lasten aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien nach oben entwickelt haben, werden wir das ausbauen müssen und haben das auch schon getan. Richtig ist, dass wir die Energieversorgung in diesem Land komplett neu denken müssen. Die Geschäftsmodelle der Versorger werden sich ändern. Sie werden in Zukunft Ersatzkapazitäten liefern müssen. Sie werden für Verteilung und Ausgleich zuständig. Das ist eine andere Welt, in die wir erst schrittweise eintreten müssen. Dazu braucht man Geld, aber insbesondere auch Zeit. Da bitte ich schon ein bisschen um Gnade für all diejenigen, die das umsetzen müssen – nicht so sehr für die Regierung, sondern für diejenigen, die dem letztlich nachkommen müssen. Aber das klingt mir fast schon ein bisschen zu demütig; denn wenn ich mir anschaue, dass in Ihrer Zeit die Kapazitäten im Bereich der Erneuerbaren auf Teufel komm raus und mit jedem verfügbaren Cent und Euro aufgebaut wurden, dann muss ich sagen, dass das nichts mit Versorgung zu tun hat. Eine Versorgung aufzubauen, ist die eigentliche Herausforderung, auch und insbesondere für unsere Industrie. Ich möchte in diesem Zusammenhang sehr deutlich unterstreichen – Sie haben ja vorhin angemahnt, ich solle etwas zu Oettinger sagen –, dass Deutschland in der Energiepolitik einen Sonderweg geht und dass dieser Sonderweg natürlich Anstrengungen erfordert, die es gleichzeitig nur noch eingeschränkt möglich machen, zusätzliche Auflagen der Europäischen Union zu erfüllen. Wenn ich höre, was auf der europäischen Ebene alles in der Pipeline ist, dann wird mir schon ein bisschen mulmig. So wird zum Beispiel darüber diskutiert, die Energiesteuer für Diesel in Deutschland von 0,47 Euro pro Liter auf rund 0,75 Euro pro Liter anzuheben, weil die Besteuerung zukünftig nicht mehr am Volumen, sondern am Energiegehalt festgemacht werden soll. Das sind Ideen, die wir aus unserer Sicht in Deutschland nicht mittragen können; das können wir so nicht verantworten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich unterstreiche ferner, dass der Emissionshandel, wenn er denn jetzt funktioniert, nicht sofort wieder infrage gestellt werden darf, weil es zu wenige Einnahmen gibt. Weil im Energie- und Klimafonds die Gelder knapp werden, wird sofort darüber diskutiert, ob wir nicht an der Schraube drehen und die CO2-Zertifikate teurer machen sollten. Ich halte das für den falschen Weg. Wir als Staat müssen lernen, mit dem Geld, das vorhanden ist, umzugehen. Die Europäische Kommission, aber auch die Bundesregierung befassen sich mit dem Thema REACH. Ich bin in großer Sorge, was die bürokratische Umsetzung dieser Thematik angeht. Ich appelliere an die zuständigen Behörden, mit Fingerspitzengefühl an das Thema heranzugehen. Die Chemiebranche – das habe ich einleitend gesagt – ist eine wichtige Branche in Deutschland. Deshalb brauchen wir Fingerspitzengefühl bei der Umsetzung der Verordnung und einen Review auf der europäischen Ebene, also einen sinnvollen und gezielten Umgang mit den Erfahrungen, die man an der Stelle macht, sodass wir zu Verbesserungen kommen, die industriepolitisch vertretbar sind. Ich möchte abschließend unterstreichen, dass wir nicht gewillt sind, jedem Drängen aus der Industrie nachzugeben. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) Ich meine diesen permanenten Ruf nach mehr Zuwanderung. Da sind Sie, Herr Kollege Trittin, sehr viel offener als wir. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ach so! Bleibt bloß draußen, ihr Schlauköpfe der Welt!) Wir sagen: Wir müssen erst einmal die Arbeitskräfte, die wir im Lande haben, entsprechend einsetzen. Bei den Frauen und bei den Älteren gibt es viel Potenzial. Auch bei den Migranten, die schon hier sind, gibt es eine Menge Potenzial, das man erst einmal ausschöpfen muss, bevor man schon wieder nach billigen zusätzlichen Kräften aus dem Ausland ruft. Das halte ich für dringend geboten. Ich rate in dieser Frage zu Klugheit und zu Zurückhaltung. Wir sollten aber ein bisschen weniger zurückhaltend sein, wenn es darum geht, stolz auf unsere Erfolge zu sein. Wir sollten weniger zurückhaltend sein, wenn es darum geht, stolz auf das Gütesiegel „Made in Germany“ zu sein, das unsere Industrie in die Welt hinausträgt. Während wir zurückhaltend mit unserem Stolz sind, sind andere ambitioniert, wenn es darum geht, „Made in Germany“-Produkte zu bekommen. Das finde ich bedauerlich. Ich würde mich freuen, wenn wir im Fortgang der Debatte noch einiges dazu hören. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. – Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Bulmahn. (Beifall bei der SPD) Edelgard Bulmahn (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Nüßlein, ich bin stolz auf das, was hier erreicht worden ist, auf das, was wir geschafft haben. Ich bin auch zutiefst davon überzeugt, dass wir keine der großen Herausforderungen, vor denen wir weltweit stehen – die Versorgung einer rasant zunehmenden Weltbevölkerung, die Verknappung lebenswichtiger Ressourcen, die wir überall erleben, der zunehmende weltweite Wettbewerb und die Überwindung der Armut –, ohne eine starke Industrie bewältigen können. (Beifall bei der SPD) Deshalb ist das, was hier gesagt worden ist, richtig: Deutschland ist ein Industrieland. Deutschland braucht auch in Zukunft eine starke Industrie als Basis einer wissensintensiven und wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Das hat sich im Übrigen gerade in der jüngsten Vergangenheit wieder gezeigt. Deutschland hat die Finanzkrise im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich besser überstanden, weil wir über eine breite industrielle Wertschöpfungskette von der Grundstoffindustrie bis zur hochkomplexen Hightechindustrie verfügen. Wenn man sich anschaut, dass fast jeder dritte Arbeitsplatz in Deutschland an der Entwicklung industrieller Wertschöpfung hängt, ist, glaube ich, jedem klar, wie wichtig die Industrie für uns ist. Allein das ist Grund genug, sich der Aufgabe zu stellen, den Industriestandort Deutschland durch eine integrierte Industriepolitik zu stärken. Diese Aufgabe ist umso wichtiger, als unsere Industrie in vielen Bereichen vor der Herausforderung steht, wie man mit deutlich weniger Energie und Ressourcen einen auskömmlichen Wohlstand für möglichst viele Menschen sicherstellen und dies mit einer umfangreichen Teilhabe und einem Mehr an Lebensqualität verknüpfen kann. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nachhaltig. Das ist mehr als „grün“. Es geht also um nachhaltiges Wirtschaften. Das muss unsere Zielsetzung sein. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) In der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ diskutieren wir zurzeit darüber, wie eine Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch erreicht werden kann, und zwar nicht nur bei einzelnen Verfahren und Produkten. Ernst Ulrich von Weizsäcker sagt: Eine Verfünffachung der Ressourcenproduktivität ist möglich. – Möglich wird dies nur durch grundlegende Innovationen; denn sie sind die Eintrittskarte in die Märkte von morgen. Die Frage ist: Kann das gelingen? Ich bin davon überzeugt: Es kann gelingen. Ich will einige Beispiel nennen. In Deutschland konnte die Chemiebranche ihre Produktion in der Zeit von 1990 bis 2009 um 42 Prozent steigern. Gleichzeitig reduzierte sie ihren Energieeinsatz um 33 Prozent und die Treibhausgasemissionen um 48 Prozent. Ein anderes Beispiel sind LEDs, die nicht nur viel weniger Energie als herkömmliche Leuchtquellen verbrauchen, sondern auch erheblich umweltfreundlicher als Energiesparlampen sind. Ein drittes Beispiel: die regenerativen Energien. Wer von Ihnen hätte vor 15 Jahren gedacht, dass wir heute 17 Prozent unseres Stromverbrauchs mit regenerativen Energien decken können? Das ist doch ein Erfolg. Das zeigt, was man mit einer konsequenten Innovationspolitik, wie wir sie betrieben haben, tatsächlich erreichen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die deutsche Industrie – das unterscheidet sie von der Industrie anderer Länder – bietet aufgrund ihrer Branchenstruktur hervorragende Ansätze für eine Effizienzrevolution, sowohl bei der Energie als auch beim Rohstoffverbrauch. Sei es die Chemiebranche, der Maschinenbau, der Anlagenbau, die Bauindustrie, die Automobilindustrie oder sogar die Gesundheitswirtschaft, all diese Industrien verfügen über hervorragende Chancen. Die Verfügbarkeit von Rohstoffen würde im Übrigen immens gesteigert werden, würden wir tatsächlich überall Rohstoffkreisläufe etablieren. Bei der Wiederverwertung von Kupfer, Aluminium und Roheisen haben wir in den vergangenen 10, 12 Jahren erhebliche Fortschritte erzielt; das ist keine Frage, und das wissen Sie alle. Wenn ich mir aber vor Augen halte, dass wir zum Beispiel bei den seltenen Metallen eine Recyclingquote von unter 1 Prozent haben, dann muss ich feststellen: Hier haben wir noch eine Menge zu tun, und hier haben wir noch viele Möglichkeiten. Dieses Problem wird nicht durch eine politische Willenserklärung gelöst. Vielmehr müssen wir insgesamt – von der Forschung und Entwicklung über die Anwendung bis hin zur Organisation von Kreisläufen – zu einem besseren Ergebnis kommen. Der Nutzen liegt auf der Hand: Verringerung der Umweltschäden, Verringerung der Importabhängigkeit, Verringerung des Energiebedarfs, Senkung der Treibhausgasemissionen, Schonung der natürlichen Ressourcen. Das wäre der Nutzen, wenn es uns gelingt, überall Rohstoffkreisläufe zu etablieren. Ganz ausdrücklich sage ich Ihnen, liebe Kollegen: Natürlich brauchen wir auch Rohstoffpartnerschaften; das ist für mich keine Frage, ich halte sie für wichtig. Man muss aber überlegen, mit wem man sie abschließt. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wie wäre es denn mit Österreich und den Niederlanden?) Im Kern geht es eigentlich um mehr. Gerade die deutsche Industrie kann auch mehr. Bei der Entwicklung von Rohstoffkreisläufen an der Spitze zu sein, bedeutet, gegenüber anderen einen immensen wirtschaftlichen Vorteil zu haben. (Beifall bei der SPD) Die Fragen, die ich mir stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, lauten: Wo ist der Masterplan der Bundesregierung zur Verfünffachung der Ressourceneffizienz? Wo sind Ihre konkreten Vorschläge? Erfolgreich ist Innovationspolitik nicht dann, wenn man nur ein für alle sichtbares Großprojekt auf den Weg bringt. Sie ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, den technischen Fortschritt in Bereichen, die querschnittartig wirken, zu stimulieren und Forschung und Unternehmen eng miteinander zu vernetzen. (Beifall bei der SPD) Wer weiß denn schon, wie wichtig zum Beispiel Mikrotechnologie, Mikroelektronik und Optoelektronik in allen möglichen Bereichen für die Ressourceneffizienz sind? Hier müssen wir weitermachen. Wer sich den VDI-Bericht angeschaut hat, weiß, dass wir hier inzwischen Probleme haben. Es gibt Lücken. „Schlüsseltechnologien“ ist das entscheidende Wort. Ich bin davon überzeugt, dass die deutsche Industrie sehr stark ist, keine Frage. Wir müssen aber dafür Sorge tragen, dass sie auch in den neuen Technologiefeldern zu den Marktführern gehört. Kurz gesagt: Innovationspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Sie reicht von der direkten Forschungsförderung über die Gestaltung innovationsfreundlicher Rahmenbedingungen im gesamten Bereich der Gesetzgebung, der Normierung und der Standardsetzung bis zur gezielten Nutzung des Beschaffungspotenzials der öffentlichen Hand. Nicht zuletzt spielen kulturelle Faktoren eine Rolle. Herr Pfeiffer, da frage ich mich natürlich: Warum lamentieren Sie hier nur darüber? Das hilft doch keinem. Lamentieren hilft nie; man muss etwas tun. (Beifall bei der SPD) Ich frage mich: Wo sind Ihre Forschungsprogramme? Wo sind Ihre Initiativen, um Technologieoffenheit zu stützen? Ich habe damals die Wissenschaftsjahre ins Leben gerufen. Ich finde, das war und ist eine gute Initiative, um die Technologieoffenheit zu stützen. (Beifall bei der SPD) Wo ist Ihr Masterplan zur Erreichung der Klimaschutzziele? Wo sind die Meilensteine, Zwischenziele und Wege beschrieben? Wo ist die Offensive zur Bewältigung des Fachkräftemangels und zur Überwindung der Spaltung des Arbeitsmarktes? (Beifall bei der SPD) Wir wissen doch: Die Unternehmen leben von dem Können und dem Engagement ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deshalb sind gut qualifizierte und auch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit der Industrie und dafür, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) Die Zahl der Studierenden ist in der letzten Dekade gestiegen. Das ist gut; hier haben wir in den letzten 12, 13 Jahren viel erreicht. Aber viel zu viele Jugendliche bleiben noch immer chancenlos, weil sie keine oder eine zu schlechte Ausbildung haben. Man darf hier nicht einfach nur zuschauen. Wir wollen eine Ausbildungsplatzgarantie. Was wollen Sie? Wie wollen Sie das Problem lösen? Und: Was tun Sie eigentlich dafür, dass ältere Arbeitnehmer bis zum 65. oder 67. Lebensjahr beschäftigungsfähig bleiben? (Thomas Oppermann [SPD]: Gar nichts machen die!) Ich muss leider feststellen: Die Fort- und Weiterbildung sind die vernachlässigten Kinder dieser Bundesregierung. Aber ohne sie geht es nicht. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin, Sie haben bitte die Zeit im Auge. Edelgard Bulmahn (SPD): Kurz gesagt: Wo sind Ihre Leitideen? Wo sind Ihre Vorschläge, damit die Industrie so gestärkt wird, dass sie die Herausforderungen bestehen kann? Niedrige Preise sind jedenfalls nicht die Lösung; das wissen wir. Eine moderne Industriepolitik unterstützt den Wandel zu einer nachhaltigen Wirtschaft und bereitet damit die Stärken von morgen vor. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Bulmahn. – Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Christian Lindner. Bitte schön, Kollege Christian Lindner. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Lindner (FDP): Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Zum Ende dieser Debatte (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, noch nicht!) will ich drei Bemerkungen machen. Bei meiner ersten Bemerkung geht es um die Gemeinsamkeiten, die ich heute hier bei den Vorrednern aller Fraktionen festgestellt habe. Wir sind uns einig über die Bedeutung von Innovation, Forschung und Technologie für den Industriestandort Deutschland. Diese Koalition investiert ja bis 201312 Milliarden Euro mehr in den Bereich Bildung und Forschung. Wir müssen aber nicht nur über die Höhe, die Quantität von Forschungsgeldern sprechen, (Edelgard Bulmahn [SPD]: Genau! Das ist der Punkt!) sondern auch über die Qualität und die Methoden, wie das Geld eingesetzt wird, um zu Innovationen zu kommen. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Genau!) Ich habe festgestellt, dass es quer durch alle Fraktionen Offenheit für eine steuerliche Forschungsförderung gibt, und das aus gutem Grund. Die Antrags- und Auftragsforschung, die wir fördern, ist teilweise bürokratisch und deshalb für mittelständische Unternehmen nicht durchführbar. (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Zum Teil gibt es auch gewisse Schablonen für Inhalte. Im Bereich der Technologie ist in Deutschland in den 70er-Jahren viel zu viel für die Kernenergie aufgewendet worden und zu wenig für die Datenverarbeitung. In den 80er- und 90er-Jahren gab es dann den Wechsel hin zur Datenverarbeitung. Dabei ging es aber fast nur um Hardware und viel zu wenig um Software. Unternehmen vor Ort, die aus der Praxis kommen und einen Anwendungsbezug haben, könnten dies besser lösen. Lassen Sie uns deshalb in dieser Legislaturperiode vielleicht auch gemeinsam die Initiative für eine steuerliche Forschungsförderung ergreifen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) – Hubertus Heil, wenn Sie hier applaudieren, dann müssen Sie das im Bundesrat aber auch passieren lassen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist wie bei der Gebäudesanierung! – Garrelt Duin [SPD]: Ach, daran scheitert es? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Macht doch erst einmal einen Gesetzentwurf! Schäuble hat das doch abgelehnt!) – Herr Heil, wir sind uns doch in der Sache einig. Lassen Sie uns hier jetzt nicht darüber streiten, sondern an einer konkreten Initiative arbeiten. In meiner zweiten Bemerkung geht es um Trennendes. Es gibt ja immer Punkte, bei denen man einer Meinung ist, und andere, bei denen es unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich habe gerade einen genannt, bei dem wir einer Meinung sind, aber es gibt eben auch Trennendes. Spannend war für mich, dass die größte Trennungslinie in der heutigen Debatte nicht zwischen CDU/CSU und FDP einerseits und SPD andererseits verlief; den größten Konflikt gab es vielmehr zwischen SPD und Grünen, zwischen Ihnen beiden. (Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, zwischen Röttgen und Rösler ist die größte Trennung!) Es war doch bemerkenswert, wie Sie hier argumentiert haben. Ihr Antrag enthält viel Kluges zum Thema Standortpolitik und zum Thema Infrastruktur. Die Tonalität, in der Sie das dargestellt haben, finde ich respektabel. Da sieht man, dass es unter Ihnen offenbar noch einige im Deutschen Bundestag gibt, die vorher nicht Lehrer waren, sondern in der IG Metall organisiert waren. Sie kennen noch die betriebliche Praxis. Aber wie sieht das zum Beispiel bei der Regierungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen aus? In Datteln steht das modernste, klimaverträglichste Kohlekraftwerk, dessen Zulassung wegen der Grünen blockiert wird. Oder nehmen Sie die CO-Pipeline von Bayer, die für den Standortausbau dringend benötigt wird. Wir als Fraktion haben uns das von der Currenta als Betreibergesellschaft unlängst erklären lassen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch mal über Niedersachsen! Schleswig-Holstein!) Peer Steinbrück hat vor der Landtagswahl energisch für den Bau der CO-Pipeline geworben. Jetzt schweigt er und mit ihm der ganze SPD-Teil der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Manch einer von Ihnen in Nordrhein-Westfalen denkt doch längst wieder wie Johannes Rau – seien Sie doch ehrlich –: Lieber ein Haus im Grünen als einen Grünen im Haus. (Heiterkeit bei der FDP) Sie sind sich nämlich nicht klar darüber, welche politischen Prioritäten Sie mit Ihrem sozialökologischen Projekt miteinander auf den Weg bringen wollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine dritte Bemerkung bezieht sich auf Trennendes zwischen der Koalition und der versammelten Opposition. Das betrifft die Rolle der Finanzmärkte. Selbstverständlich hat es da Exzesse gegeben. Selbstverständlich muss hier reguliert werden. Aber wir müssen doch anerkennen, dass wir leistungsfähige Finanzmärkte brauchen. (Zuruf von der LINKEN: Nein!) Auch in Ihrem Papier wird doch über Risikokapital geschrieben und die Gründer, die wir brauchen. Was ist denn Risikokapital anderes als eine Spekulation auf eine Idee? Dafür brauchen wir die Mentalität, leistungsfähige Kapitalmärkte in Deutschland zu ermöglichen, wenn sie geordnet sind. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auf Ideen schon, aber nicht als Zockerei!) – Entschuldigung, Herr Heil. Bei Ihnen ist das doch anders. Welche Vorschläge machen Sie in der Praxis? Ich kenne fast keine Vorschläge, die tatsächlich umsetzbar wären. Wenn ich darüber hinaus höre, dass Sigmar Gabriel sagt, man wolle Wahlkampf gegen die Finanzmärkte machen – Wahlkampf gegen die Finanzmärkte! –, dann ist das wie der Perserkönig Xerxes, der die Meere auspeitschen lassen wollte. Wir müssen keinen Wahlkampf gegen die Finanzmärkte machen, sondern wir müssen die Finanzmärkte regulieren. Finanzmärkte sind kein Gegner, sondern eine Aufgabe. Deshalb geht es jetzt darum, zu handeln und zu gestalten statt zu lamentieren. Das ist der Auftrag, den wir annehmen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Regulieren Sie erst einmal die Finanzmärkte! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Wo sind Ihre Vorschläge zur Regulierung?) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Christian Lindner. – Jetzt für die Fraktion Die Linke unser Kollege Roland Claus. Bitte schön, Kollege Roland Claus. (Beifall bei der LINKEN) Roland Claus (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion schlägt vor, eine bessere Industriepolitik auf den Weg zu bringen. Das ist gut und richtig. Sie besinnt sich dabei auf sozialdemokratische Tugend und Traditionen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danke!) Um nicht in Verdacht zu geraten, kombiniert sie das mit dem Begriff „moderne Industriepolitik“. Die Abteilung „Überschriften“ bei den Sozialdemokraten hat schon immer gut geliefert. Die SPD entlarvt die industriepolitischen Fehler der Bundesregierung. Auch da hat sie recht und alle Hände voll zu tun; (Edelgard Bulmahn [SPD]: Stimmt!) denn von diesem Ministerium wird nicht geliefert. Man hat eher den Eindruck, dass Bundesminister Rösler seit Amtsantritt in einem permanenten Lieferstreik steht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Stimmt! Er hat ja nichts auf Lager!) Im Antrag klagt die SPD über die fehlende Regulierung der Finanzmärkte. Die SPD muss sich hier natürlich fragen lassen: Wer hat Schattenbanken und Heuschrecken überhaupt erst zugelassen? Mehr noch: Warum erscheint die berechtigte Kritik an den Finanzmärkten nicht auch im Forderungsteil, mit konkreten Vorschlägen unterlegt? (Beifall bei der LINKEN) Wir sagen Ihnen dazu: Eine vernünftige Industriepolitik wird überhaupt erst wieder möglich sein, wenn die Übermacht der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft überwunden ist. (Beifall bei der LINKEN) Wir erleben das gerade mit dem Rückzug von Hedgefonds aus der Solarbranche und anderem mehr. Die SPD will gute Arbeit, muss sich aber fragen lassen: Wer hat schlechte Arbeit, also Niedriglohn und Zeitarbeit, massiv eingeführt? Ich weiß, dass ihr die Agenda 2010 jetzt nicht mehr in den Mund nehmen dürft, aber auch das gehört zur Geschichte. Ein wenig mehr Erinnerungskultur – von Demut will ich gar nicht reden – hätte dem Antrag gutgetan. Aber nun zur Hauptschwäche des Antrags aus meiner Sicht: Er enthält kein einziges Wort zum Osten und zu der weiterhin anzutreffenden wirtschaftspolitischen und industriepolitischen Zweiteilung der Republik. Es ist nämlich ebenso schick wie falsch, zu behaupten, dass die OstWest-Spaltung in Sachen Wirtschaftspolitik von gestern sei. Das zeigen schon die Größenordnungen. Die 100 größten ostdeutschen Unternehmen zusammengerechnet erreichen nicht einmal die Hälfte der Leistungskraft von Daimler. Wir haben es also mit einer Spaltung zu tun. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Da wäre Erinnerungskultur auch gut!) Wir haben im Osten eine doppelt so hohe Quote an Niedriglohn- und Leiharbeit wie im Westen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Zu DDR-Zeiten!) Inzwischen haben die Unternehmen die Fehler erkannt, aber sie kommen aus den Verträgen nicht heraus und sind durch ihre eigenen Zukunftserwartungen gewissermaßen geknebelt. Der Anteil an Forschung und Entwicklung ist im Osten verschwindend gering. Aber es gibt auch sehr viele positive Erfahrungen, die viel zu wenig genutzt werden. Ich denke an die Einführung der erneuerbaren Energien. Auch bieten die Konzepte der Chemieparks im Osten deutliche Vorteile gegenüber den traditionellen Standorten. Ein anderes Beispiel sind die Netzwerke der Ernährungswirtschaft, die in Kooperation mit einer modernen Landwirtschaft entstanden sind. Es gibt auch, so behaupte ich, einen Erfahrungsvorsprung im Osten beim sozialökologischen Umbau und bei der Entwicklung einer neuen Unternehmenskultur. Ich will Ihnen abschließend sagen, meine Damen und Herren – Sie sind schließlich immer scharf auf unser Programm –: Die Linke steht für eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die Mittelstand und Existenzgründern Chancen eröffnet, statt sie zu verbauen, und Arbeit schafft, von der die Beschäftigten sorgenfrei leben können. Die Linke will eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Das geht zusammen. Das gehört nicht länger gegeneinander definiert. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Claus. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Andreas Lämmel. Bitte schön, Kollege Andreas Lämmel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Wir verhandeln heute zwei Anträge zur Industriepolitik: den etwas dünnen Antrag der SPD-Fraktion (Lachen bei der SPD) und den wesentlich besser durchdachten Antrag der Koalition. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sind Sie Lehrer oder Parlamentarier?) Es zeigen sich auch gewisse Unterschiede im Verständnis des Begriffs Industriepolitik. Industriepolitik ist für die linke Seite des Hauses eher ein Instrument, mit dem der Staat die Wirtschaft reguliert und mit ständig neuen Eingriffen versucht, staatliche Ziele umzusetzen. (Edelgard Bulmahn [SPD]: So ein Quatsch, Herr Lämmel! Jetzt greifen Sie doch nicht wieder in die Mottenkiste! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Popanz! – Ingo Egloff [SPD]: Das Gegenteil zu Ihrer These!) Was die Linke angeht, Herr Claus, die Sie als Unterstützer des Mittelstandes bezeichnet haben, haben wir schon in der letzten Debatte klargestellt, welche Unterstützung Sie dem Mittelstand 40 Jahre in Ostdeutschland gegeben haben. (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Fällt Ihnen nach 20 Jahren nicht mal was Neues ein? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So viel zum Thema Erinnerungskultur!) Die Ursachen, die Sie heute beklagen, und die Zahlen, die Sie genannt haben, sind nicht falsch; aber man muss auch immer nach Ursache und Wirkung fragen. Die Ursache liegt darin, dass Sie mit Ihrer „erfolgreichen“ Mittelstandspolitik in Ostdeutschland, nämlich mit Enteignung und Vertreibung, die Wirkung erzielt haben, mit der wir noch heute zu tun haben: ein geteiltes Deutschland im Bereich der Wirtschaftskraft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: So ein Schwachsinn!) Wir verstehen die Industriepolitik im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft, das heißt nach den Prinzipien von Ludwig Erhard. Wir sind froh, dass wir jetzt auch in Ostdeutschland diese Prinzipien durchsetzen können. Denn es hat sich deutlich gezeigt, dass in den letzten 20 Jahren Wirtschaftsaufbau in Ostdeutschland die großen Erfolge im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft erzielt worden sind. Herr Claus, keines Ihrer alten kommunistischen und sozialistischen Freundesländer hat einen solchen wirtschaftlichen Aufschwung erleben können wie der östliche Teil Deutschlands. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Die Anträge enthalten aber auch Punkte, die durchaus gleich sind. Dabei geht es um die Qualifikation, also die Aneignung von Fähigkeiten, von Fachkräften. Dieses Thema bewegt sicherlich alle in Gesamtdeutschland. In Ostdeutschland ist die Situation aber aus verschiedenen Gründen dramatischer. Das heißt, dass wir noch stärker um qualifizierte Facharbeiter kämpfen müssen. Wir haben heute schon einiges zum Thema Technologiepolitik gehört. Frau Bulmahn, Sie sind intensiv auf dieses Thema eingegangen. Ich denke aber, im Bereich der Technologiepolitik fehlen noch einige Gesichtspunkte, die sich im Untergrund abspielen und die man hier zumindest benennen müsste. (Edelgard Bulmahn [SPD]: In zehn Minuten hätte ich das gemacht!) Die Technologie- und Forschungspolitik muss von der Forschung bis hin zur Produktion betrachtet werden. Das viele Geld, das in vielen Jahren eingesetzt wurde, stellt keinen Wert an sich dar. Das ist zunächst einmal Geld, um damit Forschung betreiben zu können. Die Frage ist aber, was am Ende an Wertschöpfung herauskommt, wie unser Altkanzler Helmut Kohl sagte. Hier gibt es einige Entwicklungen, die uns durchaus bedenklich stimmen sollten und aufgrund derer man eigentlich sofort beginnen muss, zu überlegen, wie man gegensteuern kann. Ich möchte dies kurz am Thema Schlüsseltechnologien darstellen; denn nicht nur einige Banken in Deutschland sind systemrelevant, die Schlüsseltechnologien sind ein ebenso systemrelevantes Thema. Vor allen Dingen werden die Schlüsseltechnologien die Grundlagen für die wirtschaftlichen Erfolge in der Zukunft legen. Dazu hat es eine interessante Untersuchung gegeben. Die EU-Kommission hat eine sogenannte High Level Group eingesetzt, in der Vertreter der Wirtschaft, der Forschung und der Verwaltung zusammensaßen. Dort hat man sich Gedanken darüber gemacht, welche Schlüsseltechnologien es sind, die Europa braucht, um die wirtschaftliche Zukunft gestalten zu können. Daraus entstand der Begriff „Key Enabling Technologies“, die sogenannten KETs. Zu diesen KETs mit systemischer Relevanz, wie man so schön sagt, gehören die Nanotechnologie, die Mikro- und Nanoelektronik, die Biotechnologie, die Photonik, die Materialforschung und fortgeschrittene Fertigungstechnologien und Fertigungssysteme. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist richtig!) Die Analyse zeigt aber auch bedeutende Schwächen in Europa auf. Auf der einen Seite wird enorm viel Geld in die Forschung gesteckt. Das machen wir auch. Die Koalition hat die Forschungsmittel deutlich aufgestockt. Die Forschungsgesellschaften sind sehr gut ausgestattet; das ist keine Frage. Die Situation der Forschung in Deutschland hat sich nach dem Regierungswechsel 2005 enorm verbessert. Auf der anderen Seite entstehen aus der Exzellenzforschung aber zu wenig Produkte für den Markt. Vor allen Dingen entstehen daraus zu wenig Produkte, die letztlich auch in Europa oder in Deutschland hergestellt werden. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt auch!) Man kann es auch so formulieren: Aus dem großen Wissen darüber, was produziert wird, entsteht eine zu geringe Wertschöpfung. Ich glaube, das ist das Hauptproblem für die Zukunft unseres Standortes Deutschland. In diesem Zusammenhang gibt es den berühmten Begriff „Valley of Death“, Tal des Todes. Das heißt, man schreitet, von der Forschung kommend, durch das trockene Tal und verliert dabei die guten Ideen, aus denen Produkte werden könnten. Frau Bulmahn, Sie haben vorhin in einem anderen Zusammenhang auf die LEDs verwiesen. Da ging es um die Energieeffizienz. Die LEDs wurden in Deutschland von Osram, Zeiss und Fraunhofer-Instituten erfunden und sind ein hervorragendes Beispiel. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Sicher!) Ihre Wertschöpfung ist hier gleich null. Die Wertschöpfung geschieht zu 100 Prozent in Asien. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Nein, das stimmt nicht! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Waren Sie schon mal in Jena?) – Das sind Kleinstkapazitäten. Die richtige Wertschöpfung findet in Asien statt. Fast alle LEDs der Welt werden in Asien produziert. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Deshalb müssen die Rahmenbedingungen stimmen!) Sie alle werden wahrscheinlich einen MP3-Player in Ihrer Tasche haben. Dieser ist eine deutsche Erfindung des Fraunhofer-Instituts. Der Anteil der Produktion in Deutschland? – Null. Ich glaube, das ist ein ganz großes Problem. Anhand der Mikroelektronik möchte ich Ihnen deutlich machen, was sich in den letzten Jahren ereignet hat. Im Zusammenhang mit der Mikroelektronik denkt man nur an einzelne kleine Chips, die überall eingebaut sind. Die Mikroelektronik ist aber eine Querschnittsbranche. Kein modernes Auto könnte ohne Mikroelektronik fahren. Der deutsche Maschinenbau kann ohne die Mikroelektronik nicht existieren. Auch die Medizintechnik, die Windkraftanlagen und Smart Grids basieren auf Mikroelektronik. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Absolut richtig! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Und was wollen Sie uns damit sagen?) In diesem Bereich droht ein Kompetenzverlust. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann tun Sie doch was! – Edelgard Bulmahn [SPD]: Dann tun Sie doch was dagegen! Da waren wir mal sehr gut!) In Deutschland arbeiten 800 000 Menschen in diesem Bereich. Ich will noch eine Zahl nennen, die vielleicht zum Denken anregt und die die Bedeutung klarmacht: 50 Prozent der Wertschöpfung der deutschen Exportwirtschaft beruhen auf der Mikroelektronik. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Was hat sich in den letzten 20 Jahren ergeben? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und was tun Sie jetzt, Herr Lämmel?) 1990 wurden 40 Prozent des Umsatzes der Mikroelektronik in Japan gemacht, 30 Prozent in den USA, 20 Prozent in Europa und 10 Prozent im asiatisch-pazifischen Raum. Zehn Jahre später, im Jahr 2000, hatten Europa und Japan noch jeweils 20 Prozent, die USA noch 30 Prozent; Asien hatte aber schon 30 Prozent des Marktes errungen, davon China 5 Prozentpunkte. 2010 entfielen auf Japan und die USA jeweils 15 Prozent des Weltmarktes, Europa hatte noch einen Anteil von 12 Prozent, und über 50 Prozent der gesamten Wertschöpfung im Bereich der Mikroelektronik fanden in Asien und im pazifischen Raum statt, davon die Hälfte in China. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was tun Sie jetzt?) – Genau, jetzt kommt die ganz große Frage: Was tun wir jetzt? Das Papier der High Level Group liegt jetzt in Brüssel. Man muss natürlich darüber nachdenken, wie man diese Schlüsseltechnologien in Europa hält. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Was tun Sie jetzt? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer regiert denn hier?) – Immer mit der Ruhe! Regen Sie sich ab, Frau Bulmahn! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich finde das aufregend!) Sie hatten viele Jahre Zeit, das alles anzuschieben; aber es musste erst unter unserer Regierung in Gang gebracht werden; das müssen wir doch einmal sehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Also, wir müssen diesen Bericht auswerten. Das ist bei anderen Technologien nicht anders. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Das wird aber langsam Zeit! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann machen Sie eine Arbeitsgruppe!) Bei moderner Industriepolitik darf man nicht bloß an der Oberfläche bleiben, Herr Heil, wie Sie das in der ersten Reihe gemacht haben, sondern man muss etwas tiefer in die Probleme einsteigen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In die Probleme einsteigen, das können Sie gut!) um daraus dann die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Ein großer Schluss, den wir als Koalition daraus gezogen haben, war, dass wir die Mittel für Forschung und Technologie im industrienahen Bereich deutlich erhöht haben. Ich will noch auf eines hinweisen, Herr Heil, was mir in Ihrem Antrag aufgefallen ist. Darin steht der schlaue Satz: Wir müssen wieder mehr gesellschaftliche Akzeptanz für Infrastruktur erzeugen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP], an die SPD gewandt: Ja, ja! Und dann duckt ihr euch weg!) Das ist ein bisschen lachhaft. Bei allen großen Infrastrukturprojekten der letzten Jahre in Ostdeutschland (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Gegen alles!) standen die Grünen, die SPD und die Linke vereint auf der Straße (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, die SPD nicht! Quatsch mit Soße! – Edelgard Bulmahn [SPD]: So ein Quatsch!) und haben gegen jedes Infrastrukturprojekt gekämpft. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nehmen Sie das zurück!) Solche Halbwahrheiten, die Sie verbreiten, führen dazu, dass die Politik keine Akzeptanz findet. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Platzeck stellt sich hin und ist mutig! Da können Sie doch nicht behaupten, dass wir uns dagegenstellen, beim Flughafen zum Beispiel!) – Ja, toll, das ist aber auch das Einzige, wo er sich hinstellt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein!) Ich habe Ihnen ja gesagt: Bei allen Projekten, die ich kenne, stehen Sie vereint auf der Straße. (Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Andreas Lämmel, gestatten Sie – – Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Ich habe nur noch wenige Sekunden Redezeit. Deswegen nur noch einen Nachsatz. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das geht nicht auf die Redezeit, Herr Lämmel!) Das Zweite, was mir aufgefallen ist, Herr Heil: Bei der Aufzählung der Technologien im Bereich der Gentechnologie haben Sie die Grüne Gentechnologie weggelassen. Warum? Weil durch Ihre frühere Politik die Grüne Gentechnologie Deutschland mittlerweile verlassen hat! Wenn wir das so weiterbetreiben, dann ruinieren wir die Grundlagen, die wir brauchen, um auch in den nächsten Jahren erfolgreiche Industriepolitik machen zu können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Andreas Lämmel. – Letzter Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte schön, Kollege Garrelt Duin. (Beifall bei der SPD) Garrelt Duin (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich gestern, als ich zu einer Veranstaltung eingeladen war, gefragt, warum ich dort eigentlich eingeladen war. (Lachen des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ CSU]) Das war eine Veranstaltung des Wirtschaftsrats Deutschland. Nun wissen wir alle, dass der Wirtschaftsrat Deutschland keine sozialdemokratische Vorfeldorganisation ist, sondern, lieber Herr Pfeiffer, lieber Herr Nüßlein, lieber Herr Lämmel, die Sie hier heute für die CDU/CSU geredet haben, bei Ihnen zu verorten ist. Es war in der Abteilung „Wachstum und Innovation“ – so heißt die – wohl das erste Mal, dass jemand aus einer anderen Partei vortragen durfte, und zwar zu dem Thema, das wir hier heute Morgen besprechen: Industriepolitik ist Wachstumspolitik. Was können wir für den Standort Deutschland tun? – Nach Ihren Redebeiträgen, Herr Pfeiffer, Herr Nüßlein, Herr Lämmel, ist mir klar, warum die auf uns zurückgreifen: Weil das, was Sie hier heute geboten haben, zeigt, dass Ihnen schlichtweg der Geist und die Kompetenz für dieses zentrale wirtschaftspolitische Feld fehlen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) Das hat die Debatte heute Morgen deutlich gemacht. Herr Dr. Lindner – damit wir wissen, wer von den beiden Lindners von der FDP gemeint ist – hat auf einen Artikel im Handelsblatt aus dieser Woche Bezug genommen; (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hat er gut gemacht!) ich komme zum Schluss noch einmal darauf. Aber wenn Sie dieses Blatt nicht nur am Dienstag, sondern auch am Montag gelesen hätten, (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ich lese es jeden Tag!) dann hätten Sie festgestellt, dass führende Wirtschaftsleute in Deutschland zu einem Ergebnis gekommen sind, nämlich dass wirtschaftspolitische Kompetenz innerhalb der FDP nicht mehr vorhanden ist und dass die FDP bei diesem Thema nicht gebraucht wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) Das war das Ergebnis der Befragung deutscher Führungskräfte. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da kannten die unseren Antrag noch nicht!) – Zu Ihrem Antrag komme ich noch. In dieser Debatte ist deutlich geworden, dass einige doch wieder den Konflikt zwischen alter und neuer Industrie schüren wollen. Es wird zwar zunächst gesagt, dass man das nicht tun dürfe, aber am Ende geschieht es dann doch. Die gestrige Debatte über Energiepolitik spiegelt sich heute wider: Die eine Seite will tatenlos zusehen, wie Unternehmen der energieintensiven Industrie dieses Land verlassen, und die andere Seite möchte das Kind mit dem Bade ausschütten und das EEG kaputtmachen. Beides ist der falsche Weg. Stattdessen müssen wir dafür sorgen, dass sowohl eine kleine, kreative Ingenieurbude – so will ich das einmal nennen –, in der sich 10, 15 Leute Gedanken über Energieeffizienz, über neue Formen der Rohstoffeffizienz machen, als auch eine Zinkhütte, die nicht stattdessen in Kanada investieren soll, in Deutschland beheimatet sein können. Wir müssen beiden die Möglichkeit geben, hier tätig zu sein, und dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man kann nicht sagen, alles solle grün werden. Nein, es wird durchaus bestimmte Grenzen geben. Ich möchte ausdrücklich auf den Antrag der Koalition zurückkommen. In Punkt 20 steht, man müsse Vorkehrungen treffen, um ein sogenanntes Carbon Leakage zu vermeiden. Wir waren uns in der letzten Legislaturperiode einig – und bis ich diesen Antrag gelesen habe, dachte ich, es sei bis heute so –, dass wir im Rahmen des Emissionshandels alles dafür tun wollen, dass es eine hundertprozentige Kompensation der dadurch für die Industrie entstehenden Kosten gibt. Das war unsere gemeinsame Stellungnahme, tausendfach nachzulesen. Heute lese ich in Ihrem Antrag in Punkt 20, dass es notwendig sei, sich „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel für die Kompensation … einzusetzen“. Das ist eine Abkehr von der bisherigen industriepolitischen Linie, die auch Sie vertreten haben. (Beifall bei der SPD) Plötzlich wollen Sie Industriepolitik nach Haushaltslage machen. Das wird den Interessen dieses Standortes nicht gerecht. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der Haushalt spielt eine gewisse Rolle! Das muss man sagen!) Dasselbe gilt, Herr Dr. Lindner, bei dem inzwischen mehrfach angesprochenen Thema der steuerlichen Forschungsförderung. Es ist schön, wenn Sie das hier einfordern. Aber wer regiert eigentlich? Es ist nun einmal – auch wenn man das beklagen kann – seit über zwei Jahren Schwarz-Gelb. Im Koalitionsvertrag steht, dass Sie die steuerliche Forschungsförderung einführen wollen. Aber bis heute ist nichts passiert. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir haben ja noch sechs bis zehn Jahre! – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Edelgard Bulmahn [SPD]: Da muss er selber lachen!) Das ist das Problem: dass die Leute darauf warten, aber nichts kommt. Wir reden ja nicht nur hier im Plenum über das Thema, sondern es gibt viele verschiedene Veranstaltungen dazu. Bei solchen Veranstaltungen sagt eine ganze Reihe von Abgeordneten der Koalition bis hin zu Vertretern der Bundesregierung den Zuhörerinnen und Zuhörern offen, dass es dazu aufgrund der Ausgaben in falschen Bereichen in dieser Legislaturperiode nicht mehr kommen wird. Da sage ich Ihnen, was vorhin schon eine Kollegin erwähnt hat: Es ist doch Irrsinn, Mittel für Betreuungsgeld und andere Maßnahmen aus dem Fenster zu werfen und dieses für den Standort Deutschland so zentrale Projekt der steuerlichen Forschungsförderung hinten runterfallen zu lassen. Das ist nicht akzeptabel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will noch etwas zu dem Thema Infrastruktur sagen. Sie haben – anders als wir, die wir in einem sehr langen Prozess zu einer industriepolitischen Positionierung gekommen sind – aus der Not heraus in den letzten Tagen einen Antrag zusammengestrickt. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Copy and paste!) Dabei kann es natürlich passieren, dass man ein Thema, über das man sonst sehr viel spricht, völlig vergisst. Das Thema Infrastrukturausbau und Akzeptanz kommt in Ihrem Antrag nicht vor. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist ein Spiegelstrich bei uns!) Lieber Herr Lindner, die Akzeptanz in der Bevölkerung (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben Sie kaputtgemacht!) für die Errichtung von Produktionsstätten oder für den Ausbau der klassischen Infrastruktur durch Netze, Straßen, Wasserstraßen und (Zuruf von der CDU/CSU: Bahnhöfe!) Flughäfen erreicht man nicht dadurch, dass man Bürgerinitiativen, die berechtigte Sorgen vertreten, beschimpft. Dadurch werden Sie Akzeptanz in Deutschland für notwendige Maßnahmen nicht erzielen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man muss die Bevölkerung vielmehr einbinden. Wir als SPD-Fraktion führen parallel zu diesem Thema einen breit angelegten Prozess durch, der dafür sorgen wird, dass wir in Deutschland einen Infrastrukturkonsens erzielen werden. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aber nicht, indem man hinterherläuft! Sie laufen hinterher!) Den müssen Sie mit der Industrie und mit den staatlichen Stellen erzielen, die für den Bau der Infrastruktur verantwortlich sind. Aber Sie müssen auch die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. Sie können nicht diejenigen, die auf die Straße gehen, vor der Tür lassen. Wenn Sie das so machen, werden Sie in Deutschland keine Akzeptanz erzielen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nun zur Rede von Herrn Claus von der Fraktion Die Linke. Er hat behauptet, dass im SPD-Antrag sozusagen der Osten nicht vorkomme. Wir haben 20 Jahre nach der Vollendung der deutschen Einheit ein anderes Verständnis von diesem Land, als Sie es leider immer noch haben. Es gibt in Ostdeutschland wie in Westdeutschland sehr erfolgreiche, innovative, effizient agierende Regionen, in denen sich vorbildliche Cluster gebildet haben. Diese gibt es im Osten und im Westen. Es gibt Regionen, die aufgrund des demografischen Wandels und der industriellen Struktur in großen Schwierigkeiten sind. Diese gibt es im Osten und im Westen. Deswegen ist Ihre Schwarz-Weiß-Malerei längst überholt. Kommen Sie endlich im Jahr 2012 an, und führen Sie nicht Debatten, die längst überholt sind! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir Sozialdemokraten – das zeigt auch jede Debatte außerhalb dieses Hauses – sind, weil wir eine Vorreiterrolle übernommen haben, zurzeit die Einzigen, die ein wirklich integriertes Konzept anbieten können, (Widerspruch des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) das Lösungen für die Themen gute Arbeit, Fachkräfte, Technologiefreundlichkeit und Akzeptanz für Infrastruktur beinhaltet. Sie werden sich sehr bemühen müssen, wenn Sie bei diesen Themen wieder punkten wollen. Wir sind dort vorne und werden es auch bleiben. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da war der Wunsch Vater des Gedankens!) Vizepräsident Eduard Oswald: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende unserer Aussprache. Ich schließe die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/8572 und 17/8585 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 a bis g sowie den Zusatzpunkt 3 a und b auf: 25 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – Drucksache 17/8452 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt unterzeichnen und ratifizieren – Drucksache 17/8461 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Karin Roth (Esslingen), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Millennium-Entwicklungsziele ernst nehmen – Infektionserkrankungen wirksam durch eine nationale und europäische Förderung von Product Development Partnerships bekämpfen – Drucksache 17/8183 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Deutsches Ressourceneffizienzprogramm – Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften – Drucksache 17/8575 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Privatisierung des Duisburger Hafens – Drucksache 17/8583 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss f) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56 a GO-BT Technikfolgenabschätzung (TA) Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung – Drucksache 17/6026 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen der Kreditwirtschaft zur Umstellung bestehender Einzugsermächtigungen auf das SEPA-Lastschriftmandat – Drucksache 17/8072 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Sportwetten – Drucksache 17/8494 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), Gabriele Hiller-Ohm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Hinweisgebern – Whistleblowern (Hinweisgeberschutzgesetz – HinwGebSchG) – Drucksache 17/8567 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlagen auf Drucksachen 17/8452 und 17/8461 – das ist der Tagesordnungspunkt 25 a und b – sollen federführend beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, die Vorlage auf Drucksache 17/8072 – das ist der Tagesordnungspunkt 25 g – soll federführend beim Finanzausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 26 a sowie 26 d bis l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 a auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung der immissionsschutzrechtlichen Verordnungen zur Begrenzung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der Betankung von Kraftfahrzeugen (21. BImSchV) und zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen und Lagern von Ottokraftstoffen (20. BImSchV) – Drucksachen 17/8321,  17/8406 Nr. 2.1, 17/8480 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Ute Vogt Michael Kauch Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8480, der Verordnung auf Drucksache 17/8321 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber die Gegenprobe! – Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? – Auch keine Enthaltungen. – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 26 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 381 zu Petitionen – Drucksache 17/8469 – Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 381 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 26 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 382 zu Petitionen – Drucksache 17/8470 – Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 382 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 26 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 383 zu Petitionen – Drucksache 17/8471 – Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 383 ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 26 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 384 zu Petitionen – Drucksache 17/8472 – Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Infolgedessen ist die Sammelübersicht 384 einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 26 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 385 zu Petitionen – Drucksache 17/8473 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen sowie die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 385 ist mit dem von mir festgestellten Ergebnis angenommen. Tagesordnungspunkt 26 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 386 zu Petitionen – Drucksache 17/8474 – Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Sammelübersicht 386 angenommen. Tagesordnungspunkt 26 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 387 zu Petitionen – Drucksache 17/8475 – Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 387 ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 26 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 388 zu Petitionen – Drucksache 17/8476 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Fraktion der Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 388 ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 26 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 389 zu Petitionen – Drucksache 17/8477 – Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die drei Oppositionsfraktionen, also Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Sammelübersicht 389 angenommen. Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses. Zusatzpunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts – Drucksachen 17/6052, 17/6645, 17/7505 (neu), 17/7931, 17/8568 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Altmaier Die Erklärung des Kollegen Peter Altmaier nehmen wir, wie zwischen den Fraktionen besprochen, zu Protokoll.1 Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/8568? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zusatzpunkt 5: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen – Drucksachen 17/5707, 17/7521, 17/7930, 17/8569 – Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/8569? – Die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE EU-Fiskalpakt – Auswirkung auf Demokratie und Sozialstaat Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Kollege Dr. Dietmar Bartsch. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben eine Aktuelle Stunde beantragt, weil wir in dieser Woche viele Bilder gesehen haben: Es gibt einen Generalstreik in Belgien. Die Gewerkschaften in Griechenland haben zum Generalstreik aufgerufen; Zehntausende sind gefolgt. Polizei und Wasserwerfer wurden eingesetzt. In Griechenland werden deutsche Fahnen verbrannt. Wann hat es das eigentlich zum letzten Mal gegeben? Das alles ist das Ergebnis Ihrer Politik. Das alles ist das Ergebnis der Diktatur der Finanzmärkte in Europa. (Beifall bei der LINKEN) Das sagt doch alles: Wenn die Meldungen des Tages lauten, dass die Märkte auf Entwicklungen nervös reagieren, dann sind auch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nervös, sie agieren und tun etwas. Wenn aber Zehntausende Menschen auf die Straße gehen wie in Griechenland, wenn Menschen in die Verzweiflung getrieben werden, dann passiert vonseiten der Bundesregierung gar nichts. Diese Politik ist so nicht zu akzeptieren. Die Troika hat heute Nacht versucht, weitere Sparmaßnahmen durchzusetzen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warum denn wohl?) Wieder betrifft es Rentnerinnen und Rentner. Die Mindestlöhne werden gesenkt. Das 13. und 14. Monatsgehalt wird gestrichen. Es werden aber niemals die Millionäre in Griechenland in die Verantwortung eingebunden. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb klar und eindeutig: Die Linke ist solidarisch mit den Streikenden in Griechenland. Die Linke ist solidarisch, wenn sich Menschen gegen Ungerechtigkeiten und unsoziale Politik wehren. (Beifall bei der LINKEN) Ihr eingeschlagener Weg hat dazu geführt, dass Europa gespalten ist. Deutschland ist in Griechenland auf der Beliebtheitsskala von Platz eins auf den letzten Platz zurückgefallen. Ihr Weg verschärft die Krise immer mehr. Der Abwärtsstrudel dreht sich schon jetzt in einem gigantischen Tempo. Ihr Kurs produziert bittere Armut, soziales Elend und soziale Unruhe. Im Dezember 2011 waren in Griechenland über 900 000 Menschen arbeitslos, aber nur 274 000 Menschen haben Arbeitslosengeld erhalten. Die Arbeitslosenquote lag bei 18 Prozent. Bei den 15-Jährigen bis 24-Jährigen lag sie bei 46 Prozent. Glaubt denn wirklich jemand in diesem Hause, dass angesichts dieser Entwicklung jemals auch nur 1 Cent von Griechenland zurückgezahlt werden kann? – Natürlich haben die griechischen Regierungen große Fehler gemacht. Die Korruption in Griechenland ist völlig inakzeptabel. Die Steuergesetzgebung muss geändert werden. Der Steuervollzug muss verbessert werden. Das alles ist aber auch ein Ergebnis Ihres Kaputtsparens. Das muss beendet werden. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) In Deutschland hatten wir eine Situation, in der ein Marshallplan geholfen hat. Frau Merkel könnte in die Geschichte eingehen, wenn sie einen Merkel-Plan für Investitionen, Wachstum und Beschäftigung in Griechenland aufstellen würde. (Beifall bei der LINKEN) Das wäre wirklich eine Initiative, der wir zustimmen könnten und die wir als Linke gerne unterstützen würden. Im Übrigen bleibt bei dieser Entwicklung auch die Demokratie auf der Strecke. Niemand glaubt, dass wir auch nur einen Hauch von Sympathie für Herrn Berlusconi haben. Trotzdem ist es ein Unding, wenn jemand wie Herr Monti faktisch durch Brüssel eingesetzt wird. Das ist doch so nicht zu akzeptieren. Dieser Mann hat sich nie einer Wahl gestellt. (Beifall bei der LINKEN) Dann reden Sie auch noch von einem Sparkommissar, der eingesetzt werden soll. Stellen Sie sich einmal vor, die Linke würde sagen: Wir haben einen wunderbaren Finanzminister in Brandenburg, der 2011 einen ausgeglichen Haushalt geschafft hat; jetzt soll er Sparkommissar in Bremen werden. – Das würde einen Aufschrei geben. Nichts anderes allerdings schlagen Sie vor. Es ist kein Zufall, dass Frau Merkel von einer marktkonformen Demokratie spricht; das ist entlarvend. Wir als Linke wollen einen demokratiekonformen Markt. (Beifall bei der LINKEN) Wir fordern klar und eindeutig: Die Finanzmärkte müssen reguliert werden. Es muss eine europäische Bank für öffentliche Anleihen errichtet werden, und endlich müssen die Vermögenden in Europa, auch in Griechenland, zur Kasse gebeten werden. Das ist die richtige Alternative. (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie einmal was zum Fiskalpakt!) Ihre Maßnahmen und auch der Fiskalpakt haben doch nur folgendes Ziel: Sie wollen, dass Herr Sarkozy im April noch einmal gewählt wird. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, dass er nicht wiedergewählt wird!) – Oder dass er nicht wiedergewählt wird. Das kann man noch nicht so genau erkennen. Ich glaube aber, dass Ersteres der Fall ist. Es ist doch ganz klar: Ihr Kurs führt zu Demokratieverdrossenheit und spaltet Europa weiter. Unsere Position ist und bleibt klar: Wir wollen ein friedliches, soziales und demokratisches Europa. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN – Joachim Spatz [FDP]: Und wer zahlt die Rechnung?) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Bartsch. – Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert Barthle. Bitte schön, Kollege Norbert Barthle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Bartsch, da Sie einen Merkel-Plan fordern, darf ich Ihnen sagen: Im Grunde genommen gibt es bereits einen Merkel-Plan. Dieser Plan trägt die Überschrift: Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion. Nichts anderes ist der Fiskalpakt, der unter wesentlicher Beteiligung unserer Bundeskanzlerin zustande gekommen ist und der zu einem großen Teil die Handschrift der Bundeskanzlerin und des Bundesfinanzministers trägt. Das ist gut für Europa und unsere gemeinsame Währung. Das ist vor allem gut für die Länder in Europa, die die größten Schwierigkeiten haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss Ihnen geradezu dankbar sein, dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben; denn sie gibt uns endlich wieder einmal Gelegenheit, uns zu vergewissern, worum es in der Auseinandersetzung eigentlich geht. (Zurufe von der LINKEN) Linke Parteien und Sozialisten gibt es ja nicht nur hier in Deutschland; diese politische Fehlorientierung gibt es leider in ganz Europa. (Lachen bei der LINKEN) Worum geht es also bei der Auseinandersetzung? Es geht letztendlich um die Frage: Wie bekämpft man die Staatsschuldenkrise? Von Ihrer Seite kommt immer nur der Vorschlag, noch mehr Geld Griechenland (Zurufe von der LINKEN: Das stimmt überhaupt nicht! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die haben immer gegen die Griechenland-Hilfe gestimmt!) und anderen überschuldeten Ländern zu geben, um dort Konsumanreize zu setzen und über mehr Konsum wieder zu einem höheren Wachstum zu kommen. Das ist der klassische Ansatz von Keynes; den hat Herr Lafontaine schon immer vertreten. Wir haben eine andere Auffassung. Man muss an die Wurzel des Übels heran. Man muss die Überschuldung bekämpfen, also Staatshaushalte konsolidieren und Wachstumskräfte stärken. Beides muss zusammen erfolgen. Das haben Sie nicht im Blick. Wir jedoch verfolgen diese Strategie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Fiskalpakt, Fiscal Compact Treaty, ist genau der richtige Weg und – das erlaube ich mir hinzuzufügen – ein Riesenerfolg, ein Meilenstein in der Entwicklung Europas; denn dass 25 von 27 Staaten diesen Pakt unterschreiben und sich zu ihm bekennen würden, hätte ich nie erwartet. Das ist ein klares Bekenntnis Europas hin zu mehr Stabilität, Koordinierung, Kontrolle und Transparenz. Genau das braucht man, wenn man eine gemeinsame Währung hat. Wenn eigenständige Nationalstaaten eine gemeinsame Währung haben, dann bedarf es des Bekenntnisses aller, die verabredeten Regeln einzuhalten; denn nur so kann die Währung stabil bleiben. Ein Euro ist auf der ganzen Welt gleich viel wert, egal ob er aus Deutschland, Frankreich oder Griechenland kommt. Um dies aufrechtzuerhalten, brauchen wir diesen Pakt. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leider haben das in Griechenland offenbar noch nicht alle erkannt, wie die geplatzten Verhandlungen zeigen. In der heutigen Ausgabe der FAZ macht der griechische Wirtschaftsminister Chrysochoidis klipp und klar die europäische Subventionspolitik der vergangenen Jahrzehnte für den wirtschaftlichen Niedergang Griechenlands verantwortlich. Der Minister sagt: Während wir mit der einen Hand das Geld der EU nahmen, haben wir es nicht mit der anderen Hand in neue und wettbewerbsfähige Technologien investiert. Alles ging in den Konsum. Recht hat der Mann! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Genau darum geht es in der Auseinandersetzung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Wettbewerbsfähigkeit in allen Ländern der Euro-Zone gestärkt wird, und zwar nicht durch fremdes Geld von außen. Herr Bartsch, Sie müssen den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erklären, weshalb sie bis 67 arbeiten sollen, (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wir wollen das gar nicht! Das haben Sie entschieden!) während Ihre Freunde in Griechenland sieben Jahre früher in Rente gehen können. Sie müssen erklären, weshalb deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Steuergeldern einen völlig überbordenden, aufgeblähten Staatsapparat in Griechenland finanzieren sollen. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wer hat das denn gefordert?) Genau hier besteht ein Widerspruch; das sagen Sie nämlich nicht. Das müssten Sie aber offen aussprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, der für mich einen Riesenerfolg im Zusammenhang mit dem Fiskalpakt darstellt: die Schuldenbremse. Alle 25 Länder verpflichten sich, eine Schuldenregel in ihr nationales Recht zu übernehmen. Das wäre vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen. Dieser Vertrag war innerhalb von zwei Monaten unterschriftsreif. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieser Pakt ist ein Meilenstein, ein Meisterstück unserer Bundeskanzlerin (Lachen bei der LINKEN) und aller anderen, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man bedenkt, wie lang die Arbeit auf europäischer Ebene normalerweise dauert. Ich will einen dritten Punkt hervorheben: die Verknüpfung des Fiskalpaktes mit dem ESM. Das war eine wichtige deutsche Verhandlungsposition, die durchgesetzt werden konnte. Nur wer den Fiskalpakt unterschreibt, hat künftig die Möglichkeit, Hilfen über den ESM zu beanspruchen. Das entfaltet eine starke Bindewirkung. Darauf und auf die anderen Verhandlungsergebnisse unserer Bundesregierung sind wir zu Recht stolz. Ich bedanke mich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Norbert Barthle. – Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Klaus Hagemann. Bitte schön, Kollege Klaus Hagemann. (Beifall bei der SPD) Klaus Hagemann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Barthle, ich möchte an Ihre Worte anknüpfen. Sie meinten eben sinngemäß, man brauche die Sozialisten und die Sozialdemokraten nicht. Im Europäischen Parlament, lieber Kollege Barthle, ist es gelungen, fast einstimmig eine Resolution durchzusetzen, weil wir alle – auch meine Partei – uns darin wiederfinden, sowohl die Konservativen als auch die Sozialdemokraten, die Liberalen, die Grünen und die Linken. Darin heißt es beispielsweise: Sowohl Stabilität als auch nachhaltiges Wachstum sind notwendig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Recht haben die Europäer. Weiter heißt es, dass „Haushaltsdisziplin zwar die Voraussetzung für ein tragfähiges Wachstum ist, dass sie allein aber keinen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen wird“. Recht haben die Europäer; das können wir unterstützen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In dieser Resolution steht auch, dass an beiden Fronten, sowohl beim Wachstum als auch bei der Haushaltsdisziplin, gekämpft werden muss. Auch das kann man gemeinsam tragen. Warum gelingt das nicht auch hier? Meine Damen und Herren, bisher sind viele Trippelschritte gemacht worden. Eine Lösung wurde uns über fast zwei Jahre hinweg angekündigt. Aber hat die Medizin bisher so geholfen, wie es von der rechten Seite des Hauses erwartet worden ist? Diese Frage muss man zumindest stellen dürfen. Wir haben das Sixpack, das Europäische Semester und den Twopack, die EFSF und den ESM. Nebenbei bemerkt: Es war eine Forderung der Sozialdemokraten, den ESM vorzuziehen, lieber Kollege Barthle. Jetzt kommt der Fiskalpakt. Dazu sagt das Europäische Parlament, dass man ihn eigentlich nicht braucht. Das sagen auch Ihre Parteifreunde, meine Damen und Herren von der Koalition. Es ist interessant, was Sie dazu sagen. Hier zeigt sich sehr stark das Prinzip Hoffnung, aber kein Realitätssinn. Woher wissen Sie, dass der Fiskalpakt in seiner jetzigen Form von allen Parlamenten ratifiziert wird? Das ist doch sehr fraglich. Die Gespräche mit den irischen Kollegen im Haushaltsausschuss – Kollege Barthle, Sie waren dabei – lassen nicht unbedingt vermuten, dass die Iren dem Pakt in einem Referendum einfach zustimmen werden. Hier ist vieles also noch fraglich. In den letzten Jahren ist viel Vertrauen zerstört worden. Es besteht die Gefahr – auch durch dummes Gerede verursacht –, dass wir es hier mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun haben. Wenn man, wie es einige fordern, Griechenland aus der Euro-Zone hinausschmeißt, dann besteht die große Gefahr, dass es zu einem Dominoeffekt kommt, der sich negativ auswirkt. Nun ein paar Stichworte zu Griechenland. Ist das Kürzen von Mindestlöhnen, Renten, Stundenlöhnen usw. wirklich die Lösung? Bietet man den Menschen damit wirklich eine Perspektive? Gibt man ihnen die Möglichkeit, Licht am Ende des Tunnels zu sehen? Werden die Menschen da überhaupt mitgenommen? Es besteht doch die Gefahr, dass wir die Menschen in dieser Situation nicht mitnehmen. Viel politisches Porzellan ist zerschlagen worden. Eventuell gibt es auch eine Rezession in Südeuropa. Gestern konnte man im Fernsehen eine Umfrage in Griechenland verfolgen. Da sagte ein Grieche: Gibt es überhaupt noch Licht am Ende des Tunnels? – Das ist doch bezeichnend: Er sah nicht einmal einen Silberstreif am Horizont. Wir müssen die Würde der Menschen und den Stolz der Nationen achten und dürfen nicht von der Einsetzung eines Sparkommissars reden oder Sätze wie „Jetzt wird in Europa deutsch gesprochen“ sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es stellt sich die berechtigte Frage: Werden Menschen, die so etwas erleben, noch für die Demokratie eintreten? Ist es für solche Menschen noch erstrebenswert, für die europäische Idee einzutreten? Angesichts dessen, was wir da erleben, muss ich sagen: Das ist nicht mein Europa. Inzwischen spricht die Regierung – sie spricht; sie handelt noch nicht – von den Bereichen Wachstum und Beschäftigung, die ebenfalls in die Überlegungen einbezogen werden müssten. Ich frage Sie: Wo bleiben die Pläne? Wo bleiben die Konzepte des Wirtschaftsministers? Wo bleiben die Konzepte der Sozialministerin? Wie geht es mit dem Wachstum weiter? Dazu liegt nichts vor. Vorhin fiel das Stichwort „Marshallplan“. Das ist sicherlich ein griffiges politisches Bild, aber man sollte die Realität nicht außer vor lassen. Standard & Poor’s hat den Euro-Rettungsschirm herabgestuft, gerade weil das Wachstum nicht in die Überlegungen einbezogen worden ist. Die am Anfang angesprochene Resolution wurde vom Europäischen Parlament fast einstimmig beschlossen. Es sind weitere Vorschläge gemacht worden: Schuldentilgungsfonds, Finanztransaktionsteuer. Ich frage die Regierung: Wie weit sind Sie? Wann kommen die Vorlagen? Wie wollen Sie die Haushaltsdisziplin gewährleisten? Was ist mit dem Fahrplan für Stabilitätsanleihen? (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Elf Jahre Wirtschaftsministerium SPD!) Herr Michelbach, sogar der Begriff „Euro-Bonds“ kommt in dieser gemeinsam getragenen Resolution vor. Wann werden die Vorlagen eingebracht? Wann können wir darüber sprechen? (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ist die SPD wieder für Euro-Bonds?) Zum Schluss möchte ich Herrn Monti, den neuen italienischen Ministerpräsidenten, zitieren. Er hat gesagt, dass nicht noch mehr politische Energie „für besonders originelle Ideen der Haushaltsstabilisierung“ verschwendet werden sollte. Besser wäre es, sich auf eine Wachstumspolitik zu konzentrieren; denn Wachstum ist das wichtigste Element einer dauerhaften Haushaltsstabilität. – Lassen Sie uns das – genauso wie auf europäischer Ebene – gemeinsam anpacken. Wir müssen für eine gemeinsame Linie sorgen. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Klaus Hagemann. – Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte schön, Kollege Joachim Spatz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Joachim Spatz (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der ganze Kontinent steht vor einem Paradigmenwechsel. Im Moment befindet sich Europa in der größten inneren Umgestaltung seit dem Fall der Mauer, eigentlich sogar seit Ende des Krieges. Wir verabschieden uns vom süßen Gift der Verschuldung. Das tut weh, dem einen mehr, dem anderen weniger. Trotzdem ist die Entgiftung unausweichlich. Alle mussten lernen, dass wir von Dritten abhängig sind, nämlich von denen, die das Geld geben, und dass wir mit überbordenden Staatsschulden die Spielräume der Zukunft einengen. Das muss jeder wissen, der heute zu diesem Thema spricht. Herr Kollege Bartsch, einen gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen, bei dem sich die Beteiligten einig sind, aber Dritte die Rechnung zahlen, ist leicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) So kann man auch in Griechenland Konsens erzielen. Da Sie die Gefährdung von Demokratie und Zusammenhalt erwähnten: Wäre es nicht an der Zeit, dass Sie das auch in Bezug auf die Zielländer ansprechen? Denn auch die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfen nicht überfordert werden. Das leistet einen Beitrag zum Zusammenhalt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Von SPD und Grünen hören wir nur die immer gleichen alten Rezepte: entweder Aufnahme neuer Schulden – das heißt auf Neuhochdeutsch Euro-Bonds – oder Aufstockung der Mittel für die Rettungsschirme. Diejenigen, die während der rot-grünen Regierungszeit den größten Schluck bei der Neuverschuldung genommen haben, die an der alten Droge genippt haben, gerieren sich heute als Therapeuten. Das ist unglaubwürdig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir müssen unseren Kurs fortsetzen. Er beinhaltet drei Komponenten: Solidarität durch den ESM, Solidität durch den Fiskalpakt und Wachstum zum Beispiel durch den Euro-Plus-Pakt oder den erleichterten Zugang zu nicht ausgeschöpften Strukturfördermitteln. Sie können doch nicht so tun, als ob die Debatte noch nicht begonnen habe! Natürlich fördert die Bundesregierung die Wachstumskomponenten auf europäischer Ebene. Das ist doch schon längst der Fall. Es geht um den Dreiklang von Solidarität, Solidität, die wir einfordern müssen, und Wachstum, das wir fördern wollen. Die Schuldenbremse ist natürlich ein Eckstein dieser Politik. Wir müssen die Umsetzung in nationales Recht verlangen; denn Willenserklärungen reichen nicht aus. Wir sollten dabei allerdings nicht beckmesserisch sein und immer nur auf die Verfassung rekurrieren. Andere Länder haben genauso hohe Hürden in andersgesetzlichen Bereichen; auch das sollten wir ernst nehmen. Das klare Bekenntnis zum Kurs und zum Prozess der Entwöhnung von der Verschuldung ist wichtig. Wir haben – auch das war nicht zu erwarten – die automatisierte bzw. quasi automatisierte Klage vor dem Europäischen Gerichtshof durchsetzen können. Das ist nicht leicht gewesen. Leider war es nicht möglich, alle Euro-Länder und EU-Mitgliedstaaten für diese Rechtsweiterentwicklung zu gewinnen. Trotzdem wird es jetzt eine Klagemöglichkeit geben. Eine hervorragende Verhandlungsposition der Bundesregierung konnte hier umgesetzt werden. Das, was wir zusatzgesetzlich geregelt haben, soll – das bleibt das Ziel – so bald wie möglich in den europäischen Rechtsrahmen übergeleitet werden, damit es im Gesamtverbund Europas Sinn macht. Alle sind aufgefordert, an diesem gemeinsamen europäischen Projekt mitzuarbeiten und Europa, das mit anderen großen Weltregionen in Konkurrenz steht, wettbewerbsfähiger zu machen. Das geht nicht, indem man die Starken immer weiter schwächt, sondern nur, indem man den Schwachen hilft, ihren Teil zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit beizutragen. Mit alten Rezepten funktioniert das garantiert nicht, sondern nur mit Solidität und Solidarität. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Priska Hinz das Wort. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bartsch, Ihre scheinradikale Rede hat mich doch etwas verblüfft, muss ich sagen. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wieso „scheinradikal“? Die war radikal!) Wenn es nach den Linken gegangen wäre, die hier immer gegen die Hilfszusagen für Griechenland gestimmt haben, wäre Griechenland schon vor anderthalb Jahren pleite gewesen, (Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Unkontrollierter Bankrott!) mit all den schrecklichen Folgen für die Bevölkerung, die Sie hier an die Wand werfen wollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich habe hier keinen einzigen konkreten Vorschlag gehört, wie man die Situation verbessern könnte. Aufgrund des Themas der Aktuellen Stunde, die Sie angemeldet haben, will ich mich jetzt aber mit dem Weg der Bundesregierung beschäftigen. Ich finde es erstaunlich, dass die Koalition den Fiskalpakt so wahnsinnig überhöht. Ich finde: Da sollte man einmal die Luft herauslassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Bundeskanzlerin ist im Dezember angetreten, die europäischen Verträge zu ändern. Davon musste sie Abstand nehmen. Aber sie hat dann noch nicht einmal mehr den Versuch gemacht, gemeinsam mit der EU-Kommission das Sekundärrecht zu verändern. (Joachim Spatz [FDP]: Das ging mit den Briten nicht! Das müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen!) Deshalb ist eine gemeinsame Resolution aller EP-Abgeordneten zustande gekommen, die ein Interesse daran haben, dass es keine Doppelstruktur gibt und man die EU-Institutionen und die -Parlamentarier nicht schlicht und einfach ignoriert, wie die Bundeskanzlerin es so gerne tut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Joachim Spatz [FDP]: Hätten wir nichts machen sollen?) Manches in dem Fiskalpakt hat gar keine rechtliche Bindungswirkung. Vieles ist schon in den Verordnungen geregelt, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat. Was bleibt, ist eine politische Vereinbarung über die Einführung der Schuldenbremsen, die noch nicht einmal in den Verfassungen verankert werden müssen. Auch davon musste sich die Bundeskanzlerin verabschieden. Geblieben ist eine politische Vereinbarung. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die aber in EU-Recht übertragen werden soll! Das steht im Vertrag!) Wir haben nichts gegen die Schuldenbremsen. Wir halten eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung für notwendig, weil die mangelnde Haushaltsdisziplin eine Ursache der Schuldenkrise ist; das ist richtig. Über andere Probleme reden die Bundesregierung und die Koalition aber gar nicht, zum Beispiel über die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa und die Frage, wie man diesem Problem beikommen könnte. Hier fehlt es an Vorschlägen von Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn man die Haushaltsdisziplin ernst nimmt, dann muss man auch ein zweites Standbein einsetzen, nämlich den Altschuldentilgungsfonds. Das ist ein Vorschlag der Wirtschaftsweisen der Bundesregierung. Darüber wurde im Parlament bislang noch nicht diskutiert, weil sich die Koalition immer strikt weigerte, dieses Thema anzugehen. (Otto Fricke [FDP]: Ihr wollt ja nicht einmal eine Aktuelle Stunde dazu haben!) Wir sind der Meinung, dass man den Altschuldentilgungsfonds den Schuldenregeln hinzufügen sollte, weil das auf Dauer die Schuldenstandsquote in denjenigen Ländern senkt, die hohe Schulden haben. (Otto Fricke [FDP]: Dann macht doch eine Aktuelle Stunde dazu!) Eine gemeinsame Haftung für einen Teil der Schulden macht eine erträgliche Refinanzierung möglich. Das bedeutet eine Gesundung der europäischen Staaten und die Stabilisierung der Euro-Währung. Das ist der Weg, den wir brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Bundesregierung antwortet auf meine Fragen immer: Das mit dem Altschuldentilgungsfonds kann Deutschland nicht allein machen; den können wir nicht allein einführen. – Den Ehrgeiz, den Bundeskanzlerin Merkel sonst immer an den Tag legt, sollte sie auch einmal bei der Einführung eines Altschuldentilgungsfonds zeigen, anstatt solche dummen Vorschläge wie das Einsetzen von Sparkommissaren für notleidende Länder in den Raum zu stellen. Dann wären wir nämlich schon weiter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: So dumm finden wir das gar nicht!) Zur Bewältigung der aktuellen Krise hilft der Fiskalpakt gar nicht. Er kann nur mittel- und langfristig gemeinsam mit dem Altschuldentilgungsfonds wirken. Für die aktuelle Krisenbewältigung bräuchten wir vielmehr eine Banklizenz für den aktuellen Rettungsschirm, was die Bundesregierung bislang aber ablehnt. Die Aufstockung des ESM will sie derzeit noch nicht mitmachen. Das ist bis zum März verschoben worden. Es wäre aber eine Beruhigung für die Finanzmärkte, wenn klar ist: Wir garantieren für die Länder, die es nötig haben. (Joachim Spatz [FDP]: Das ist genau das, was ich gesagt habe! Weiter!) Wir wissen, dass die Aufstockung kommt. Aber meinen die Bundeskanzlerin und die Koalition nicht, dass man der Bevölkerung einmal reinen Wein einschenken sollte? Das führt mich zu Griechenland. Hier wäre es notwendig, deutlich zu sagen: Von Griechenland sind Anstrengungen notwendig. Darüber hinaus werden wir Griechenland mindestens ein Jahrzehnt lang Unterstützung leisten müssen, und zwar nicht nur technische und administrative, sondern auch finanzielle. Das wird uns zwar etwas kosten, aber das sollte es uns wert sein. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Welche Steuer sollen wir denn erhöhen?) Diese Ehrlichkeit müsste in dieser Debatte einmal gezeigt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich komme zum Schluss. Das Wachstumsprogramm, das beim letzten Sondergipfel beschlossen worden ist, ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Auch hier wären harte Fakten bezüglich Investitionen notwendig, nicht nur warme Worte. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Bundesregierung hat Staatsminister Michael Link das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Guter Mann!) Michael Link, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat in den letzten 18 Monaten, also in den Monaten seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise in Europa, weitreichende Schritte zur Stärkung der Haushaltssolidarität unternommen. Dabei ist im Laufe des letzten Jahres klar geworden: Wir müssen für den Euro-Raum ein deutliches, markantes Zeichen setzen, damit künftig das Primat verantwortlicher Haushaltspolitik verbindlich verankert wird. Die Stabilitätsunion muss tatsächlich zustande kommen. Das ist der Hintergrund des Fiskalvertrages. Wer vor wenigen Monaten gesagt hätte, dass wir Ende Januar einen fertig ausgehandelten völkerrechtlichen Vertrag haben, mit dem wir konkrete, verbindliche, einklagbare und sanktionsbewehrte Ziele im Hinblick auf Haushaltskonsolidierung festlegen, wäre nicht ernst genommen worden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Kollegin Hinz, Sie haben von Schuldenbremsen ohne Verfassungsrang gesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Wir können in diesem Punkt natürlich nicht jedem einzelnen Staat im Detail vorschreiben, wie er die Vorgaben umsetzt. Aber: Europa hat auch etwas damit zu tun, dass wir verbindliche Ziele festschreiben. Wir beginnen mit einem verbindlich definierten politischen Ziel und definieren dies dann immer präziser. Deshalb wollen wir, dass der Fiskalpakt so bald wie möglich – wir haben uns ein Enddatum mit maximal fünf Jahren gesetzt – in ordentliche Verträge überführt wird. Die Bundesregierung will die Gemeinschaftsmethode in der EU stärken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben nach der Festlegung der Grundzüge für den Fiskalpakt am 9. Dezember 2011 die Verhandlungen zum zwischenstaatlichen Vertrag am 30. Januar 2012 erfolgreich geführt. Der Fiskalpakt ist ein wichtiger Schritt hin zu einer wirklichen Fiskalunion. Mit ihm haben wir erreicht, dass in der Euro-Zone und perspektivisch in der ganzen EU das Modell der deutschen Schuldenbremse auf Verfassungs- oder vergleichbarem Rang verankert wird. Das ist ein großer Erfolg für die Verhandlungsführung der Bundeskanzlerin, des Bundesfinanzministers und des Außenministers. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ach, haben wir einen Außenminister?) Wenn ich das sage, meine ich damit nicht nur einen Erfolg für Deutschland, sondern insbesondere einen Erfolg für die gesamte Europäische Union. Ich wiederhole: Wer hätte noch vor kurzer Zeit gedacht, dass wir das in diesem kurzen Zeitrahmen schaffen? Wir haben trotzdem noch einen langen Weg vor uns, die internationalen Märkte davon zu überzeugen, aus dem gesamten Euro-Raum einen Raum der Stabilität und der Solidität zu machen. Der Fiskalpakt ist ein erster fundamentaler Schritt, der jetzt von niemandem kleingeredet werden sollte. Der Fiskalpakt und der ESM-Vertrag verhalten sich komplementär zueinander. Im ESM-Vertrag werden die Möglichkeiten und Voraussetzungen für europäische Solidarität geregelt. Mit dem Fiskalvertrag legen wir die komplementäre Seite vor, also die Aspekte der Haushaltsdisziplin, der Solidität. Solidarität und Solidität bilden die klare Linie der Bundesregierung zur Bewältigung dieser Staatsschuldenkrise. Damit bin ich beim eigentlichen Thema dieser Aktuellen Stunde: Auswirkungen auf Demokratie und Sozialstaat. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist ja toll! Das eigentliche Thema wird angesprochen!) – Man muss ja wohl auch einmal den Gesamtzusammenhang herstellen. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das ist sehr gut! Wir helfen da gerne!) – Exakt. – Sie behaupten, dass der Fiskalvertrag negative Auswirkungen auf die Demokratie hat. Dem vermag ich beim besten Willen nicht zu folgen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ach so!) Vielmehr wird der Fiskalvertrag von allen Staaten im parlamentarischen Verfahren ratifiziert. Bei der wirtschaftlichen Koordinierung ist ausdrücklich eine Rolle für die nationalen Parlamente und das EP vorgesehen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sparkommissar!) Genau das nimmt der Bundestag heute ernst. Negative Auswirkungen auf den Sozialstaat befürchtet die Bundesregierung ebenfalls nicht. Ganz im Gegenteil: Die Regeln der Haushaltskonsolidierung stellen sicher, dass der Sozialstaat erhalten bleiben kann. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was passiert denn gerade in Griechenland?) Es geht nicht um Ausgabenkürzungen nach dem Rasenmäherprinzip, sondern um eine langfristig angelegte Stabilitätskultur. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Haushaltsdisziplin und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte stellen nur die eine Seite der Medaille dar. Gleichzeitig setzt eine nachhaltige Überwindung der Schuldenkrise voraus, dass die Volkswirtschaften in Europa auf den Wachstumspfad zurückkehren. Gefragt ist also eine Agenda für mehr Wachstum und Beschäftigung. Genau eine solche hat die Frau Bundeskanzlerin auf dem letzten Europäischen Rat vereinbart. Die Agenda muss natürlich noch mit Leben gefüllt werden; (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ach so!) das ist völlig klar. Man muss es noch konkretisieren. Genau daran arbeitet die Bundesregierung gerade aktiv mit den verschiedensten Ressorts. Nur das Zusammenspiel von Haushaltsdisziplin und Wachstum kann uns aus der Krise führen. An dieser Stelle will ich ausdrücklich auf die Rede des Kollegen Kampeter verweisen. Unsere Reden werden sich in diesem Punkt ergänzen. Deshalb will ich jetzt nichts speziell zum Klagerecht sagen. Hierzu wird übrigens noch einiges kommen. Es ist geplant, bei der Unterzeichnung am 1. und 2. März 2012 eine Vereinbarung zu treffen, wie das Klagerecht durchbuchstabiert wird. Hier sind wir noch nicht am Ende der Reise. Lassen Sie mich jetzt noch eine Reihe von Punkten aus integrationspolitischer Sicht ansprechen, die insbesondere für das Auswärtige Amt sehr wichtig sind. Der Fiskalvertrag ist bis zu seinem Enddatum, also in spätestens fünf Jahren, in die europäischen Verträge zu überführen. Deshalb müssen wir im Zusammenhang mit dem Fiskalvertrag immer überlegen, wie wir ihn in die Verträge integrieren können. Es wäre für uns natürlich Plan A gewesen, ihn bereits jetzt in Form von Vertragsänderungen einzuführen, weil – ich wiederhole es – wir die Gemeinschaftsmethode stärken wollen. Auch wenn das Vorgehen jetzt sozusagen nur ein Plan B ist, bleibt unsere bevorzugte Option, die Regelungen des Fiskalvertrags so bald wie möglich in die Verträge zu integrieren. Deshalb müssen wir Großbritannien und andere, die jetzt noch nicht dabei sind, davon überzeugen, bei den weiteren Schritten mitzumachen, damit wir spätestens in fünf Jahren zu einer Vertragsänderung kommen. Einige meiner Vorredner haben gesagt, der Fiskalvertrag als eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag könne zu einer Spaltung der EU führen. Bei dieser Behauptung bin ich wirklich ratlos. Natürlich kann man sagen: Wenn noch nicht alle dabei sind, ist die EU gespalten. – Aber betrachten wir das bitte auch einmal von der anderen Seite. Aus meiner Sicht überwinden wir gerade durch den Fiskalpakt die Spaltung, die es gibt, wenn es um die Frage geht, wie unterschiedliche Länder in der EU haushaltspolitisch nachhaltiges Wirtschaften definieren. Wir überwinden die Spaltung in der Frage, wie wir Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik definieren. Der Fiskalpakt bringt uns voran, wenn es darum geht, hier ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Darin sehe ich einen großen Erfolg der Verhandlungsführung der Bundesregierung. Die EU-Institutionen spielen trotzdem eine zentrale Rolle. Der Vertrag ist nicht auf die Euro-Staaten beschränkt. Alle Nicht-Euro-Staaten außer Großbritannien und der Tschechischen Republik werden den Vertrag unterzeichnen. Nicht zu vergessen: Es ist ein ganz zentrales Element, dass seine Bestimmungen überführt werden und parlamentarisch begleitet werden können. Hier haben wir, glaube ich, einen ganz wichtigen Punkt, den der Bundestag fraktionsübergreifend geäußert hat, aufnehmen können. Die Bundesregierung hat sich sehr dafür eingesetzt, dass es im Hinblick auf die Art und Weise, wie die Parlamente beteiligt werden, gelungen ist – und zwar trotz anderer Absichten, die es in den Verhandlungen gab –, eine entsprechende Formulierung zu finden. Es war ein ausdrücklicher Wunsch des Europaausschusses dieses Hauses, dass die Art und Weise der parlamentarischen Begleitung von den Parlamenten selbst festgelegt wird. Es geht die Bundesregierung aus unserer Sicht nichts an, wie die Parlamente diesen Prozess effizient begleiten. Wir sind bereit, dem Bundestag in jeder Weise entgegenzukommen. Der erste Schritt unseres Entgegenkommens war, zu sagen: Das sollen die Parlamente bilateral klären. Wir haben – damit will ich schließen – ein besonderes Augenmerk auf die enge Einbindung der Nicht-Euro-Staaten gelegt. Lassen Sie mich hinzufügen: Ich bevorzuge das Wort „Noch-nicht-Euro-Staaten“; denn wir sollten immer im Blick haben, dass wir wollen, dass die Euro-Zone auch weiterhin wächst. Starke Volkswirtschaften wie Polen – zu denken ist auch an andere Staaten, die noch nicht in der Euro-Zone sind – sollten wir weiterhin aktiv in die Euro-Zone einladen. Deshalb haben wir den Pakt so ausgestaltet, dass die Noch-nicht-Euro-Staaten eng eingebunden waren und im Rahmen künftiger Euro-Gipfel an der konkreten Arbeit beteiligt bleiben. Mein letzter Punkt. Der Fiskalvertrag ist mit den EUVerträgen – auch das ist angesprochen worden – vollumfänglich kompatibel. Die juristischen Dienste des Rates und der Kommission haben den Text mit der Lupe geprüft. Er enthält keine Elemente, die mit den EU-Verträgen nicht vereinbar wären. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Man traue keinem Gutachten, das man nicht selbst in Auftrag gegeben hat! – Manfred Zöllmer [SPD]: Da gibt es auch andere Meinungen!) Wie geht es weiter? Die Unterzeichnung des Fiskalvertrages soll am Rande des ER am 1./2. März dieses Jahres stattfinden. Wir müssen alle drei Bereiche, die anstehen, in engem Zusammenhang sehen: die Ratifizierung des Fiskalvertrages, die Ratifizierung des ESM-Vertrages und die Ratifizierung der Änderung des Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Die Bundesregierung wird versuchen, das Inkrafttreten des ESM-Vertrages, wie auf europäischer Ebene vereinbart, möglichst auf Juli 2012 vorzuziehen. Die Bundesregierung bittet deshalb den Bundestag, dies mit Blick auf den Ratifizierungskalender zu berücksichtigen. Dann können wir davon ausgehen, dass wir das Inkrafttreten des Fiskalvertrages zum 1. Januar 2013 mit der Unterstützung des Bundestages realisieren werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Bartholomäus Kalb hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich lange gefragt, warum die Linke eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hat. Denn eigentlich ging ich davon aus, dass wir uns einig sind, dass wir in Europa dringend einen „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“, wie es offiziell heißt, brauchen. Ich habe diesen Titel bewusst vorgetragen, weil die Bevölkerung sonst Schwierigkeiten hat, nachzuvollziehen, was unter einem Fiskalpakt, wie wir ihn kurz nennen, zu verstehen ist. Nach der Rede von Herrn Bartsch war mir klar, worum es Ihnen geht: Sie wollen mehr Sozialismus, mehr Planwirtschaft, mehr Staat (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein! Das stimmt nicht! Mehr Sozialismus, das stimmt!) und weniger Eigenverantwortung. Anders war Ihr Redebeitrag nicht zu verstehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Außerdem haben Sie sich über das gute Verhältnis der Frau Bundeskanzlerin zum französischen Präsidenten Sarkozy mokiert. Sie wissen genauso gut wie ich: Alle Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland haben sich um ein gutes Verhältnis zu Frankreich und damit natürlich auch zum jeweiligen französischen Präsidenten bemüht. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Aber noch nie in Wahlkämpfe eingegriffen!) Das taten sie aus gutem Grund: weil sie sich bewusst waren, dass Deutschland und Frankreich eine besondere Verantwortung für Europa tragen. Dass sich daraus, dass man sich der Verantwortung verschreibt, auch gute persönliche Beziehungen entwickeln, liegt in der Natur der Sache. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben nur Sie!) Ich sage einmal: Es ist für Europa und die Welt wahrscheinlich besser, wenn Merkel und Sarkozy ein gutes Verhältnis miteinander haben, als wenn Gesine Lötzsch und Klaus Ernst mit Fidel Castro ein gutes Verhältnis haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Also, es wäre schon ein Fortschritt, wenn Gesine Lötzsch und Klaus Ernst ein gutes Verhältnis hätten!) Es ist vorhin von anderen Rednern leider kritisiert worden, dass von Deutschland zu wenig Solidarität geübt werde. Ich darf daran erinnern, dass wir uns sehr angestrengt haben, um das Rettungspaket I für Griechenland auf den Weg zu bringen, dass wir mit der EFSF, dem ersten Rettungsschirm, und dem zweiten Rettungsschirm viel Verantwortung übernommen haben und dass wir jetzt dabei sind, den Europäischen Stabilitätsmechanismus unter Dach und Fach zu bringen. Deutschland übernimmt bei den einzelnen Programmen jeweils den Löwenanteil in der Größenordnung von 27 bis 30 Prozent. Wir brauchen uns hier also nicht den Vorwurf gefallen zu lassen und sollten ihn in diesem Hause schon gar nicht selber erheben, dass wir zu wenig Solidarität üben. Sie gaukeln den Menschen in Griechenland und anderen Ländern vor, es könne eine Konsolidierung der Finanzen und eine Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ohne Anstrengungen, Mühe und Verzicht geben. Wenn wir ein bisschen zurückschauen – ich nehme an, Kollege Rehberg wird darauf eingehen –, dann sehen wir: Die Konsolidierungsschritte, die auch wir in Deutschland in den letzten eineinhalb Jahrzehnten unternehmen mussten, waren nicht ganz einfach, waren nicht ohne Folgen für die Menschen, waren mit Verzicht für die Menschen verbunden und haben uns viel Mühe und Kraft gekostet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Rot-Grün!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie der Name dieses Vertrages schon sagt, geht es auch darum, für die Stabilität der Währung zu sorgen, das heißt, die Rückführung der Verschuldung in Europa zu organisieren und zu realisieren und dadurch wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten zu entfalten und in einer sich rasch wandelnden Welt die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas insgesamt zu gewährleisten; darauf kommt es an. Es ist also notwendig, dass wir die Verschuldung zurückführen. Hier hat Deutschland ein gutes Beispiel gegeben. Es ist ein großartiger Erfolg der Bundesregierung, dass sie 25 der 27 Mitgliedstaaten von der Einführung einer Schuldenbremse, wie sie bei uns schon jetzt im Grundgesetz steht, überzeugen konnte, sodass sie diese Schritte, Mechanismen und Maßnahmen für richtig halten. Anders wird es auch nicht gehen. Das ist zunächst im Hinblick auf die Stabilität der Währung besonders wichtig. Die Menschen erwarten von uns zuvörderst, dass wir alles für die Stabilität der Währung tun. Darüber hinaus haben wir es in ganz Europa und nicht nur in Deutschland mit einer dramatischen demografischen Veränderung zu tun, die alle Länder Europas vor die Riesenherausforderung stellt, dafür zu sorgen, dass nicht immer mehr Lasten in die Zukunft verschoben und damit auf wenige Schultern verteilt werden. Bei diesem Vertrag, dem Fiskalpakt, und den Mechanismen, die ich vorhin genannt habe – die Rettungsschirme usw. –, geht es vordergründig um die Stabilität der Währung, um die Finanzmarktstabilität usw. Es geht aber auch um mehr: Es geht um Europa insgesamt, darum, wie es sich politisch, wirtschaftlich und kulturell entwickelt hat und wie es sich als Wertegemeinschaft empfindet. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die SPD hat der Kollege Michael Roth das Wort. (Beifall bei der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich aus den Klauen der Finanzmärkte befreien möchte (Otto Fricke [FDP]: Der macht keine Schulden!) – da haben Sie völlig recht, Herr Fricke –, der muss nicht nur die Märkte regulieren, sondern der muss sich auch aus der immer schneller angetriebenen Schuldenspirale befreien. (Joachim Spatz [FDP]: Sehr gut!) Insofern haben wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten den Weg mit beschritten, auf der nationalen Ebene eine Schuldenbremse einzuführen. Genauso haben wir immer für eine ausgewogene Haushaltskonsolidierung gestritten – selbstverständlich! Aber wenn hier der Eindruck erweckt wird, als sei staatliche Verschuldung per se von Übel, sollte doch zumindest einmal in die allerjüngste deutsche Geschichte geschaut werden. Es waren doch CDU/CSU und SPD, die am Abgrund der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gesagt haben: Wir versuchen, mit erheblichen öffentlichen Investitionen die Auseinandersetzung im Kampf um Arbeitsplätze zu gewinnen. – Wir haben es geschafft. Wir stehen gut da, eben auch – das ist der Preis dieser Lösung gewesen –, weil wir uns in erheblichem Maße neu verschuldet haben; so viel Ehrlichkeit gehört auch in diese Debatte. Lassen Sie doch diese oberlehrerhafte Attitüde in Richtung Griechenland und anderer notleidender Staaten. (Beifall bei der SPD) Wir als SPD-Fraktion haben ganz bescheidene Fragen und Maßstäbe hinsichtlich des Fiskalpaktes: Erstens. Trägt der Fiskalpakt zur Lösung der derzeitigen Probleme bei? (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja!) Zweitens. Hält er, was er verspricht? (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja!) Drittens. Rechtfertigt er die Spaltung der Europäischen Union? (Joachim Spatz [FDP]: Die findet ja gar nicht statt!) Dieser Fiskalpakt zementiert das Merkel’sche Modell von Europa: ein Europa der Regierungen, ein Europa der Hinterzimmerdiplomatie. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – Joachim Spatz [FDP]: Hätten wir nichts machen sollen?) Hier wird die Demokratie nicht gestärkt. Hier wird die Demokratie geschwächt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Es gab noch nie so viel Parlamentsbeteiligung wie in diesen Tagen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir zahlen für diese Politik einen hohen Preis. Man muss einmal schauen, wie die Kommentare aus unseren Nachbarländern klingen. Ich empfehle einmal, die Beiträge (Joachim Spatz [FDP]: Aus Frankreich! Das ist schon klar!) des luxemburgischen Ministerpräsidenten oder auch des luxemburgischen Außenministers zu lesen. Wir haben uns mit dieser Politik von den kleineren Mitgliedstaaten entfremdet. Deutschland hat sich immer auch als Sachwalter der Interessen der kleineren Mitgliedstaaten verstanden. Wir haben mit dieser Tradition gebrochen. Das muss diese Regierung mitverantworten. (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Wir haben im gleichen Maß die Gemeinschaftsinstitutionen geschwächt. (Joachim Spatz [FDP]: Quatsch!) Beispiel Klagerecht: Nicht die Kommission soll klagen, sondern ein Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten sollen gegen andere Mitgliedstaaten klagen. (Otto Fricke [FDP]: Wer wollte das?) Glauben Sie allen Ernstes, dass das jemals passieren wird? Bundestagspräsident Lammert hat schon in der vergangenen Woche eingefordert, die Sanktionen müssten automatisch erfolgen, sonst sehe er keine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag für den Fiskalpakt. Ich will nur einmal daran erinnern: Wer hat denn damals, als die Europäische Kommission und das Europäische Parlament automatische Sanktionen vorgeschlagen haben (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau! Das waren Schröder und Eichel!) – das war im vergangenen Jahr –, diesen Vorschlag bei einem Spaziergang in Deauville geopfert? Das waren doch Frau Merkel und Herr Sarkozy. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Nein, Sie meinen Schröder und Eichel!) All das, was Sie sich jetzt an die Brust heften, hätte man schon längst im Gemeinschaftsrecht ohne die Spaltung der Europäischen Union in Länder, die sich am Fiskalpakt beteiligen, und in Länder, die sich am Fiskalpakt eben nicht beteiligen, haben können. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das waren doch Schröder und Eichel!) Warum sind Sie diesen gemeinschaftlichen, diesen solidarischen Weg nicht weitergegangen? Die jetzigen Vereinbarungen rechtfertigen aus meiner Sicht nicht diese massive Auseinandersetzung und diesen starken Legitimationsbruch. Meine Fraktion spricht sich selbstverständlich für einen Fiskalpakt aus, aber für einen echten Fiskalpakt, (Otto Fricke [FDP]: Mit Automatismen?) für einen Fiskalpakt, der den Kampf gegen das Steuerdumping in der Europäischen Union endlich aufnimmt. Es kann nicht angehen, dass Länder in der Europäischen Union eine beschämend niedrige Unternehmensbesteuerung haben und wir die Solidaritätslasten zu tragen haben. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Gilt das auch für die Lebensarbeitszeit?) Selbstverständlich sind wir für einen Fiskalpakt, mit dem man genauso wie für Haushaltskonsolidierung auch für Investitionen in die Energiewende streitet, (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Wo kommt das Geld her?) für Investitionen in den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit und für Investitionen in Innovationen. Ein bisschen mehr Respekt und ein bisschen mehr Anerkennung gegenüber den griechischen Verantwortlichen hätte ich mir auch aus Ihren Reihen gewünscht. Stellen Sie sich nur einen kurzen Moment vor, wir müssten das, was derzeit in Griechenland beraten und diskutiert wird, hier im Deutschen Bundestag beschließen: massive Absenkung der Mindestlöhne – die wir leider noch gar nicht haben –, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da sieht man, dass Sie falsch liegen!) massive Absenkung der Renten und der Altersvorsorgeleistungen, massive Kürzungen im Sozialbereich, massiven Personalabbau im öffentlichen Dienst. Ich will nicht sagen, dass all das nicht notwendig wäre, (Otto Fricke [FDP]: Aha!) aber meine Fraktion würde sich ein bisschen mehr Respekt und Anerkennung statt Ihrer permanenten arroganten, oberlehrerhaften Attitüde wünschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Otto Fricke hat jetzt das Wort für die Fraktion der FDP. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Otto Fricke (FDP): Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Roth, arrogant ist doch im Zweifel immer der, der anderen oberlehrerhaft Arroganz vorwirft. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Da sind Sie ja Experte!) Deswegen schlage ich vor: Lassen wir das sein. Ich unterstelle Ihnen keine Arroganz; denn ich glaube nicht, dass das ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Ich will jetzt etwas zu Griechenland sagen, und zwar in Richtung der griechischen Bürger und der griechischen Politiker. Diese Zeit ist für alle Beteiligten verdammt schwer und hart. Das wissen wir Politiker in allen Fraktionen hier genau, und das achten wir auch. (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU]) Das hindert uns aber nicht daran, dafür zu streiten, die richtigen Lösungen für unser Land und für Griechenland zu finden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Ja! Die richtigen Lösungen!) Weder Sie noch wir haben die absolute Sicherheit und Gewissheit, geschweige denn die Weisheit, die Frage, was richtig oder falsch ist, korrekt zu beantworten. Denn manches, was auf den ersten Blick richtig, schön und wählbar erscheint, erweist sich auf den zweiten Blick als falsch. (Manfred Zöllmer [SPD]: Genau damit hat Frau Merkel große Erfahrungen gemacht!) Zu dem Thema der Aktuellen Stunde, das ich gut gewählt finde, will ich auf einen Punkt hinweisen: die Auswirkungen auf Demokratie und Sozialstaat. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Kein Cent für Griechenland!) Warum haben wir diese Zustände in Griechenland? Wie konnte eine Demokratie in diese Situation kommen? Damit kommen wir an den Punkt, bei dem ich jeden Bürger um Aufmerksamkeit gegenüber der Politik und uns allen bitte. Es ist leider für zu viele in der Politik und für viel zu viele in der griechischen Politik der einfache Weg gewesen, auf Mehrausgaben zu setzen. (Zuruf von der LINKEN: Weniger Einnahmen!) Wir alle wissen, dass es einfacher ist, dem Bürger zu sagen: „Das bekommst du; dafür sorge ich“, und das dafür nötige Geld irgendwoher zu holen, (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Einfach, niedrig und gerecht! Genau!) als zu sagen: „Nein, ich mache das nicht“, weil ich nicht bereit bin, dafür in die Verschuldung zu gehen. Die griechischen Regierungen, egal von welcher Seite, sind in die Verschuldung gegangen. Wir können darüber streiten, an welcher Stelle man bei der Sanierung mit Einsparungen ansetzt. Das ist die politische Diskussion, die wir immer wieder führen. Wir dürfen aber nicht verkennen, dass der Fehler darin lag, dass es der Politik in Griechenland wie in vielen anderen Ländern Europas und vielleicht auch in Deutschland zu einfach gemacht worden ist, Schulden zu machen und die Probleme irgendeiner nachfolgenden Generation vor die Haustür zu kehren. Der Fiskalpakt bewirkt, dass so etwas nicht mehr passiert. Das halte ich auf Dauer für weit besser für eine Demokratie, als die Dinge laufen zu lassen, auf die Inflation zu setzen und sich nachher zu wundern, dass die Mittelschicht komplett wegbröckelt und das Vertrauen in die Demokratie verloren geht. Deswegen halte ich mit meiner Fraktion und der Koalition diesen schwierigen Weg für den einzig gangbaren Weg. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum Thema Sozialstaat: Wir werden in der Politik nie zu einer Einigung darüber kommen, welche Mittel und Leistungen für einen Sozialstaat die richtigen sind. Das ist auch gut so, weil es einen Wettbewerb um die besten Ideen gibt. Dabei gilt aber: Auch der Sozialstaat muss erwirtschaftet werden. Er muss durch Leistungen der Starken erbracht werden. Und deshalb gibt es in einem Sozialstaat Grenzen der Leistungsfähigkeit. Wenn man will, dass der Sozialstaat existiert, dann kommt man zu der Frage: Ist es richtig, heute Zusatzrenten und morgen ein 13. oder 14. Gehalt und soziale Leistungen zu versprechen (Manfred Zöllmer [SPD]: Oder Steuersenkungen!) und das Ganze, wie es in Griechenland der Fall war, auf Pump zu machen und erst im Nachhinein die Auseinandersetzung zu führen und dann bei denen anzusetzen, die auf den Sozialstaat gehofft und vertraut haben? (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann kürzt man mal lieber den Mindestlohn um 20 Prozent!) – Da kommt der Mindestlohn! Wir merken doch – das kann ich zumindest für die FDP sagen –, dass die Argumentation zum Mindestlohn, die wir immer wieder vorgebracht haben, vollkommen richtig ist. Ist der Mindestlohn zu hoch, sieht der Arbeitsmarkt so aus wie in Griechenland. Ist er zu niedrig, dann hat er keinen Effekt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) – Ich weiß, dass Sie jetzt aufschreien. Aber beobachten Sie, was in Griechenland passiert. (Zurufe von der SPD) Es zeigt sich doch, dass bei einem Mindestlohn in dieser Höhe keiner in Griechenland investieren wird, weil sich jeder sagen wird: Angesichts dieses Mindestlohns und der Leistungen, die erbracht werden, kann ich auch weiterhin in einem hochproduktiven Land wie Deutschland produzieren. Deswegen funktioniert dieser Ansatz nicht. Dabei geht es nicht um die Frage, dass jemand, der 40 Stunden arbeitet, von dieser Arbeit leben können muss. Ein weiterer Aspekt zum Punkt Sozialstaat: Was für eine Aufgabe hat ein Sozialstaat als Teil einer sozialen Marktwirtschaft in einem modernen Europa? – Er hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Bürger darauf vertrauen können, dass das Versprechen von heute auch morgen eingehalten wird, dass also gesagt wird: Lieber dauerhaft 1 Prozent weniger als kurzfristig 10 Prozent mehr und nachfolgend Inflation. Von daher halten wir den Fiskalpakt auch mit all den Argumenten, die die Vorredner der Koalition schon genannt haben, für dringend notwendig. Wir halten ihn für essenziell. Notwendige Voraussetzung ist ein Umdenken beim Umgang mit der Verschuldung; denn nur dann, wenn Politik daran gehindert wird, mehr Geld auszugeben, als sie bekommen kann, wird sie auf Dauer Vertrauen in die Demokratie und den Sozialstaat schaffen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Danke, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hohes Haus! Europa war und ist eine Riesenchance für Deutschland. Unser Land hat diese Chance in der Vergangenheit redlich genutzt und sollte sie in der Zukunft auch weiter nutzen. Ich glaube, es stimmt: Wir gelten als diejenige Nation, die in dem europäischen Einigungsprozess politisch und ökonomisch auf der Gewinnerseite steht. Die deutsche Wiedervereinigung wäre zum Beispiel ohne den vorhergegangenen europäischen Integrationsprozess niemals möglich gewesen, und wirtschaftlich ist die Exportnation Deutschland wie wenige andere Länder darauf angewiesen, dass es einen gemeinsamen Binnenmarkt gibt. Wir Deutsche sollten für eine europäische Erfolgsgeschichte dankbar sein, die uns politisch und wirtschaftlich vorangetrieben hat. Wir sollten als Erste daran mitwirken, diesen europäischen Integrationsprozess wirtschaftlich und politisch zu vertiefen, und zwar nicht nur, weil wir weiter davon profitieren wollen, sondern weil wir mehr Nationen einladen wollen, an dieser europäischen Erfolgsgeschichte mitzuwirken, ihr beizuwohnen und sie zu teilen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Als wir in den 90er-Jahren für Teile dieses Europas eine gemeinsame europäische Währung entwickelt haben, waren wir der festen Überzeugung, dass es zweier Dinge bedarf: erstens einer unabhängigen Zentralbank und zweitens einer stabilen Finanzpolitik in allen Euro-Zonen-Ländern. Die eine Säule heißt EZB, die andere ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beide Säulen haben gut gewirkt. Das wird deutlich, wenn man sich ansieht, welche Konvergenz von den 90er-Jahren bis zur Mitte dieses Jahrzehnts – bis 2008 – erreicht wurde. Als wir Deutsche 2003/2004 allerdings in Schwierigkeiten geraten sind, haben wir nicht unser Verhalten, sondern die Regeln geändert. Wir haben dem Stabilitäts- und Wachstumspakt gemeinsam mit anderen Ländern die Stabilitätsvorgabe entzogen. Stabilität in Europa war nichts mehr wert, und mit der ersten Finanzkrise wurde dies offenkundig. Wenn ich heute höre, dass die Vertreter von Rot und Grün, die damals die Verantwortung dafür getragen haben, dass die Stabilität in Europa nicht mehr so viel wert war wie zu Zeiten Theo Waigels, (Widerspruch bei der SPD) in ihren Redebeiträgen sagen, dass die Wiederherstellung von Stabilität nicht so wichtig sei, dann kann ich mir das nicht anders erklären, als dass sie offensichtlich ihr schlechtes politisches Gewissen für das Versagen der damaligen Bundesregierung bei der Novellierung des Stabilitätspaktes umtreibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde es für den Bundesfinanzminister und diese Bundesregierung richtig, notwendig und wichtig, dass die Stabilitätsversprechen wieder strikt eingehalten werden. Deshalb ist dieser Fiskalpakt notwendiger denn je. Er ist ein erster wichtiger Schritt. Er ist ein weiterer Schritt hin zur politischen Union, die wir anstreben und für notwendig erachten. Wenn hier gespottet wird, dass ein solcher völkerrechtlicher Vertrag innerhalb von zwei Monaten zusammengestellt worden sei, dann entgegne ich: Das ist Integration in Hochgeschwindigkeit. Diese war allerdings auch notwendig. Europa hat sich somit als handlungsbereit, als handlungswillig und als handlungsfähig gezeigt. Das ist ein gutes Signal an die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und in Europa. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kollege Bartsch hat hier eher für Neues Deutschland und junge Welt als zur Sache geredet. Deshalb will ich noch einmal deutlich machen, worum es in dem Fiskalpakt geht. Er hat dies gelegentlich unterschlagen. Erstens. Ehrgeizige Vorgaben für Fiskaldisziplin und nationale Schuldenbremsen für alle Teilnehmerstaaten des Fiskalpaktes und nicht nur im deutschen Grundgesetz. Zweitens. Die Einhaltung der Regeln kann nun erstmals durch den Europäischen Gerichtshof überprüft werden, und Verstöße können mit Sanktionen belegt werden. (Manfred Zöllmer [SPD]: Klappt nicht!) Das ist ein wichtiger Schritt. Der Kollege Link hat gesagt: Daran müssen wir noch weiter arbeiten. – Aber hier gilt schon einmal: mehr Stabilität für Europa. Drittens. Schuldenbremsen sind nicht durch ein einfaches Gesetz zu verankern, das man sozusagen mit einem Fingerschnipp wieder aufheben kann – deswegen appelliere ich auch an alle Länder in Europa, darüber hinauszugehen –, sondern sie brauchen eine besondere rechtliche Qualität, beispielsweise einen Verfassungsrang. Viertens. Der Fiskalpakt und der Rettungsschirm werden miteinander verzahnt, also keine Solidarität ohne Solidität. Solidarität setzt auch auf Eigenverantwortung. Es kann keiner in Europa ohne Einhaltung von Fiskaldisziplin darauf setzen, dass andere ihn heraushauen. In diesem Sinne ist die Verzahnung von Fiskalpakt und europäischem Rettungsschirm wichtig. (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU]) Dass automatische Sanktionen nun kodifiziert sind, ist ein weiterer wichtiger Erfolg. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Fiskalpakt ist ein gutes Stück Europa. Wir sollten das auch laut und deutlich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In manchen Redebeiträgen hier im Haus ist deutlich geworden, dass wir klar festhalten sollten: Heute, 2012, ist auch ein Schlusspunkt für schuldenfinanziertes Wachstum gesetzt. Wir haben einen so hohen Schuldenstand erreicht, dass das Denken der 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts nicht mehr zieht. Wer heute glaubt, mit mehr Verschuldung mehr Wachstum zu erzeugen, der irrt. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat auch keiner behauptet!) Mit mehr Verschuldung erzeugt man weniger Vertrauen, und durch weniger Vertrauen erzeugt man lediglich mehr Probleme. Auch das ist das Credo dieses Fiskalpakts, der von ganz Europa mitgetragen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Weshalb wollen Sie dann mehr Schulden?) Ich habe gerade gehört, wie der Kollege Roth für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erklärt hat: Schulden sind gut; wir haben in Deutschland welche gemacht, und deswegen muss auch Griechenland mehr Schulden machen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das habe ich überhaupt nicht gesagt!) Das zeigt, dass der Kollege Roth die letzten 20, 30 Jahre der europapolitischen und der ökonomischen Entwicklung schlichtweg verschlafen hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frank Steffel! – Manfred Zöllmer [SPD]: Sie haben nicht zugehört!) Wachstum durch Schulden, das ist altes Denken; das trägt nicht im 21. Jahrhundert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: An Ihrer Stelle würde ich die Backen nicht so aufblasen!) Lassen Sie mich ein Wort zu Griechenland sagen. Es ist festzuhalten – das ist in dieser Debatte verschiedentlich angesprochen worden –: Der Fortschritt auf griechischer Seite in den letzten Wochen war unzureichend. Griechenland muss handeln. Europa wartet auf griechische Entscheidungen. Für heute Abend hat der Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, die Finanzminister zu einem neuerlichen Treffen eingeladen, um die Erkenntnisse, die die Troika gewonnen hat, und den Stand bei der Beteiligung des privaten Sektors zu bewerten. Gegebenenfalls wird es im Kreise der Finanzminister auch zu Beschlüssen kommen. Klar ist allerdings, es sind von griechischer Seite noch nicht alle Fragen beantwortet: Erstens. Wie will man die offenkundig vorhandene Finanzierungslücke im laufenden Haushaltsjahr in Griechenland schließen? Zweitens. Was sagt die griechische Seite zu dem Thema des vorbeugenden Handelns? Auf Ankündigungen kann man keine solide Politik aufbauen. Politik bedarf eines konkreten Handelns. Drittens. Wie stellen sich die griechischen Parteien, die den griechischen Premierminister gewählt und gestützt haben, zu diesen Verabredungen? Werden die Verabredungen auch von einer breiten politischen Mehrheit getragen? Ohne die Antworten aus Griechenland kann Europa nicht handeln. Europa ist handlungswillig, wenn Griechenland handelt und verbindliche Zusagen macht. Das ist die klare Botschaft, die auch von dieser Debatte ausgehen sollte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das griechische Beispiel zeigt aber auch: Verantwortung für nationale Haushalte haben vor allen Dingen die Nationalstaaten selbst. Verantwortung muss von allen Seiten wahrgenommen werden, auch von der griechischen Seite. Das entspricht den griechischen Interessen; denn nur wenn die Haushalte solide sind, wird Griechenland auch politisch, sozial und wirtschaftlich auf Dauer solide sein. Das entspricht auch den Erwartungen in Deutschland. Aber vor allen Dingen entspricht das den Interessen Europas an einer dauerhaften Stabilität nicht nur in Griechenland, sondern in allen Haushalten in der Euro-Zone und weit darüber hinaus. Deswegen ist dieser Fiskalpakt richtig, dringend und zwingend notwendig für mehr Stabilität in Europa. Mehr politische Union bedeutet mehr politisch-wirtschaftliche Stabilität für unser Vaterland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hinweisen, der auch in dieser Debatte eine Rolle gespielt hat, nämlich die parlamentarische Begleitung dieses Integrationsprozesses. Ich möchte mich beim Deutschen Bundestag ausdrücklich für die sehr intensiven Beratungen in den letzten ein, zwei Jahren zu diesem Themenbereich bedanken, neben dem Plenum insbesondere im Haushaltsausschuss und im Europaausschuss. Ich gehöre dem Hohen Haus seit etwas mehr als 20 Jahren an. Seit der Wiedervereinigung ist diese Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Legislative und Exekutive, die bei einigen zentralen europapolitischen Entscheidungen, die in dieser Zeit zu treffen waren, immer wieder nötig wurde, nicht nur beispielhaft, sondern intensiv und gegenseitig bereichernd. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das gilt für die Beratungen zum Sixpack, zum ESM, zur EFSF, zu dieser Griechenland-Entscheidung und zu diesem Fiskalpakt. Zu den Aussagen von Rednern der Opposition, hier sei eine Form der Entparlamentarisierung oder der demokratischen Entäußerung diskutiert worden, kann ich nur sagen: Das ist schlichtweg Unsinn. In diesen Gremien sind doch Vertreter aller Fraktionen. Ich weise darauf hin, dass ein Vertreter der Opposition – er ist leider nicht mehr da – gestern im Haushaltsausschuss gesagt hat, die Beteiligung des Parlaments an diesen Prozessen sei im Vergleich zu Parlamenten anderer europäischer Länder, die er beobachtet habe, vorbildlich und beispielgebend. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es ging um das Europäische Parlament! Das spielt doch gar keine Rolle mehr!) Wenn selbst die Opposition im Haushaltsausschuss damit zufrieden ist, wie wir diese Prozesse demokratisch begleiten, dann kann die Bundesregierung nicht mehr machen. In diesem Sinne werden wir weiter darum ringen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sehen uns erst einmal vor dem Verfassungsgericht, Herr Kampeter!) Wir werden Sie aufrichtig und umfassend informieren – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: – und setzen für Europa und die Zukunft Europas mit mehr finanzieller Stabilität auch auf Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kampeter, es ist sehr interessant, dass Sie definieren wollen, wozu wir bei der Aktuellen Stunde, die wir beantragt haben, reden dürfen. Das müssen Sie schon der Fraktion überlassen, die die Aktuelle Stunde beantragt hat. Auch Herr Kalb von der CDU/CSU hat sich gewundert, dass der Fiskalpakt überhaupt Thema ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Beim Thema bleiben!) Ich möchte darauf aufmerksam machen: Wir reden hier von einem historischen Vertrag. Seit zwei Monaten gibt es darüber Hunderte von Gesprächen europaweit und in Hinterzimmern, aber am Parlament und an der Öffentlichkeit geht das Thema vorbei. Durch die Aktuelle Stunde, die die Linksfraktion beantragt hat, wird das Thema Fiskalpakt endlich auch einmal im Plenum des Bundestages behandelt. Eigentlich bedürfte es einer Regierungserklärung, damit auch das Parlament und die Öffentlichkeit erfahren, was Sie hier vorhaben. (Beifall bei der LINKEN – Joachim Spatz [FDP]: Es gab schon eine Regierungserklärung im Dezember!) Frau Hinz, ich weiß nicht, ob es eine Steigerungsform von „pleite“ gibt. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Linkspartei!) Sie haben uns kritisiert, weil wir dem Griechenland-Paket nicht zugestimmt haben. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass seit dem ersten Griechenland-Hilfspaket die Verschuldung in Griechenland zugenommen hat? (Joachim Spatz [FDP]: Na klar!) Wir als Linke haben gesagt: Mit dieser Politik treibt man die griechische Wirtschaft in die Rezession. Das wird zu massivem Sozialabbau führen, und am Ende wird es den Griechen schlechter gehen. (Otto Fricke [FDP]: Sie haben nur nicht gesagt, wer das bezahlen soll!) Genau diesen Zustand finden wir heute vor. Das zeigen die Bilder aus Griechenland. Das heißt, die Linke, die einzige Fraktion, die vor diesem Weg gewarnt hat, hat das Paket im Bundestag zu Recht abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN – Joachim Spatz [FDP]: Sagen Sie doch mal, wer das bezahlen soll! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was hätten Sie gemacht?) Wir sind auch deshalb dankbar für die Aktuelle Stunde, weil die FDP erneut gezeigt hat, welches neoliberale und menschenverachtende Bild sie eigentlich verfolgt. (Widerspruch bei der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Bingo!) Wenn hier gesagt wird, der Mindestlohn sei ein riesiges Problem, dann weise ich Sie noch einmal darauf hin: Der Mindestlohn soll jetzt in Griechenland von 750 Euro auf 580 Euro gekürzt werden; das entspricht einem Stundenlohn von 3,60 Euro bei vergleichbaren Lebensverhältnissen. Das zeigt, wohin Sie die Völker Europas führen wollen: in Armut und Sozialabbau. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Waren Sie eigentlich einmal dort? Das ist absurd!) Es war gut, dass Sie dies heute noch einmal kundgetan haben. Sicher in diesem Zusammenhang ist: Die FDP ist mit ihren 3 Prozent noch zu gut bewertet. (Beifall bei der LINKEN) Der Fiskalpakt ist das Diktat der Finanzmärkte in Vertragsform. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Blödsinn!) Wenn Sie, Herr Barthle, sagen, es sei fast schon historisch, was die Kanzlerin gemacht habe, und das mit einem Glorienschein versehen, dann sage ich Ihnen: Das, was die Kanzlerin mit Sarkozy verhandelt oder erpresst hat (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: „Erpresst“ hat? Straftat!) im Sinne der Ackermänner dieser Welt, ist der Sargnagel für ein europäisches Sozialmodell und die Demokratie in Europa. Wir werden die europäischen Völker tief in die Krise führen, noch tiefer als heute. (Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bevölkerungen!) Dann heißt es immer, wir hätten eine Staatsschuldenkrise. Ich habe hier ein Schaubild von der Europäischen Zentralbank. Bitte nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis. (Otto Fricke [FDP]: Sie müssen das umdrehen!) Wir hatten bis zur Lehman-Brothers-Pleite keine Staatsschuldenkrise. Erst zu diesem Zeitpunkt ist die Staatsschuld größer geworden, weil wir die Banken gerettet haben. Wir haben also keine Staatsschuldenkrise, sondern eine Krise durch die Rettung von Banken, und das soll jetzt durch Sozialabbau ausgeglichen werden. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Können Sie das beziffern, wie die Banken unsere Staatsverschuldung erhöht haben?) Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Schulden in den Griff zu bekommen: Die eine Möglichkeit ist, die Einnahmeseite zu erhöhen, die andere Möglichkeit ist – das machen Sie – Sozialabbau. Wir sind offensichtlich die einzige Fraktion im Bundestag, die sagt: Man muss die Einnahmeseite erhöhen und darf Europa nicht mit Sozialabbau in die Rezession treiben. (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Also Steuern rauf in Griechenland? – Sie reden von Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben!) Deshalb sagen wir klipp und klar: Wir als Linke werden diesen Fiskalvertrag hier ablehnen. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das Leben so einfach wäre, wie sich die Linke das vorstellt!) Herr Roth, Sie haben hier wiederholt, dass der Fiskalvertrag keine Lösung bietet. Wir sind gespannt, wie sich die SPD im Bundestag verhalten wird. Denn eines ist klar: Wenn etwas schlecht ist, dann kann man nicht – auch nicht aus staatspolitischer Verantwortung – zustimmen. Denn es gibt keine staatspolitische Verantwortung, die fordert, eine falsche Politik zu unterstützen. Sie haben bei den Griechenland-Paketen und bei den Schutzschirmen immer zugestimmt. Aber die SPD muss ihren Worten im Plenum endlich auch einmal Taten folgen lassen. Wenn Sie das für richtig halten, was Sie hier sagen – ich sage: Es war richtig –, müssen Sie den Fiskalvertrag ablehnen. (Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie mit der neoliberalen SPD paktieren?) Für die Linke ist relativ klar: Die Einnahmeseite muss erhöht werden. Deshalb: (Zuruf von der CDU/CSU: Steuern rauf!) Unsere Schuldenbremse heißt nicht Sozialabbau, unsere Schuldenbremse heißt Millionärssteuer. (Zuruf von der FDP: Ja, für die Griechen! Griechische Millionäre! Onassis! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das löst leider nicht alle Probleme dieser Welt!) Im Fiskalvertrag findet sich auch kein Ton darüber, wie eigentlich die Finanzmärkte, die uns in diese Krise hineingetrieben haben, beteiligt werden sollen. Kein Wort von einer Finanztransaktionsteuer! Kein Wort von einer Beteiligung der Banken! Kein Wort von höheren Spitzensteuersätzen! Nein, was man hört, ist: Die Staaten sollen mit Sozialabbau ihre Haushalte in den Griff bekommen. Es bleibt dabei: Das wird der europäischen Idee massiv schaden. Sarkozy und Merkel haben sich zu Erfüllungsgehilfen von Ackermann gemacht. Das wird die europäische Idee nachhaltig beschädigen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Langsam wird es langweilig!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion ergreift jetzt der Kollege Eckhardt Rehberg das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Dieser Fiskalpakt ist aus meiner Sicht zweifach historisch, und zwar weil er (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon gescheitert ist!) erstens Fehler der letzten 20 Jahre in der europäischen Politik korrigiert und zweitens, Kollege Roth, auf Nachhaltigkeit setzt. Dieser Fiskalpakt setzt auf Nachhaltigkeit, auf Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe den Diskussionsprozess in der Großen Koalition zum Thema Schuldenbremse noch gut in Erinnerung: Es war schon für uns ein schwieriger Weg, zu einem Ziel zu kommen. Es war aber auch ein notwendiger Weg. Staatssekretär Kampeter hat zu Recht gesagt: Es muss Schluss sein mit dem schuldenfinanzierten Wachstum. – Dass der Fiskalpakt nun innerhalb von zwei Monaten durchgebracht wurde und 25 europäische Staaten ihm zugestimmt haben, ist gerade für die südeuropäischen bzw. südosteuropäischen Länder nicht nur ein politischer Paradigmenwechsel, sondern auch ein kultureller Paradigmenwechsel bezüglich der Fragen: Wie stehe ich zu Schulden, wie stehe ich zur Geldpolitik? Deswegen sollte man diesen Fiskalpakt mit all seinen Mechanismen nicht kleinreden; denn er ist ein wichtiges Instrument, damit wir in Europa Stabilität bekommen. Meine Damen und Herren von den Linken, Solidarität kann keine Einbahnstraße sein. Glauben Sie denn, dass sich, wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären, an irgendeiner Stelle irgendetwas in Griechenland bewegt hätte? Kollege Bartsch, gelegentlich sollten Sie sich einmal einen Bericht aus dem Oktober 1989 vornehmen, den sogenannten Schürer-Bericht über die Verhältnisse in der ehemaligen DDR. Unter anderem haben da Einnahmen und Ausgaben überhaupt nicht mehr zueinandergepasst. Ich kann nicht 1 Euro einnehmen und 2 Euro ausgeben. Das führt zur Krise des Sozialstaats und zur Krise der Demokratie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt wird gefordert, das Wachstum in Griechenland besonders zu fördern, mit einem Marschallplan, einem Merkel-Plan. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn meine Informationen stimmen, stehen Griechenland in der Förderperiode der Europäischen Union von 2006 bis 2013 20 Milliarden Euro zur Verfügung. (Zuruf von der FDP: So ist es!) Davon sind gerade einmal 5 Milliarden Euro abgerufen. Diese Förderperiode dauert noch zwei Jahre. Griechenland muss im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern lediglich 5 Prozent kofinanzieren. Das heißt, für Griechenland liegen für Forschung, Entwicklung, Infrastruktur, gewerbliche Wirtschaft 15 Milliarden Euro bei der Europäischen Union bereit. Es gibt nur ein Problem. (Zuruf von der SPD: Die Kofinanzierung!) – Nein, es geht dabei nicht um die Kofinanzierung; (Zuruf von der SPD: Natürlich!) denn dafür kann das Geld verwendet werden, das wir Griechenland im Rahmen der Kredittranchen auszahlen. – Das Problem ist, dass die staatliche Administration in Griechenland einfach nicht in der Lage ist, konkrete Anträge zu stellen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!) Ich muss sagen: Hier geht es nicht um unsere Verantwortung, sondern um die Verantwortung der Griechen. Sie müssen selber für Wachstum und Beschäftigung sorgen. Die Europäische Union setzt nur die Rahmenbedingungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie, meine Damen und Herren von der linken Seite, fordern uns auf, einen größeren Beitrag zu leisten. Wir sind bereits das größte Nettozahlerland in der Europäischen Union. Deutschland leistet auch an dieser Stelle seinen Beitrag, hilft Griechenland und zeigt damit seine Solidarität. Deutschland war vor zehn Jahren die lahme Ente in Europa. Kollege Roth, Sie verabschieden sich sehr schnell und sehr gerne von der erfolgreichen Politik, die Sie damals, als Sie in der Regierungsverantwortung standen, gemacht haben. Ich meine die Agenda 2010. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Dazu habe ich doch wirklich nichts gesagt!) Die Arbeitsmarktreform war der erste Baustein, um Wachstum und Beschäftigung zu generieren. Auch von dem zweiten Baustein verabschieden Sie sich, nämlich von den Steuersenkungen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Mehr Geld für Bildung!) Wir haben die Einnahmeseite durch Wachstum deutlich gestärkt. Man muss nicht Steuern erhöhen, um die Einnahmeseite zu stärken. Man muss vielmehr Wachstum generieren. Dann wird die Einnahmeseite gestärkt. Das ist uns in den letzten Jahren erfolgreich gelungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Noch etwas anderes kommt hinzu: Die Große Koalition und danach die christlich-liberale Koalition haben mit den Konjunkturpaketen I und II eine steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, was die volle Jahreswirkung betrifft, von insgesamt 30 Milliarden Euro vorgenommen. Die Steuermehreinnahmen und die Entlastung der Bürger haben dazu geführt, dass wir heute in Europa so dastehen, wie wir dastehen. Ich glaube, die Opposition sollte schon einmal deutlich machen, dass die erfolgreiche Politik, die wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gemeinsam getragen haben, vorbildlich für Europa sein kann. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Manfred Zöllmer spricht jetzt für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Rehberg, ganz herzlichen Dank für Ihr geradezu euphorisches Lob für die sozialdemokratische Politik der Vergangenheit. (Beifall bei der SPD – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Ja, der Vergangenheit!) – Wir sind im Moment nicht an der Regierung. Das wird sich aber 2013 ändern. Da können Sie ganz sicher sein. (Joachim Spatz [FDP]: Na ja!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion wird fälschlicherweise Fiskalpakt genannt. Eigentlich ist es kein Fiskalpakt; es ist ein Haushaltspakt. Aus unserer Sicht wäre es aber nicht schlecht gewesen, sich auch einmal mit der fiskalischen Seite zu beschäftigen und etwa einen Pakt gegen Steuerdumping zu vereinbaren oder eine vernünftige Vereinbarung im Zusammenhang mit der Finanztransaktionsteuer vorzulegen. (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Gegen zu kurze Wochenarbeitszeiten!) Vielleicht wäre es dann möglich gewesen, mehr soziale Ausgewogenheit bei der Bekämpfung der gegenwärtigen Krise zu schaffen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Vielleicht! Eventuell!) Die aktuelle Krise in Europa ist – das ist, so glaube ich, Fakt – nur zum Teil eine Staatsschuldenkrise. Es ist natürlich richtig, dass das von Banken und Finanzmärkten immer suggeriert wird. Sie wollen sich aus der Verantwortung stehlen; denn die aktuellen Schulden sind überwiegend das Erbe der Finanzmarktkrise. (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Was? Griechenland hat seine Schulden wegen der Finanzmarktkrise? – Joachim Spatz [FDP]: So ein Quatsch!) – Ja, das ist so. Schauen Sie sich die Beispiele an. Die Statistik, die hier vorgestellt wurde, war doch nicht falsch; sie war richtig. – Es hat aber eine Ausnahme gegeben, auf die man hinweisen muss. Diese Ausnahme ist Griechenland. Der Schuldenbrand in Griechenland war in der Tat bereits da, im Übrigen – das muss man in aller Deutlichkeit sagen – unter einer konservativen Regierung. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Diese Rechnung braucht man Europa nicht vorzulegen!) Da hat die Finanzmarktkrise nur als Brandbeschleuniger gewirkt. Wir müssen mit Blick auf Europa insgesamt feststellen: Es gibt einen haushaltspolitischen Schlendrian, der bekämpft werden muss. Die Frage ist nur: Wie erreichen wir wieder solide Haushalte? Mit dem Fiskalpakt setzen Sie ausschließlich auf Einsparungen und wundern sich dann über die konjunkturellen und sozialen Auswirkungen einer reinen Austeritätspolitik. Wohlgemerkt, wir Sozialdemokraten sehen die Notwendigkeit von Solidität in den Staatshaushalten. Doch Solidität ohne Solidarität, ohne Wachstum und soziale Ausgewogenheit, verschärft die Krise, statt sie zu überwinden. (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ CSU]: Solidarität ohne Solidität führt auch ins Elend!) Der Vertrag will in Zukunft eine solidere Haushaltsführung der Euro-Staaten sichern. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Der Vertrag, so ist die Planung, wird frühestens am 1. Januar 2013 in Kraft treten, wenn er ratifiziert worden ist. Was folgt daraus? Dieser Fiskalpakt löst kein aktuelles Problem. Er weist nur in die Zukunft. In der Gegenwart wirkt die jetzige Regierung ratlos. Sie überlässt das Krisenmanagement der EZB in der Hoffnung, sie werde tun, was in Deutschland von der Bundesregierung radikal abgelehnt wird, nämlich Schulden durch den Ankauf von Staatsanleihen zu vergemeinschaften. Das hat sie in der Vergangenheit auch getan. (Otto Fricke [FDP]: Was ist Ihr Vorschlag?) Wir erinnern uns noch sehr genau an den Eiertanz über eine Beteiligung des Privatsektors am Schuldenschnitt: Ja, auf jeden Fall, so Frau Merkel; jetzt, so Frau Merkel, nein, auf gar keinen Fall. (Otto Fricke [FDP]: Hallo! Sie scheinen die letzten drei Tage im Schnee steckengeblieben zu sein!) Dann werden viele abenteuerliche Vorschläge produziert, häufig auf Stammtischniveau. Ich erinnere hier an die Forderung nach einem Sparkommissar für Griechenland. So wenig Sensibilität gab es selten. (Beifall bei der SPD) Selten wurde so viel europäisches Porzellan in kurzer Zeit zerschlagen. Da kann man nur sagen: Avanti Dilettanti. Was sind die ökonomischen Konsequenzen? Wenn ein Land von der Droge Verschuldung herunterkommen muss, wird es heftige Entzugserscheinungen geben. Das ist, glaube ich, völlig klar. Aber am Beispiel Griechenland wird deutlich: Mit Ihrer Politik vergrößern Sie diese Entzugserscheinungen. Sie sind größer, als sie eigentlich sein müssten; denn der von Ihnen propagierte Weg aus den Schulden ist falsch. Eine reine Sparorgie führt ökonomisch in eine Rezession, mit extremen sozialen und ökonomischen Verwerfungen und Folgen. (Zuruf von der FDP: Sie geben neues Doping!) Genau das ist im Fall Griechenlands in die Erwägungen einzubeziehen. Die Versprechungen, sich nun endlich auch um Wachstum zu kümmern, sind mit dem Fiskalpakt nicht eingelöst worden. Aber die soziale Situation in diesem Land ist dramatisch: höchste Arbeitslosigkeit, fast völlige Perspektivlosigkeit der Jugend. So etwas kommt in der Politik der Bundesregierung nicht vor. (Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!) Es gibt immerhin eine Erklärung der Staats- und Regierungschef zu Wachstum und Beschäftigung. Das ist sicherlich grundsätzlich positiv. Negativ ist es, dass dieses Papier einen Preis für seine Ansammlung von Allgemeinplätzen verdient hätte. Viel Prosa, nichts Konkretes. Versuchen Sie einmal, mit Prosa Wachstum anzuschieben. (Beifall bei der SPD) Solange es nicht gelingt, die notwendige Haushaltskonsolidierung mit intelligenter Wachstumsförderung zu verbinden, wird diese Krise nicht überwunden werden. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand auf der Welt kann an der Tatsache vorbeigehen, dass die verfügbaren Mittel die materiellen Möglichkeiten bestimmen. Als ich vorgestern erfahren habe, dass ausgerechnet die Linke die Aktuelle Stunde beantragt hat, fühlte ich mich an den Januar vor 22 Jahren erinnert. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ausgerechnet? Was heißt das?) Damals ist ein Mann namens Hans Modrow, der einige Monate Ministerpräsident der sozialistischen DDR war, nach Westdeutschland gereist. Statt dass er dort aus der Erkenntnis der schwierigen Situation in der DDR den Schluss zieht, dass die Marktwirtschaft eingeführt werden muss, hat er als Erstes einen riesigen Milliardenkredit beantragt. Herr Modrow ist im Übrigen heute Ehrenratsvorsitzender der Partei Die Linke. (Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das stimmt doch nicht!) – Dann müssen Sie Herrn Modrow sagen, dass er seinen Lebenslauf im Internet ändern muss. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Fragen Sie bei Ihren Altvorderen nach, was da wirklich war!) Auch im Deutschen Bundestag kommt man an der Regel, dass die verfügbaren Mittel die materiellen Möglichkeiten bestimmen, nicht vorbei. Wenn Ebbe in der Staatskasse ist und der Bankrott der öffentlichen Hand droht, dann ist das in erster Linie und ganz besonders für die Menschen problematisch, die auf staatliche Mittel angewiesen sind: die Rentner, die Sozialhilfeempfänger, die Auszubildenden. Deswegen ist eine Politik solider Staatsfinanzen eben auch eine vorsorgliche, weil nachhaltige Sozialpolitik. Was wir in Griechenland erleben, ist leider genau das Gegenteil. Nach Jahrzehnten des unbedachten Schuldenmachens ist es schon ein epochaler Fortschritt, dass wir nun, nachdem wir in Deutschland diesen Schritt bereits vor einigen Jahren unternommen haben, die Schuldenbremse in 25 der 27 EU-Mitgliedstaaten gesetzlich verankern. Frau Hinz hat vorhin für die Grünen reklamiert, das sei nur eine halbe Sache; denn die Schuldenbremse habe möglicherweise in dem einen oder anderen Land noch nicht einmal Verfassungsrang. Frau Hinz, ich bin im Mai 2009 mit einem Trömmelchen durch Solingen gezogen und habe mich um ein Bundestagsmandat beworben. Zu jener Zeit waren Sie schon hier. Meines Wissens haben die Grünen damals gegen die Aufnahme der Schuldenbremse in das Grundgesetz gestimmt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir eine bessere wollten!) Wir haben mit der Schuldenbremse in der Bundesrepublik Deutschland gute Erfahrungen gemacht. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind nicht gegen die Schuldenbremse!) Die Haushaltspolitik der Bundesregierung ist in diesem Punkt wirklich beachtlich; so ist die Neuverschuldung deutlich auf 17 Milliarden Euro reduziert worden. Ich persönlich möchte es noch erleben, dass wir wieder einmal ausgeglichene Bundeshaushalte vorlegen. Der letzte ausgeglichene Bundeshaushalt war der von 1969 unter Finanzminister Franz Josef Strauß. Danach bekam die Politik des leichten Geldes Aufschwung, weil man glaubte, man könne durch zusätzliche Verschuldung, durch das Gelddrucken der Zentralbank die Wirtschaft und den Konsum ankurbeln und sich damit aus der Wirtschaftskrise bewegen. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch Blödsinn, was Sie da erzählen!) Helmut Schmidt hat gesagt: 5 Prozent Inflation sind mir lieber als 5 Prozent Arbeitslosigkeit. – 1982 hatte Deutschland 5 Prozent Inflation, 7 Prozent Arbeitslosigkeit und ein Wirtschaftswachstum von minus 1 Prozent, also einen Rückgang des Wirtschaftswachstums. Das ist der ökonomische Supergau. Insofern war es richtig, dass dann eine andere Regierung an die Macht kam. Was die linke Seite des Hauses als Medizin für die überschuldeten Euro-Staaten vorschlägt, ist in Wirklichkeit Gift für die Staatsfinanzen und für die Menschen. Es betäubt die Menschen und vernebelt den Blick auf das eigentliche Problem, nämlich die fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Diese ist nur zu erreichen, wenn die Produktivität steigt. Wenn die Lebensarbeitszeiten kürzer, der öffentliche Sektor größer und die Löhne höher sind als in der übrigen Euro-Welt, dann muss sich diese Situation eben ändern. Daran führt leider kein Weg vorbei. In den 30er-Jahren, in Zeiten der keynesianischen Politik, hieß es: Lasst uns doch einfach ein bisschen Inflation machen, dann brauchen wir die Löhne nicht zu kürzen, und die Leute haben trotzdem weniger Geld. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist Vulgärkeynesianismus!) Keynes hat das als „Geldillusion“ bezeichnet. Ich sage: Geldillusion ist ein anderes Wort für Betrug an den Menschen. Die kleinen Leute laufen nämlich mit ihren Einkommen den steigenden Preisen hinterher und müssen erleben, dass ihre Spareinlagen entwertet werden. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das müssen Sie mal nachlesen!) Diesen Betrug können wir nicht mitmachen. Deswegen gibt es zur Konsolidierung der Haushalte aller EU-Staaten keine Alternative. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte ganz deutlich anmerken: Wenn es denn gelingen sollte, wieder auf den Pfad solider Haushalte zurückzukehren – auch in Staaten wie Griechenland, Portugal usw. –, dann ist es Aufgabe und Pflicht der starken Nationen in der Europäische Union, entweder über EU-Mittel oder durch entsprechende Programme den wirtschaftlichen Aufbau und die Schaffung von Wettbewerbsfähigkeit in diesen Staaten konkret zu unterstützen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Na also!) Vorhin hat Kollege Rehberg angemerkt: Solange die griechische Regierung nicht einmal bereit und in der Lage ist, die zur Verfügung stehenden EU-Mittel auszuschöpfen, die für Wachstum und Beschäftigung eingesetzt werden können, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Mit dem Fiskalpakt unternehmen wir jetzt den entscheidenden Schritt zur Konsolidierung der Haushalte in der Europäischen Union. Anschließend sollten wir uns ganz konkret der Frage zuwenden, wie wir die Europäische Union zu einer Region des Wachstums und der Beschäftigung für die Zukunft machen. Ich glaube, auf dieser Basis werden wir letztendlich eine große Übereinstimmung hier im Hause finden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) und zur Änderung weiterer Gesetze – Drucksache 17/7576 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 17/8615 – Berichterstattung: Abgeordnete Maria Klein-Schmeink Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung gebe ich das Wort dem Bundesminister Daniel Bahr. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: Vielen Dank, Frau Präsidentin, auch dafür, dass Sie für Ruhe gesorgt haben. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Welt wächst weiter zusammen. Die Menschen sind immer mobiler geworden. Innerhalb kürzester Zeit legen sie weite Strecken zurück. Handelsgüter werden schnell und in großer Menge zwischen den Kontinenten ausgetauscht. Auch der internationale Reiseverkehr ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, weil wir zwischen den verschiedenen Kulturen Erfahrungen austauschen und weit entfernte Länder besser kennenlernen können. Es ist aber eine naheliegende Folge, dass sich auch Krankheitserreger, bekannte und neu auftretende, immer rascher über Grenzen hinweg ausbreiten können. So sorgen unter anderem mehr als 2 Milliarden Flugreisen pro Jahr dafür, dass Epidemien nicht mehr auf eine Region beschränkt bleiben, sondern schlimmstenfalls zu Pandemien werden und die Weltbevölkerung bedrohen. Globale Gefahren erfordern deshalb eben auch globale Antworten. Die seit Juni 2007 in ihrem Anwendungsbereich deutlich erweiterten Internationalen Gesundheitsvorschriften zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vor der grenzüberschreitenden Ausbreitung von Krankheiten sind eine solche Antwort unserer Volksgemeinschaft. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Volksgemeinschaft?) – Völkergemeinschaft. – Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum IGV-Durchführungsgesetz schließen wir uns dieser Antwort an und unterstreichen ihre Bedeutung. Erstens geschieht das durch ein neues Stammgesetz mit Vorschriften über die Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften. Damit kommen wir, wie 193 andere Vertragsstaaten auch, der Verpflichtung nach, bis Juni 2012 unsere Surveillancesysteme und bestimmte Flughäfen und Häfen in Deutschland für gesundheitliche Notlagen zu rüsten. Insgesamt werden bei uns fünf Häfen und fünf Flughäfen diesem Standard entsprechen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir eine klare und faire Zuordnung der Kosten vor: Die Kosten werden sachlich differenziert der Wirtschaft sowie dem öffentlichen Gesundheitsdienst zugewiesen, je nach Verantwortungsbereich. Es gelingt uns damit, im Hinblick auf die globalen Herausforderungen – drohende Pandemien und Krankheitserreger, die vor Länder- und Kontinentalgrenzen nicht haltmachen – besser gerüstet zu sein. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen in Deutschland, aber auch für die Menschen, die über die Kontinente hinweg viel reisen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zweitens ändern wir mit diesem Gesetzentwurf das Infektionsschutzgesetz und reagieren damit auf die Erfahrungen aus der letztjährigen Ehec-Epidemie in Norddeutschland. Sie können sich erinnern, dass wir bei der Ehec-Epidemie im Mai letzten Jahres in Norddeutschland – in Hamburg, teilweise in Schleswig-Holstein – bei der Versorgung im Gesundheitssystem an unsere Kapazitätsgrenzen gestoßen sind. An dieser Stelle möchte ich deshalb noch einmal ganz besonders denjenigen danken, die im Rahmen unseres Gesundheitssystems in den Krankenhäusern, den Pflegeeinrichtungen, der niedergelassenen Ärzteschaft und vielen anderen Bereichen dazu beigetragen haben, dass die Menschen, die von Ehec bedroht waren, gut versorgt werden konnten. Die medizinische Versorgung war seinerzeit in Deutschland trotz der besonderen Herausforderung wirklich exzellent. Dafür können wir den Menschen danken, die in dieser schweren Zeit täglich ihr Engagement bewiesen und unter Stress ihre Aufgaben bewältigt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will an der Stelle, auch wenn es zunächst nichts mit dem IGV-Durchführungsgesetz zu tun hat, dem Bundestag sagen: Wir, die Bundesregierung, verfolgen mit großem Interesse, wie die Kosten, die seinerzeit bei denjenigen entstanden sind, die besonders belastet waren – insbesondere Krankenhäuser in Norddeutschland –, nun bewältigt werden. Wir freuen uns, dass die Gespräche hier gut geführt werden, damit die Krankenhäuser, die nicht aufs Geld geschaut haben, sondern darauf, die beste Versorgung für die Patienten zu gewährleisten, jetzt nicht die Dummen sind. So viel zu der Erfahrung, die wir vor nicht einmal einem Jahr mit der Ehec-Epidemie gesammelt haben. Wir haben aber auch Erfahrungen gesammelt, die verdeutlichen, was in Deutschland besser werden kann. Die Konsequenzen daraus ziehen wir heute mit dem IGV-Durchführungsgesetz. Im Mittelpunkt steht eine Beschleunigung des Meldewesens. Eine Erfahrung aus der Ehec-Epidemie war, dass wir viel zu spät in der Lage waren, die Situation beurteilen zu können. Häufig kamen erst viel zu spät hier in Berlin im Robert-Koch-Institut und im Bundesgesundheitsministerium die Zahlen über die Neuinfektionen an. Deswegen sorgen wir dafür, dass Meldungen von Ärztinnen und Ärzten künftig innerhalb von 24 Stunden beim Gesundheitsamt vorliegen müssen. Fristen für die Übermittlung vom Gesundheitsamt über die Landesstellen an das Robert-Koch-Institut werden von derzeit 16 Tagen auf höchstens 4 Tage verkürzt. Darüber hinaus soll das Meldewesen auf eine durchgehende informationstechnologische Basis gestellt werden. Damit können wir es weiter beschleunigen, aber auch rationalisieren. Wir haben neue Formen der Informationstechnologie. Die sollten wir für die Verbesserung des Meldeverfahrens nutzen. Informationen über Zahlen von Erkrankungen werden durch die vorgesehene Regelung künftig schneller verfügbar sein. Damit haben wir das Versprechen, das wir als Bundesregierung im Rahmen der Ehec-Epidemie gegeben haben, umgesetzt. Wir haben schnell gehandelt. Das Meldeverfahren wird jetzt an die modernen Kommunikationsmöglichkeiten angepasst. Wir wissen zwar, dass wir Epidemien nie ganz verhindern können, aber wir können dazu beitragen, mit Epidemien besser umzugehen, sie zu bewältigen, schneller informiert zu sein, um schnell zu agieren und etwas dagegen zu tun. Wir haben die Konsequenzen aus der Epidemie gezogen. Die Meldeverfahren werden deutlich verbessert, damit es uns schneller gelingt, die Lage zu beurteilen. Dazu ist dieses Gesetz da. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Bärbel Bas hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Bärbel Bas (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Minister hat eben die Ehec-Krise angesprochen. Auch ich möchte einige Worte dazu sagen. Wir müssen uns vor allen Dingen an das anfängliche Nebeneinander und auch Gegeneinander von kommunalen, Landes- und Bundesbehörden erinnern. Das behördliche Management wurde nicht nur von den inländischen Beobachtern sehr kritisch kommentiert, auch unsere Nachbarn und Handelspartner waren über die widersprüchlichen Meldungen und die Verzehrwarnung alles andere als erfreut. Es ist müßig, sich darüber zu streiten, was gewesen wäre, wenn die eine oder andere Warnung früher oder gar nicht ausgesprochen worden wäre. Die Gesundheitsbehörden standen damals in der Tat unter einem ungeheuren Druck. Sie mussten nicht nur die Behandlung der Ehec-Opfer sicherstellen und schnellstmöglich die Ursachen der Infektion identifizieren; sie mussten darüber hinaus einer verängstigten und auch zunehmend kritischen Öffentlichkeit das Geschehen erklären. Vor diesem Hintergrund können wir eigentlich froh sein, dass die Auswirkungen des Ehec-Erregers eingedämmt und die Versorgung der Erkrankten gewährleistet wurden. Aber uns allen war auch sofort klar, dass wir uns ein solch unkoordiniertes und auch ineffizientes Krisenmanagement nicht noch einmal leisten können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Der Gesundheitsausschuss hat einhellig begrüßt, dass die Bundesregierung die Geschehnisse rund um Ehec sorgfältig aufarbeiten wollte. Ich persönlich war der Auffassung, dass das Krisenmanagement und die ihm zugrunde liegenden Strukturen umfassend durchleuchtet und hinterfragt gehören. Vor diesem Hintergrund haben wir die Berichte der Behörden aus dem letzten Jahr sehr aufmerksam gelesen. Wir haben sehr gespannt darauf gewartet, welche Schlussfolgerungen Sie daraus ziehen. Schließlich hat sich der Gesundheitsausschuss damals zum Höhepunkt der Ehec-Krise mit einer Novelle zum Infektionsschutzgesetz befasst. Wir waren damals also mitten im Thema und hätten viel mehr erreichen können als das, was heute auf dem Tisch liegt. Unseres Erachtens werden Ihre jetzigen Vorschläge unseren Erwartungen, den Erwartungen der Experten und auch den Erwartungen der Bevölkerung nicht gerecht. Die Änderungen, die Sie vornehmen, sind sicherlich nicht falsch, aber sie reichen aus unserer Sicht absolut nicht aus. Ich frage Sie ernsthaft: Meinen Sie, dass eine Verkürzung der Meldefristen, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, und eine Erprobungsklausel ausreichen, um die während der Ehec-Krise begangenen Fehler nicht zu wiederholen? Mir stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die vorliegenden Änderungen in Art. 3 und 4 des Gesetzentwurfs die einzige Folgerung aus den Geschehnissen rund um Ehec sein werden; denn eine hinreichende Aufarbeitung der Arbeit und der Aufgaben der einzelnen staatlichen Stellen liegt aus unserer Sicht überhaupt nicht vor. Es gibt zwar einen Abschlussbericht des Robert-Koch-Instituts; eine selbstkritische Bewertung der anfänglichen Warnung vor dem Verzehr von Gurken und Tomaten aus Spanien ist im Bericht aber nicht enthalten. Der Bericht lässt vieles offen und setzt sich nicht wirklich kritisch mit dem Thema auseinander. Der Absatz von Gemüse brach von einem Tag auf den anderen ein. Gemüsebauern und Händler in Deutschland und Südeuropa blieben auf ihren Ernten sitzen. Dabei erwiesen sich die Verzehrwarnungen relativ schnell als unzutreffend. Die ökonomischen Auswirkungen waren jedoch schon eingetreten, und die Verbraucher waren verunsichert. In der Summe hat dies zu einer in ihrer Deutlichkeit kaum zu übertreffenden Kritik der EU-Kommission an dem seinerzeitigen Krisenmanagement geführt. Es muss einen wirklich beschämen, wenn das Ausbruchsmanagement – ich zitiere – als unzureichend vorbereitet und die Reaktion als inadäquat bezeichnet wird. Hierauf haben wir von der Bundesregierung damals keine Reaktion gehört. Wenn die Kritik also so stehen bleibt, dann kann man davon ausgehen, dass Sie die Organisation und die Strukturen des deutschen Gesundheitsschutzes und der Lebensmittelsicherheit ebenfalls als ineffizient betrachten. (Otto Fricke [FDP]: Das ist aber ein Rückschluss!) Uns liegt bisher nur dieser eine Gesetzentwurf vor. Von weiter gehenden Vorschlägen, Denkansätzen oder Versuchsballons aus dem Gesundheitsministerium haben wir bisher nichts gehört. (Otto Fricke [FDP]: Haben Sie denn einen?) – Das sage ich Ihnen gleich. – Aus dem Gesundheitsministerium kommt nichts. Wichtige Themen werden von Ihnen nicht angepackt, siehe Pflege und Prävention. Die Bürgerinnen und Bürger müssen besser geschützt werden. Alle Behörden auf allen staatlichen Ebenen müssen endlich beginnen, zusammenzuarbeiten. Sie müssen moderne Kommunikationsstrukturen entwickeln. Wenn sich herausstellt, dass einige Behörden dazu nicht in der Lage sind, dann muss man sie dazu ertüchtigen, oder die Aufgabe muss ihnen entzogen werden. Der Schutz der Bevölkerung lässt keinen Raum für Kompetenzstreit oder Bund-Länder-Streitigkeiten; auch das sage ich hier ganz deutlich. (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Müder Applaus von vier SPD-Abgeordneten! Meine Herren!) Ich würde mir zum Beispiel wünschen, Sie äußerten sich in diesem Zusammenhang auch einmal zu einer Vernetzung der Gesundheits- und Veterinärämter. Das sind zwar kommunale Einrichtungen, Ehec zeigte aber, dass diese Einrichtungen alleine – ich will es vorsichtig ausdrücken – den Herausforderungen nicht gewachsen waren. Gerne würden wir wissen, wie eine Zusammenarbeit der zahlreichen staatlichen Stellen, die über die Verwendung moderner Kommunikationsmitttel hinausgeht, funktionieren soll. Sie haben sich nur zu einer Erprobungsklausel durchgerungen. Wir erwarten aber von Ihnen, dass Sie die Kooperation der Behörden und die Meldewege mithilfe webbasierter Formulare modernisieren, damit alles schneller geht als bisher. Wir wüssten auch gerne, was Sie von einer Lebensmittelüberwachung auch auf Bundesebene halten. Diese hat Ihnen der Bundesrechnungshof immerhin empfohlen. Zu Recht weisen die Rechnungsprüfer darauf hin, dass Lebensmittelkonzerne mit weltweiten Lieferketten bei uns durch Kreisveterinäre überwacht werden. Das lässt sich vielleicht historisch begründen, gut finden sollten wir das in der jetzigen Situation aber nicht, und es passt, glaube ich, auch nicht mehr in die heutige Zeit. (Beifall bei der SPD) Bleiben wir bei Ehec: Wir würden gerne wissen, was Sie dazu sagen, dass der vom RKI als Auslöser der Epidemie identifizierte sogenannte Bockshornkleesamen in einer Gärtnerei zu Sprossen weiterverarbeitet worden ist und so in Umlauf gebracht wurde. Gartenbaubetriebe unterliegen in der Regel nicht der Lebensmittelaufsicht. Da die Sprossen roh gegessen werden – sie können bestenfalls abgewaschen werden –, stellen sie durchaus ein hohes Risiko zur Übertragung potenzieller Keime dar. Sie müssten eigentlich wie ein Lebensmittel produziert und gehandhabt werden. Sprossenzucht in herkömmlichen Gärtnereien wäre damit eigentlich ausgeschlossen. Über diese Vorschläge haben wir gemeinsam mit Ihnen im Gesundheitsausschuss diskutiert. Sie waren auch Gegenstand der fachlichen und wissenschaftlichen Debatte über die Ursachen von Ehec. Kommentiert oder aufgegriffen haben Sie diese Vorschläge bisher nicht. Sie haben gerade gesagt, dass Sie das Infektionsschutzgesetz mit diesem Gesetz wieder aufgeschnürt haben. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften hätten Sie auch auf dem Wege einer Durchführungsverordnung umsetzen können. Dazu hätten Sie das Gesetz nicht aufschnüren müssen. Wir sind enttäuscht, dass Sie, wenn Sie das Infektionsschutzgesetz schon nach einem Jahr erneut anfassen, die Vorschläge, die schon im Juni des letzten Jahres auf dem Tisch lagen, nicht aufgegriffen haben. Weil vorhin gefragt wurde, was unsere Vorschläge zum Infektionsschutz seien, will ich sie deutlich benennen. Dabei geht es insbesondere um bundeseinheitliche Hygienemindeststandards, die wir zu definieren haben und die wir verbindlich für alle einführen sollten. Das gilt für die Ausbildung von Hygienefachpersonal, die von der Bundesregierung angepackt werden müsste. Wir brauchen insbesondere verpflichtende Eingangsscreenings von Risikopatienten und eine Ausweitung der MRSA-Meldepflicht. Ohne eine ambulante Weiterbehandlung von MRE-Keimträgern nach der Krankenhausentlassung sind alle vorherigen Maßnahmen völlig unsinnig und verursachen unnötiges Leid für die Patienten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Wir brauchen deshalb eine qualitätsorientierte Vergütung in Krankenhäusern und eine wirksame Sanktionierung bei Hygienemängeln. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass Ärztinnen und Ärzte Antibiotika effizienter einsetzen. Wenn Sie wirklich etwas bewegen wollen, Herr Minister, dann schaffen Sie mehr Transparenz und eine wirksame Qualitätssicherung bei der Lebensmittelsicherheit und im Hygienebereich. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Karin Maag hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Karin Maag (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Liebe Frau Bas, die Lebensmittelsicherheit ist heute nicht unser Thema, (Bärbel Bas [SPD]: Schade!) vielmehr wollten wir uns über den Schutz vor einer grenzüberschreitenden Ausbreitung bedrohlicher Infektions- und anderer Krankheiten unterhalten. Darum geht es heute. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Auf das Problem hat sie ja hingewiesen!) Es geht – das haben wir von Ihnen gehört; auch der Minister hat darauf hingewiesen – um die Erfahrungen aus der Ehec-Krise und der Schweinegrippe. Richtig ist, dass das RKI schneller an Informationen kommen muss. Es geht auch um bessere informationstechnische Meldewege. Darüber hinaus geht es um weitere kleinere Änderungen, nämlich dass neben der Verbesserung der Erfassung der HIV-Neuinfektionen die Statistiken besser geführt werden müssen, damit sie aussagekräftiger sind. Es geht um bundesweite Arzt- und Labormeldepflichten für die impfpräventiven Krankheiten. Das Thema Prävention werden wir in diesem Jahr mit der Präventionsstrategie noch einmal aufgreifen, Frau Bas. Schließlich geht es um die flexiblere Verteilung von Arzneimitteln und Impfstoffen im Krisenfall. Mit einem internationalen Meldesystem zwischen den 194 Staaten der WHO soll eine grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten verhindert werden. Es geht um ein einheitliches Verfahren zum Umgang mit den gefährlichen Krankheiten, und zwar dort, wo man am ehesten Kontaktmöglichkeiten hat. Die Flughäfen von Berlin, Frankfurt, Hamburg, München und Düsseldorf sowie die Seehäfen von Bremen, Bremerhaven, Hamburg, Kiel, Rostock und Wilhelmshaven werden dazu mit den Kernkapazitäten für den Gesundheitsschutz ausgestattet. Der internationale Verkehr von und nach Deutschland ist damit auch in Krisensituationen sichergestellt. Wir tun alles dafür, dass auch die wirtschaftlichen Auswirkungen von solchen Krisen begrenzt werden. Da das für Sie in der SPD offensichtlich so wichtig ist, Frau Bas, komme ich jetzt zur Ehec-Krise. In der Tat sind Übermittlungszeiten von bis zu 16 Tagen heute weder erforderlich noch notwendig. Genau deshalb haben wir sie geändert. Die Meldungen der Ärzte, vor allem der Krankenhäuser – daher kommen die Meldungen in der Regel –, aber auch der Leiter von sonstigen Einrichtungen bei Krankheitsverdacht, Krankheit oder Tod gehen jetzt innerhalb von 24 Stunden an das Gesundheitsamt. Die Gesundheitsämter ihrerseits übermitteln die Daten sowie eigene Untersuchungen und Nachweise zu Krankheitserregern, zum Infektionsweg oder zum Zeitraum der Infektion spätestens am folgenden Tag an die Landesbehörde. Dem RKI soll jede Information innerhalb von 3 Tagen vorliegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir ermöglichen zusätzlich die Erprobung besserer elektronischer Meldewege, nicht zuletzt deshalb, um den Informationsfluss vom Patienten zum Arzt und dann zum Gesundheitsamt besser in den Griff zu bekommen. Jetzt möchte ich eine Lanze für das RKI brechen. Es ist bisher nicht untätig gewesen. Aber die Versuche, solche elektronischen Schnittstellen zu schaffen, waren wegen der großen Vielfalt der untereinander nicht kompatiblen Computerprogramme in den Praxen und Laboren kein Erfolg. Die meisten Gesundheitsämter benutzen andere Programme; für sie ist das Meldewesen nach dem Infektionsschutzgesetz ein kleiner Ausschnitt ihres Aufgabenbereichs. Bei dem Expertengespräch, das der Gesetzgebung vorausging, ist eines klar geworden – das ist mir wichtig –: Das Bashing von Ministern, Behördenleitern und Wissenschaftlern während dieser Krise und die Stereotypen, mit denen den beiden zuständigen Ministern ein angeblich verfehltes Krisenmanagement vorgeworfen wurde, hat die Menschen zusätzlich zu der Krise noch mehr verunsichert und nichts zur Lösung beigetragen. Es war vor allen Dingen auch ungerechtfertigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Bas, ganz im Gegenteil: Dem RKI wurde vom European Centre of Disease Prevention and Control bestätigt, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen wurden. Die EU-Kommission, auf die Sie sich beziehen, hat nicht mehr Sachverstand in diesem Bereich als Sie und ich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bitte insofern auf diejenigen zu hören, die den notwendigen wissenschaftlichen Sachverstand haben und das RKI in dieser Beziehung ausdrücklich gelobt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Ich will noch eines sagen: Es hat sich herausgestellt, dass die Zusammenarbeit bei den unterschiedlichen Aufgaben auch über die Landesgrenzen hinweg durchaus gut und vertrauensvoll war. Absprachen zwischen den Behörden fanden statt. Die Übermittlung geschah relativ schnell. Natürlich ist trotzdem eine dauerhafte Regelung, so, wie eben beschrieben, notwendig. Aber die Behörden haben die Aufgaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchaus überobligationsmäßig gut erledigt. Das Instrumentarium, mit dem die Zusammenarbeit geregelt wird, ist übrigens vorhanden. In den Ministerien können ressortübergreifende Krisenstäbe eingerichtet werden. Das Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe regelt gegebenenfalls die Koordinierung zwischen Bund und Ländern. Das RKI hat bei der Anhörung in erfreulicher Deutlichkeit mit den Meinungen verschiedener selbsternannter Experten aufgeräumt. Der Verzehr von Sprossen wurde von Anfang an abgefragt. Aber Sie müssen bedenken, dass Sprossen die Garnierung sonstiger Speisen oder Bestandteil eines Salats sind. Die Menschen haben sich schlicht nicht daran erinnert, dass sie Sprossen gegessen haben. Das muss man einmal sagen. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, welche Fehler gemacht wurden. Richtig ist – das wurde zu Recht bemängelt –, dass entsprechend dem Stand des Wissens in Bezug auf die Ehec-Erreger nach Speisen gefragt wurde, die in den vier Tagen vor Krankheitsausbruch verzehrt wurden. Die Ehec-Erreger, die den Ausbruch verursachten, haben eine Inkubationszeit von 14 Tagen. Das hat man leider erst im Zuge der Ermittlungen festgestellt. Danach wurde aber richtig gehandelt. Zum Thema Sprossen – Sie haben es vorher erwähnt –: Die Beschäftigten in den Gemüseanbaubetrieben werden künftig präventiv alle zwei Jahre über Tätigkeits- und Beschäftigungsverbote belehrt. Auch dies wird jetzt im Gesetz neu geregelt. Der Kreis der Lebensmittel, die ein Kranker oder Krankheitsverdächtiger nicht herstellen, behandeln oder in den Verkehr bringen darf, wird auf Sprossen, Keimlinge und Samen erweitert. Es ist übrigens tatsächlich wissenschaftlich unterlegt, dass die Samen Quelle der Infektionen waren. Diese Bockshornkleesprossen und die entsprechenden Samen gab es in insgesamt drei Clustern. Damit ist ein wissenschaftlicher Nachweis durchaus möglich. Ich komme zum Schluss. Der Ausbruch dieser gefährlichen Krankheiten ist schicksalhaft und lässt sich nicht verhindern. Die Versorgung in den Krankenhäusern hat – wir haben es von Minister Bahr gehört – dank der aufopferungsvollen Arbeit von ärztlichem und pflegerischem Personal funktioniert. Jetzt kommt die Conclusio. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und vor allen Dingen die Informationswege gestrafft. Die Informationstechnologie – das ist ganz wichtig – wird angepasst. Wir haben das Instrumentarium zur Durchführung der internationalen Gesundheitsvorschriften geschaffen. Ich gehe davon aus, dass das Parlament damit das ihm Mögliche zur Schadensminimierung im Hinblick auf künftige Fälle getan hat. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Minister, heute erleben wir etwas ganz Erstaunliches: Die schwarz-gelbe Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf vor, der ausnahmsweise so wenig Unsinn enthält, dass nicht einmal die Opposition dagegenstimmen wird. (Jens Ackermann [FDP]: Was? Wir machen nie Unsinn! – Otto Fricke [FDP]: Ja! Ist doch okay!) Worum geht es? Es geht um wichtige Themen. Wir sind uns alle einig: Wenn jemand, der eine schwere Krankheit hat, per Schiff oder Flugzeug nach Deutschland einreist, dann soll das Nötige getan werden, damit sich die Krankheit möglichst nicht ausbreitet. Zu diesem Zweck werden mit diesem Gesetz zum Beispiel die Melde- und Informationswege verkürzt und die Pflichten der Piloten und Kapitäne neu geregelt, und es wird definiert, was im Sinne des Gesetzes ein Gesundheitsamt ist. Leider hat es die Bundesregierung aber unter anderem versäumt, klare Regelungen im Hinblick auf die Gefahren von Atomtransporten auf See zu treffen. Deshalb wird sich die Linke bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der keine offensichtlichen Schnitzer enthält. Aber: Reicht Ihnen das eigentlich? Können Sie darauf schon stolz sein, Frau Maag? Dieses Gesetz ist sicher wichtig. Aber andere Fragen, die noch wichtiger wären, lässt diese Bundesregierung einfach links liegen. Genau das werfen manche Journalisten dieser Regierung vor, wenn sie zum Beispiel schreiben, Schwarz-Gelb mache Politik unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. (Otto Fricke [FDP]: Interessant! Woher wissen diese Journalisten das denn dann überhaupt?) Das bedeutet, dass Ihre Politik so substanzlos ist, dass die Menschen sie kaum spüren. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Ist heute schon Karneval?) Über den Gesundheitsminister schrieb der Spiegel, sogar er wirke stets ein bisschen wie sein eigener Staatssekretär; das konnten wir gerade wieder beobachten. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Und wie wirken Sie?) Weiter heißt es – ich zitiere –: Für seine Großbaustellen, die Stärkung der Patientenrechte und die Pflegereform, hat er zwar Details vorgelegt. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Können Sie auch mal etwas zum Gesetz sagen?) Die Lobbygruppen sind im Gesundheitsbereich jedoch so hartnäckig, dass von hehren Plänen am Ende kaum etwas übrig bleibt. (Kathrin Senger-Schäfer [DIE LINKE]: So ist es!) Das Schicksal droht auch Bahr. Zitat Ende aus dem Spiegel vom 27. Dezember letzten Jahres. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Nicht den Spiegel sollten Sie zitieren! Sie müssen doch die taz lesen!) Man fragt sich: Warum debattieren wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages einen Gesetzentwurf, der unter uns Gesundheitspolitikern eigentlich ziemlich unstrittig ist? Ich will es Ihnen sagen: Die schwarz-gelbe Koalition hat inzwischen sehr viel Prügel eingesteckt. Sie ist mit ihrer Kraft und ihren Ideen am Ende, zerrieben zwischen Parteienstreit und Lobbyinteressen. (Widerspruch bei der FDP) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen Sie ganz dringend eine Kuschelrunde. (Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Wenn ich mir die andere Seite des Hauses ansehe, muss ich sagen: Nein danke!) Aber nicht mit uns! (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ist wirklich schon Karneval?) Sie müssen sich an dieser Stelle die Frage gefallen lassen – es wäre ganz gut, wenn Sie einmal zuhören würden –, (Lars Lindemann [FDP]: Ach! Sie machen doch keinen konkreten Vorschlag in der Sache! Alles nur Blabla!) ob dieses Gesetz wirklich alles ist, was Ihr Gesundheitsministerium zustande bringt. Auch auf Ihren Schreibtischen liegen, genau wie auf meinem, sicher viele Briefe von Bürgerinnen und Bürgern, die ganz konkrete Sorgen haben. Sie fragen sich: Was tut diese Bundesregierung für mich? (Dr. Volker Wissing [FDP]: Genau das steht in dem Gesetz!) Da fragt sich zum Beispiel eine 50-Jährige, wie sie die Pflege ihrer Eltern und die Ausbildung ihrer Kinder gleichzeitig finanzieren soll, wenn das Pflegegeld doch vorne und hinten nicht reicht und sie selbst wegen der Pflege ihrer Eltern nur noch halbtags arbeiten kann. Ich erinnere Sie daran: Anfang letzten Jahres hat der damalige Gesundheitsminister Rösler das Jahr der Pflege ausgerufen. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Sie sollten mal die Tagesordnung lesen! Wissen Sie überhaupt, worum es gerade geht?) Bis heute ist bei den 2,5 Millionen Pflegebedürftigen und ihren Familien nichts davon angekommen – gar nichts, kein einziger Cent. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Können Sie mal zur Tagesordnung reden?) Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. (Beifall bei der LINKEN) Außerdem haben Sie verkündet, 2011 werde das Jahr der Patientenrechte. In jedem Monat des vergangenen Jahres haben wir und die anderen Oppositionsfraktionen Sie gefragt, wann wir endlich mit einem Gesetzentwurf zur Stärkung der Patientenrechte rechnen können. Was haben Sie bisher geliefert? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Na? Was denn? Jetzt bin ich gespannt!) Fast nichts, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ach! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wie bitte?) jedenfalls nichts, was diesen Namen auch nur ansatzweise verdient. Der Vorentwurf aus Ihrem Haus, Herr Bahr, ist leider so schwach, dass er kaum der Rede wert ist. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja! Wenn man ihn nicht versteht, ist das so! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften, über den wir diskutieren, ist sicher notwendig. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Oh! Tatsächlich? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Sehr gut! Es geht doch!) Aber ich frage Sie ganz ernsthaft: Wäre es nicht mindestens ebenso notwendig, dass diese Bundesregierung endlich mit der Pflegereform und einem Patientenrechtegesetz in die Hufe kommt, dass Sie also endlich auch in diesem Bereich Ihre Hausaufgaben machen? Darauf warten doch viele Menschen ganz dringend. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Liebe Frau Maag, wir warten schon sehr gespannt auf Ihr Timing in Sachen Präventionsstrategie. Daran werden wir Sie auch erinnern. (Karin Maag [CDU/CSU]: Nicht notwendig!) Obwohl wir von Ihnen eigentlich nicht viel erwarten: Wenn Sie dabei echte Verbesserungen für die Menschen auf den Weg bringen, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Spürbar müssen sie aber sein. Für Politik unterhalb der Wahrnehmungsschwelle steht die Linke nicht zur Verfügung. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Harald Terpe spricht jetzt für Bünd-nis 90/Die Grünen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt aber einmal ein bisschen was Sachliches! Wenn er will, dann kann er! – Otto Fricke [FDP]: Er ist ein sehr sachlicher Mensch!) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Aufgabe einer Regierung, vereinbarte internationale Vorschriften in deutsches Recht umzusetzen, zumal dann, wenn dies längst überfällig ist. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, genau!) In diesem Sinne ist der Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften wenig spektakulär. Spektakulärer finde ich es da schon, sich vorzustellen, wie der Gesundheitszustand von Tausenden Passagieren auf Kreuzfahrtschiffen überprüft werden soll, möglicherweise sogar ohne ärztliche Expertise. Wir haben ja bekanntermaßen einige international bekannte Kreuzfahrtschiffhäfen. Das führt mich dazu, an die Verantwortung des Bundes, aber auch der Länder dafür zu appellieren, dass es sich beim Katastrophenschutz an solchen internationalen Drehscheiben natürlich nicht nur um den herkömmlichen Katastrophenschutz handeln darf, den man ja sonst regional definieren kann. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften sind vielmehr geradezu die Antwort auf eine mögliche Pandemie oder Epidemie aufgrund von Infektionen. Deshalb sind hier natürlich besondere Finanzierungsgrundlagen notwendig, die man – darauf möchte ich schon jetzt hinweisen – immer wieder einmal evaluieren muss; denn es sollen ja besondere Fazilitäten in den entsprechenden Hafenstädten bzw. auch an den Flughäfen vorgehalten werden. Gut und im fachlichen Zusammenhang auch naheliegend ist, dass in diesem Artikelgesetz auch aktuelle Erfahrungen mit bestimmten Infektionserkrankungen aufgegriffen werden. Wir haben hier ja schon an ver-schiedenen Stellen von der Ehec-Infektion gehört. Deswegen sind die substanziellen Änderungen im Infektionsschutzgesetz auch zu begrüßen. Das betrifft besonders die Verkürzung der Meldefristen, was ja auch genannt worden ist. Ich finde, es ist berechtigt, hier anzumerken, dass es nicht darum gehen kann, jetzt noch zu fragen, ob wir elektronische Medien bei der Informationsübermittlung benutzen, sondern es geht darum, wie und vor allen Dingen wie schnell wir sie benutzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich denke deshalb, dass die Verbesserung der Übermittlung mit solchen elektronischen Mitteln möglichst zeitnah etabliert werden muss. Eine Erprobung zu ermöglichen, ist sicher nicht verkehrt. Aber geht es nicht auch ein bisschen engagierter? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Internationale Gesundheitsvorschriften sind ein geeignetes Instrument zum Beispiel für international abgestimmte Infektionsprävention. Sie erfordern aber auch eine nationale Einflussnahme und eine permanente Evaluation. Deshalb möchte ich am Schluss noch einen konstruktiven und kritischen Diskussionsprozess darüber anregen, wie wir zukünftig mit der internationalen Pandemiedefinition und -empfehlung umgehen, die beispielsweise im Fall der Schweinegrippe zu teils hysterischen Reaktionen geführt hat – nicht ohne vermeidbare finanzielle Folgen, beispielsweise für die Bundesländer. Wie steht es also mit der kritischen Aufarbeitung des Umgangs mit der Vogel- und der Schweinegrippe? Sind wir schon so weit? So etwas muss man im Zusammenhang mit Infektionsschutzgesetzen natürlich auch immer wieder diskutieren: Haben wir die nationalen Pandemiepläne entsprechend flexibilisiert und sind von den starren Warnstufen der WHO abgegangen? Da haben wir eine besondere Verantwortung: Wenn wir der Meinung sind, dass die Pandemiestufen der WHO auch den Schweregrad einer Erkrankung berücksichtigen müssen, dann müssen wir den Diskussionsprozess international anregen. (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Ich denke, wir haben, was die Pandemie betrifft, noch eine Menge über Pandemievorsorge zu diskutieren und darüber, ob die Patientinnen und Patienten bei uns im Lande entsprechend gesundheitsgeschützt sind. In einer Passage des Arzneimittelgesetzes wird darauf abgehoben, dass man in besonderen Fällen Arzneimittel verwenden kann, für die noch keine Zulassung vorliegt. (Jens Ackermann [FDP]: Im Ausnahmefall!) Ich glaube, dass wir hiermit sehr sensibel umgehen müssen. Das darf kein Einfallstor für eine geringere Kontrolle der entsprechend anzuwendenden Impfstoffe und Arzneimittel sein. Wir können aus dieser Debatte mitnehmen, dass wir in Pandemie- und Epidemiefällen einen erheblichen Diskussions- und Entscheidungsprozess vor uns haben. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jens Ackermann hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jens Ackermann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die Internationalen Gesundheitsvorschriften aus dem Jahre 2005 umsetzen. Krankheitserreger machen nicht an Grenzen halt. Es ist wichtig, an Flughäfen und Häfen wachsam und vorbereitet zu sein. An fünf Flughäfen, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und München, sowie an den großen Häfen Bremen, Hamburg, Kiel, Rostock und Wilhelmshaven müssen Kapazitäten für den Ernstfall eingerichtet werden. Bis zum 15. Juni dieses Jahres läuft hierfür die Frist. Die früheren Durchführungsverordnungen sind zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften aus dem Jahre 1969 erlassen worden. Seit dieser Zeit hat sich im Luft- und Schiffsverkehr viel geändert. Früher: Transport von Stückgut, Lagerung in Speichern. Heute: Massengüter und Container, just in time, so schnell wie möglich zum Verbraucher. Auch die Liegezeit der Schiffe beträgt nur noch einen Bruchteil dessen von 1969. Das Tempo hat sich erhöht, und große Entfernungen können schnell überwunden werden. Das bedeutet: Auch wir müssen schneller werden, was das Erkennen von Gesundheitsgefahren anbetrifft. Im Gesetzgebungsprozess haben wir auf aktuelle Gefahren reagiert. Wir haben Schlüsse aus der Ehec-Epidemie gezogen. Die Kommunikation zwischen den Kontrollbehörden auf Länderebene sowie dem Robert-Koch-Institut auf Bundesebene muss besser werden. Meldefristen haben wir verkürzt, Daten, die gemeldet werden müssen, konkretisiert, damit das Robert-Koch-Institut zukünftig schneller und gezielter reagieren kann. Frau Kollegin Bas, die Kakofonie von selbsternannten Experten kam meistens von der Länderebene; Gurken, Sprossen, Joghurt, alles Mögliche wurde gemutmaßt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Den Bundesminister trifft hier überhaupt keine Schuld. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nach der Änderung des Infektionsschutzgesetzes im letzten Jahr ist dies ein weiterer Schritt zu mehr Gesundheitsschutz für unsere Bevölkerung. Unsere Koalition und unser Minister packen die Probleme im Infektionsschutz an, die vorherige Koalitionen jahrelang ignoriert haben. (Beifall bei der FDP) Die Wünsche und die Hinweise der Bundesländer in 13 Änderungsanträgen haben wir aufgenommen. Weiteren Änderungsbedarf gibt es nicht. Das haben uns auch die Experten im Ausschuss bestätigt. Die Opposition sieht das natürlich anders. Die Linke hat gestern im Ausschuss bemängelt: Auf nukleare Bedrohung wird nicht angemessen eingegangen. Das ist falsch. In § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzentwurfs geht es explizit um radionukleare Gefahren. Das Umweltministerium entscheidet, welche Informationen an die Weltgesundheitsorganisation gemeldet werden. Die Kollegen von den Grünen wie heute wieder Herr Terpe haben kritisiert, dass im Pandemiefall auch Arzneimittel zur Anwendung kommen können, die in Deutschland nicht zugelassen sind. Erstens sind die Arzneimittel in ihrem Herkunftsland rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden. Zweitens gilt: Wenn im Pandemiefall viele Menschen sterben und es irgendwo auf der Welt ein Gegenmittel gibt, dann wäre es unmenschlich, dies nicht einzusetzen. Ich glaube, es sind Scheinargumente, damit Sie sich heute enthalten können. Wir werden dem Gesetzentwurf auf jeden Fall zustimmen, weil er den Menschen hilft. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Erwin Rüddel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Vogler, Sie haben die Gesundheitspolitik der Regierung kritisiert. Ich kann nur sagen: Die Regierung macht gute Arbeit. Die Koalition ist gerade in der Gesundheitspolitik sehr erfolgreich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben viel gemacht, (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Unterhalb der Wahrnehmungsstufe!) zum Beispiel das GKV-Finanzierungsgesetz und das AMNOG. Wir haben mit dem Infektionsschutzgesetz und dem Versorgungsstrukturgesetz Zeichen gesetzt, und wir haben viel vor mit der Pflegeversicherung und dem Patientenrechtegesetz. (Hilde Mattheis [SPD]: Nicht immer ist jede Behauptung ein besserer Beweis!) Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Wir werden uns heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf befassen, der nationale Regelungen zur Umsetzung der Internationalen Gesundheitsvorschriften beinhaltet. Wir legen die fünf Häfen und fünf Flughäfen fest, an denen die von der IGV geforderten Kapazitäten für den Gesundheitsschutz vorhanden sein müssen, um im internationalen Handels- und Reiseverkehr auftretende Gesundheitsgefahren besser abwehren zu können. Wir lösen deshalb drei veraltete Rechtsverordnungen ab und nehmen Änderungen am Infektionsschutzgesetz sowie am Arzneimittelgesetz vor. Eine zentrale Komponente der IGV ist die Schaffung eines umfassenden internationalen Meldesystems zwischen den Vertragsstaaten und der WHO. Mit seiner Hilfe sollen außergewöhnliche Ereignisse, die zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite führen können, so früh wie möglich erkannt werden. Folgerichtig sieht der Gesetzentwurf deshalb vor, dass zum Schutz vor einer grenzüberschreitenden Ausbreitung von bedrohlichen Krankheiten in ausgewählten Flughäfen und Seehäfen besondere Maßnahmen getroffen werden, um Gesundheitsgefährdungen durch den internationalen Handels- und Reiseverkehr abzuwenden. Dazu verkürzen wir vor allem die Meldewege. Nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der Erfahrungen mit der Ehec-Epidemie im vergangenen Jahr sorgen wir dafür, dass das Robert-Koch-Institut künftig schneller informiert wird und Diagnosen von meldepflichtigen Erkrankungen in Zukunft innerhalb von 24 Stunden beim Gesundheitsamt vorliegen müssen. Darüber hinaus stellen wir im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes mit Blick auf das Meldewesen die Weichen für eine moderne Informationstechnik. Das alles dient dem besseren Schutz der Bevölkerung. Unabhängig davon führen Bund und Länder entsprechend dem Auftrag der Konferenz der Gesundheits- und Verbraucherschutzminister noch eine Ehec-Evaluation durch. Aus heutiger Sicht wird sich daraus aber keine weitere Änderung im Infektionsschutzgesetz ergeben. Mit dem Infektionsschutzgesetz haben wir bereits vor einem knappen Jahr überzeugende Standards für den Patientenschutz gesetzt. Noch eine letzte Anmerkung zu Ehec: Die bundesweit rund 2 500 Beschäftigten in Gemüseanbaubetrieben, die Sprossen und Keimlinge zum Rohverzehr produzieren, müssen künftig alle zwei Jahre über Tätigkeits- und Beschäftigungsverbote belehrt werden. Die sonstigen Änderungen im Infektionsschutzgesetz und im Arzneimittelgesetz gelten vor allem der Intensivierung der Röteln-Überwachung, der besseren Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsämtern und den für die Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden sowie der Neufassung des § 79 Arzneimittelgesetz für den Fall einer Pandemie. Wir haben uns sehr sorgfältig mit den Vorschlägen des Bundesrates befasst und diese dort berücksichtigt und übernommen, wo es in der Sache sinnvoll und angebracht war. Die Forderung des Bundesrates, der Bund solle die Kosten für das Vorhalten der Kapazitäten für den Gesundheitsschutz an Häfen und Flughäfen tragen, war allerdings schon aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen. Für die öffentliche Gesundheit sind die Länder zuständig. Das Gesetz sieht eine sachgerechte und ausgewogene Kostenverteilung zwischen den betroffenen Ländern und den Betreibern der Flughäfen und Häfen vor. Zudem werden den Ländern im Einzelfall keine Vorgaben für die Umsetzung gemacht, solange sie die völkerrechtlichen Voraussetzungen einhalten. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu einigen grundrechtsrelevanten Beschränkungen in den Durchführungsvorschriften dieses Gesetzes. Sie sind zulässig, weil sie durch das öffentliche Interesse an einem effektiven Gesundheitsschutz gerechtfertigt sind. Das Gemeinwohl muss den Vorrang vor dem Interesse von individuellen Reisenden, von Flug- und Schiffskapitänen oder der Betreiber von Flug- und Seehäfen haben. Gleiches gilt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch die Ermittlung und Speicherung personenbezogener Daten durch Bundes- und Landesbehörden. Auch diese Eingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie unerlässlich für die Verhütung und Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Gesundheit sind. Die Umsetzung der Internationalen Gesundheitsvorschriften in nationales Recht ist ein notwendiger Beitrag zum Gesundheitsschutz auf weltweiter Ebene. Funktionsfähige Meldewege sowie die Vernetzung von gesundheitsrelevanten Informationen spielen international eine immer bedeutendere Rolle. Das gilt erst recht im Hinblick auf neue Krankheitserreger, auf die rasante Globalisierung des Handels und die zunehmende Mobilität der Menschen in allen Regionen der Erde. Indem wir die Internationalen Gesundheitsvorschriften an die aktuellen Erfordernisse anpassen, verbessern wir den Schutz vor der grenzüberschreitenden Ausbreitung von Infektionen und Gesundheitsgefahren. Das ist nicht zuletzt auch ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit unserer Bevölkerung und zum Patientenschutz auf nationaler Ebene. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Durchführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften und zur Änderung weiterer Gesetze. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8615, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7576 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in seiner Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte ich, das mit dem Handzeichen deutlich zu machen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Gegenstimmen gab es nicht. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen stehen bitte auf, die zustimmen wollen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiteren Ab-geordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der Sonneborn-Regelung – Drucksache 17/7848 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 17. Juli 2009 entschied der Bundeswahlausschuss, die Partei „Die Partei“ mit dem Vorsitzenden Martin Sonneborn nicht zur Wahl zum 17. Deutschen Bundestag zuzulassen. Der Bundeswahlausschuss versagte ihr die Anerkennung als Partei. Nicht als Partei anerkannt zu sein, bedeutet bei uns, dass man nicht an der Wahl teilnehmen kann. Gegen diese Entscheidung gibt es kein Rechtsmittel. Somit konnten Martin Sonneborn und „Die Partei“ nicht zur Bundestagswahl antreten. Was daraus folgt, ist: Wie wir sehen, ist Rechtsschutz erst nach der Wahl, aber nicht vor der Wahl möglich. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf will die Linke diesen unhaltbaren Zustand beenden und den Rechtsschutz im Wahlrecht stärken. (Beifall bei der LINKEN) Unser konkreter Vorschlag sieht vor, dass eine Partei, soweit sie vom Bundeswahlausschuss nicht als Partei zugelassen wird, zum Bundesverfassungsgericht gehen kann und dass für den Fall, dass ein Kreiswahlvorschlag oder Landeslisten nicht zugelassen werden, der Gang zu den Verwaltungsgerichten eröffnet wird. Vor dem Hintergrund des von uns angeführten Falls haben wir diese Regelung „Sonneborn-Regelung“ genannt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schlimm genug!) Um auf den konkreten Fall zurückzukommen, könnte man sagen: Shit happens! (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Kein parlamentsangemessener Ausdruck!) Was interessiert uns die Möglichkeit, Martin Sonneborn zu wählen? Oder: Für Spaß in der Politik stehen wir nicht zur Verfügung. – Aber die OSZE entsandte Beobachter zur Wahl zum 17. Deutschen Bundestag. Diese verfassten einen Bericht, in dem unter anderem empfohlen wird – ich zitiere –: zumindest einige grundlegende Entscheidungen, wie die Anerkennung von Vereinigungen als Parteien oder die Kontrolle von ablehnenden Entscheidungen zu Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten, einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle vor der Wahl zuzuführen. Die Linke hat sich bei dem vorgelegten Gesetzentwurf von folgenden Gedanken leiten lassen: Die Parteien haben in Art. 21 Grundgesetz einen besonderen Schutz erhalten. Mit diesem Schutz ist es einfach nicht vereinbar, dass ein rein exekutives Organ, zusammengesetzt durch die Konkurrenten, nämlich die im Bundestag schon vertretenen Parteien, über die Parteieigenschaft entscheidet – diese Eigenschaft ist Voraussetzung, um an der Wahl teilzunehmen – und dass es dann keinen Rechtsschutz gibt. Wir finden, das ist mit dem Gedanken der Demokratie und mit dem besonderen Schutz von Parteien nicht vereinbar. (Beifall bei der LINKEN) Der Parteienrechtler Martin Morlok (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Das ist der Spezialist!) hat in der Zeit vom 31. Juli 2009 erklärt, dass er dies für einen verfassungswidrigen Zustand hält, und in diesem Fall stimme ich ihm zu. (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Der hat oft genug verloren!) Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Frage der Zulassung einer Partei ist im Übrigen der Spielraum, den § 2 Abs. 1 Parteiengesetz für die Definition von „Partei“ lässt. Da geht es um das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse – Umfang und Festigkeit der Organisa-tion –, die Zahl der Mitglieder, das Hervortreten in der Öffentlichkeit und – Achtung! – die Gewähr für die Ernsthaftigkeit der Zielsetzung. Spätestens das letzte Kriterium dürfte dem Grundsatz der Normenklarheit widersprechen und ist willkürlich. Wer bitte entscheidet über Ernsthaftigkeit und Unernsthaftigkeit? Warum sollen die Wählerinnen und Wähler nicht das letzte Wort haben? Ehrlich gesagt: Bei so manchem Beitrag von Mitgliedern dieses Hauses wartet man am Ende auf ein „Helau!“ oder „Alaaf!“, und man weiß gar nicht, ob man lachen oder heulen soll. (Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Das ist Selbstkritik!) Deshalb muss man sicherlich auch an das Parteiengesetz heran. Sicherlich gibt es im Hinblick auf den Rechtsschutz noch viel mehr zu klären. Denkbar wäre beispielsweise eine Debatte über die Zusammensetzung der Wahlausschüsse. Doch da uns bei unserem letzten Gesetzentwurf zum Wahlrecht Überfrachtung vorgeworfen worden ist, haben wir den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf bewusst schmal gehalten, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr schmal, Frau Kollegin! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Interessante Begründung!) um wenigstens das Notwendigste vor der nächsten Bundestagswahl sicherzustellen. Deshalb können Sie diesmal doch auch zustimmen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Werte Kollegin, ich bin ja froh, dass Sie bei Ihrer ironischen Bemerkung über das Niveau der Debatten keine Namen genannt haben, aber dann wäre es wahrscheinlich etwas witziger geworden. (Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Sie hat das selbstkritisch gesehen!) Das Wort hat nun Kollege Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, wir diskutieren ein bedeutendes, ein wichtiges Thema. Es geht ausweislich auch der Überschrift Ihres Gesetzentwurfs um die Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht. Allerdings, Frau Kollegin, ist das eine derbe Untertreibung. Sie untertreiben nämlich deshalb, weil es im Wahlrecht zurzeit überhaupt keinen Rechtsschutz im Sinne von subjektivem Rechtsschutz gibt. Da, wo nichts ist, kann auch nichts gestärkt werden. Insofern geht es um die Einführung eines subjektiven Rechtsschutzes. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Voßkuhle, hat das in einer Besprechung letztens sehr prägnant, aber auch etwas sarkastisch so zusammengefasst: Das System sei deshalb derzeit konsistent, weil es vor der Wahl keinen Rechtsschutz gebe und danach auch nicht. – Meine Damen und Herren, wir sind uns daher einig, dass es an der Stelle Handlungsbedarf gibt. Es ist durchaus zu würdigen, dass die Fraktion der Linken sich dieses Themas annimmt. Wir erleben die Linken heute in einer ganz neuen Rolle. Normalerweise kennen wir sie, wie sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen; heute rennen sie offene Türen ein. Denn die CDU/CSU-Fraktion, die FDP-Fraktion, die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen des Deutschen Bundestages befinden sich seit etwa einem Jahr in intensiven Gesprächen über die Möglichkeit, einen Wahlrechtsschutz einzuführen. Unsere Überlegungen sind auch schon relativ weit gediehen. Es gibt sehr fruchtbare, sehr konstruktive Gespräche. Ich will ausdrücklich die Anwesenden erwähnen: den Kollegen Montag, den Kollegen Wiefelspütz; Herr Ruppert ist heute leider verhindert. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wenn Sie mich dazugeladen hätten, wäre es noch konstruktiver geworden!) Diese guten Gespräche werden unter allen Parteien dieses Hauses, die an konstruktiver Zusammenarbeit interessiert sind, auch weiterhin gut gedeihen. Wir sind in dem Willen vereint, diese Rechtsschutzlücke zu schließen, die in einem Staat besteht, der eigentlich sonst kaum Rechtsschutzlücken aufweist. Darauf sind wir stolz. Wir haben einen umfassenden Rechtswegestaat. Wenn Sie noch einmal die Debatte vom 30. Juni letzten Jahres nachlesen, sehen Sie, dass alle Fraktionen des Bundestages sich darauf bezogen haben. Das Wahlrecht ist das vornehmste Bürgerrecht. Der Bürger hat daher nicht nur Anspruch darauf, dass es ihm per Gesetz eingeräumt wird, sondern auch darauf, dass er es durchsetzen kann, wenn es ihm im Einzelfall vorenthalten wird. Allerdings warne ich an dieser Stelle davor, unser bisheriges Wahlrecht einschließlich des Wahlverfahrensrechts schlechtzureden. Auch ohne subjek-tiven Rechtsschutz gab es in über 60 Jahren Bundesrepublik eigentlich keinen ernsthaften Zweifel an der Integrität unseres Wahlrechts. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Na ja!) Es gibt gewissenhaft arbeitende Beamte und ehrenamtliche Wahlhelfer, die gute Arbeit leisten, gerade die Ehrenamtler. Auch der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages leistet gute Arbeit. Außerdem gibt es eine Reihe wohlabgewogener Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Wahlprüfungssachen. Meine Damen und Herren, jedenfalls seit 1990 finden auf deutschem Boden nur noch freie und faire Wahlen statt. Darüber wachen übrigens auch die mündigen Bürger unseres Staates, die Manipulationen und Unregelmäßigkeiten gar nicht durchgehen lassen würden. Es ist auch kein Zufall, dass einer der wesentlichen Momente, die den Anfang vom Ende des Nichtrechtsstaates DDR einläuteten, die gefälschten Kommunalwahlen 1989 waren. Diese waren mit Auslöser für die friedliche Revolution, die wir erlebt haben. Das zeigt, dass die Menschen in diesem Lande Wahlen ernst nehmen. Ein wenig ist es vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Bußarbeit der Linken aufgrund ihrer Vergangenheit als DDR-Staatspartei, dass sie gerade das Thema Wahlrechtsschutz aufgreifen. Dagegen ist im Grunde auch nichts einzuwenden; denn nicht nur im Himmel herrscht bekanntlich mehr Freude über einen, der Buße tut, als über 99 Gerechte. (Zuruf von der FDP: Sehr wahr! – Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Das habe ich schon immer als ungerecht empfunden! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo haben Sie das her?) Meine Damen und Herren, die Linke – das ist das Traurige an diesem Vorschlag – präsentiert heute leider ein sehr dürftiges Machwerk. Man kann nicht sagen: Weil uns schon einmal vorgeworfen worden ist, wir hätten etwas überfrachtet, machen wir jetzt ganz wenig. – Ihr Gesetzentwurf ist das beste Beispiel dafür, dass wir als Koalitionsfraktionen richtig gehandelt haben, als wir im letzten Jahr nicht versucht haben, dieses Thema in die Wahlrechtsreform zu packen. Denn es ist eine anspruchsvolle und komplexe Aufgabe, nach über 60 Jahren den Wahlrechtsschutz zu verankern. Ich muss Ihnen leider sagen: Sie haben diese Aufgabe nicht erfüllt; denn Sie haben wichtige Themen an vielen Stellen entweder nur angetippt oder komplett ignoriert. Ich will das ganz kurz an sieben Punkten verdeutlichen; meine Redezeit lässt das erfreulicherweise zu. Erstens. Fristen werden bei Ihnen unverantwortlich knapp gesetzt. Ich nenne als Beispiel die Fristen für die Entscheidung über die Nichtzulassung von Kandidatenvorschlägen oder Landeslisten. Der gesamte Rechtsschutz soll zwischen dem 44. und dem 32. Tag vor der Wahl ablaufen. „Gesamter Rechtsschutz“ heißt bei Ihnen: vor der Wahl Verwaltungsgerichtsbarkeit, Berufungsinstanz, vielleicht noch Bundesverwaltungsgericht, und dann gibt es wahrscheinlich – das werden Sie nicht ernsthaft ausschließen wollen – auch noch die Möglichkeit, das Ganze vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen, wohlgemerkt alles innerhalb von zwölf Tagen, einschließlich aller Schriftsätze, mündlichen Verhandlungen usw. Das ist einfach unrealistisch. Im Ergebnis würde das nicht zu einem echten Rechtsschutz führen, sondern zu Chaos. Es würde den Wahltag und den ganzen Wahlvorgang gefährden, auch hinsichtlich seiner Akzeptanz. Zweitens ignoriert Ihr Vorschlag vollkommen die Konstellation einer vorgezogenen Bundestagswahl, die ja gelegentlich vorkommt. Dafür gibt es nach Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG ganz konkrete Fristen: 60 Tage haben wir dafür Zeit. Außerdem gibt es noch viel engere Fristen. Sie sagen nichts dazu, wie Sie mit diesem Problem umgehen wollen. Hier wird vollends deutlich: Das, was Sie vorschlagen, ist nicht praxisgerecht. Dritter Punkt: Da der Rechtsschutz nur vor der Wahl gewährt wird, auch noch aufgeteilt zwischen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit, muss es zwangsläufig zu divergierenden Entscheidungen kommen. Das schafft besondere Problemstellungen. Vierter Punkt: Sie haben – zwar in Ihrer Rede, aber nicht in Ihrem Gesetzentwurf – nicht die Frage der Zusammensetzung der Wahlausschüsse angesprochen. Ich glaube, man könnte mit einigen kleineren Änderungen einiges entschärfen, zum Beispiel indem man auch im Bundeswahlausschuss und in den Landeswahlausschüssen auf richterliche Kompetenz zurückgreifen würde. Das werden wir noch im Einzelnen durchdenken und zügig vorschlagen. Der fünfte Punkt: Es ist wirklich unglaublich, mit welcher Nonchalance Sie über die verfassungsrechtlichen Probleme hinweggehen. Es reicht nicht aus, in dem Gesetzentwurf gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu polemisieren, sondern Sie müssen sich doch zumindest auch damit auseinandersetzen, ob das Ganze eine Verfassungsänderung voraussetzt oder nicht. Vielleicht kann man sogar zu dem Ergebnis kommen, sie sei nicht notwendig – was ich sehr anzweifle –; aber in der Begründung des Gesetzentwurfes gar nichts dazu zu sagen, ist handwerklich wirklich nicht mehr akzeptabel. Sechstens. Es gibt weitere handwerkliche Mängel – nur colorandi causa –: Ganz treuherzig wird in Ihrem Entwurf § 29 des Bundeswahlgesetzes geändert – eine Fristenregelung. Sie haben offenbar übersehen, dass dieser § 29 im letzten Jahr aus dem Bundeswahlgesetz gestrichen worden ist. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: So viel zur Kompetenz!) Irgendwo schade, vielleicht kann man das künftig etwas gründlicher machen. (Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Ich würde dazu auch gerne eine Zwischenfrage zulassen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sehr gut, Sie haben es entdeckt. – Bitte schön, Kollegin Wawzyniak. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Kollege Krings, wir haben den Gesetzentwurf eingebracht, als die Änderung des Bundeswahlgesetzes noch nicht veröffentlicht war, und uns deshalb an dieser Stelle auf das noch geltende Gesetz bezogen. Wenn Sie sich das Einreichungsdatum unseres Gesetzentwurfes anschauen und schauen, wann das neue Wahlrecht in Kraft getreten ist, würden Sie mir dann zustimmen, dass unser Gesetzentwurf vor Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelung eingereicht worden ist? (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da lagen drei Tage dazwischen!) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ich weiß ja nicht, wie die Zeitplanung in Ihrer Fraktion normalerweise ist. Aber es war ja absehbar, dass das Gesetz sehr bald veröffentlicht werden würde. Man hätte vielleicht noch drei Tage warten können. Man sollte doch einen Vorschlag machen, der auf dem basiert, was zum Zeitpunkt der Debatte gültig ist. Da haben Sie, jedenfalls meines Erachtens, ein schlechtes Zeitmanagement bewiesen. Wenn Sie von meinen vielen Kritikpunkten einen halben relativieren wollen, dann gestehe ich Ihnen das gerne zu. Ich glaube, es bleiben noch so viele Mängel übrig, dass wir nicht weiter ernsthaft über die Qualität Ihres Entwurfes reden müssen. Sie hätten an der Stelle ja zumindest noch eine Änderung anbringen können. Aber vielleicht haben Sie auch nicht damit gerechnet, dass das, was wir beschließen, wirklich ins Bundesgesetzblatt kommt. Verfassungsgemäß passiert das aber normalerweise so bei Gesetzen. Gehen Sie davon aus, dass, wenn der Bundestag ein Gesetz beschließt und der Bundesrat jedenfalls keinen Einspruch erhebt, es dann nachher auch im Bundesgesetzblatt so veröffentlicht wird. So steht es jedenfalls im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN) Meine Damen und Herren, ein weiterer handwerklicher Mangel: § 48 a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes – wohlgemerkt: das haben wir zwischenzeitlich nicht geändert – soll bei Ihnen heißen – ich zitiere wörtlich –: Bei einer begründeten Beschwerde ist „die Vereinigung für den Wahltag als politische Partei anzuerkennen“. Was heißt das denn jetzt? Für den Wahltag? Da dürfte es ja ein bisschen zu spät sein, um irgendwelche Wahlvorschläge einzureichen. Dann müsste sie schon für den gesamten Wahlvorgang als politische Partei anerkannt werden – für den Wahltag ist es, glaube ich, etwas zu spät. Auch das hätte man sicherlich sehr viel klarer und vor allem richtiger formulieren können. Siebtens. Der schlimmste Mangel Ihres Gesetzentwurfs ist aber ein ganz anderer. Am schlimmsten ist, dass dieser Gesetzentwurf den Wahlrechtsschutz ausschließlich zugunsten der Parteien und Kandidaten aus der Perspektive der Parteien angeht. Die Interessen der Wähler kommen bei Ihnen überhaupt nicht vor. Das Wahlrecht ist aber, jedenfalls aus meiner Sicht, in erster Linie das Recht des Bürgers, des Wählers und in zweiter Linie meinetwegen das Recht der Parteien. So herum muss das behandelt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass eine Partei mit dem Denken und vielleicht auch der Geschichte der Linken das vielleicht umgekehrt sieht, dass sie die Partei stärker in den Mittelpunkt stellt als den Menschen, das mag ja alles sein; (Zuruf von der LINKEN) das ist auch ihr gutes Recht. Das ist aber kein guter Ratgeber bei der Einführung eines subjektiven Rechtsschutzes in Wahlsachen. Wir wollen dagegen ein Rechtsschutzkonzept, das im Wege der einzig praktikablen Rechtskontrolle, nämlich der nachträglichen Rechtskontrolle, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann legen Sie es doch vor! Sie kommen ja zu nichts!) einen wirksamen Schutz für den Wahlbürger und nicht nur für die Parteien bietet, meine Damen und Herren. Meine Damen und Herren, wir – und das sage ich ausdrücklich; ich glaube, das darf ich – von Union, SPD, FDP und Grünen wollen daher in den nächsten Wochen – so jedenfalls unsere feste Absicht – einen ausgewogenen, praktikablen und verfassungskonformen Entwurf vorlegen und eben keinen Schnellschuss, wie wir ihn heute hier zu behandeln haben. Ich muss schon sagen: Beim zweiten Lesen Ihres Antrags habe ich hinsichtlich der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens Zweifel bekommen. Dass Sie mit diesem Thema nicht ernsthaft umgehen, wird noch durch die einleitende Bemerkung in Ihrer Rede über die sogenannte Sonneborn-Regelung unterstrichen und hat sich sozusagen bis in die Überschrift Ihres Gesetzentwurfs durchgefressen, in der es heißt: „… durch Einführung der Sonneborn-Regelung“. Ich gebe gerne zu, dass ich mit diesem Namen zunächst nichts anfangen konnte. (Zuruf von der LINKEN: Das glaube ich!) Man muss der deutschen Öffentlichkeit sagen, dass es sich bei Herrn Sonneborn um den Gründer einer Vereinigung, vorgeblich einer Partei mit dem Namen „Die Partei“, handelt. Indem Sie ihn sozusagen zum Kernanliegen Ihres Gesetzentwurfs einschließlich der Überschrift machen, erweist die Linke meines Erachtens einer Klamaukveranstaltung eine unverdiente Ehre. Denn dieser sogenannten Partei geht es offenbar nicht um einen ernsthaften Beitrag zu unserer Demokratie, sondern um das Lächerlichmachen unserer Demokratie. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Lächerlich machen die Demokratie andere!) Während in anderen Teilen der Welt auch in diesen Stunden Menschen ihr Leben für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, soll hier unsere Demokratie und ihr Herzstück, der Wahlvorgang, dem Zynismus preisgegeben werden. Das ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die sich 1989/90 im östlichen Teil Deutschlands (Zuruf von der LINKEN: Oh!) gegen Ihre Vorgängerpartei (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was heißt „Vorgängerpartei“?) – gegen die identische Partei – mutig für freie Wahlen eingesetzt haben. Denn eine der zentralen Aussagen der sogenannten Partei von Herrn Sonneborn ist die Ablehnung der Wiedervereinigung unter dem Slogan „Mauerbau war schlau“. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das passt doch!) Für diese Partei ergreifen Sie Partei. Ich will mich hier nicht zur Richtigkeit der Entscheidung des Bundeswahlausschusses über diese Partei äußern. Ich weiß auch nicht, ob Sie mit der Hofierung der Sonneborn-Partei auf Befindlichkeiten in Ihrer eigenen Partei Rücksicht nehmen. Es gibt bei Ihnen offenbar noch viele, die das ähnlich sehen, die den Mauerbau auch ganz gut finden und die die Wiedervereinigung nicht so toll fanden. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ich hätte vorhin doch Namen nennen sollen!) Das Problem ist doch, dass Sie dem gemeinsamen Anliegen, einen Rechtsschutz einzuführen, einen Bärendienst erweisen. Sie befrachten Ihren Gesetzentwurf mit einer ganz unnötigen Überschrift und unnötigen Punkten, die uns von dem hoffentlich gemeinsamen Anliegen abbringen, einen Rechtsschutz in Wahlsachen einzuführen. Das ist das eigentlich Unnötige und Schädliche an Ihrem Gesetzentwurf und seiner Überschrift. Wir brauchen vielmehr praxisnahe Vorschläge, die auch dem Wähler einen Rechtsschutz geben und nicht nur den Parteien. Dieser Rechtsschutz darf eben nicht dazu führen, dass der Wahltermin als solcher auf einmal gefährdet wird oder dass wegen nach hinten verschobener Fristen zum Beispiel Briefwähler nicht mehr an der Wahl teilnehmen können. Genau das wäre wahrscheinlich das Ergebnis Ihrer Vorschläge; vielleicht wollen Sie das sogar. Einen soliden Vorschlag werden die vorhin genannten Fraktionen in Kürze vorstellen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Rechtsschutz bei der Bundestagswahl ist uns allen wichtig. Noch wichtiger ist in einer Demokratie aber, dass Wahlen überhaupt stattfinden und in einem geordneten Verfahren ablaufen können. Genau vor dieser Aufgabe versagt der Gesetzentwurf der Linken. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen heute erneut eine Auseinandersetzung über Wahlrechtsfragen. Eine Auseinandersetzung, in der es um das Thema Negatives Stimmgewicht ging, liegt schon hinter uns. Darüber wird letztlich vom Bundesverfassungsgericht entschieden. Herr Krings, damals war aber schon klar, dass es über andere Themen, gleichwohl sie regelungsbedürftig sind, diesen politischen Streit nicht gibt. Wir haben uns sehr schnell auf Bereiche verständigt, in denen wir streiten wollen und müssen, und auf Bereiche, in denen wir zu konstruktiven Gesprächen zusammenfinden sollten. Das haben wir frühzeitig vereinbart, und es ist in der Tat so umgesetzt worden. Es gibt nun diese Gesprächsrunde zwischen der Koalition sowie den Bündnisgrünen und der SPD. Diese Gespräche sind ausgesprochen aussichtsreich, vernünftig, solide, kollegial und sehr sachorientiert. Wir lernen dazu; wir lernen voneinander. Ich lerne sogar von Ihnen, Herr Krings. Das will doch etwas heißen. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gleichfalls!) Ich will ausdrücklich loben, dass uns das gelingt. Das macht deutlich, dass man bei politisch wichtigen Fragen unseres Verfassungsstaates vorankommen kann, wenn man es klug anstellt. Ich bin ganz sicher, dass wir in dieser – wenn Sie so wollen – Arbeitsgruppe in wenigen Wochen liefern werden. Das wird nicht überragend spektakulär sein, aber es wird in wichtigen Fragen des Wahlrechts, des Wahlrechtsschutzes, bei denen es Defizite gibt, eine Weiterentwicklung unseres Verfassungsstaates sein. Diese Gespräche haben sogar den Vorteil gehabt, dass wir einen Weg gefunden haben, um mit dem Bundesverfassungsgericht sehr vernünftig ins Gespräch zu kommen, was nicht immer gelungen ist. Hier haben wir eine Form des Austausches gefunden, die beiden Seiten eine große Hilfe sein kann, ohne zu verpflichten. Die jetzigen Gespräche – das will ich durchaus sagen, Herr Krings – haben vielleicht doch einen kleinen Mangel: Die Linkspartei ist nicht dabei. Ich habe keinen Grund – das sage ich zum wiederholten Male –, zu diesen Menschen besonders nett zu sein. Es wäre aber – auch vor dem Hintergrund Ihrer Rede, die wir gerade gehört haben – vielleicht ein Beitrag zur Entspannung gewesen, wenn man sie dabei gehabt hätte, um die Argumente miteinander auszutauschen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unter uns sprechen wir viel kritischer von denen!) Wir – Sie, Herr Krings, andere und auch ich – hätten schon die Seriosität dieser Veranstaltung sichergestellt. Frau Wawzyniak hätte die Möglichkeit haben müssen, ihre Argumente einzubringen. Ich bin, so wie ich die Kollegin kenne, durchaus der Auffassung, dass wir an verschiedensten Stellen Schnittmengen erarbeitet hätten. Ich finde, Herr Krings, Sie verkrampfen zu sehr. Der Kalte Krieg ist zu Ende, das habe ich jedenfalls gelernt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aber bleibt eine historische Tatsache!) Ich habe neulich einen wunderbaren Film gesehen, den ich Ihnen nur empfehlen kann: Dame König As Spion. Es ist die Verfilmung eines Buches meines Lieblingsschriftstellers John le Carré. Es ist wunderbares klassisches englisches Kino, aber der 60er-, 70er-Jahre. Sie, Herr Krings – andere auf der anderen Seite auch –, haben immer noch den Ton der Vergangenheit, immer noch diese Kämpfe, das Sich-ineinander-Verhakeln, statt zu gucken, wie wir unseren wunderbaren Verfassungsstaat Deutschland, der weltweit seinesgleichen kaum findet, weiterentwickeln. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn wir von außen, zum Beispiel von der OSZE, kritisiert werden. Unseren Verfassungsstaat wollen wir doch vernünftig weiterentwickeln. Die Linkspartei ist letztlich mit eingeladen, im Bereich des Verfassungsstaates Defizite abzustellen, die wir gemeinsam feststellen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das war doch die charmante Wahrheit!) Wir müssen – Herr Krings, hier sind wir einer Meinung, ich denke, auch überall im Hause – feststellen, dass wir unterirdische Lücken haben im Bereich des Wahlrechtsschutzes, insbesondere bei der Zulassung von Parteien. Es ist eines Staates mit der Qualität, die wir haben, unwürdig, dass wir bei der Statusfrage der Zulassung einer Partei zu einer Wahl ein solches Verfahren ohne Rechtsschutz haben. Das werden wir jetzt gemeinsam vernünftig lösen. Ich erwarte von der Linkspartei, dass sie dem, was wir vorlegen werden, zustimmen wird; denn das ist sehr vernünftig. Es wird ein Beschwerdeverfahren beim Bundesverfassungsgericht geben. Dagegen werden Sie nichts einzuwenden haben. Das sollten wir klug und vernünftig machen. Wir werden demnächst noch einige andere Dinge abschließend besprechen. Ich glaube, dass ein Teil der Verkrampfungen, die in der Debatte eine Rolle gespielt haben, zu vermeiden gewesen wäre, wenn wir alle miteinander diskutiert hätten. Vielleicht kann man in den kommenden Monaten oder Jahren lernen, dass alle dazugehören, wenn es um elementare Fragen geht wie Wahlrecht und Wahlrechtsschutz. Dort sollten wir bemüht sein, einen möglichst breiten Konsens zu finden. Ich habe auch an dieser Stelle die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das noch möglich sein wird. Herr Krings hat eine Reihe von Dingen angesprochen, die, wenn man sie vertieft erörtert, sich sehr schnell, Frau Wawzyniak, als unpraktikabel herausstellen. Ich sage das mit allem Respekt. Wir haben Landeswahlleiter zu uns eingeladen. Das war eine sehr verdienstvolle Sache. Von diesen haben wir sehr viel gelernt. Angesichts der Pingeligkeit, die uns Deutschen eigen ist, eine Wahl in Deutschland zu organisieren, ist ein Kunstwerk. Wenn man in dieses Netz eingreift, muss man sich die Folgen sehr sorgfältig überlegen. Ich glaube, dass wir das aus eigener Sicht schlecht beurteilen können. Hierzu muss man die Fachleute aus den Ländern heranziehen. Das haben wir getan und von diesen Menschen eine Menge gelernt. Ich bedauere, dass Sie nicht die Gelegenheit hatten, das auch zu lernen, räume aber ein, dass Sie die Chance haben sollten, das in den kommenden Wochen und Monaten noch hinzuzulernen. Ich hoffe sehr, Herr Krings, dass in dieser wichtigen Frage zum Schluss alle Fraktionen hinter dem stehen werden, was wir in wenigen Wochen in diesem Hause zur Verabschiedung vorlegen werden. Herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Manuel Höferlin (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der subjektive Wahlrechtsschutz muss eingeführt oder verbessert werden. Daran besteht kein Zweifel. Das haben wir bisher von allen Seiten gehört. Es freut mich, dass das Thema heute zu einer etwas prominenteren Tageszeit diskutiert wird. Ob es jedoch so klug war, liebe Kollegen von den Linken, zu einem so komplexen Thema nur eine abgespeckte Version vorzulegen, das wage ich zu bezweifeln. Zur Bundestagswahl 2009 schickte die OSZE erstmals Wahlbeobachter nach Deutschland. Das ist eigentlich kein spektakulärer Vorgang. Im Abschlussbericht wurde jedoch festgestellt, dass ein gerichtlicher Rechtsschutz vor der Wahl durchaus notwendig wäre. In diesem Zusammenhang gab es unter anderem den Fall der Satirepartei „Die Partei“, den Sie so prominent im Titel Ihres Gesetzentwurfs zitieren. Man kann sich überlegen, was man von solchen Vereinigungen hält. (Jan Korte [DIE LINKE]: Wie die FDP!) Das ist aber für die Diskussion hier unmaßgeblich; deshalb gehört es eigentlich nicht in den Gesetzentwurf. Die Vorschläge, die Sie zur Verbesserung des Wahlrechtsschutzes vorbringen, halten wir – das haben auch Herr Krings und Herr Wiefelspütz gesagt – grundsätzlich für diskussionswürdig; darunter sind durchaus einige richtige Ansätze. Es geht darum, vor den Wahlen zum Beispiel in Form einer Klage Rechtsschutzmöglichkeiten zu erhalten, so bei der Nichtzulassung von Parteivorschlägen oder von Listenvorschlägen. Wo diese Klagemöglichkeit dann verortet wird, das muss sorgfältig diskutiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung wiederholt ausgeführt, dass Art. 41 des Grundgesetzes als spezielle Regelung für die Wahlprüfung dem Art. 19 Grundgesetz vorangeht. Daher sollten wir bei weiteren Überlegungen dieses Verhältnis genau im Auge behalten. Des Weiteren wollen Sie eine Klagemöglichkeit gegen die Ablehnung von Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten eröffnen. Auch diese Punkte sind grundsätzlich diskussionswürdig. Allerdings stellt sich uns die Frage, ob man tatsächlich immer den Klageweg eröffnen muss; denn die bereits etablierten Möglichkeiten einer Beschwerde gegen die Entscheidung eines Wahlleiters, der einzelne Kandidaten nicht zulassen will, sollten an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt werden. Es gibt einige Situationen, bei denen man mittels einer Beschwerde vorgehen kann. Insofern kann man auch über Verbesserungen nachdenken, die im Bereich unterhalb der Klageschwelle angesiedelt sind. Beispielsweise wäre – Herr Krings hat es ebenfalls gesagt – eine Veränderung der Zusammensetzung der Kreis-, Landes- und Bundeswahlausschüsse denkbar. In den letzten beiden Fällen könnte man einen oder mehrere Richter an den Sitzungen teilnehmen lassen. Für die Kreiswahlausschüsse könnten Personen mit Befähigung zum Richteramt in Frage kommen. Diese Fragen werden die Fraktionen in den nächsten Wochen vertiefen und – dessen bin ich mir sicher – hierzu auch zügig Lösungsvorschläge vorbereiten. Von diesen grundsätzlich richtigen Gedanken abgesehen, gibt es in Ihrem Gesetzentwurf aber auch einige problematische Stellen. Ich will nicht alle Punkte, die Herr Krings bereits genannt hat, noch einmal erwähnen, aber einige, die ich für wirklich problematisch halte, doch noch einmal ansprechen. Die Frist, die Sie in Ihrem Entwurf dem Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Nichtzulassung einer Partei setzen wollen, ist sicherlich zu kurz. Elf Tage wollen Sie dem Bundesverfassungsgericht für die Entscheidung auf dem Gerichtsweg geben. Das wird mit Sicherheit nicht ausreichen. Ich denke, dass wir hier deutlich mehr Zeit benötigen; allein schon für das reine Verfahren, aber natürlich auch für eine substanzielle Prüfung. Sie dürfen diese Fristen vor allem deshalb nicht so kurz setzen, weil Sie dadurch den Wahlrechtsschutz insgesamt aufweichen. Der Fristenplan insgesamt muss genau unter die Lupe genommen werden. Die Fristen sind derzeit sehr eng gestaffelt und aufeinander abgestimmt. Innerhalb der vorhandenen Fristen gibt es eigentlich fast keinen Spielraum für eine mögliche Klage. Die Erweiterung des Fristenplans würde dem Bundesverfassungsgericht letztlich mehr Zeit geben, eine Entscheidung zu treffen. Beispielsweise könnte die Frist für die Anzeige einer Wahlbeteiligung um mindestens eine Woche vorgezogen werden. Derzeit ist der 90. Tag vor der Wahl vorgesehen. Ich halte es für denkbar, dass diese Frist vorgezogen wird. Dann würde der enge Zeitplan vor der Wahl entzerrt werden. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Können wir drüber reden!) Die Verlängerung der Fristen ist auch dann wichtig, wenn man die Fälle der Kreiswahlvertreter und der Landeslisten wirklich noch vor der Wahl überprüfen lassen möchte. Es geht nicht nur um ein Thema – Herr Krings hat das weiter ausgeführt –, sondern um mehrere Themen. Das Thema der vorgezogenen Neuwahlen muss zumindest behandelt werden; dazu haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf gar nichts. Sie wissen: Das Bundesministerium des Innern ist gemäß § 52 Abs. 3 Bundeswahlgesetz ermächtigt, die Fristen bei einer vorgezogenen Neuwahl eigenständig abzukürzen. Was muss man da machen? Was soll man da tun? Sollen da für Wahlklageverfahren die gleichen Fristen gelten oder kürzere? Muss man die 60-Tage-Frist ändern? Ihr Entwurf liefert leider überhaupt keine Antworten darauf. Noch einmal: Die Grundausrichtung Ihres Gesetzentwurfs ist richtig; das ist unstreitig. Alle anderen Fraktionen bereiten schon einen entsprechenden Entwurf vor. Insofern werden die christlich-liberale Koalition und die Oppositionsfraktionen in den nächsten Wochen sicherlich einen Entwurf zur Verbesserung des Wahlrechtsschutzes vorlegen. Es ist in unser aller Interesse, weil es in der Demokratie enorm wichtig ist, dass die Bürger, die Beteiligten in einer Demokratie, einen Rechtsschutz haben und ihre Interessen ausreichend berücksichtigt werden. Spätestens seit dem Bericht der OSZE von 2009 haben wir hier Nachholbedarf. Wir sind dabei; es wird in den nächsten Wochen sicherlich etwas geben. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit den anderen Fraktionen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Wawzyniak, ich finde es völlig in Ordnung und richtig, dass Sie sich mit der Reform des Rechtsschutzes im Wahlrecht beschäftigen und einen Gesetzentwurf vorlegen. Was ich Ihnen übel nehme, ist, dass Sie Ihr Unterfangen zu einer Titanic-Werbeveranstaltung machen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Es wäre nicht nötig gewesen, aber Sie haben Ihre Vorlage vorsätzlich als „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der Sonneborn-Regelung“ bezeichnet. Eine solche Titulierung eines Gesetzentwurfs habe ich in diesem Hohen Hause noch nie erlebt. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wenn man weiß, dass Herr Sonneborn die Federführung bei der Titanic hat und auch die Titanic-Werbepartei gegründet hat, ist es völlig klar, dass Ihr Gesetzentwurf tatsächlich eine Titanic-Werbeveranstaltung ist. Das ist auch ganz okay und lustig, vielleicht auch gar nicht so staatszersetzend, wie der Kollege Krings meint; aber unangemessen für die Behandlung der Reform des Wahlrechts ist es schon. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Der zweite Punkt, den ich Ihnen übel nehme, ist, dass Sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs so tun, als ob die OSZE die Wahlen zum Deutschen Bundestag 2009 hätte beobachten müssen, weil die Titanic-Werbepartei nicht zur Wahl zugelassen worden ist. Das entspricht eindeutig nicht der Wahrheit. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das behaupten wir auch nicht!) Die Bundesrepublik Deutschland hat die OSZE eingeladen, damit nicht der Eindruck entsteht, es würden immer nur die Wahlen in Russland und anderswo überwacht. Nein, auch Wahlen in demokratischen Staaten sollen von der OSZE beobachtet werden. Tatsächlich hat die OSZE in dem Bericht, der mir hier vorliegt, völlig zu Recht das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland gelobt und lediglich an einem einzigen Punkt zu bedenken gegeben, dass man vielleicht über eine Verbesserung nachdenken sollte. Das ist auch richtig; das tun wir gemeinsam. Wir wollen den Rechtsschutz tatsächlich auch bei der Bundestagswahl verbessern. Die Bemerkungen in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf, in Deutschland würden Parteien nicht zugelassen, internationale Organisationen müssten eingreifen, um von außen für Demokratie in Deutschland zu sorgen, haben einen Unterton, den ich für völlig unangemessen halte. Das sollten Sie lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, Tatsache ist allerdings auch, dass der frühere Bundesinnenminister de Maizière im Januar 2010 der OSZE geschrieben hat, dass die Bundesregierung diese Anregung aufnehmen und einen Vorschlag machen wird. Aber die Bundesregierung hat nichts getan. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts Neues! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wahlrecht ist Sache des Parlaments!) Wahr ist auch, dass der erste Ausschuss im Juni 2011 mit Zustimmung aller Fraktionen beschlossen hat, die Bundesregierung aufzufordern, etwas in dieser Sache zu unternehmen. Geschehen ist nichts. Wahrscheinlich hat die Bundesregierung das alles aus lauter Hochachtung vor dem Hohen Haus unterlassen. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was denn sonst? – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau! Wir unterstützen die Bundesregierung!) Deswegen ist es richtig, dass wir die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen und die Reform mit eigenen Kräften, eigenen Gedanken und mit einem eigenen Gesetzentwurf voranbringen. Herr Kollege Krings hat zu den Kritikpunkten, die es am vorliegenden Gesetzentwurf gibt, alles Notwendige gesagt. Ich will hinzufügen: Sie können nicht die Frist von 90 Tagen beibehalten und in diesen 90 Tagen für Tausende von Wahlkreisbewerbern und für Hunderte von Landeslisten einen vierstufigen Rechtsschutz einführen. Das würde zu einer Chaotisierung der Bundestagswahl führen. So können Reformen nicht durchgeführt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich finde es schade, meine Herren von der Koalition, dass Frau Wawzyniak für die Linke an unseren Gesprächen nicht teilnehmen kann. Ich bitte Sie, sich das noch einmal zu überlegen. Wir sind mit unseren Gedanken noch nicht am Ende. Uns fällt kein Zacken aus der Krone, auch Ihnen nicht, Herr Kollege Krings, wenn wir Frau Kollegin Wawzyniak zu den nächsten Veranstaltungen hinzubitten. Sie kann bei uns nur dazulernen. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte [DIE LINKE]: So staatstragend! Das hätte ich nie gedacht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich beende die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7848 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Verfahren gegen deutsche politische Stiftung einstellen – Demokratisierungsprozess in Ägypten fortsetzen – Drucksache 17/8578 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle in diesem Hause kennen die Arbeit der deutschen politischen Stiftungen. Sie haben sich in verschiedenen Ländern der Welt als segensreich erwiesen. Wir alle haben noch den großen Erfolg des Transformationsprozesses in Portugal und Spanien nach dem Ende der Diktaturen im Gedächtnis. Wir müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass wir weltweit beobachtet und misstrauisch beäugt werden – so ist es nun einmal –: selbst von einem lupenreinen Demokraten in unserer europäischen Nachbarschaft, von manchen Demokratien, die zwar Wahlen kennen, aber keine ausgebildeten Zivilgesellschaften haben und nationales Interesse mit der Unterbindung von Kritik gleichsetzen. Man beobachtet misstrauisch die Arbeit von Stiftungen nach dem Motto: Das sind westliche Systeme, das sind westliche Vorurteile, das sind westliche Werte, die wir bei uns nicht unbedingt brauchen. Ich will für alle Stiftungen vorab sagen: Wir vertreten kosmopolitische Weltbürgerwerte, wir vertreten Menschenrechte, und wir vertreten in jeder Arbeit die Charta der Vereinten Nationen, die von allen Ländern, in denen wir arbeiten, unterzeichnet worden ist. Das ist kein westliches Vorurteil. Es ist auch nicht so – wie manche in Asien behaupten –, dass das erst dann den Menschen zuteil werden kann, wenn man ein bestimmtes wirtschaftliches Niveau erreicht hat. Auch die, die das noch nicht erreicht haben, brauchen eine Stimme. Deshalb arbeiten wir auf der gesicherten Basis der Menschenwürde, der Menschenrechte und der wirtschaftlichen Entwicklung. Wir haben ein massives Interesse daran, dass Ägypten Erfolg hat, aber wir erkennen auch, dass es mit einer Revolution allein nicht getan ist. (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Die Entscheidung erfolgt hinterher, darüber, ob eine durch Mehrheit an die Macht gekommene Struktur weiß, dass Mehrheit nicht alles darf, dass sie Minderheitenrechte schützen muss, dass sie darauf achtet, dass sich keine religiösen Konflikte entzünden, dass kein ethnischer Binnenzirkus im Land entsteht. Eine Zivilgesellschaft muss auch mit unangenehmen Sachverhalten konfrontiert werden. Das Recht des Schwächeren muss gesehen werden, auch das Recht des Fremden. Manche Gesellschaften bringen dazu überhaupt noch keine Kraft auf. Deshalb ist der Kern der Vertrauenswürdigkeit, die nach einer Revolution herausgebildet werden muss – dabei geht es um das eigene und das internationale Ansehen –, die Bereitschaft zur Transformation. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das sagen wir auch in Richtung Kairo. Bei aller Zurückhaltung möchten wir die Botschaft vermitteln, dass wir angesichts des Vorgehens gegen die Konrad-Adenauer-Stiftung nicht den Eindruck haben, dass die dortige Militärherrschaft das begriffen hat. Zu einer Transformationspartnerschaft, die Außenminister Westerwelle mehrmals betont hat – ich danke ihm hier ausdrücklich für sein Engagement in dieser Angelegenheit –, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehört, dass man entsprechend den internationalen Gepflogenheiten miteinander umgeht. Der Eindruck ist zweifellos – das ist niemandem verborgen geblieben –, dass in Ägypten bestimmte bürokratische Hindernisse oder eigene Unliebsamkeiten zum Vorwand genommen werden, um ein Büro zu schließen. Mir hat sich bis heute nicht erschlossen, was der eigentliche, was der wirkliche Grund dafür war. Deshalb gilt unsere Solidarität der Konrad-Adenauer-Stiftung für ihre Arbeit in Ägypten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich will das hier bewusst zum Ausdruck bringen, weil wir mit unseren Stiftungen international zusammenarbeiten. Wir haben uns in keinem Land aufgedrängt. Wir haben Kooperation gesucht, wenn Kooperation gewünscht wurde. Auch die Kolleginnen und Kollegen der Konrad-Adenauer-Stiftung haben niemandem Rat aufgedrängt, wenn sie nicht um Rat gefragt worden sind. Wir wollen, dass in Ägypten die zivilgesellschaftlichen Voraussetzungen für einen Erfolg dieses Landes geschaffen werden. Ich glaube, dass wir aus Europa heraus mit unseren deutschen politischen Stiftungen dazu einen vernünftigen Weg vorgeschlagen haben. Es ist nun einmal so, dass das massive Interesse der deutschen Politik im Kern darin besteht, dass sich in diesen Ländern wirkliche Zivilgesellschaften entwickeln. Wir verstehen unter Demokratie nicht allein, dass in gewissen Abständen Wahlen stattfinden und ansonsten keine gesellschaftliche Kraft dazu entwickelt wird, nach einer Verfassung zu leben, in einer Verfasstheit zu leben und internationale Beziehungen zu pflegen. Diese Gesellschaften können, wenn sie möchten, von uns eine ganz uneigennützige, an Menschenrechten und internationalen Gepflogenheiten orientierte Zusammenarbeit bekommen. Für die Stiftung, die ich die Ehre habe zu vertreten, sage ich: Unser Signal an Kairo ist, dass die Machthaber dort die Konrad-Adenauer-Stiftung alsbald wieder arbeiten lassen sollten. Das ist kein konspiratives Tun. Die Arbeit dieser Stiftung widerspricht ebenso wenig wie die Arbeit meiner Stiftung dem nationalen Interesse Ägyptens, im Gegenteil: Sie liegt im wohlverstandenen Interesse des Ansehens dieses Landes in der internationalen Gemeinschaft. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Hans-Ulrich Klose für die SPD-Fraktion. Hans-Ulrich Klose (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die politischen Stiftungen stehen den im Bundestag vertretenen Parteien nahe, sind aber nicht von ihnen abhängig. Die Stiftungen gehören zur politisch-zivilgesellschaftlichen Szene der Bundesrepublik Deutschland, national und international. Charakteristisch für die deutschen Stiftungen ist der Respekt füreinander und die Kooperationsbereitschaft untereinander, nicht nur bei der Vertretung gemeinsamer Interessen – zum Beispiel gegenüber Bundestag und Bundesregierung –, sondern auch bei der praktisch-politischen Arbeit hier im eigenen Land und in vielen Ländern auf allen Kontinenten. Vor allem die Entwicklungs- und Außenpolitiker kennen und schätzen diese Arbeit, bei der es immer um Demokratieförderung, um den Aufbau demokratischer Strukturen sowie um konkrete Hilfe und die Organisation von Zivilgesellschaften geht. Die Arbeit ist oft schwierig, bisweilen sogar gefährlich. Immer mal wieder werden Stiftungen in verschiedenen Ländern angefeindet, wird ihnen vorgeworfen, sich in die inneren Angelegenheiten ihrer Gastländer einzumischen oder sogar Terroristen zu unterstützen. Der türkische Ministerpräsident hat sich zum Beispiel jüngst so geäußert. Im Visier hatte er, wenn ich mich recht erinnere, die Heinrich-Böll-Stiftung, die er verdächtigte, die PKK zu unterstützen, was ich für einen absurden Vorwurf halte. In Ägypten sind jetzt mehrere Nichtregierungsorganisationen betroffen – ägyptische und andere, Amerikaner vor allem und eben auch die Konrad-Adenauer-Stiftung, genauer: der Leiter der dortigen Vertretung, Andreas Jacobs, und seine Stellvertreterin, Christina Baade. Was genau ihnen vorgeworfen wird, ist nicht klar – illegale Finanztransaktionen, was auch immer das konkret bedeutet. Noch gibt es keine Anklageschrift, nichts, worauf man sich argumentativ einstellen, wozu man Stellung nehmen könnte. Das macht die Sache schwierig, weil nicht klar ist, welche Absichten die ägyptische Justiz bzw. die dortigen Behörden verfolgen. Die ägyptische Ministerin für Planung und internationale Zusammenarbeit, von der man sagt, sie sei die treibende Kraft hinter dem Verfahren, will, dass die internationalen Nichtregierungsorganisationen das ihnen zur Verfügung stehende Geld in einen Topf einzahlen, über dessen Verwendung dann die ägyptischen Behörden verfügen, konkret also die Ministerin. Die ägyptische Öffentlichkeit, sagt sie, wolle, dass die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes endlich aufhört. Sie bekommt dafür viel Beifall, was den Verdacht nährt, dass das Verfahren in erster Linie politisch motiviert ist, politischen Zwecken dient. Ein Beobachter, der sich in Ägypten besser auskennt als ich, vermutet, dass das ägyptische Militär, das gegenwärtig in der Kritik steht und um seine Macht im Land fürchten muss, die ganze Aktion nicht nur beobachtet, sondern gezielt nutzt, um innenpolitisch zu punkten. Es profiliere sich bei der für anti-westliche Kritik sehr empfänglichen Gesellschaft als Hüterin von nationalen Interessen und Souveränität. Das ganze Verfahren solle von den zahlreichen innenpolitischen Problemen ablenken, indem es ausländische Sündenböcke liefert. Dass die Mehrzahl der betroffenen ausländischen Stiftungsvertreter Amerikaner sind, passt genau in dieses Schema. Ob es aber so ist oder ob es sich, wie eine deutsche Zeitung schrieb, um die Obsession der schon erwähnten Ministerin für Planung und internationale Zusammenarbeit handelt – ich weiß es nicht. Ich halte es aber aus guter Kenntnis der Stiftungsarbeit für nahezu ausgeschlossen, dass die Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung ihnen anvertrautes Geld – nebenbei bemerkt: öffentliches Geld, über das der Bundestag beschließt – aus politischen Gründen zweckentfremden könnten. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die beiden angeklagten Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung wie auch die Vertreter der anderen in Ägypten tätigen Stiftungen – das sind, wenn ich mich recht erinnere, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung; die Heinrich-Böll-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung sind noch dabei, sich dort für einen Standort zu entscheiden – engagiert und pflichtbewusst arbeiten, um den Transformationsprozess in Ägypten erfolgreich – will sagen: demokratisch – zu entwickeln. Diese Arbeit ist gut und wichtig für uns und verdient unsere Unterstützung, aber auch die der ägyptischen Behörden. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es berührt mich zutiefst, wenn sich die erwähnte Ministerin in der ägyptischen Presse wie folgt äußert – ich zitiere –: „Ägypten wird wieder auf die Beine kommen, all denjenigen zum Trotz, die unser Land hassen oder gegen uns sind.“ Dazu möchte ich hier in aller Ruhe und Klarheit sagen: Nach meiner Wahrnehmung haben die Menschen in Deutschland die Veränderungen in der arabischen Welt, vor allem die in Ägypten, mit großer Anteilnahme und Sympathie verfolgt und verfolgen sie weiter. Arabischer Frühling – allein die Wortwahl zeigt, welche Hoffnungen sich mit dieser Entwicklung verbanden und verbinden. Ägypten war nicht der Anfang, der Anfang lag in Tunesien. In Ägypten aber, dem volkreichsten arabischen Land, wird sich entscheiden, ob der Transformationsprozess gelingt. Zu diesem Gelingen wollen wir beitragen, auch und nicht zuletzt durch die Arbeit der in Ägypten tätigen politischen Stiftungen. Die Stiftungen sind erfahren und gutwillig. Ihre über viele Jahre geleistete und unbeanstandete Arbeit ist Teil unseres Angebotes für eine weitere und weiterhin erfolgreiche Zusammenarbeit. Wir würden es, denke ich, alle zutiefst bedauern, wenn diese Zusammenarbeit eingeschränkt oder sogar beendet werden müsste. Die Parteien des Deutschen Bundestages – verschieden nach Grundüberzeugung, Programm und Politikstil – unterstützen diese Arbeit. Dass wir es nicht, Einigkeit nach außen demonstrierend, in einem gemeinsamen Antrag tun, ist aus meiner Sicht bedauerlich, weil es hier und heute nicht um deutsche Innenpolitik, sondern um Außenpolitik geht. Nach außen ist man stärker, wenn man gemeinsam agiert. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Bundesregierung – genauer: dem Herrn Bundesaußenminister – danke ich für den Einsatz zugunsten der beiden betroffenen Mitarbeiter der Stiftung. Dass dieser Einsatz bisher ohne Erfolg geblieben ist, sollte uns nicht entmutigen. Die Machthaber in Ägypten müssen wissen, dass die Angelegenheit für uns keine Lappalie ist. Wir sind ein verlässlicher Partner, der etwas anzubieten hat, der helfen will und kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ägyptische Seite das nicht weiß. Zum Schluss drei Anmerkungen. Erstens. Da es in der konkreten Konfliktsituation auch um Gesichtswahrung und Vorführaspekte geht, rate ich von großen demonstrativen Gesten ab. Sie verhärten die Positionen bei einer ohnehin komplizierten Konfliktlösung und wirken deshalb eher kontraproduktiv, fürchte ich. Zweitens. Wir sollten das weitere Vorgehen mit den Regierungen und auch den Parlamenten anderer betroffener Länder besprechen und koordinieren. Vor allem die Amerikaner sind ein noch viel wichtigerer Partner für Ägypten, auch für das ägyptische Militär. Drittens. Den politischen und zivilgesellschaftlichen Dialog mit den Ländern des arabischen Frühlings sollten wir auf keinen Fall einschränken, sondern fortsetzen und ausweiten. Die Menschen in diesen Ländern sind unsere unmittelbaren Nachbarn. Diese Nachbarschaft pfleglich zu gestalten, ist für Europa von großer, geradezu existenzieller Bedeutung. Darauf wollte ich in dieser Debatte ausdrücklich bittend und mahnend hinweisen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Reiner Deutschmann [FDP]) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle haben mit großer Hoffnung den Aufbruch in Nordafrika erlebt, ausgehend von Tunesien und dann in Ägypten. Ich war zweimal in Ägypten und habe dort mit Menschen gesprochen, die große Hoffnungen in diese Bewegung gesetzt haben. Vor allem junge Menschen haben damit auch berufliche Perspektiven verbunden; sie wollten endlich etwas aus ihrem Leben machen. Wir haben immer gesagt: Grundsätzlich unterstützen wir diese Bewegung und diese Idee, ohne uns aber in die konkreten innenpolitischen Diskussionen einzuschalten. – In der Phase, in der der Wahlkampf stattgefunden hat, haben wir unsere Besuche in Ägypten praktisch auf null gefahren, um nicht den Eindruck zu erwecken, als wollten wir von außen in die Entscheidung eingreifen. In Gesprächen in Ägypten haben wir natürlich darauf hingewiesen, dass unabhängig davon, wer die Wahlen gewinnt, ein Demokratisierungs- und Transformationsprozess stattfinden muss – das ist vom Kollegen Gerhardt schon gesagt worden – und dass zu den Menschenrechten auch Minderheitenrechte gehören. Eines dieser Menschenrechte, das auch für Minderheiten gelten muss, ist die freie Ausübung der Religion. Die Religionsfreiheit ist ein existenzielles Menschenrecht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es ist völlig richtig und klar, dass sich die Konrad-Adenauer-Stiftung bei ihrer Arbeit in Ägypten an das gehalten hat, was Ägypten selber unterschrieben hat, indem das Land die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO unterzeichnet hat. Über das zu sprechen, was ein Land selber ratifiziert hat – auch die neue Regierung hat ihre Unterschrift nicht zurückgezogen –, kann kein Unrecht sein. Deswegen verstehen wir nicht, dass mit der Konrad-Adenauer-Stiftung so umgegangen wird. Im Dezember letzten Jahres wurden die Büros besetzt, es wurden Unterlagen und Computer weggenommen und bis zum heutigen Tag nicht zurückgegeben. Jetzt werden die beiden Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo angeklagt. Es wird der Vorwurf erhoben, sie arbeiteten dort illegal. Aber: Die stellvertretende Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo hat jedes Jahr bei den Behörden eine Arbeitserlaubnis beantragt und sie bekommen. Der Leiter des Büros, Herr Jacobs, hat bei den Behörden jedes Jahr einen Aufenthaltsantrag gestellt, verbunden mit dem Hinweis, dass er für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo arbeitet. Dieser Antrag wurde ihm jedes Jahr genehmigt. Es gab nie irgendeinen Sachverhalt, den die Behörden in Kairo nicht gekannt hätten. Wenn der Vorwurf erhoben wird, es sei keine ordnungsgemäße Registrierung durchgeführt worden, dann muss das jetzt nachgeholt werden. Aber das hätte auch gesagt werden können. Man hätte sagen können: Freunde, nach unserem Recht seid ihr nicht ordentlich registriert. Das wird nun gemacht. – Aber bis zum heutigen Tage – Herr Klose hat darauf hingewiesen – wurde uns kein konkreter Vorwurf genannt. Wir haben heute mit dem Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, der gerade in Ägypten war, telefoniert. Er hat uns gesagt: Bei den Gesprächen, die er gestern mit Regierungsvertretern und der besagten Ministerin geführt hat, wurde ihm kein konkreter Vorwurf genannt. Es hieß, Finanztransaktionen seien nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, und vielleicht sei Geld von außen über eine amerikanische Bank nach Ägypten geflossen. Aber es handelt sich dabei ausschließlich und nachweisbar um Geld, das vom deutschen Steuerzahler für die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Verfügung gestellt wurde. Deswegen kann ich der ägyptischen Regierung nur sagen: Geld, das vom deutschen Steuerzahler ganz ordnungsgemäß Stiftungen zufließt, dürfen Sie nicht als illegal bezeichnen. Das können und werden wir auf gar keinen Fall akzeptieren. (Beifall im ganzen Hause) Wir haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir natürlich keine Eskalation der Situation wollen, sondern darauf setzen, dass sich die ägyptischen Behörden an das, was man als das Minimum eines rechtsstaatlichen Verfahrens bezeichnet, halten: dass sie uns endlich sagen, wie ihr konkreter Vorwurf lautet, dass sie mit den beiden Mitarbeitern bei Verhören anständig umgehen, dass sie nach sachlichen Kriterien vorgehen und dass wir endlich erfahren, was der wahre Grund für das Vorgehen ist, damit wir substanziell darauf eingehen können. Ich kann nur sagen: Alle Stiftungen, die ich erlebe, wenn ich im Ausland unterwegs bin – gerade auch solche in schwierigen Ländern, wie Sie gesagt haben, Herr Klose –, wissen ganz genau, dass sie sich an die Vorschriften des jeweiligen Gastlands halten müssen. Es hat in keinem einzigen Fall auch nur eine Beanstandung gegeben, die wirklich Hand und Fuß gehabt hätte. So ist es jetzt auch in Ägypten. Deswegen erwarten wir von der Regierung, dass der Vorgang schnell abgeschlossen wird und man die beiden Mitarbeiter wieder arbeiten lässt. Ich erwarte, dass das, was sich hier als Eindruck aufdrängt, nämlich dass Einschüchterung stattfindet, nicht zum Maßstab ägyptischer Politik gemacht wird. (Beifall im ganzen Hause) Ägypten weiß ganz genau – das ist in der Berliner Erklärung vom August 2011 auch so formuliert worden –, dass der Transformationsprozess nur dann erfolgreich sein wird, wenn es eine intensive Zusammenarbeit mit Europa gibt und wirtschaftliche Entwicklung stattfinden kann, und das wollen wir auch; darauf möchte ich hier hinweisen. Wir wollen den Erfolg der Bewegung in Ägypten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen, dass die Menschen eine Perspektive haben. Das unterstützen wir, und das wollen die Regierung und die Mehrheit in Ägypten auch. Eines muss aber klar sein: Wir können nur zusammenarbeiten und zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, wenn die universalen Menschenrechte eingehalten werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Wir können die Zusammenarbeit nicht nach dem Motto beginnen: Wir arbeiten jetzt zusammen, und über Menschenrechte und rechtsstaatliche Verfahren reden wir zu einem späteren Zeitpunkt. – Man muss Ägypten sagen: Wir haben ein Interesse daran, dass wir wirtschaftlich zusammenarbeiten, so wie ihr ein Interesse daran habt; aber dafür müssen Mindeststandards eingehalten werden. Herr Bundesaußenminister, an dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Ihnen bedanken. Sie waren in Ägypten, haben mit den dortigen Behördenvertretern gesprochen, die Konrad-Adenauer-Stiftung besucht und in einer, wie ich finde, klugen, zurückhaltenden, aber doch klaren Art gesagt, was gemacht werden muss. Dass Sie heute bei dieser Debatte anwesend sind, zeigt, dass Ihnen das ein wichtiges Anliegen ist. Herzlichen Dank! Sie haben unserem Anliegen sehr geholfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich weiß – das sage ich überall –, dass Ihnen die Einhaltung von Menschenrechten, und zwar nicht nur ganz pauschal und global, und auch die Unterstützung bedrängter Christen und die Einhaltung der Religionsfreiheit wichtige Anliegen sind. Für diese wertorientierte Außenpolitik sage ich Ihnen herzlichen Dank. Ich ermahne Ägypten. Wir wollen mit euch zusammenarbeiten, aber denkt daran: Die internationalen Vereinbarungen, die ihr unterschrieben habt, müssen auch umgesetzt werden. Hier geht es um die Einhaltung der Menschenrechte, die wir 1948 in der Charta der Vereinten Nationen gemeinsam mit vielen Ländern vereinbart haben. Ich hoffe, dass sich die ägyptische Regierung dazu durchringt, die Vorwürfe zu konkretisieren. Die Konrad-Adenauer-Stiftung wieder arbeiten zu lassen, das hilft dem Land, den Menschen und dem Ansehen des Landes Ägypten in der Welt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr ist es her, dass Hunderttausende Menschen in Ägypten auf die Straßen strömten. Sie forderten soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte und ein Ende der jahrzehntelangen Unterdrückung durch das Mubarak-Regime. Ihr Aufstand war von Erfolg gekrönt. Am 11. Februar 2011 musste Diktator Mubarak weichen. Dass die Ägypter dies erreicht haben, verdient höchsten Respekt; (Beifall bei der LINKEN) denn den Weg zum Sturz des Diktators bezahlten viele Ägypter mit ihrem Leben. Das Regime ging mit brutalster Gewalt gegen die Demonstranten vor, auch mit Waffen aus Deutschland. Gerade deswegen verdient der Mut der Demonstranten, die tagelang friedlich protestierten und sich gegen den Gewaltapparat Mubaraks stellten, unser aller Anerkennung. Gründe für den Aufstand gab und gibt es viele: erstens, die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten, die selbst Grundnahrungsmittel wie Brot unerschwinglich teuer machten; zweitens, die hohe Jugendarbeitslosigkeit – die Hälfte der Bevölkerung, 40 Millionen Menschen, ist unter 25 Jahre alt, und ein Drittel davon ist arbeitslos –; drittens, die massive Korruption – jahrzehntelang hatte sich die Mubarak-Clique hemmungslos an Staatsgeldern bereichert –; viertens, der Wunsch nach Freiheit, nach Freilassung politischer Gefangener, nach demokratischen Wahlen. Die Forderungen der Demonstranten sind bis heute nicht umgesetzt. Deswegen muss die deutsche Politik den Umbruch in Ägypten weiterhin solidarisch unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) Dabei gilt es zunächst, das Vertrauen der Ägypter zurückzugewinnen, Vertrauen, das durch die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Mubarak-Regime zerstört worden ist. Die Stiftungen sind für die Vertrauensbildung wichtig; dazu komme ich gleich. Beim Thema verlorenes Vertrauen kommt mir allerdings als Erstes in den Sinn, dass Sie, Herr Westerwelle, sich bis zum Schluss nicht zu einer Rücktrittsforderung gegenüber Mubarak durchringen konnten. Schlimmer noch: Sie begrüßten Mubaraks Ankündigung am 1. Februar 2011, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Mit anderen Worten: Sie begrüßten die Ankündigung, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen. Das war ein Tiefpunkt deutscher Außenpolitik. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das glaubt doch keiner!) Vertrauen wurde jedoch schon viel früher verspielt, nämlich durch die Unterstützung der ägyptischen Diktatur. So wurde Ägypten in das Wirtschaftsabkommen Euro-Mediterrane Partnerschaft aufgenommen. Dort gibt es zwar eine Klausel, dass die Mitgliedsländer die Grundsätze von Demokratie und Menschenrechten beachten müssen, aber das interessierte anscheinend niemanden. Schließlich lieferte die Europäische Union jährlich für über 12 Milliarden Euro Handelsgüter nach Ägypten. Ich sage Ihnen: Wer eigene Wirtschaftsinteressen, wie hier geschehen, über die Grundsätze von Demokratie und Menschenrechten stellt, der kann nirgendwo glaubwürdig Menschenrechte einfordern, (Zuruf von der FDP: Unsinn!) erst recht nicht, wenn es sich bei den Handelsgütern, die man den Diktatoren liefert, um Rüstungsgüter handelt. Allein 2009 gingen deutsche Waffen für 77,5 Millionen Euro an Ägypten, unter anderem Maschinenpistolen, von denen man nicht weiß, ob sie gegen die Demonstranten eingesetzt wurden, oder Wasserwerfer der deutschen Firma MAN. Auf Fotos kann man sehen, wie sie gegen Protestierende eingesetzt wurden. Doch aus den Fehlern lernt man anscheinend nicht. Noch immer bildet die Bundeswehr ägyptische Soldaten auf Steuerzahlerkosten in Deutschland aus. Um Vertrauen zu schaffen, müssen die Rüstungsexporte beendet und die militärische und polizeiliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe eingestellt werden. Vertrauen schaffen kann die deutsche Außenpolitik, können aber auch politische Stiftungen. Wir als Linke haben daher die Initiative der Bundesregierung zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses durch die politischen Stiftungen begrüßt. In diesem Sinne werden wir auch dem heute vorliegenden Antrag der Koalition zustimmen. In diesem Antrag wird das Vorgehen der ägyptischen Übergangsregierung gegen die Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung verurteilt. In der Tat ist das, was dort passiert, völlig inakzeptabel. Wir als Linke erklären uns solidarisch mit den betroffenen Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung, auch im Sinne der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ebenfalls in der Region tätig ist, und im Sinne der solidarischen und guten Zusammenarbeit der politischen Stiftungen weltweit. Allerdings ist eine Sache schon merkwürdig. Selbst in diesem Fall, bei einer Solidaritätsbekundung mit den Mitarbeitern ihrer eigenen Stiftung, weigern Sie von der CDU/CSU sich, ihren Antrag gemeinsam mit der Linksfraktion einzubringen. Wir begrüßen es, dass SPD und Grüne deswegen auf eine Miteinbringung des Antrags verzichtet haben. Ich sage Ihnen, liebe CDU/CSU-Kollegen: Das Solidaritätszeichen wäre bei einem interfraktionellen Antrag viel stärker. Denken Sie einfach einmal darüber nach! Für die Linksfraktion ist die freie Betätigung der deutschen politischen Stiftungen in Ägypten und anderswo von großer Bedeutung. Sie muss unbedingt gewahrt bleiben. Angesichts der Serie von Gesetzen, die die Unabhängigkeit von Nichtregierungsorganisationen beschneiden, ob nun in der Türkei, in Israel oder in Algerien, ist es wichtig, diese Debatte zu führen. Worauf wir aber beim weiteren Vorgehen achtgeben sollten, ist, die Situation zu entschärfen und nicht weiter anzuheizen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Ägypter haben einen ersten Schritt dazu getan. Am Dienstag kam der Menschenrechtsausschuss des ägyptischen Parlaments zusammen. Er hat sich kritisch mit dem Vorgehen gegen die ägyptischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen auseinandergesetzt. Ich finde, diese Bemühungen verdienen Anerkennung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sollten eines nicht vergessen: Diese Maßnahmen der Übergangsregierung richten sich nicht in erster Linie gegen die ausländischen, sondern gegen die ägyptischen Nichtregierungsorganisationen. Deren Arbeit soll verhindert werden. Wir alle wissen, dass die Propaganda des Militärrats, die Menschenrechtsgruppen in Ägypten würden eine ausländische Agenda umsetzen, nur vorgeschoben ist, um die Menschenrechtsarbeit zu torpedieren. Daher muss das Ziel des deutschen Vorgehens auf jeden Fall sein, ägyptische Menschenrechtsaktivisten nicht zu gefährden. Wasser auf die Mühlen der Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen goss aber eine Aussage des US-Außenministeriums. Demnach seien durch die USA seit Beginn der Revolution 160 Millionen Dollar zur Unterstützung der Demokratie ohne Kontrolle durch ägyptische Behörden im Land verteilt worden. Auch deswegen können wir nur positiv auf die Lage in Ägypten einwirken, indem wir beschwichtigende Töne anschlagen, statt die Ägypter abzustrafen. Ein harsches Vorgehen könnte dazu führen, dass die Zustimmung der Bevölkerung zur Militärregierung steigt. Das wäre weder im Sinne der Demokratie noch im Sinne der Menschen, die gegen die jetzt herrschende Militärdiktatur kämpfen. Ja, die Menschen kämpfen weiter. Denn noch immer gibt es politische Gefangene. Soziale Gerechtigkeit ist fern. Die Ausübung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein Risiko. Wann eine demokratisch gewählte Regierung an die Macht kommen wird, steht in den Sternen. Das alles zeigt, dass die Revolution noch nicht zu Ende ist. Sie wird weitergehen. Deswegen müssen wir mit der Demokratiebewegung in Ägypten weiter solidarisch sein. Das ist unsere Aufgabe, auch und gerade als Parlament. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kerstin Müller. Bitte schön, liebe Kollegin. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Ägypten wurden am 29. Dezember letzten Jahres die Räume der Konrad-Adenauer-Stiftung durchsucht und zahlreiche Gegenstände beschlagnahmt. Offensichtlich ungerührt von politischem Druck, sei es durch die deutsche oder durch die amerikanische Regierung, soll jetzt auch gegen den Leiter des Stiftungsbüros der KAS und eine Mitarbeiterin sowie gegen weitere 42 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorwiegend amerikanischer Stiftungen Anklage erhoben werden. Das ist ein völlig unakzeptabler Vorgang. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag heute dieses Vorgehen der ägyptischen Justiz und Regierung verurteilt. Meine Fraktion wird daher dem Antrag der Koalition zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Eines möchte ich Ihnen allerdings nicht ersparen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Herr Kauder, dass Sie selbst bei dieser schwierigen Lage vor Ort nicht davon lassen können, dieses Thema innenpolitisch zu instrumentalisieren, und dass Sie die Linken nicht auf den Antrag nehmen wollten – deshalb haben wir davon Abstand genommen, ihn mit einzubringen –, finde ich angesichts der Lage und angesichts dessen, um was es dabei geht, völlig unangemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich war gerade mit unserem Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin in Kairo. Wir haben uns auch mit der Lage der Stiftungen intensiv befasst und sind mit Vertretern aller Stiftungen zusammengekommen. Ich kann Ihnen versichern: Alle Stiftungen, von der Hanns-Seidel-Stiftung bis zur Rosa-Luxemburg-Stiftung, sind absolut solidarisch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der KAS. Klar ist: Es geht politisch um einen Angriff der ägyptischen Behörden gegen alle deutschen politischen Stiftungen. Deshalb ist es richtig, dass alle solidarisch sind, und falsch, dass wir nicht gemeinsam einen interfraktionellen Antrag verfasst haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Zum Antrag selber. Es fehlen zwei entscheidende Punkte, die wir heute auf jeden Fall erwähnen müssen. Erstens wird in dem Antrag mit keinem Wort erwähnt, dass nicht nur 2 deutsche, sondern insgesamt 44 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter internationaler NGOs angeklagt sind: nicht nur 19 Amerikaner, sondern auch Serben, Palästinenser, 1 Jordanier und vor allem 16 Ägypter. Ich glaube, für sie wird es am allerschwierigsten werden. Aus juristischer Sicht werden ihnen illegale Finanztransaktionen nach dem Strafgesetzbuch vorgeworfen, aber politisch – darüber muss man heute ebenfalls reden – ist der verantwortlichen Ministerin als Vertreterin des alten Regimes vor allem die Art der Tätigkeiten all dieser NGOs ein Dorn im Auge. Demokratieförderung, effektive Wahlbeobachtung und Stärkung von Frauen- und Minderheitenrechten waren schon früher nicht gern gesehen. Hier schrillen offensichtlich in den alten Zirkeln der Macht immer noch die Alarmglocken. Ich glaube, politisch geht es letztlich darum. Hier müssen wir als Deutscher Bundestag klar und deutlich sagen: Wir wollen Ägypten auf seinem Weg zur Demokratie unterstützen. Daher gilt unsere Solidarität all denen, die sich für Demokratie einsetzen und jetzt im Visier der ägyptischen Behörden stehen. (Beifall im ganzen Hause) Zweitens will ich darauf hinweisen, dass sich das Vorgehen nicht nur gegen internationale NGOs richtet, sondern vor allen Dingen gegen die ägyptischen NGOs, die sich jetzt registrieren lassen sollen und deren Vertreter Anklagen zu befürchten haben. Betroffen sind vor allem diejenigen Organisationen, die sich für Bürger- und Menschenrechte einsetzen. Hier müssen wir deutlich machen: Wir werden an der Seite der Demokratiebewegung stehen. Wir werden dieser Politik von Vertretern des alten Regimes und des Militärrates entschieden entgegentreten. Gleichzeitig hoffen wir natürlich, dass die neuen Akteure im Parlament und in der Zivilgesellschaft Schritt für Schritt damit Schluss machen. Denn das, was hier passiert – dies habe ich von der Reise mitgenom-men –, ist nicht zuletzt Ausdruck einer ausgesprochen chaotischen, aber auch dynamischen Umbruchssituation in Ägypten. Es gibt Rückschläge. Trotz dieser Rückschläge, die Protest, Streit und auch Druck erfordern, gibt es aber ganz klar positive Entwicklungen. Die Durchführung der Parlamentswahlen war eine solche positive Entwicklung. Es gibt jetzt eine legitime Institution. Es wurde schon erwähnt: Als Obleute haben wir Herrn Anwar alSadat schon getroffen, Vorsitzender der Reform- und Entwicklungspartei. Er hat als Unabhängiger einen Direktsitz bekommen. Er hat ihn sich erkämpft und wurde Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses. Als ersten Tagesordnungspunkt in seiner ersten Sitzung hat er das Vorgehen der Behörden zum Thema gemacht und alle verantwortlichen Minister, aber auch Vertreter der NGOs eingeladen. Das ägyptische Parlament wird jetzt erstmals in seiner Geschichte diese Rechtslage und das Vorgehen der Behörden diskutieren. Warten wir ab, was am Ende dabei herauskommt. Das ist ein ermutigender Schritt und auch ein Zeichen von Demokratie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Das zeigt, dass die Dinge im Fluss sind. Ich glaube, die ägyptische Gesellschaft hat nach Jahrzehnten der Stagnation mit Mut, mit Beharrungsvermögen und mit unglaublich großem zivilen Engagement Veränderungen bewirkt und eine Dynamik geschaffen, die im letzten Jahr noch niemand für möglich gehalten hätte. Man muss klar sagen: Nicht nur der oberste Militärrat und die islamistischen Kräfte bestimmen die Entwicklung, sondern es gibt eine starke Zivilgesellschaft. Nach Aussagen aller, mit denen wir gesprochen haben, hat diese sich als dritter politischer Machtfaktor etabliert. Zum Schluss möchte ich Heinrich Böll zitieren. Er hat gesagt: Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben. Das ist ein Leitmotiv der Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung, die in Kairo gerade dabei ist, ein Büro aufzubauen. In Ägypten stellt man sich unter der Arbeit der NGOs wahrscheinlich Leute mit Geldkoffern vor, die dubiose Kräfte finanzieren und der ägyptischen Gesellschaft ihren Willen aufzwingen wollen. Das ist natürlich nicht die Art von Einmischung, von der Heinrich Böll sprach. Sie alle haben es hier deutlich gemacht: Das ist nicht die Art, in der die deutschen Stiftungen arbeiten. Die Arbeit ist geprägt von gegenseitigem Lernen und Verständnis, von Debatte und Diskussion, von Offenheit und Austausch. Alle Stiftungen wollen zusammen mit den Partnern die wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände der Menschen verbessern, wozu auch die Menschen- und Bürgerrechte gehören. Es muss alles dafür getan werden, auf der Grundlage der neuen legitimen demokratischen Institutionen, die in Ägypten gerade geschaffen werden, gesetzliche Voraussetzungen für eine freie und transparente Tätigkeit von ägyptischen und internationalen NGOs und Stiftungen zu schaffen. Ich hoffe sehr, dass es den Verantwortlichen gelingt, eine Lösung zu finden, die es den deutschen Stiftungen ermöglicht, diese schwierige Transformationsphase in Ägypten zu „überstehen“. Ich hoffe, dass wir nicht in die Situation kommen, abziehen zu müssen, bevor sich die Verhältnisse wieder zum Besseren verändern. In drei Monaten kann man es mit ganz anderen Akteuren zu tun haben. Ich hoffe, dass uns das gelingt und wir die ägyptische Gesellschaft weiter auf ihrem Weg zur Demokratie unterstützen können. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat Kollege Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir alle sind über das Vorgehen Ägyptens gegenüber politischen Stiftungen bestürzt. Bereits die Durchsuchung der Räume der Konrad-Adenauer-Stiftung und die Beschlagnahme von Dokumenten im letzten Dezember waren völlig inakzeptabel und ein massiver Verstoß gegen grundlegende Rechtsstaatsprinzipien. Anlass zu noch größerer Sorge bereitet allerdings das aktuelle Vorgehen der ägyptischen Behörden gegenüber den Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung. Stundenlange Verhöre auf ägyptischen Polizeistationen sowie die nunmehr erhobenen Anklagen wegen angeblich verbotener Aktivitäten und illegaler Annahme von Geldern aus dem Ausland sind untragbar, und sie sind ein diplomatischer Affront, dies umso mehr, als Bundesaußenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Kairo kürzlich die Arbeit der politischen Stiftungen ausdrücklich gewürdigt hat, wofür auch ich Ihnen, Herr Minister, ganz herzlich danken möchte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Anschuldigungen gegenüber den Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung, zu denen es bis heute keine offiziellen Dokumente gibt, sind haltlos, politisch motiviert und widersprechen dem Geist der Berliner Erklärung vom August 2011, die eine noch engere Kooperation zwischen Deutschland und Ägypten zur Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit postuliert. Dieses Vorgehen wirft auch sehr kritische Fragen nach dem Stand des Transformationsprozesses in Ägypten auf und lässt diesen in keinem guten Licht erscheinen. Eine solche Behinderung der Stiftungsarbeit, solche Einschüchterungen und solche Repressalien gegenüber Mitarbeitern einer Stiftung können wir nicht dulden. Wir fordern mit diesem Antrag daher die Bundesregierung auf, sich mit allem Nachdruck dafür einzusetzen, dass das Verfahren gegen die Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung umgehend eingestellt wird und die deutschen politischen Stiftungen ihrer Arbeit ohne Einschränkungen ungehindert nachgehen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieses Vorgehen der ägyptischen Behörden ist umso unverständlicher, als Deutschland im Rahmen der Transformationspartnerschaft mit Ägypten eine tragende Rolle bei der Unterstützung der ägyptischen Reformen zukommt. Schwerpunkte der Transformationspartnerschaft mit Ägypten werden 2012 und 2013 insbesondere die Stabilisierung des Demokratisierungsprozesses, die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Förderung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit sowie die Unterstützung guter Regierungsführung sein. Hierbei spielen die politischen Stiftungen eine wichtige Rolle. Auch wenn im Augenblick vor allem die Konrad-Adenauer-Stiftung im Visier der ägyptischen Regierung zu sein scheint, muss uns klar sein, dass es hier um die politischen Stiftungen und ihre Arbeit insgesamt geht. Deshalb ist ein breiter Konsens der demokratischen Parteien in dieser Frage wichtig, und er ist auch festzustellen. Die deutschen Stiftungen treten in Ägypten für die Werte ein, die die derzeitigen Umwälzungsprozesse im arabischen Raum ausgelöst haben: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte. In ihrer täglichen Arbeit leisten die politischen Stiftungen einen unschätzbaren Beitrag zur Förderung dieser Werte, für die die Ägypter auch heute noch, ein Jahr nach Beginn der ägyptischen Revolution, auf die Straße gehen und kämpfen, wofür sie leider auch wieder um ihr Leben fürchten müssen. So fördert insbesondere die Konrad-Adenauer-Stiftung seit über 30 Jahren die zivilgesellschaftliche Entwicklung in Ägypten. Durch die Repressalien des Militärrats ist dies im Augenblick nicht mehr möglich. Wie Herr Jacobs, der Leiter des Kairoer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, im jüngsten Länderbericht der Stiftung vom 25. Januar schreibt – ich zitiere –: Repressalien, Willkür und Einschüchterungen von Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien sind an der Tagesordnung. Gerade jetzt wäre es daher dringend geboten, oppositionelle Kräfte, Vertreter der Zivilgesellschaft und der freien Medien durch die Arbeit der politischen Stiftungen in der Ausfüllung ihrer tragenden Rolle für den Transformationsprozess zu unterstützen. Deutschland fördert den ägyptischen Transformationsprozess übrigens auch finanziell in erheblichem Maße. Diese Förderung sollten wir künftig stärker an die Einhaltung von Bedingungen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zum Beispiel die freie Betätigung der deutschen politischen Stiftungen, knüpfen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend die Hoffnung äußern, dass die über viele Jahre gewachsene gute Zusammenarbeit zwischen der Konrad-Adenauer-Stiftung und Ägypten durch diese Vorfälle nicht nachhaltig beschädigt wird und die Konrad-Adenauer-Stiftung ihre Arbeit in vollem Umfang ungehindert wieder aufnehmen kann – im Interesse des Demokratisierungsprozesses in Ägypten. Ich bedanke mich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Marina Schuster für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marina Schuster (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Parlamentarier aus unseren Nachbarländern beneiden uns um die deutschen politischen Stiftungen. Zu Recht, denn die deutschen politischen Stiftungen leisten eine ganz besondere Arbeit: in den Umbruchsprozessen, aber auch grundsätzlich in der Außen- und Entwicklungszusammenarbeit. Sie arbeiten unabhängig und transparent, und sie setzen sich in unterschiedlichen Projekten für die Wahrung der Menschenrechte, für die Förderung von Demokratie und für die Zivilgesellschaft ein. Sie haben sich in vielen Ländern einen sehr guten Ruf erworben. Sie sind verlässliche und vertrauensvolle Partner. Das gilt gerade für Ägypten, wo die deutschen Stiftungen einen sehr wichtigen Beitrag leisten. Umso unverständlicher ist es, dass die ägyptische Seite die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung derart behindert. Für mich sind die Anschuldigungen und die Anklageerhebung absolut nicht nachvollziehbar. Die KAS ist seit 1979 in Ägypten tätig, also seit über 30 Jahren. Ich hoffe, dass sich die Situation schnell aufklären wird; ich jedenfalls kann die Beweggründe nicht nachvollziehen. Ich danke der Bundesregierung, dass sie sehr schnell auf die Vorwürfe gegenüber der Konrad-Adenauer-Stiftung reagiert hat. Ich danke besonders Außenminister Westerwelle, dass er das Thema persönlich bei den Gesprächen in Ägypten angesprochen hat. Zudem wurde der ägyptische Botschafter in Berlin, Herr Ramzy, einbestellt, und der persönliche Beauftragte des Außenministers wurde zu Gesprächen nach Kairo entsandt. Wir alle haben ein großes Interesse daran, dass der Demokratisierungsprozess in Ägypten für die Menschen dort Früchte trägt. Wir wissen, dass Ägypten in der Region eine Schlüsselrolle hat. Deswegen begleiten wir den Prozess aktiv. Wir haben mit der Arbeitsgruppe „Außenpolitik“ der FDP-Bundestagsfraktion im letzten Jahr Kairo besucht und Gespräche mit Parteimitgliedern, Bloggern und Vertretern der Tahrir-Bewegung geführt. Unsere Gesprächspartner haben uns sehr selbstbewusst klargemacht, dass es ihr Prozess ist, ihre Revolution, von ihnen gestaltet. Ich sage ganz klar: Unsere Aufgabe ist und war es, Angebote zu unterbreiten. Aber natürlich sind die Prioritäten und Bedürfnisse vor Ort für eine Kooperation entscheidend. So ist auch die Berliner Erklärung zustande gekommen, aus dem gemeinsamen Interesse, gemeinsame Projekte umzusetzen, für den Kulturdialog, für mehr Rechtsstaatlichkeit und für den Aufbau demokratischer Institutionen. Das Vorgehen gegen die KAS erfüllt mich mit großer Sorge; denn es wirft kein gutes Licht auf den Transformationsstand im Land. Anklage wird schließlich nicht nur gegen die Konrad-Adenauer-Stiftung erhoben – Kerstin Müller hat es erwähnt –, sondern auch gegen 16 ägyptische und amerikanische Organisationen. Insofern macht sich eine Atmosphäre der Unsicherheit breit. Das ist ein Rückschlag für die ägyptische Transformation hin zu einer offenen und freien Gesellschaft. Für uns gilt es nun, diese Phase des Umbruchs weiter aktiv zu gestalten. Ich bin froh, dass heute im Plenum Einigkeit darüber besteht, an dem Transformationsprozess festzuhalten, nicht lockerzulassen und ein klares Zeichen für die Unterstützung der Arbeit der politischen Stiftungen zu setzen. Der Wandel in Ägypten wird von uns mit viel Engagement unterstützt, auch in finanzieller Hinsicht. Unser Ziel ist, dass wir Partner bleiben und – mit diesem Appell an die ägyptische Seite schließe ich – Partner sein dürfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich am Schluss dieser Debatte bei allen Vorrednern und allen Fraktionen des Hauses ganz herzlich bedanken. Frau Schuster, Sie haben gesagt: Wir werden von Partnern in aller Welt um unsere politischen Stiftungen beneidet. – Ich will ergänzen: Die aktuelle Diskussion zeigt über den konkreten Fall Ägypten hinaus, dass die politischen Stiftungen für die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiges Instrument der Außenpolitik sind. Wir haben neben den Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amtes und den Außenhandelskammern andere wichtige Instrumente der Außenpolitik. Dazu gehören die Goethe-Institute, die auswärtige Kulturarbeit der deutschen Schulen und Hochschulen, viele Nichtregierungsorganisationen und in ganz besonderer Weise die politischen Stiftungen. Sie sind der Bundesregierung gegenüber nicht weisungsgebunden, aber handeln in dem Auftrag, den wir ihnen als Deutscher Bundestag im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und im Sinne unserer gemeinsamen Werteordnung erteilen. Deswegen finde ich es richtig – ich bin Ihnen dafür dankbar, Herr Klose, dass Sie das gesagt haben –, dass wir nicht mit übertriebenem Getöse reagieren. Ich finde es aber auch gut, dass wir es geschafft haben, in dieser Woche im Deutschen Bundestag – und damit öffentlich – umgehend mit einer gemeinsamen Entschließung zu antworten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Ja, Frau Müller, es liegt ein gemeinsamer Antrag der Koalitionsfraktionen vor. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass die Oppositionsfraktionen ihm zustimmen. Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist es einfach eine Grundsatzentscheidung, dass wir mit einer Fraktion des Hauses keine parlamentarische Zusammenarbeit pflegen. Das wird aber nicht an dem großen Konsens in der Sache rütteln, den wir heute Nachmittag an den Tag gelegt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will daran erinnern, dass die Arbeit unserer politischen Stiftungen von Werten und vom Einsatz für die Menschenwürde, für die Freiheit, für die Demokratie und für die Rechtsstaatlichkeit geprägt ist. Das sind die Grundwerte, für die die Menschen auf dem Tahrir-Platz demonstriert haben, für die sie auf die Straße gegangen sind. Wir erleben das nicht nur in Ägypten. Wir haben schon andere Transformationsprozesse erlebt: früher in Lateinamerika, in den letzten beiden Jahrzehnten in Mittel- und Osteuropa. Wir erleben es jetzt in Afghanistan, in arabischen Staaten und in Afrika. Wir sprechen im Zusammenhang mit Konflikten auf dieser Welt oft von einer vernetzten Außenpolitik. Auch die politischen Stiftungen sind ein wertvolles Mittel der Softpower, ein wertvolles Mittel, um Transformationsprozesse im Sinne der Werte, für die wir stehen, mitzugestalten. Wir engagieren uns stets in Absprache mit der ägyptischen Seite. Das ist bereits gesagt worden; das brauche ich nicht zu wiederholen. Nur so viel: Die freie und ungehinderte Arbeit der Stiftungen ist insgesamt unerlässlich. Lassen Sie mich noch kurz zwei Bemerkungen machen. Nach den demokratischen Wahlen im Dezember und im Januar ist es nun an der Zeit – auch darüber haben wir großen Konsens erzielt –, dass der Ausnahmezustand aufgehoben wird, die Militärgerichtsbarkeit beendet wird, die staatliche Gewalt gegen friedliche Demonstranten aufhört und der Schutz von Minderheiten gewährleistet wird. Wir nehmen Hinweise sehr ernst – das wurde heute von allen Seiten angesprochen –, wonach bestimmte Kräfte des Militärs und des alten Regimes durch das Schüren von Spannungen – auch auf dem Rücken von Minderheiten – Instabilität erzeugen wollen, um den politischen Reformprozess in eine falsche Richtung zu lenken. Die Militärherrschaft muss ein Ende haben, und eine zivile Regierung in Ägypten muss die Kontrolle übernehmen. Die alten Kräfte des Mubarak-Regimes müssen abtreten. Dazu gehört auch – darauf wurde richtigerweise hingewiesen –, dass die tiefen Strukturen des Staates entflochten werden. Das Militär hat keine wirtschaftlichen Aufgaben. Die wirtschaftlichen Interessen des Militärs müssen zurückgestellt werden, damit ein neues Ägypten aufgebaut werden kann. Wir alle setzen uns intensiv für den Schutz von Minderheiten in Ägypten ein. Eine neue ägyptische Führung muss ein klares Bekenntnis zur Religions- und Meinungsfreiheit ablegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Unsere Erwartung an die verfassungsgebende Versammlung ist, dass diese Grundrechte in der Verfassung und im Alltag garantiert werden. Ich will die heutige Debatte nicht ohne ein Wort zu Syrien beenden. Auch heute geht das Morden in Homs weiter. Dies bereitet uns große Sorgen. Das Assad-Regime mordet das syrische Volk. Es ist nicht hinnehmbar, dass Russland und China eine politische Umsetzung des Fahrplans der Arabischen Liga, der das Ziel hat, das Töten zu stoppen, nicht zulassen. Außenminister Lawrows Besuch in Damaskus hat das Morden durch das Regime jedenfalls nicht beendet. Man fragt sich verwundert, welchen Einfluss Moskau in Syrien eigentlich hat. Wie will Russland das Blutvergießen beenden, da es doch im Sicherheitsrat ein Veto eingelegt hat und bilaterale Kontakte offenbar nicht ausreichen? Außenminister Lawrow hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz am letzten Samstag betont, wir hätten in Syrien letztlich gleiche Ziele und mehr gemeinsame als gegensätzliche Interessen. Deswegen appelliere ich nach wie vor an Russland, sich den Bemühungen im Sicherheitsrat nicht weiter zu widersetzen und nicht tatenlos zuzuschauen, wie in Syrien der Mord am eigenen Volk fortgesetzt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Außenminister Westerwelle, es ist richtig, dass Sie die Einrichtung einer Kontaktgruppe der „Freunde eines demokratischen Syriens“ fördern. Wir sollten sie nutzen, um die syrische Opposition zusammenzuführen. Ein letztes Wort. Ich hoffe, dass auch in Syrien möglichst schnell eine Situation entsteht, in der die deutschen politischen Stiftungen ihre segensreiche Arbeit einbringen können. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/8578 mit dem Titel „Verfahren gegen deutsche politische Stiftung einstellen – Demokratisierungsprozess in Ägypten fortsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen. (Beifall im ganzen Hause) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Monika Lazar, Jerzy Montag, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Strafbarkeit der Genitalverstümmelung – Drucksache 17/4759 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Monika Lazar das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weibliche Genitalverstümmelung ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen und muss auf der ganzen Welt durch Aufklärung und Verfolgung der Täterinnen und Täter bekämpft werden. Weder Religion noch Kultur schreiben Genitalverstümmelung vor. Es gibt keinen Rechtfertigungsgrund für diese Praxis, mit der die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und selbstbestimmte Sexualität eingegrenzt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Genitalverstümmelung beschränkt sich nicht auf weit entfernte Regionen, sondern ist durch Flucht und Migration auch bei uns in der EU angekommen. In Deutschland werden viele Frauenärztinnen und ärzte mit den Folgen des Rituals konfrontiert. Eine Stichprobe von UNICEF zeigt, dass bereits 43 Prozent eine beschnittene Frau in ihrer Praxis hatten. Nach Schätzung der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes sind allein in Deutschland mindestens 20 000 Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen sowie weitere 5 000 davon bedroht. Minister Niebel spricht in einer aktuellen Pressemitteilung sogar von 30 000 Frauen und Mädchen. Diese erlittenen Verletzungen sind niemals revidierbar. Zu den lebenslangen Schmerzen und körperlichen Einschränkungen kommen seelische Qualen sowie der Verlust sexuellen Erlebens hinzu. Wir Grüne legen heute einen Gesetzentwurf vor, der vorsieht, die Genitalverstümmelung ausdrücklich als Fall schwerer Körperverletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen und eine Möglichkeit der Bestrafung zu eröffnen, wenn das Mädchen dazu ins Ausland gebracht werden soll. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ziel der Gesetzesänderung ist, rechtliche Schutzlücken zu schließen. Wir brauchen Rechtsklarheit für die Opfer, für die Täterinnen und Täter, aber auch für das medizinische und pädagogische Personal, für Justiz, Polizei und die in der Sozialarbeit Tätigen. Alternativ wird über den Gesetzentwurf des Bundesrates diskutiert. Dieser sieht vor, einen eigenen Straftatbestand der Genitalverstümmelung einzuführen. Minister Niebel ist laut Pressemitteilung ebenfalls dafür. Diesen Gesetzentwurf lehnen wir jedoch aus inhaltlichen und systematischen Gründen ab. Der Formulierungsvorschlag beschreibt die Breite der möglichen Tatbehandlungen nur unzureichend. Mit der Beschränkung auf äußere Genitalien werden nicht alle Formen der Genitalverstümmelung vollständig erfasst. Der Begriff der Frau lässt Zweifel bestehen, ob auch Mädchen vor dem Straftatbestand geschützt sind. Die Betroffenen sind aber mehrheitlich Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren. Ein eigenständiger Straftatbestand der Genitalverstümmelung wäre nur eine symbolische Gesetzgebung, die nicht in die Systematik der Körperverletzungsdelikte hineinpassen würde, die nach Tatschwere sachgerecht differenzieren. Er würde für die meisten Fälle eine geringere Strafe vorsehen als die von uns vorgeschlagene Ergänzung des § 226 des Strafgesetzbuchs. Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf hat ebenso wie die überfraktionelle Gesetzesinitiative von 2009, die damals auch Dirk Niebel als Abgeordneter unterstützt hat, zum Ziel, dass regelmäßig eine Mindeststrafandrohung von drei Jahren Freiheitsstrafe nach § 226 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs erhoben wird, weil die schwere Folge absichtlich oder wissentlich herbeigeführt wurde. Es ist in strafrechtspolitischer Hinsicht kein Grund ersichtlich, warum die Genitalverstümmelung weniger strafwürdig sein soll als andere Fälle schwerer Körperverletzung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Im Bundestag wird schon viel zu lange ohne Ergebnis diskutiert. Es ist an der Zeit, eine gemeinsame Lösung zu finden. Vor einem Jahr haben wir darüber im Rechtsausschuss diskutiert. Es wurde von allen Fraktionen Bereitschaft signalisiert, an einer Lösung zu arbeiten. Auch vom Staatssekretär im Justizministerium kam der Hinweis: Wir wollen etwas tun. Minister Niebel erklärte in seiner Pressemitteilung vom 3. Februar dieses Jahres, dass er sich engagieren möchte. Bis heute liegt allerdings noch nichts vor. Es ist also an der Zeit, gemeinsam an die Lösung des Problems heranzugehen. Wir sind in der Pflicht, ein klares Signal zu setzen, dass diese Menschenrechtsverletzung in Deutschland keinen Platz hat. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Nehmen Sie unseren Gesetzentwurf als Anregung. Vielleicht kommen wir im Laufe der Beratungen zu einer gemeinsamen Lösung. Die Frauen und Mädchen sind auf uns angewiesen und hoffen darauf, dass wir aktiv werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ute Granold (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir über ein wichtiges Thema. Hier gebe ich Ihnen recht, Frau Kollegin. Wir haben uns in diesem Hause schon mehrere Male mit dem Thema Genitalverstümmelung befasst. Wir tun das auch weiterhin. Es muss aber mit Bedacht eine gute Regelung gefunden werden. Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, eine schwere Verletzung von Grundrechten. Dem muss nachgegangen werden. Das steht außer Frage. Weltweit sind 150 Millionen Mädchen und Frauen betroffen. Die Zahl steigt. Jedes Jahr kommen etwa 3 Millionen Mädchen und Frauen hinzu. Jede Einzelne ist ein Fall zu viel. (Beifall bei der CDU/CSU) Gerade im afrikanischem, im asiatischen und auch im arabischen Bereich ist die Genitalverstümmelung sehr weit verbreitet. In Deutschland leben – Sie haben es angesprochen; ich habe eine Zahl von UNICEF – 18 000 Frauen und Mädchen, die betroffen sind. Eine Gefährdungslage besteht für etwa 5 000 Frauen und Mädchen. Lassen Sie mich die Debatte, die wir bisher geführt haben, chronologisch darstellen. Im Jahr 2007 gab es eine umfassende Anhörung im Familienausschuss; ich selbst war dabei. Die Sachverständigen kamen zum Ergebnis, dass eine Gesetzesverschärfung kontraproduktiv sein könnte. Bei einer Mindeststrafe von drei Jahren – ich komme gleich noch einmal darauf zurück – wäre in der Regel eine Ausweisung der Täter – Mütter, Eltern, Verwandte – angezeigt. Das lässt die Opfer davon Abstand nehmen, Strafanzeige zu erstatten, sodass die Straftaten ungeahndet bleiben. Wir haben dann 2008 in der Großen Koalition einen 20-Punkte-Plan auf den Weg gebracht, der schließlich verabschiedet wurde. Darin ging es im Wesentlichen um Prävention und auch darum, Ärzte, die mit Genitalverstümmelungen zu tun haben, für dieses Tabuthema zu sensibilisieren. Ein weiterer Punkt war die Verlängerung der Verjährungsvorschriften. Unserer Meinung nach darf die zehnjährige Frist zur Verjährung solcher Straftaten erst dann beginnen, wenn das Opfer 18 Jahre alt ist. So besteht jetzt die Möglichkeit, noch im Erwachsenenalter Anzeige zu erstatten. Das ist eine ganz wesentliche Vorschrift, die hoffentlich dazu führt, Abstand von dieser Prozedur zu nehmen. Der Gesetzentwurf der Grünen ist sicherlich diskussionswürdig. Frau Kollegin Lazar, Sie haben den Entwurf des Bundesrates erwähnt. Dieser Entwurf steht heute nicht zur Diskussion. Dennoch kann man über ihn sprechen. Wir sind gerne bereit, über das Thema, mit dem wir uns bereits in den Jahren 2007 und 2008 befasst haben, noch einmal zu debattieren. Sie haben den Tatbestand der Genitalverstümmelung unter die schwere Körperverletzung subsumiert. Das kann man so sehen. Eine gefährliche Körperverletzung ist es allemal, weil die Genitalverstümmelung in der Regel mit einem Skalpell oder einem scharfen Messer vorgenommen wird. Das erfüllt den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung, bewehrt mit einem Strafrahmen von bis zu zehn Jahren. Dieser gilt auch für die schwere Körperverletzung. Hier gibt es aber ein Problem; das haben damals auch die Sachverständigen so gesehen. Wenn wir die Genitalverstümmelung als schwere Körperverletzung unter Strafe stellen und die Tat zudem absichtlich bzw. wissentlich begangen wird, würde die Mindeststrafe bei drei Jahren liegen. Das indiziert in der Regel die Ausweisung der Täter. Das wollen die betroffenen Opfer aber nicht. Deswegen haben wir damals davon Abstand genommen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man, wie es der Bundesrat vorschlägt, einen eigenen Straftatbestand schaffen, einen § 226 a StGB mit der besonderen Überschrift „Genitalverstümmelung“. Darüber könnte man in den Ausschussberatungen nachdenken. Sie werden sich in diesem Zusammenhang bestimmt daran erinnern, dass damals die Zwangsverheiratung zunächst als besonders schwerer Fall der Nötigung unter § 240 Abs. 5 StGB gefasst wurde. Vor nicht allzu langer Zeit wurde dann ein eigener Straftatbestand für die Zwangsverheiratung geschaffen. Damit will man das Signal für bestimmte Bevölkerungsgruppen setzen: Hier in Deutschland dulden wir Zwangsverheiratung nicht. – Das ist ein Weg, den wir auch bei der Genitalverstümmelung beschreiten könnten. Für uns ist die Tatsache sehr wichtig, dass viele Genitalverstümmelungen in der Ferienzeit vorgenommen werden. Die Mädchen werden ins Ausland, zum Beispiel nach Afrika, verbracht, um dort die Beschneidungen bzw. die Genitalverstümmelungen vornehmen zu lassen. Anschließend kommen die Kinder zurück. Deshalb sagen wir – das soll in den Katalog des § 5 StGB aufgenommen werden –: Wenn der Täter Deutscher ist oder das Opfer zum Zwecke der Genitalverstümmelung ins Ausland verbracht wird, der gewöhnliche Aufenthalt aber in Deutschland ist, soll das unter Strafe gestellt werden. Es ist uns sehr wichtig, dass dieser „Tourismus“ ins Ausland, wo diese schweren Menschenrechtsverletzungen begangen werden, aufhört. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind uns in der Koalition einig, uns dieses Themas weiterhin anzunehmen. Es gibt eine Kontinuität in der Befassung. Diese schweren Menschenrechtsverletzungen, diese massiven Grundrechtsverletzungen wollen wir verhindern. Wir wollen sie nicht dulden. Das Thema steht bei uns ganz oben auf der Agenda. Wir hoffen, dass wir in den Beratungen in den Fachausschüssen, das heißt im Rechts- und im Familienausschuss, zu einer Lösung kommen, die den Opfern hilft. Die Gesetzesänderung darf aber nicht kontraproduktiv sein. Vielmehr muss sie den Eltern und anderen Verwandten, die das vollziehen, klar aufzeigen, dass wir ein solches Vorgehen nicht dulden. Ich denke, dass wir zu einer guten Lösung kommen können. Wir werden sicherlich die guten Vorschläge, die aus dem Bundesrat kommen, ebenso wie die der Koalition, die derzeit in der Beratung sind, aufgreifen und sie zugunsten der Menschen umsetzen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, bei uns allen besteht kein Zweifel: Genitalverstümmelung ist eine gravierende Verletzung der Kinder- und Frauenrechte. Schätzungen zufolge sind weltweit zwischen 100 Millionen und 140 Millionen davon betroffen, die meisten von ihnen in Afrika. Aber auch in Deutschland leben – Frau Lazar hat schon darauf hingewiesen – etwa 20 000 Betroffene. Ob es nun 18 000 oder 30 000 sind, sei dahingestellt; denn jeder Fall von Genitalverstümmelung bei Mädchen oder Frauen ist einer zu viel. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Die Eingriffe – das ist bekannt – finden meistens unter unhygienischen Bedingungen statt, vielfach außerhalb von Krankenhäusern, mit nicht sterilisierten Werkzeugen und unter widrigen Bedingungen. Die Folgen des Eingriffs sind verheerend: Blutverlust, Infektionen, Inkontinenz, Organschädigungen, Verlust des Sexualempfindens, erhöhte Müttersterblichkeit und Totgeburten. Aufgrund dieser weitreichenden Folgen für Leib, Leben und Würde der betroffenen Mädchen und Frauen steht die Genitalverstümmelung seit längerem weltweit in der Kritik zahlreicher Menschen- und Frauenrechtsorganisationen wie der Vereinten Nationen, von UNICEF, WHO und Amnesty International. Alle wenden sich gegen diese Praxis und stufen sie als schwere Menschenrechtsverletzung ein. Nach dem Strafrecht vieler Staaten ist die Genitalverstümmelung inzwischen ein speziell ausgewiesener Straftatbestand. Selbst in Ländern, in denen die Genitalverstümmelung traditionell verbreitet ist, zum Beispiel in Ägypten, Togo oder Burkina Faso, ist sie gesetzlich verboten. Im bundesdeutschen Recht wird die Genitalbeschneidung im Strafrecht, im Sorgerecht und im Ausländerrecht behandelt. Im Ausländerrecht ist sie im Moment unter dem Aspekt der geschlechtsspezifischen und nichtstaatlichen Verfolgung subsumiert. Das heißt im Klartext: Eine drohende Beschneidung im Heimatland ist ein Abschiebungshindernis. Im Bereich des Sorgerechts hat ein Grundsatzurteil des BGH im Jahr 2005 für klare rechtliche Verhältnisse gesorgt: Eltern können ihr Sorgerecht verlieren, wenn sie ihre Töchter zur Beschneidung in ihr jeweiliges Heimatland schicken wollen. Einen eigenen Straftatbestand gibt es bisher im deutschen Strafgesetzbuch nicht. Nach unserem geltenden Recht erfüllt die Verstümmelung weiblicher Genitalien den Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung. Ob eine Strafbarkeit als schwere Körperverletzung gegeben ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Bislang ist es übrigens in Deutschland zu keiner einzigen Verurteilung oder zu einem Strafverfahren gekommen, obwohl das Problem, wie bereits dargestellt wurde, auch in Deutschland existent ist. Ich denke, es ist kein Grund, von einem speziellen Straftatbestand allein deshalb abzusehen, weil es keine Strafverfahren gibt. Zur Klarstellung hat deshalb die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aktuell einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der vorsieht, die Genitalverstümmelung als eigenen Straftatbestand in den Katalog der schweren Körperverletzungen aufzunehmen. Damit erfüllt die Genitalverstümmelung den Straftatbestand eines Verbrechens mit einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Frau Granold, die Gefahr einer Abschiebung darf hier kein Grund sein, sich gegen den Gesetzentwurf der Grünen zu entscheiden, sondern sollte eher ein Grund sein, sich dafür zu entscheiden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Des Weiteren zielt der Gesetzentwurf darauf ab, das deutsche Strafrecht auch auf Genitalverstümmelungen bei vorübergehenden Aufenthalten im Ausland anzuwenden. Wir alle wissen, dass Mädchen bei Aufenthalten im Ausland, im Heimatland, einem deutlich höheren Risiko der Verstümmelung ausgesetzt sind. Deshalb begrüßt unsere Fraktion den Gesetzentwurf der Grünen. Wir werden uns für eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema einsetzen, um die möglichen gesetzlichen Maßnahmen in diesem Bereich intensiv zu prüfen. Vielleicht gelingt es uns allen gemeinsam – darauf kann man hoffen –, ein weiteres Zeichen zur Bekämpfung dieser schweren Diskriminierung von Mädchen und Frauen zu setzen. Zu prüfen wäre übrigens noch, ob wir eine Meldepflicht für Ärzte bei Gefährdungen oder offensichtlich durchgeführten Genitalbeschneidungen einführen sollten. Frau Lazar, wenn die Zahl der Frauenärzte, die eine Verstümmelung festgestellt haben, tatsächlich bei 43 Prozent liegt – Sie haben darauf hingewiesen –, dann muss man über eine Meldepflicht nachdenken. Klar ist aber auch, dass wir nicht nur rechtliche Sanktionen benötigen, sondern im Kampf gegen diese menschenverachtende Praxis unbedingt für weitere Verbesserungen bei der Integration und der Teilhabe an unserem gesellschaftlichen Leben sorgen müssen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Marina Schuster für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marina Schuster (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schwarz-gelbe Koalition hat der Menschenrechtspolitik in ihrem Koalitionsvertrag ein eigenes Kapitel gewidmet. Wir haben dort unter anderem verankert, dass wir uns gegen jede Form unmenschlicher Behandlung wenden. Deshalb sage ich ganz klar: Praktiken wie die Genitalverstümmelung müssen geächtet und weltweit verboten werden. Denn die weibliche Genitalverstümmelung stellt eine der schwerwiegendsten Verletzungen der Menschenrechte von Mädchen und Frauen dar. Waris Dirie, die ehemalige UNO-Sonderbotschafterin gegen weibliche Genitalverstümmelung, schreibt in ihrem Buch Wüstenblume: Es gibt keine Worte, die den Schmerz beschreiben können. Es ist, als ob dir jemand ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel reißt oder dir den Arm abschneidet, nur daß es sich dabei um die empfindlichsten Teile deines Körpers handelt. … Der Schmerz … war so furchtbar, daß ich nur noch sterben wollte. Meine Vorrednerinnen in dieser Debatte haben es bereits angesprochen: Die WHO spricht von bis zu 140 Millionen betroffener Mädchen und Frauen weltweit. Pro Jahr sind circa 3 Millionen Mädchen und Frauen gefährdet. Die Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung sind unbeschreiblich: psychisches und körperliches Leid, aber auch eine erhöhte Sterblichkeitsrate bei der Geburt. Wir müssen uns alle fragen, wie wir gemeinsam politisch wirksame Abhilfe schaffen können, um das Leid der Betroffenen zu lindern, aber vor allem neues Leid gar nicht erst entstehen zu lassen. Neben den strafrechtlichen Debatten geht es natürlich darum, welche zusätzlichen Angebote nötig sind. Frau Lazar, Sie haben erwähnt, dass uns gerade im Bereich Entwicklungskooperation eine wichtige Aufgabe zukommt. Das BMZ fördert zahlreiche Aufklärungs- und Bildungsprojekte zum Beispiel in Burkina Faso, im Benin, in Guinea und in Mali, die sich dieses Themas annehmen. Es wurde ein pädagogischer Leitfaden entwickelt, der das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung im Rahmen der schulischen Erziehung behandelt. Es wurden sogenannte Generationendialoge durchgeführt, um unterschiedliche Altersgruppen über dieses Thema aufzuklären. Das Ergebnis zeigt, dass eine deutliche Mehrheit derjenigen, die an einem solchen Programm teilgenommen haben, ihren Töchtern eine solche Prozedur nicht mehr antun würden. Insofern gehört zu dieser Debatte, die wir zu Recht führen, auch die Debatte darüber, was wir gemeinsam in den jeweiligen Staaten erreichen können. Die Debatte zeigt, dass wir in Deutschland die nationale gesetzliche Regelung im Blick behalten müssen; denn weibliche Genitalverstümmelung kommt eben nicht nur in einigen afrikanischen Ländern vor, sondern auch in Deutschland. Laut Terre des Femmes sind in Deutschland circa 20 000 Mädchen und Frauen betroffen, 4 000 Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund sind gefährdet. Es gibt wenig offizielles Zahlenmaterial. Das liegt natürlich an dem Problem als solches. Die weibliche Genitalverstümmelung ist seit 1995 als Menschenrechtsverletzung international gebrandmarkt. Sie ist in Deutschland strafbar und wird – wir haben es eben gehört – entweder als gefährliche oder als schwere Körperverletzung eingestuft. Angesichts der strafrechtlichen Regelung müssen wir uns die Frage stellen, was wir tun können, um die bestehenden Unklarheiten in der Praxis zu beseitigen. Ein Problem ist – das haben alle Vorrednerinnen angesprochen – die sogenannte Ferienbeschneidung. Das heißt, Mädchen werden in ihre Heimatländer verbracht und dort verstümmelt. Dadurch ergibt sich folgendes Problem: Das deutsche Strafrecht gilt grundsätzlich nur für im Inland begangene Straftaten. Hier lebende Mädchen müssen dennoch vor dem Risiko geschützt werden, im Ausland Opfer einer Genitalverstümmelung zu werden. Wenn die Beschneidung beispielsweise von einer afrikanischen Beschneiderin im Heimatdorf der Familie durchgeführt wird, dann haben wir das Problem, dass diese Tat nach deutschem Strafrecht derzeit nicht geahndet werden kann. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns dieses Themas ganz besonders annehmen. Damit komme ich zu den Verjährungsfristen. Wir alle wissen, dass es nicht einfach ist, einen solchen Tatbestand zur Anklage zu bringen. Es gibt bisher keinen einzigen Fall; meine Vorrednerin hat das erwähnt. Ich bin der Meinung, dass die Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ruhen muss; denn sonst kann man das nicht zur Anklage bringen. Außerdem ist es wichtig, dass wir die Berechtigung des Opfers zur Nebenklage beachten. Ich kann hier und heute keine abschließende rechtliche Bewertung vornehmen. Aber ich kann aus menschenrechtspolitischer Sicht sagen: Ich bin gerne bereit, gemeinsam mit den Rechtspolitikern nach einer Lösung zu suchen. Wir müssen überlegen, was wir darüber hinaus tun können, um auf eine Sensibilisierung von Mädchen und Frauen für ihre Rechte hinzuwirken und die bereits bestehenden Angebote sozialpädagogischer oder migrationsspezifischer Art zu verbessern. Eines müssen wir im Hinterkopf behalten: Die Genitalverstümmelung ist in vielen afrikanischen Ländern zwar längst strafbar und verboten, aber leider wird sie vielerorts noch durchgeführt. Der Straftatbestand ist das eine. Das andere ist, was wir zusätzlich auf internationaler Ebene tun können, um die Folgewirkungen zu mindern. Es ist offensichtlich, dass es Beratungsbedarf gibt. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Denn wir dürfen Genitalverstümmelungen nicht tolerieren, und wir, alle Fraktionen in diesem Haus, müssen ein klares Signal senden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle hier sind uns einig: Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. So scheint der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen völlig verständlich zu sein. Ich denke aber, man muss sich die Situation sehr genau ansehen. Schon heute ist Genitalverstümmelung strafbar: als Körperverletzung. Wenn sie als schwere Körperverletzung strafbar wäre, würde das bedeuten, dass das Strafmaß bei über drei Jahren läge. Das hätte nach unserem deutschen Aufenthaltsrecht zur Folge, dass die Familie – die Eltern spielen bei der Beschneidung meistens eine tragende Rolle – ausgewiesen würde. Entweder träfe dies die Eltern allein oder – das wäre der Regelfall – die Eltern zusammen mit den Kindern. Vielleicht wäre dies nach der Beschneidung der älteren Schwester der Fall, vielleicht in einer Zeit, in der man die jüngere Schwester noch beschützen könnte und müsste. Sie würde aber ausgewiesen – in die Heimat, also an genau den Ort, an dem Genitalverstümmelungen an der Tagesordnung sind. Dass Ihr Gesetzentwurf zu diesem Ergebnis führen kann, ist aus unserer Sicht absurd. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb bitten wir Sie, den Gesetzentwurf so zu ändern, dass nach § 56 des Aufenthaltsgesetzes eine Abschiebung ausgeschlossen ist. (Beifall bei der LINKEN) Außerdem wäre es aus unserer Sicht angemessener, die Genitalverstümmelung als Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung einzuordnen. Dahinter steht die Frage: Was soll mit Genitalverstümmelungen erreicht werden? Frauen sollen auf Dauer ihrer sexuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit beraubt werden. Lassen Sie uns das doch ganz ehrlich beim Namen nennen. Lassen Sie uns aber auch transparent machen, welche Strukturen hinter Genitalverstümmelungen stehen. Häufig ist es der Versuch, über die Kontrolle der weiblichen Sexualität auch die Kontrolle über die Frauen zu erreichen und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen aufrechtzuerhalten. Uns aber muss es um die Selbstbestimmung der Frau gehen und um ihr Recht auf Gesundheit. (Beifall bei der LINKEN) Zur Wahrheit gehört, dass Beschneidung nicht nur ein Problem ferner Länder ist, sondern auch in Europa stattfindet. Wir müssen uns fragen: Warum ist das der Fall? Welche Aufklärungs- und Präventionsarbeit muss geleistet werden, um diese Frauen zu erreichen? Ich glaube, es ist nötig, dass unsere Regierung eine Studie in Auftrag gibt, die sich ganz dezidiert damit beschäftigt, welche Hintergründe Genitalverstümmelungen haben, welche Beweggründe es gibt und welche Ausmaße sie hat. Dann kann man Initiativen zielgenau ausrichten. Das würde vielleicht auch zu einer Ausweitung des Engagements unseres Entwicklungsministeriums führen. Sie haben von 1999 bis heute, also innerhalb von 13 Jahren, 14 Millionen Euro in zehn Ländern investiert. Ich glaube, da ist noch ein bisschen Luft nach oben. (Beifall bei der LINKEN) Vielleicht können Sie sich noch daran erinnern, dass 2009 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet wurde, um sich gemeinsam gegen Genitalverstümmelungen bei Frauen zu wehren. Aus dieser Arbeitsgruppe hat sich das Ministerium nach nur einem Jahr zurückgezogen. Aus meiner Sicht ist das der Kinderrechtskonvention, der Frauenrechtskonvention und der Menschenrechtscharta absolut unwürdig. (Beifall bei der LINKEN) Ich denke, in der gesamten Debatte wurde deutlich, dass die Antwort auf Genitalverstümmelung komplexer sein muss als eine strafrechtliche Komponente, die mit dem Gesetzentwurf der Grünen gefordert wird. Trotzdem sind wir froh darüber, dass die Debatte noch einmal beginnt. Lassen Sie uns das Thema im Ausschuss einfach gemeinsam intensiv bearbeiten, damit den Mädchen und den Frauen von politischer Seite die Hand gereicht wird, und zwar ohne die Betroffenen der Gefahr der Abschiebung auszusetzen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Thomas Silberhorn hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den ersten Blick mag man Genitalverstümmelung als ein Randthema betrachten. Sicherlich ist das ein Phänomen, mit dem unsere Gesellschaft, unsere Rechtsordnung erst im Laufe der Zeit aufgrund von Migration konfrontiert worden ist. Es geht schlicht um die Frage, ob wir als Staat in der Lage sind, die körperliche Unversehrtheit aller, die in unserem Land leben, ausreichend zu gewährleisten. Deswegen ist es kein Randthema, sondern es gehört in die Mitte unserer Gesellschaft. Dazu soll diese Debatte heute beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Bei aller Ernsthaftigkeit, die diese Debatte erfordert, kann ich mir allerdings den Hinweis nicht verkneifen, dass das – jedenfalls für uns in der Union – kein reines Frauenthema ist, zumal ich heute offenbar der einzige männliche Redner bin, dem Redezeit eingeräumt worden ist. Aber auch das zeigt: Wir müssen dieses Thema mit hoher Priorität auf unsere Tagesordnung setzen. Im Rechtsausschuss haben wir es schon aufgegriffen. Wir haben erst im letzten Jahr die Zwangsheirat mit einem eigenen Straftatbestand unter Strafe gestellt. Ob man Ähnliches mit der Genitalverstümmelung tun kann, haben wir im Rechtsausschuss bereits ausführlich beraten. Wir sind uns jedenfalls in einem einig, nämlich dass Genitalverstümmelung bei Mädchen, bei Frauen nicht nur eine gravierende Körperverletzung darstellt – oft unter hygienisch katastrophalen Bedingungen –, die bis zum Tod führen kann, sondern dass Genitalverstümmelung in der Regel auch schwerste und langfristige psychische Schäden für die betroffenen Frauen zur Folge hat. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass derartige Praktiken bereits heute unter Strafe stehen, zumindest als Körperverletzung, im Regelfall sogar als gefährliche Körperverletzung und je nach den Umständen des Einzelfalls oft auch als eine strafbare Misshandlung von Schutzbefohlenen. Allerdings werden die strafverschärfenden Qualifikationsmerkmale einer schweren Körperverletzung, die ein Verbrechen darstellt, in den meisten Fällen nicht verwirklicht. Beispielsweise wird der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit bei den gängigen Praktiken meist wohl nicht erreicht. Deswegen kann man schon die Frage stellen, ob die Strafandrohung ausreicht. Bei der gefährlichen Körperverletzung, die im Regelfall erfüllt ist, haben wir mit einer Höchststrafe von zehn Jahren zwar eine relativ hohe Strafandrohung, aber der Strafrahmen beginnt bereits bei sechs Monaten, sodass das Delikt lediglich ein Vergehen im strafrechtlichen Sinne darstellt. Hier teile ich im Grundsatz die Bedenken der Antragsteller und des Bundesrates. Die mögliche Strafandrohung trägt dem massiven Unrechtsgehalt einer Genitalverstümmelung wohl nicht ausreichend Rechnung. (Beifall bei der SPD) Deswegen stehe ich persönlich einer Neuregelung durchaus aufgeschlossen gegenüber. Wir werden das in unserer Fraktion und in der Koalition ergebnisoffen beraten. Über die beiden Ansätze, die sich herausgebildet haben – ob man einen eigenen Straftatbestand schafft oder ob man ein Qualifikationsmerkmal bei schwerer Körperverletzung hinzufügt –, lässt sich, was Strafrechtler offenbar gerne tun, trefflich streiten, insbesondere darüber, wie das mit der Systematik des Strafgesetzbuches im Allgemeinen und mit der Systematik der Körperverletzungsdelikte im Besonderen ist. Entscheidend ist aber etwas anderes: Bei der Formulierung müsste in jedem Fall genau darauf geachtet werden, dass der Anwendungsbereich einerseits klar definiert ist und andererseits ausreichend weit genug gefasst wird, um sämtliche Tathandlungen abzudecken. Eine explizite Strafandrohung, die hier zur Diskussion gestellt wird, wäre jedenfalls ein klares Signal, das den Unrechtsgehalt der Genitalverstümmelung unterstreichen würde und in der Bevölkerung und in den betroffenen Kreisen zu mehr Bewusstsein für das Problem beitragen könnte. Gerade weil oft junge Mädchen betroffen sind, die sich der Genitalverstümmelung schlichtweg nicht entziehen können, müssen wir dafür eintreten, dass der Staat hier ein besonders hohes Schutzniveau gewährleisten muss. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass eine Strafbarkeit nicht an Verjährungsfristen scheitern darf. Wir haben das Ruhen der Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers durch das 2. Opferrechtsreformgesetz bereits weitgehend verwirklicht. Wenn man einen eigenen Straftatbestand der Genitalverstümmelung schaffen wollte, müsste man diese Verjährungsregelung entsprechend erweitern. Was ein höheres Schutzniveau angeht, ist schon auf das Phänomen der Auslandstaten hingewiesen worden. In der Tat: Auch hier sehe ich eine Lücke. Die Genitalverstümmelung muss auch dann mit Strafe bedroht sein, wenn die Tat im Ausland begangen wird, wenn sie von Deutschen im Ausland begangen wird oder wenn sie an Opfern begangen wird, die zur Tatzeit ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Täter vielfach durch Verlagerung ihres Aufenthaltsortes ins Ausland der deutschen Jurisdiktion entziehen. Dieser Aspekt macht deutlich, dass wir das Phänomen der Genitalverstümmelung bislang strafrechtlich wohl nicht hinreichend erfassen. Im Übrigen würde eine Strafbarkeit der Tatbegehung im Ausland dafür sprechen, einen eigenen Tatbestand der Genitalverstümmelung zu schaffen, auf den dann verwiesen werden könnte. Auch bei Inlandstaten sollten wir bedenken, dass die Genitalverstümmelung in der Regel im Verborgenen stattfindet. Die Justiz erhält in der Regel gar nicht oder nur sehr spät davon Kenntnis. Daran würde eine Aufnahme ins Strafgesetzbuch natürlich nichts ändern. Ich will nur auf Frankreich verweisen, wo die weibliche Genitalverstümmelung bereits seit Jahrzehnten strafbar ist. Die Zahlen dort sind ernüchternd: In beinahe 30 Jahren fanden gerade einmal 36 Prozesse statt, also etwas mehr als ein Verfahren pro Jahr. Das macht deutlich, dass die Frage, ob eine Änderung des Strafrechts hier ein wirkungsvolles Mittel sein kann, berechtigt ist; aber um den Betroffenen wirklich zu helfen, um Frauen und Mädchen wirklich zu schützen, braucht es weit mehr als eine Strafandrohung im Strafgesetzbuch. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Karin Roth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Karin Roth (Esslingen) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass dies heute eine ermutigende, eine erfreuliche und vor allen Dingen eine konstruktive Debatte ist. Wir reden ja nicht das erste Mal über Genitalverstümmelung. Wir reden auch nicht das erste Mal darüber, wie schwerwiegend und wie menschenrechtsverletzend Genitalverstümmlung für Mädchen und Frauen ist. Wir reden nicht das erste Mal darüber, dass 20 000 bis 30 000 betroffene Frauen in Deutschland leben. Wir reden heute darüber, dass 5 000 Mädchen, die hier leben, gefährdet sind. Je größer die Zahl ist – 140 Millionen weltweit –, umso deutlicher wird, dass wir dieses Thema nicht in den Griff bekommen. Sie, Herr Silberhorn, haben gerade sehr gut beschrieben, wie schwierig es ist, hier im Inland die Möglichkeiten zu nutzen, um zu verhindern, dass zumindest die Mädchen, die in unserem Land leben, von diesem Tatbestand betroffen sind. Wir sagen, dass bis zu 30 000 betroffene Frauen hier leben und 5 000 der hier lebenden Mädchen gefährdet sind. Das sind große Zahlen. Deshalb müssen hier in unserem Land wichtige und richtige Maßnahmen ergriffen werden. Wenn Genitalverstümmelung eine schwere Menschenrechtsverletzung ist, dann kann es als eine schwere Körperverletzung angesehen werden. Warum nicht? Die Frage ist: Warum trauen wir uns nicht, nach vorne zu gehen und hier im Land zu zeigen, dass wir das nicht akzeptieren? Im Übrigen besteht die Gefahr, dass Genitalverstümmelung in unserem Land und nicht nur im Ausland ausgeführt wird. Wir müssen beides sehen und für beides eine Regelung finden. Ich stimme Ihnen zu, Herr Silberhorn: Das ist schwierig. In unserem Land gibt es noch keine einzige Anzeige. Da muss man sich doch fragen, warum es keine gibt. Ich hatte schon vor zwei Jahren eine Diskussion mit dem Präsidenten der Ärztekammer. Ich weiß, dass es sogenannte Leitlinien für Ärzte, zum Beispiel Frauenärzte und Kinderärzte, gibt, diesen Tatbestand zu melden. Es passiert aber nicht. Deshalb ist die Anregung meiner Kollegin Sonja Steffen, eine Meldepflicht einzuführen, nicht falsch. (Beifall bei der SPD) Wir moralisieren von diesem Podium aus, und in Wahrheit wissen wir, dass wir in dieser Sache ein stumpfes Schwert haben. Also müssen wir aus meiner Sicht hier Änderungen einbringen. Der Gesetzentwurf der Grünen bildet eine gute Basis. Auch der Bundesrat hat schon einiges zu diesem Thema vorgelegt. Ich habe den Eindruck, dass wir hier zusammen etwas auf den Weg bringen können, das allen, den jungen Mädchen hier, aber auch denen in den Entwicklungsländern, hilft. Jetzt zu den Entwicklungsländern. Es gibt gute Projekte, die zeigen, dass man das Verhalten der Eltern und Gemeinden ändern kann, die das alles mit der Begründung, es handele sich um Rituale, legitimieren. Es ist nicht zu legitimieren, dass Mädchen letztlich in ihrem intimsten Bereich so verletzt werden. Das ist auch nicht mit dem Hinweis auf Stammesrituale oder kulturelle Identität zu legitimieren. Deshalb brauchen wir Aufklärung. Ich bin sehr froh, dass der Europarat vor kurzem – Frau Schuster, Sie waren bei der Sitzung dabei – die „Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ verabschiedet hat. In § 38 dieser Konvention werden alle Länder aufgefordert, die Genitalverstümmelung zu bekämpfen. Die Europäische Kommission wird dazu demnächst eine Initiative auf den Weg bringen und uns darüber informieren, was wir alles gemeinsam tun können. Wir in diesem Parlament sollten versuchen, alles zu tun, was wir tun können. Gleichzeitig brauchen wir in der Entwicklungspolitik mehr Projekte. Es kann nicht sein, dass im Rahmen der Entwicklungspolitik nur 2 Millionen Euro pro Jahr für diesen Bereich zur Verfügung stehen. Auch dort müssen wir andere Prioritäten setzen, gar keine Frage. Wir unterstützen entsprechende Initiativen, wenn es darum geht, für Projekte zur sexuellen Reproduktion und zur sexuellen Selbstbestimmung von Frauen mehr Mittel zur Verfügung zu stellen; das ist die Position der SPD. Wenn sich die Koalition dem anschließen kann, freue ich mich auf die nächsten Haushaltsberatungen. Es wäre gut, wenn wir dann eine gemeinsame Vorlage verabschieden könnten. (Beifall bei der SPD) In diesem Sinne hoffe ich, dass das, was hier gesagt wird, so ernst gemeint ist, dass wir demnächst einen Gesetzentwurf verabschieden können. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/4759 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Hahn, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Forschung für die zivile Sicherheit – Drucksache 17/8573 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenprogramm der Bundesregierung „Forschung für die zivile Sicherheit (2012 bis 2017)“ – Drucksache 17/8500 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wilhelm von Humboldt hat über Sicherheit gesagt – Zitat –: Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Früchte derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit. Diese Aussage ist nach wie vor gültig. Die Risiken für die zivile Sicherheit in unserer Gesellschaft betreffen immer mehr Bereiche in unserem Alltag. Sie reichen von der Gefahr terroristischer Anschläge – denken wir nur an die verhinderten Kofferbombenattentate auf den Bahnverkehr – über katastrophale Ereignisse bei Großveranstaltungen, wie zum Beispiel bei der Love-Parade in Duisburg, bis zur Anfälligkeit von IT-Strukturen in der Wirtschaft. Es gilt, für diese Risiken Vorsorge zu treffen. Dabei ist Sicherheit natürlich niemals Selbstzweck, sondern die Basis eines freien Lebens in einer demokratischen Gesellschaft, wie wir sie haben. Die Verantwortung für die zivile Sicherheit zählt als Element der Daseinsvorsorge zu den Kernaufgaben des Staates. Sie lässt sich allerdings nicht allein politisch oder verwaltungstechnisch erfüllen, sondern wir müssen sie gemeinsam angehen: in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage: Welche Sicherheitskultur passt eigentlich zu einer freien und offenen Gesellschaft wie der der Bundesrepublik Deutschland? Hier bietet das Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ genau den passenden Rahmen. Wir verfolgen einen ganzheitlichen, integrierten Ansatz, der die gesamte Innovationskette einbezieht, von der Forschung bis hin zur Anwendung. Wir beziehen die Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Staat mit ein und versuchen, gemeinsame Lösungen für konkrete Bedrohungsszenarien zu entwickeln. Mit dem neuen Sicherheitsforschungsprogramm wollen wir die Sicherheit erhöhen. Es sind Lösungen vorgesehen, die praktisch umsetzbar und vor allem ethisch zu verantworten sind und die von den Menschen akzeptiert werden. Lassen Sie mich einige Eckdaten nennen. Seit 2007 haben wir mit 250 Millionen Euro über 120 Verbundprojekte im Bereich der zivilen Sicherheit gefördert. Rund 50 Millionen Euro – das sind rund 20 Prozent der Gesamtfördersumme – wurden für gesellschaftswissenschaftliche Forschung genutzt. Juristen, Soziologen und Psychologen bearbeiteten von Beginn der Projekte an zusammen mit Technikern und Naturwissenschaftlern ethische, datenschutzrechtliche und andere gesellschaftliche Fragestellungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen mit dem Sicherheitsforschungsprogramm auch die Chancen der zivilen Sicherheit als Wettbewerbsfaktor nutzen. Im Jahr 2010 hat der Markt für Forschung für die zivile Sicherheit und entsprechende Dienstleistungen in Deutschland ein Volumen von 20 Milliarden Euro gehabt. Wir erwarten in den nächsten zehn Jahren eine Steigerung auf 30 Milliarden Euro. Insofern ist es gut, dass rund 43 Prozent unserer Projektpartner beim nationalen Sicherheitsforschungsprogramm Unternehmen sind. Von diesen sind übrigens über 60 Prozent kleine und mittelständische Betriebe. Das zeigt, dass das Programm des BMBF gerade vom Mittelstand sehr gut angenommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wie die erforschten Sicherheitslösungen konkret aussehen, will ich an zwei Beispielen erläutern: Wir haben die LoveParade in Duisburg noch in Erinnerung. Die Menschen fragen sich: Wie kann die Sicherheit der Besucher von Großveranstaltungen, etwa bei Fußballspielen oder Musikkonzerten, gewährleistet werden? Dafür hat das Projekt „Hermes“ seit 2008 unter Leitung des Supercomputing Centre am Forschungszentrum Jülich ein IT-System für eine Evakuierung entwickelt. Der neue digitale Evakuierungsassistent erstellt eine Prognose darüber, an welchen Stellen eines Veranstaltungsortes es in den darauffolgenden 15 Minuten zu einem gefährlichen Gedränge kommen kann. Das Ganze passiert in einer Echtzeitsimulation auf Grundlage der konkreten, aktuellen Personenzahlen und der vorhandenen Rettungswege. So können die Rettungskräfte und die Polizei in gefährlichen Situationen steuernd eingreifen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In einem weiteren Projekt mit der Kurzbezeichnung ORGAMIR entwickeln wir ein System, das in U-Bahn-Tunneln mithilfe von Sensoren gefährliche Stoffe entdecken soll und beispielsweise Rauchschwaden oder giftige Gase erkennen kann. Auch dies passiert in Echtzeit und ermöglicht so die Warnung der Passagiere und der Menschen, die unterwegs sind. Außerdem ermöglicht es den Rettungskräften und der Polizei, einzugreifen. Mit dem neuen Rahmenprogramm werden wir zusätzliche, neue Schwerpunkte setzen. Wir werden die gesellschaftlichen Aspekte der zivilen Sicherheit stärken, wozu auch der Umgang mit Risiken, das Sicherheitsempfinden der Menschen und die Katastrophenkommunikation gehören. Beim neuen Schwerpunkt „Urbane Sicherheit“ geht es um den Schutz vor Kriminalität, aber auch um die Sicherheit in öffentlichen Einrichtungen – ich denke hier zum Beispiel an Schulen; wir haben die schrecklichen Amokläufe in Schulen noch vor Augen –, um die Sicherheit im öffentlichen Personenverkehr und um die Versorgung der Bevölkerung im Katastrophenfall. Der Schwerpunkt „Schutz und Rettung der Menschen“ fokussiert zum Beispiel auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen im Krisenfall und die Rolle der neuen Medien als Alarmsystem. Beim Schwerpunkt „Schutz vor Gefahrstoffen, Epidemien und Pandemien“ geht es schließlich um die Erkennung, Bekämpfung und Eindämmung gefährlicher Krankheitserreger. Wir haben mit Ihrer Unterstützung im Parlament vorgesehen, in diesem und den folgenden Jahren jeweils 55 Millionen Euro für das neue Programm auszugeben. Wir werden die internationale Kooperation mit Frankreich, mit Israel und mit den USA weiter ausbauen. Mit diesem Sicherheitsforschungsprogramm haben wir es geschafft, in Deutschland eine breit aufgestellte Forschungslandschaft zu etablieren und wichtige Impulse für die Aus- und Weiterbildungsaktivitäten im Handwerk, in den Ausbildungseinrichtungen und in den Hochschulen auf den Weg zu bringen. Ich erinnere an die berufsbegleitenden Bachelor- und Masterstudiengänge in diesem Bereich. Wir planen, mit dem Forschungsforum Öffentliche Sicherheit einen Studienführer herauszubringen, der genauer informiert. Meine Damen und Herren, freie und offene Gesellschaften sind vielleicht besonders verletzlich. Aber ihre Stärkung, die Stärkung der freien und offenen Gesellschaften, auch mithilfe der zivilen Sicherheitsforschung, ist wahrlich eine lohnende Aufgabe; denn es geht um unsere Sicherheit und um unsere Freiheit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) René Röspel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt hier vielleicht noch einige, die sich daran erinnern, wie wir vor gut sechs Jahren in der Großen Koalition durchaus heftig gestritten haben, als es darum ging, das erste Sicherheitsforschungsprogramm auf den Weg zu bringen. Wir, die SPD, haben Kritik geübt und sie auch aufrechterhalten, weil für uns das erste Sicherheitsforschungsprogramm zu technikzentriert bzw. technikorientiert war, weil ihm ein zu enger Sicherheitsbegriff zugrunde lag, weil dieses Programm zu sehr auf Terrorismusbekämpfung abgehoben hat und weil die Kernfrage – Was bedroht die Gesellschaft? – eigentlich nicht berührt worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Danke. Ich will ausdrücklich betonen, dass wir schon feststellen, dass in dem zweiten Sicherheitsforschungsprogramm, auch wenn viele der Projekte noch nicht abgeschlossen sind – wir hätten uns gewünscht, dass man wirklich einmal Erfahrungen sammelt, um zu sehen, welche Neuerungen angestrebt werden –, einige unserer Kritikpunkte von damals aufgenommen wurden und dass versucht wurde, den Sicherheitsbegriff zu verbreitern und einen gesellschaftlichen Schwerpunkt zu setzen. Wir finden das Wort „Terrorismus“ nicht mehr so häufig, wie es noch im ersten Sicherheitsforschungsprogramm der Fall war, und sind darüber recht froh. Aber es bleibt eine Reihe von Kritikpunkten. Einer dieser Punkte ist, dass der Sicherheitsbegriff, über den wir reden, immer noch unklar und schwammig ist. (Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) Sicherheit ist nicht Sicherheit. Es wird einfacher, wenn man in das Angelsächsische eintaucht. Die englischsprachigen Länder unterscheiden zwischen „safety“ einerseits und „security“ andererseits. Wir übersetzen beides mit „Sicherheit“. Wenn man zum Beispiel ein Auto konstruiert, mit dem man sich sicher durch den Verkehr bewegt, dann würde das unter dem Gesichtspunkt „safety“ so aussehen, dass man eine sichere Fahrgastzelle konstruiert, dass man gute Bremsen, einen Airbag und ein ABS einbaut, sodass also feststeht: Mit diesem Auto fährt man sicher durch den Straßenverkehr. Das steckt hinter „safety“. Wenn man ein Auto unter dem Gesichtspunkt „security“ baut, dann wird man schussfeste Scheiben einbauen, schussfeste Reifen nutzen und das Auto panzern. Mit diesem Auto fährt man ebenfalls „sicher“ durch den Straßenverkehr, zum Beispiel in Afghanistan. Aber dahinter steht ein anderer Sicherheitsbegriff. Im Englischen wird das deutlicher als bei uns unterschieden. Es ist wichtig, zu unterscheiden, welche Art von Sicherheit man wirklich haben will. Einer der Schwachpunkte des Sicherheitsforschungsprogrammes ist, dass man in den einzelnen Bereichen nicht erkennen kann: Um welche Form von Sicherheitsforschung geht es tatsächlich? Geht es wieder um eine technologische Frage? Handelt es sich um den Versuch, mit technischen Mitteln auf Sicherheitsprobleme zu reagieren oder nicht? Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Programm wirklich vermissen, ist, dass nach wie vor nicht darüber gesprochen wird und auch nicht erforscht werden soll, welche Bedrohungsszenarien vorliegen, was die Gesellschaft wirklich bedroht. Ich habe letzte Woche eine schriftliche Frage an die Bundesregierung gerichtet, sozusagen als Vorbereitung auf diese Debatte. Ich wollte damit die Möglichkeit schaffen, dass die Bundesregierung das Ganze doch noch klärt. Meine Frage war: Welche wissenschaftlich fundierten Bedrohungsszenarien liegen dem neuen … Sicherheitsforschungsprogramm zugrunde? Die Antwort ist: Ja, es – Zitat – … liegen Bedrohungsszenarien zugrunde, die unter anderem den Schutz der Bevölkerung und der kritischen Infrastrukturen vor Bedrohungen durch Terrorismus, Sabotage, organisierte Kriminalität, Piraterie, aber auch vor den Folgen von Naturkata-strophen und Großunfällen betreffen. All das ist mit Experten aus Forschung und Industrie sowie mit privaten und staatlichen Endnutzern diskutiert worden. Das allerdings ist nicht gemeint bei der Überlegung, welche Bedrohungen und Gefahren diese Gesellschaft wirklich betreffen könnten. Es ist völlig klar: Wenn Sie mit dem THW und den freiwilligen Feuerwehren – die wir alle schätzen – eine Großschadensereignisanalyse machen und fragen, was sie im Katastrophenfall an Bedürfnissen und Anforderungen an die Politik haben, dann werden sie zum Beispiel sagen: Wir brauchen eine gute Beleuchtungseinheit. Wir brauchen diese und jene technische Einrichtung. – Aber genau darum geht es nicht. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Können wir jetzt klatschen?) – Bitte schön, gerne. – (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Das ist nur Großschadensereignisdiskussion. Was wir wissen wollen und müssen, ist: Worin bestehen die Bedrohungen für diese Gesellschaft? Ich will ein paar Beispiele nennen, um das etwas deutlicher zu machen. Vor zehn Jahren gab es in den Medien Diskussionen darüber, dass der Milzbranderreger, Anthrax, verschickt worden ist. Das wurde als große Bedrohung für die Gesellschaft dargestellt. Wenn man sich damit etwas näher befasst hat, hat man gesehen: Das kann überhaupt keine terroristische Bedrohung werden, weil die Mittel der Verteilung für Terroristen nicht gegeben sind, dass also keine Bedrohung für die Gesellschaft besteht. Aber wir und die Öffentlichkeit haben so reagiert, als wäre es eine Bedrohung. Umgekehrt geht es auch. Einige Kollegen erinnern sich vielleicht daran, dass uns vor zwei oder drei Jahren ein Forscher bei einem Forschungsfrühstück sagte: Jedes Jahr sterben in Deutschland 10 000 Menschen, weil sie nicht grippeschutzgeimpft sind. Diese Zahl ist wahrscheinlich zu hoch. Die Frage ist auch: Ist eine Bedrohung wie Grippetod durch Schutzimpfungen abwendbar? Dieser Punkt ist nicht in dem Bereich „Pandemie“ erfasst, weil es dabei um terroristische Akte geht. Die Frage ist: Kann man diese Bedrohung für die Gesellschaft reduzieren, und, wenn ja, wie? Das wäre die adäquate Antwort auf ein Bedrohungsszenario gewesen. (Beifall bei der SPD) Ein letztes Beispiel: Vielleicht sind wir uns alle in der Einschätzung einig, dass wir vor kurzer Zeit einen Angriff auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung erlebt haben, nämlich als bekannt wurde, dass die Neonazis der Zwickauer Terrorzelle in Deutschland zehn Morde begangen haben. Dass wir einen zunehmenden Rechtsextremismus beklagen müssen, ist aus meiner Sicht auch eine Bedrohung für unsere Gesellschaft, (Beifall bei der SPD) allerdings glücklicherweise mit einer kleinen Zahl von Opfern. Die Frage ist also auch, ob Bedrohung auch von quantitativen Aspekten abhängt, also davon, wie viele Opfer es gibt, ob 3, 5 oder 1 000. All das wäre zu klären. Es gibt übrigens schon entsprechende Maßnahmen in diesem Bereich. Am Samstag war ich beim Neujahrsempfang der Evangelischen Schülerinnen- und Schülerarbeit in Westfalen, die seit Jahren Antirassismusaktionen sowie interreligiösen und interkulturellen Jugendaustausch durchführen. Ihr Ansatz ist es, der Bedrohung durch Rechtsextremismus präventiv zu begegnen, klagen aber zugleich seit Jahren über Geldmangel und mangelnde Mittelausstattung. Hier für Abhilfe zu sorgen, darin hat sich diese Bundesregierung leider nicht hervorgetan. Wir haben das Problem, dass diese Punkte nicht geklärt sind. Das sind Schwachstellen im Sicherheitsforschungsprogramm. Lassen Sie mich meine letzte Redeminute nutzen und zum Ende noch zwei Punkte vortragen. In Ihrem Antrag ist davon die Rede, dass Sie eine ausgewogene Balance von Sicherheit und Freiheit hinbekommen wollen. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Sehr richtig!) Abgesehen davon, dass der Begriff „ausgewogene Balance“ Quatsch ist – entweder gibt es eine Balance oder nicht –, sagen wir ausdrücklich: Uns ist es wichtig, dass wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben. Das steht an allererster Stelle. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Wo das nicht möglich ist und wo es Ansätze gibt, dass man das durch Sicherheit auszugleichen versucht, muss man das intensiv diskutieren. Es wird aber keine Balance zwischen Sicherheit und Freiheit geben. Zu den Schwerpunkten Ihres Sicherheitsforschungsprogramms gehört schließlich, dass Deutschland seine wirtschaftlichen Chancen im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung nutzt. Hier präsentieren Sie Ihr Ziel, Deutschland zum führenden Anbieter von Sicherheitstechnologie in anderen Ländern zu machen. Das wirtschaftliche Ziel steht bei Ihnen also ganz vorne. Das haben Sie gerade in Ihrer Rede noch einmal herausgestellt, Herr Staatssekretär. Das ist nicht unsere Vorstellung von Sicherheitsforschung. Wir wollen, dass die Bevölkerung in dieser Gesellschaft sicher und frei lebt. Dazu bräuchte man ein anderes Sicherheitsforschungsprogramm. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor Dr. Martin Neumann das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Röspel, ich möchte auf das antworten, was Sie in Ihrem Beitrag dargestellt haben. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist auch Sinn einer Debatte!) Ich habe mich in Vorbereitung auf die heutige Debatte noch einmal damit befasst, was in der Vergangenheit gemacht wurde. Sie sprachen von dem, was in der Großen Koalition – ich will auch die Jahreszahl nennen, nämlich 2008 – erreicht wurde. Erstens müsste es eigentlich von Ihnen und auch von den anderen Oppositionsfraktionen, anders, als Sie es dargestellt haben, eine große Zustimmung zu dem geben, was von der Bundesregierung vorgelegt wurde. Das Rahmenprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“ entspricht nämlich genau den Vorstellungen, Leitfragen und Zielsetzungen, die 2008 – Sie waren damals im Gegensatz zu mir dabei – von den Innenpolitikern von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam im Grünbuch Risiken und Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit dargelegt wurden. Genau das, was darin enthalten ist, hat man jetzt in dieses Programm aufgenommen. (René Röspel [SPD]: Ich dachte, ich hätte es in Teilen auch gelobt!) Wenn Sie nun daran Kritik üben, dann sollten Sie sich mit Ihren Innenpolitikern darüber verständigen und uns und der Öffentlichkeit sagen, wo Ihre Fraktion in dieser Frage steht. Das sollte man tun, wenn man wirklich eine sachliche Debatte über das Thema führen möchte. Zweiter Punkt. Sie haben die fehlende Evaluation bei den Projekten der ersten Programmphase angesprochen. Wir haben das in der letzten Sitzungswoche in der Aktuellen Stunde angesprochen. Ich verweise in dem Zusammenhang auf den Begleitantrag der Koalitionsfraktionen. Wir fordern eindeutig diese Evaluation mit dem Auslaufen der ersten Förderphase der Projekte. Das ist ganz wichtig, weil die Erkenntnisse dann vorhanden sind. Ich bitte, dies anzuerkennen und die Ergebnisse abzuwarten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ein weiterer Punkt: Das Sicherheitsumfeld des einzelnen Menschen und der Gesellschaft – Kollege Röspel, Sie haben es gerade angesprochen – hat sich im vergangenen Jahrzehnt erheblich verändert. Das ist eine Feststellung. Es ist völlig klar, dass man an dieser Stelle ansetzen muss. Wir kommen nicht umhin, festzustellen, dass sich die Risiken und Bedrohungslagen für eine offene Gesellschaft in sehr unterschiedlicher Weise gewandelt haben. Wenn man sich beispielsweise die Folgen von Katastrophen, unvorhergesehenen Kettenreaktionen, gezielten Anschlägen, Pandemien oder extremen Naturereignissen anschaut, dann wird deutlich: Der Schutz der Wirtschaft, der Infrastruktur und der Bürger stellt unser Krisenmanagement vor neue Herausforderungen. Sie haben das angesprochen und Beispiele genannt. Wir haben an dieser Stelle die Aufgabe, den gesellschaftlichen Fortschritt und die vielen Innovationen, die unsere Gesellschaft durchdringen und uns in eine gewisse technische Abhängigkeit geführt haben, weiter zu untersuchen. Diese neuartigen Gefahrenpotenziale führen dazu, dass die bisherige Sicherheitsarchitektur den neuen Herausforderungen und den gewandelten Gefahren nicht gerecht wird. Diese systemische Diskrepanz wurde in dem TAB-Bericht „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung“, über den wir vor kurzem diskutiert haben, an einem konkreten Beispiel verdeutlicht. Die Analyse des TAB zeigte uns, dass sich die Folgen von Katastrophen nicht nur auf die Kommunikation, den Transport, den Verkehr usw. auswirken, sondern darüber hinausgehen und auf das Krisenmanagement und auf die Schutzmaßnahmen selbst ausstrahlen. Das ist die Botschaft. Hier muss man ansetzen. Wir stehen also vor der Herausforderung, das Risikomanagement und vor allen Dingen die Krisenbewältigung neu zu konzipieren. Dieser wichtigen und großen Aufgabe ist die Vorgängerregierung damals in der Großen Koalition mit dem nationalen Forschungsprogramm für zivile Sicherheit nachgekommen. Im Rahmen meiner Recherchen habe ich festgestellt, dass von meiner Fraktion damals eine Vielzahl an Punkten kritisiert wurde, die – Sie haben es angesprochen – die Abwägung zwischen Sicherheit und Persönlichkeitsrechten betrafen. Ich möchte nur die Forschung zu Muster- und Körperscannern erwähnen. Wir wissen, dass sich die fortschreitende technologische Entwicklung zum Schutz der Freiheit umdrehen lassen kann und ebenso ein Gefahrenpotenzial für die Persönlichkeitsrechte und das Eigentum birgt. Sie sprachen von Balance. Ich sage, das ist eine Frage der Ausgewogenheit. Deshalb haben wir – anders als Sie das hier dargestellt haben – dem neuen Programm eine deutliche Handschrift gegeben. Wir haben genau diese Abwägung zwischen persönlicher Freiheit und Sicherheit, auf die es mir ankommt, neu austariert. Das vorgelegte Rahmenprogramm folgt daher, wie es im Übrigen auch der Wissenschaftliche Programmausschuss zum nationalen Sicherheitsforschungsprogramm in seinem Bericht empfiehlt, dem Grundsatz, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit neu zu wahren. Wie sollten Sicherheitsmaßnahmen von den Bürgern akzeptiert werden, wenn die grundrechtlichen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger nicht gewahrt werden? Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang stellt sich für uns eine entscheidende Frage: Sind wir bereit, ein gewisses Restrisiko zu tragen und gewisse Unsicherheiten hinzunehmen? Wir haben in der vorangegangenen Programmphase erste Erfahrungen gesammelt und greifen nun eine ganz wichtige Erfahrung wieder auf, nämlich den gesellschaftlichen Aspekt: Was nützt die Forschung für zivile Sicherheit, wenn die Ergebnisse nicht ausreichend überführt werden und wir die Transformation nicht schaffen? Daher haben wir darauf zu achten, dass die Vielzahl von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in die Projekte einbezogen und Sicherheitskompetenzen in der Gesellschaft aufgebaut werden. Das erfordert, verstärkt die Wirtschaft und die Unternehmen in das Programm einzubeziehen und den Innovationstransfer zu verstärken und zu gestalten. Das sind wichtige Herausforderungen, denen wir uns stellen sollten. Ich bedanke mich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass man noch Redezeit übrig hat, wenn ein Minus vor der Zeitangabe steht. Das gilt nicht nur für Sie, Herr Neumann, sondern auch für andere vor Ihnen. (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Heiterkeit des Abg. René Röspel [SPD]) Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde versuchen, das tapfer zu ignorieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Das Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ von 2007 bekommt jetzt eine Neuauflage; das ist schon erwähnt worden. Diese nennt sich nunmehr allerdings „Rahmenprogramm“ und verliert leider wie alle Rahmenprogramme, die die Bundesregierung bisher aufgelegt hat, an Konkretheit. Allerdings sollen jetzt die gesellschaftlichen Dimensionen von Sicherheitsforschung von Anfang an mit untersucht werden. Das findet die Linke richtig; wir haben das hier auch schon mehrfach gefordert. Immerhin gibt es im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheitsrechten, von Sicherheit und Kontrolle viele offene Fragen. Die Erfahrungen zeigen nämlich, dass bisher noch jede neue Technologie, Herr Neumann, auch neue Probleme aufgeworfen hat. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Richtig!) Niemand sollte jedoch ignorieren, dass für unsere Gesellschaft Konflikte und Unsicherheiten typisch sind, Unsicherheiten, die oftmals überhaupt nicht technologischer Natur sind; man denke nur an soziale Unsicherheiten. Viele Menschen verunsichert und sorgt, dass sie ihr Leben immer weniger selbstbestimmt planen und gestalten können – ganz zu schweigen natürlich von akuten Krisensituationen, Katastrophen und natürlichen Gefahrenlagen. Die ständigen Diskussionen über klamme öffentliche Kassen stärken nun auch nicht gerade das Sicherheitsempfinden der Menschen, und diesen Umstand machen sich nun Technologielobbyisten zunutze. Es scheint doch nur logisch, dass Risiken wenigstens durch neue Technologien minimiert werden sollen, wenn man schon nicht in der Lage zu sein scheint, den Einsatz von Mitteln und Personal für die Arbeit von Sicherheits-, Rettungs- und Katastrophenschutzbehörden zu steigern. Aus diesem politisch verursachten Dilemma wiederum zieht ein ganzer Industriezweig, nämlich die Sicherheitsindustrie, ausgesprochen satten Nutzen. Viele Technologien waren und sind nur breit einsetzbar, wenn freiheitliche Normen und Grundrechte eingeschränkt werden. Ich erinnere an solche Dinge wie die Weitergabe von Flug- und Bankdaten, an biometrische Merkmale in Personaldokumenten, an die europaweite Speicherung von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerdaten, an den Datenstriptease, den Empfänger von Sozialleistungen hinlegen müssen, an den Nacktscanner, der sich nicht bewährt hat und in anderen Ländern längst wieder abgeschafft wird, jüngst auch an den Staatstrojaner, Herr Neumann, (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Genau!) sowie an die Pläne zur Vorratsdatenspeicherung. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke hat diese Entwicklung und das technologiezentrierte Herangehen der Bundesregierung hier immer wieder kritisiert. Viel zu viele Menschen misstrauen diesen neuen Technologien, weil sie sie nicht verstehen, weil sie sie nicht kontrollieren können und weil sie sie weder anwenden können noch anwenden wollen; auch das muss man in Rechnung stellen. Letztlich werden damit wieder neue Unsicherheiten und neue Risiken produziert, und wir brauchen uns dann nicht über die vielen kontroversen gesellschaftlichen Debatten zu wundern. Alles in allem ergeben sich daraus also gute Gründe, seriös zu forschen. Dazu gehört natürlich, frühzeitig einen gesellschaftlichen Dialog über Sinn, Nutzen und Anwendungszweck von neuen Sicherheitstechnologien zu organisieren. Aber für das vorliegende Rahmenprogramm galt das offensichtlich nicht; denn darauf darf die gesellschaftliche Öffentlichkeit jetzt nur noch reagieren. Das nenne ich einen Fehlstart. Das ist keine vertrauensbildende Maßnahme. (Beifall bei der LINKEN) Vertrauen, meine Damen und Herren, ist aber gerade in diesem Bereich enorm wichtig; es ist die Grundlage. Ich darf hier auch einmal daran erinnern, dass so mancher ehemalige Politiker, der vormals Sicherheitstechnologien hier massiv vorangetrieben hat, später Plätze in Aufsichtsräten oder Beraterverträge in der Sicherheitsindustrie bekommen hat. Nun, Herr Rachel, setzen Sie auch noch auf sogenannte Sicherheitspartnerschaften. Und als hätte man nichts gelernt, wird die Verlagerung hoheitlicher Aufgaben des Staates an Private in grundrechtlich höchst sensiblen Bereichen längst vorbereitet. Herr Rachel, Sie haben gesagt, dass es sich hier um eine Kernaufgabe des Staates handelt. Aber das stimmt einfach nicht; denn Ihr praktisches Handeln sagt etwas anderes. Zudem ist eine Folge dieser Situation, dass Sie der Industrie nicht nur das Geld für Forschung und Entwicklung, sondern anschließend an sie auch noch Aufträge vergeben. Damit finanzieren Sie deren Geschäftsmodell. Das halten wir für höchst problematisch. Das ist nicht staatliche Aufgabe. (Beifall bei der LINKEN) Für uns gehört die Aufklärung über solche Zusammenhänge und über Alternativen zu einem breiten gesellschaftlichen Dialog. Schließlich darf der Einsatz von Sicherheitstechnologien nicht dazu führen, dass sich die Bundesregierung am Ende aus ihrer Verantwortung stiehlt. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vieles von dem, was wir 2007 in der ersten Phase des Sicherheitsforschungsprogramms kritisch angemahnt haben, will die Bundesregierung in der 2012 beginnenden zweiten Phase erkennbar stärker berücksichtigen. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Sehr richtig!) Dazu zählen wir die stärkere Integration von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und von rechtlichen Fragestellungen, von soziokulturellen und psychologischen Aspekten, Fragen der Akzeptanz im realen Verhalten der Menschen sowie die Alltagstauglichkeit von Lösungen. Dazu gehört aber auch die frühzeitige und ständige Einbeziehung von Praktikern und Nutzern. Das haben wir 2007 gefordert, und das will die Bundesregierung jetzt offensichtlich umsetzen. Ich sage ganz ehrlich: Wenn Lerneffekte eintreten, dann begrüßen wir das durchaus. Dagegen haben wir nichts einzuwenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP]) Wie soll das nun umgesetzt werden? Eines ist klar: Wenn man tatsächlich mehr Interdisziplinarität und Transdisziplinarität in der Forschung will, dann muss man dafür deutliche Anreize und klare Förderkriterien schaffen. Da besteht nach wie vor Entwicklungsbedarf, und zwar nicht nur in der Sicherheitsforschung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie wollen eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Wenn man das will, dann muss man aber sehr aufpassen, dass diese hehren Vorsätze nicht zwischen Forschung und Anwendung verloren gehen, gerade dann, wenn man gleichzeitig ökonomische Interessen verfolgt. Dass es in Zukunft einen größeren internationalen Markt für Produkte und Dienstleistungen aus dem Bereich der zivilen Sicherheit geben wird, ist klar und wird von niemandem bestritten. Dass auch deutsche Unternehmen hier als Anbieter tätig werden wollen, ist an sich ein vernünftiges Ziel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nun wissen wir aber natürlich, dass ein ökonomisches Kalkül in Bezug auf ein bestimmtes technologisches Sicherheitsprodukt nicht immer mit ethischen Bewertungen, Persönlichkeitsrechten, Datenschutz, den Erfahrungen und Interessen von Nutzern und Praktikern oder einem effektiven Mitteleinsatz kompatibel und nicht von vornherein an den Hauptsicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung orientiert ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In dem Zusammenhang muss ich, Herr Rachel, an das Thema Körperscanner erinnern. Die Förderung der Entwicklung eines Körperscanners für Flughäfen war 2007 ein ganz zentrales Vorzeigeprojekt des Forschungsministeriums. Sie haben es in Ihren Presseerklärungen damals als Leuchtturmprojekt herausgestellt. In der Anwendung bei den Pilotprojekten an deutschen Flughäfen war der Nacktscanner, wie er dann genannt wurde, allerdings ein totaler Flop, und zwar nicht nur, weil persönlichkeitsrechtliche und datenschutzrechtliche Fragen nicht genügend berücksichtigt wurden. Vielmehr haben auch die Nutzer gesagt, dass er nicht vernünftig in ein Gesamtsicherheitskonzept eingebunden ist. Vor allen Dingen bedeutete er gegenüber der bisher praktizierten Lösung eine totale Entgleisung im Nutzen-Kosten-Verhältnis. Das ist ein typischer Fall, in dem die hehren Vorsätze, die man für die Forschung formuliert hatte, in der Praxis nachher offensichtlich überhaupt keine Rolle mehr gespielt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das heißt, wir brauchen eine Begleitforschung, Evaluation und Transparenz, um nachvollziehen zu können, ob diese schönen Vorsätze nachher auch wirklich umgesetzt werden und es zu einer Balance kommt. Wir brauchen auch Transparenz, um feststellen zu können, ob die Mittel tatsächlich eingesetzt werden, um die Hauptprobleme zu lösen. Da hat der Kollege Röspel total recht. Wir sind hier in einem Bereich extrem heterogener Fragestellungen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – René Röspel [SPD]: Das stimmt!) Es geht um öffentliche Infrastruktur, um Alltagskriminalität, um Sicherheit im Internet, um Naturkatastrophen, um Piraterie. Wir haben aber überhaupt keinen Überblick darüber, ob die Mittel so eingesetzt werden, dass sie tatsächlich zur Behebung der Hauptprobleme dienen; und wir wissen auch nicht, was Sie vorhaben. Und – da hat auch die Kollegin Sitte etwas Richtiges angesprochen – wir brauchen auch Transparenz bei der Frage, welche Aufgabe im Bereich der Sicherheitsforschung der Steuerzahler und die öffentliche Hand haben und was dabei eigentlich die ureigenste Aufgabe von Unternehmen ist. Auch da weiß man nicht, wohin die Reise geht; da brauchen wir mehr Klarheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) In einem Punkt, Herr Rachel – ich finde es gut, dass Sie unsere Diskussion da aufgenommen haben –, haben Sie allerdings unsere volle Unterstützung, wenn Sie das tatsächlich umsetzen. Ein wirklich effektives Mittel, um Erkenntnisse aus der Forschung in die Gesellschaft diffundieren zu lassen, ist die Integration in Lehre, Studium und Ausbildung. Wenn wir es schaffen, Erkenntnisse der Sicherheitsforschung in Studiengänge an Fachhochschulen, in die berufliche Weiterbildung, in die Ausbildung zu integrieren, (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Genau das werden wir machen!) dann wäre das wirklich ein gutes Mittel, um diese Erkenntnisse in die gesellschaftliche Praxis zu überführen. Da hätten Sie unsere Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Unsere Unterstützung haben Sie nicht, wenn Sie hauptsächlich in Lösungen investieren, die zu teuer sind, die keine Akzeptanz finden und die am Ende niemand haben will; denn dann haben wir nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Verunsicherung. Das wollen wir natürlich vermeiden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrte Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Eine der wichtigsten Aufgaben unseres Staates ist es, die Sicherheit und die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. (René Röspel [SPD]: Die Freiheit, genau!) Dies erfordert einen ständigen Anpassungsprozess; denn die Anforderungen an Sicherheitsbehörden ändern und wandeln sich immer wieder. Die Bedrohung unserer freiheitlichen Gesellschaft durch Katastrophen, Umwälzungsprozesse der Globalisierung, durch Fortschritte in Informations- und Kommunikationstechnologien, auch durch den Klimawandel hat große Auswirkungen auf die Gewährleistung von ziviler Sicherheit durch den Staat. Neue Sicherheitslösungen müssen daher den Schutz der Bevölkerung und der kritischen Infrastrukturen leisten. Die Sicherheitsrisiken haben sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Versorgungsnetze können beispielsweise schon durch kleine Störungen ausfallen. Daher werden an vielen Stellen auch künftig Sicherheitsvorkehrungen nötig sein, um den Menschen zu ermöglichen, ein freies Leben in einer offenen Gesellschaft zu führen. Diese Sicherheitsvorkehrungen werden durch Technologien unterstützt, die sie einfacher, schneller und wirkungsvoller machen. Das zunehmende Wachsen von Ballungszentren, die wachsende Vernetzung unterschiedlicher Lebensbereiche und die dichten Infrastrukturnetze haben eine neue Qualität der Verletzlichkeit zur Folge. Großveranstaltungen – das hat die Katastrophe in Duisburg vor zwei Jahren gezeigt – werden zur sicherheitstechnischen Herausforderung. Die Forschung kann einiges tun, um Katastrophen zu verhindern bzw. solche besser zu managen. Mit dem neuen Rahmenprogramm zur Sicherheitsforschung mit dem Schwerpunkt „Sicherheit als Basis eines freien Lebens“ verfolgt die Bundesregierung das Ziel, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie den Schutz kritischer Infrastrukturen zu erhöhen und dabei eine verantwortungsvolle Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu halten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das neue Rahmenprogramm der Bundesregierung schließt an das erste nationale Sicherheitsforschungsprogramm an. Die enge Verzahnung mit den europäischen Sicherheitsforschungsprogrammen und den entsprechenden Politikbereichen untermauert die starke Rolle Deutschlands in diesem Bereich. Aufbauend auf den Erfolgen des ersten Programms und vor dem Hintergrund neuer globaler Herausforderungen wird die Forschungsförderung auf folgende Schwerpunkte ausgerichtet: gesellschaftliche Aspekte der zivilen Sicherheit, urbane Sicherheit, Sicherheit von Infrastrukturen und Wirtschaft, Schutz und Rettung von Menschen, Schutz vor Gefahrenstoffen, Epidemien und Pandemien sowie IT-Sicherheitsforschung. Als neuer innovativer und wichtiger Punkt für das neue Rahmenprogramm wurde die IT-Sicherheitsforschung hinzugenommen. Ziel ist es, die Nutzer von Informationstechnologie vor Betrug, Missbrauch, Sabotage und Ausspähung zu schützen. Denn vom Vertrauen in die Sicherheit dieser Systeme hängen inzwischen weite Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ab. Mit unserem Programm unterstützen wir vor allem auch die mittelständische Wirtschaft, einerseits weil sie es ist, die an der Entwicklung maßgeblich beteiligt ist, andererseits weil sie von den Ergebnissen profitiert. Technologische Kompetenzen sollen künftig besser vor natürlichen Risiken und Wirtschaftskriminalität schützen. Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Röspel, wirtschaftlicher Erfolg gerade des Mittelstandes nutzt den Menschen. (René Röspel [SPD]: Hat keiner gesagt, dass das schadet!) Ich warne davor, diesen Begriff so negativ zu besetzen, wie es in dieser Debatte getan wurde. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Von wem?) Denn wirtschaftlicher Erfolg sorgt für Arbeitsplätze und für Wohlstand in unserer Gesellschaft. (René Röspel [SPD]: Wenn das der Schwerpunkt ist, dann schreiben Sie das doch in das Programm!) Wir müssen auch vorsichtig sein, wenn wir neue Technologien nur mit Problemen und Herausforderungen verknüpfen. Natürlich müssen wir auch darauf schauen. Aber die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes profitieren von diesen Technologien. Das ist unser Rohstoff, mit dem wir unseren Erfolg sichern können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bisher konnte nicht viel Kritik von Ihnen geäußert werden, weil das Programm wirklich gut ist. Aber immer wieder wurde das Beispiel Nacktscanner genannt. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass es die Ministerin war, die die Nacktscanner kritisiert hat und die eine Alternativforschung auf dem Gebiet der sogenannten Terahertztechnologie angestoßen hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Auch die Europäische Union fördert in ihrem 7. Forschungsrahmenprogramm erstmals die zivile Sicherheitsforschung. Dafür sind jährlich 200 Millionen Euro vorgesehen. Die Bundesregierung hat erstmals 2007 das Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ verabschiedet, um uns vor Gefahren wie Terrorismus, Kriminalität und Naturkatastrophen besser schützen zu können. Derartige Gefahren sind in den letzten Jahren leider nicht weniger geworden. Deshalb brauchen wir mehr denn je die Fortsetzung dieser Forschung. Mit unserem Antrag möchten wir die Fortschreibung des Rahmenprogramms der Bundesregierung zur Sicherheitsforschung unterstützen. Maßgeblich für den Erfolg sind aus unserer Sicht: der Ausbau des deutschen Engagements im Bereich der europäischen und internationalen Sicherheitsforschung, also das Vernetzen, das weitere Bemühen um die Beteiligung kleinerer und mittlerer Unternehmen sowie die Sicherstellung, dass auch während der Laufzeit des Programms aktuelle sicherheitsrelevante Themenfelder schnell durch Forschungsaktivitäten adressiert werden können. Darüber hinaus sind Interdisziplinarität, Begleitforschung zu kritischen Fragen, Transparenz und Öffentlichkeit in meinen Augen Voraussetzung für den Programmerfolg. Die neuen Technologien können helfen, die aufkommenden sicherheitspolitischen Herausforderungen zu meistern. Wir brauchen deshalb Sicherheitslösungen, die die Bürger schützen, sie aber in ihrer persönlichen Entfaltung – ich nenne beispielsweise das Nutzen des Internets oder den Besuch von Großveranstaltungen – nicht behindert. Der vorliegende Antrag zur Fortführung der zivilen Sicherheitsforschung steht hiermit im Einklang. Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Hahn und Herr Neumann, wir in der Opposition sind so souverän, nicht alles schlecht zu finden. Wir freuen uns auf Diskussionen und neue Entwicklungen. Wir erkennen wie Frau Sager auch an, dass in diesem Programm gegenüber dem vorherigen Programm Punkte neu aufgenommen worden sind und es Verbesserungen gegeben hat. Wir wissen uns in der Hoffnung, dass in diesem Programm steht, dass man bis 2017 weiterlernen will. Weil Sie sehr auf Interdisziplinarität abstellen, äußern wir zunächst die Bitte, dass der Kreis der einbezogenen Ministerien noch erweitert wird. Bis jetzt – das kann man nachlesen – gehören die Bereiche Wirtschaft, Verkehr, Bau und Gesundheit dazu. Gehören nicht aber, wenn man die geisteswissenschaftliche und die soziologische Betrachtung hinzunimmt und wenn eine Erweiterung auf die urbane Sicherheit erfolgen soll, auch das Sozialministerium sowie das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dazu? Wenn wir Sicherheit nicht nur als persönliches Gut, wie es auch die Freiheit ist, sondern auch als öffentliches Gut begreifen, dann zwingt uns das, auch in der Politik sehr konkret zu werden. Ich will dazu eine Debatte der letzten Sitzungswoche aufnehmen. Hier hatten wir einen Disput in Bezug auf das Programm „Soziale Stadt“. Man kann schlecht die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ kürzen und sich gleichzeitig für eine größere urbane Sicherheit aussprechen. Das ist für die Praxis wichtig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Im Übrigen: Ich möchte es einmal plakativ ausdrücken, Herr Rachel. Sie betonen, dass die 50 Millionen Euro als Begleitforschung für Geistes-, Sozial- und anderen Wissenschaften gedacht seien. Ich sage dazu: Das darf nicht Begleitforschung sein, sondern das muss Kernforschung sein. Wir wünschen uns, dass bei der Fortschreibung dieses Programms solche Aspekte konkreter formuliert werden. Ich möchte darüber hinaus zwei Anmerkungen machen. Als Schleswig-Holsteiner erinnere ich mich an Lars Clausen. Das war der erste deutsche Katastrophenforscher, der uns schon in den 80er-Jahren gesagt hat, dass wir in Bezug auf den Katastrophenschutz daran denken müssen, dass „Schutzlaien“ ausgebildet werden. Lars Clausen dachte nicht an Hightech, sondern ganz bewusst an „Lowtech“, an die Kompetenz der Menschen. Vielleicht können Sie die Verknüpfung von Hightech, Lowtech und Kompetenz in ein zukünftiges ziviles Sicherheitsforschungsprogramm aufnehmen. Sie haben die Resilienz, ein neues Fremdwort für Widerstandsfähigkeit, betont. Das steht in engem Zusammenhang mit Hightech und Lowtech. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die zweite Bemerkung knüpft an den Antrag an, den die Koalitionsfraktionen eingereicht und den wir mit Interesse gelesen haben. In diesem Antrag setzen Sie sich im Zusammenhang mit INDECT kritisch mit dem zivilen Sicherheitsforschungsprogramm der EU auseinander. Wir erkennen ausdrücklich an, dass der Staatssekretär im Innenausschuss gesagt hat, dass die deutschen Verwaltungen bis hin zum BKA es abgelehnt haben, dass das BKA am europäischen Programm – hier ging es um Personenerkennung, Bewachung und Verhaltenserschließung – teilnimmt, weil die Überwachungskomponente zu umfassend war. Wir finden es bemerkenswert, dass sowohl die Fraktionen dieses Bundestages als auch die Bundesregierung diesen Gedanken in Bezug auf Europa formuliert haben. Wir möchten aber von Ihnen gerne wissen – vielleicht kann das gleich Herr Murmann erläutern –, was Sie damit meinen, wenn Sie sich einerseits in Ihrem Erschließungsantrag positiv hinter diese Haltung des BKA stellen, andererseits aber sagen: Diesen Forschungsbereich – es geht um den Bereich der Personenerkennung, der Verhaltensbeobachtung und Bewachung gilt es daher systematisch und möglichst früh begleitend zu technologischen Entwicklungen zu stärken. Und ich will diese Schraube gerne noch weiter drehen. Vorhin hatten wir eine Debatte zu Ägypten. Welche Maßstäbe halten wir in Bezug auf für Demokratie streitende Bevölkerungen ein, wenn es technologisch perfekte Überwachungssysteme gibt? Haben wir am Ende das Exportinteresse des Mittelstandes im Auge? Haben wir die gleichen Maßstäbe, die wir bei Rüstungsgütern und bei Dual-Use-Gütern haben, die man zur Folter einsetzen könnte, auch bei den Gütern, die die zivile Sicherheit betreffen? Wir möchten, dass das auch von Ihnen reflektiert wird. Vielleicht kann die Regierung darauf hinwirken, dass auch im nächsten europäischen Forschungsprogramm gutes Regieren eine Rolle spielt. Wir müssen auch politisch und letztlich demokratisch-institutionell begreifen, was es heißt, zivile Sicherheit mit Demokratie und mit Freiheit zu verknüpfen. Weil ich mit Lars Claussen angefangen habe, muss ich mit Ferdinand Tönnies, seinem Inspirator, enden. Ferdinand Tönnies sagte seinerzeit: Verstand ohne Willen ist ziellos. Wille ohne Verstand ist zerstörerisch. – Ich glaube, in der zivilen Sicherheitsforschung müssen wir dazu kommen, zuerst Verstand, Wille und Werte zu beachten und erst dann Technik, Hightech wie Lowtech, anzuwenden. Danke schön. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben deutlich gemacht, dass es sich hier auch um eine Wertediskussion handelt, die die Grundlage für dieses Sicherheitsforschungsprogramm ist. Ein sicheres Deutschland und ein sicheres Europa – das haben wir immer wieder betont – sind die Grundlage für die Lebensplanung der Bürger in unserem Land und in Europa. Thomas Rachel hat es mit einem schönen Zitat eingeleitet: Sicherheit ist die Grundlage für Freiheit. – Dabei geht es längst nicht mehr nur um militärische Sicherheit; die Zahl der zivilen Felder ist beeindruckend. Herr Röspel, da geht es aus meiner Sicht nicht nur um Terrorismusbekämpfung, (René Röspel [SPD]: Ich habe das weiter gefasst!) sondern auch der Safety-Gedanke kommt in einigen Bereichen durchaus vor. Frau Sitte, das wird in dem Programm auch ziemlich konkret. Dabei geht es um eine Vielzahl von Bereichen: kritische Infrastrukturen, Sicherung unserer Transporte, Sicherung der Informationsstrukturen, Sicherung der Bürger vor Infektionen, Sicherheit der Bürger bei Massenveranstaltungen, Sicher-heit von Einsatzkräften – auch hier gibt es wieder einen Safety-Aspekt –, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das sind Überschriften! Da steht kein einziges Projekt drin! Geld schon mal gar nicht!) Sicherung unserer Lebensmittel, Sicherung der Umwelt vor Gefahrenstoffen. Das Ziel unserer Politik ist es, eine gleichermaßen freie wie sichere Gesellschaft zu gewährleisten. Das ist unsere vornehmste Aufgabe. Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig und finde ich es großartig, dass es ein solches Forschungsprogramm gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch einmal einige Aspekte aufgreifen, die bereits angesprochen wurden. Die Berücksichtigung von vorrangig mittelständischen Unternehmen in diesem Bereich liegt mir natürlich besonders am Herzen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass rund ein Viertel der Projektpartner kleine und mittlere Unternehmen sind. Das Programm ist eine große Chance für den Austausch zwischen der Forschung und den KMU. (René Röspel [SPD]: Krauss-Maffei!) – Nein, auch viele KMU; ich komme gleich zu einem Beispiel. – Es handelt sich um eine wachsende Branche, in der Deutschland in vielen Bereichen führend ist. Der Zugang zu neuesten Forschungsergebnissen kommt so auch den KMU zugute. Wir wollen auch das Miteinander von kleinen und großen Unternehmen fördern. Diese Produkte haben gute Exportchancen. Die Produkte kommen nicht nur aus dem Rüstungsbereich, sondern auch aus vielen nützlichen Bereichen, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Diese Chancen wollen wir weiter nutzen. Ein Beispiel: Die Firma bbe Moldaenke ist ein kleines Familienunternehmen aus meinem Wahlkreis. Es wurde vor mehr als 20 Jahren gegründet, übrigens aus einem Forschungsprojekt heraus, und es ist somit auch ein schönes Beispiel für Unternehmensgründungen aus der Forschung heraus. Der Inhaber hat das Unternehmen über viele Jahre nachhaltig aufgebaut. Mittlerweile hat er 22 Mitarbeiter und ist an drei Verbundprojekten beteiligt. In einem der Projekte geht es im Wesentlichen darum, wie man krankheitserregende Bakterien in Trinkwasser schneller und effizienter aufspüren kann, also ein Projekt, das mit Terrorismus überhaupt nichts zu tun hat. Siemens hatte übrigens auch einmal ein solches Projekt gestartet, hat es dann aber eingestellt. Das zeigt das wiederkehrende Phänomen, dass manche Großunternehmen bestimmte Projekte starten, sie dann aber einstellen, woraufhin kleine innovative Unternehmen das Projekt aufgreifen und daraus eine echte Erfolgsgeschichte machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde, das ist gut so. Darum ist die Beteiligung dieser Unternehmen so wichtig. Zweiter Aspekt: europäische und internationale Vernetzung der Forschungsaktivitäten. Die Sicherheitsforschung ist ein Eckpfeiler im 7. Europäischen Forschungs-rahmenprogramm. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern. Ich möchte aber ganz besonders die Zusammenarbeit außerhalb von Europa hervorheben. Aus meiner Sicht ist beispielsweise die vielfältige Zusammenarbeit mit unseren Freunden in Israel von Bedeutung. Wie schwierig und diffizil die Sicherheitslage dort ist, wissen wir alle. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ein sehr heikles Beispiel!) Israel ist aber auch ein Land mit herausragender Forschung und mit vielen jungen, innovativen Unternehmen. 2008 beispielsweise betrug der Anteil der Investitionen in Forschung und Entwicklung am Bruttoinlands-produkt fast 5 Prozent. Das liegt noch weit über dem, was wir uns als Ziel gesetzt haben. Wir können auch in der gesellschaftlichen Debatte viel gewinnen, wenn wir uns mit den Israelis im Rahmen dieser Projekte austauschen. (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich noch kurz zwei weitere Aspekte nennen, zunächst die disziplinübergreifende Zusammenarbeit. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger neuer Aspekt. Wir wissen, dass heute gerade die Forschung in Grenzbereichen zu bahnbrechenden Neuerungen führt. In dem Zusammenhang ist es wichtig, dass immerhin schon 20 Prozent der Gesamtfördersumme – ich glaube, Herr Röspel und auch Herr Rossmann haben es vorhin schon erwähnt – in die Begleitforschung investiert werden. Sie hatten von 80 Prozent gesprochen. (René Röspel [SPD]: Die haben wir eingefordert!) Ich glaube, es ist wichtig, dass man diesen Aspekt überhaupt berücksichtigt hat. Insofern glaube ich auch, dass noch weitere neue Aspekte zum Tragen kommen. Die Einbindung von Endnutzern wurde ebenfalls angesprochen. Es ist wichtig, dass nicht nur die Forschungsergebnisse selbst erzeugt werden, sondern dass daraus auch neue Anwendungen entstehen, die uns weiterbringen. Ich komme zum Schluss und möchte sagen, dass ich die zivile Sicherheitsforschung für eines der spannendsten Forschungsfelder unserer modernen Gesellschaft halte. Es kann nicht immer nur um ein Mehr an Sicherheit gehen. Dieser wichtige Punkt bedarf sicherlich der Diskussion. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, aber wenn es zu viel Sicherheit gibt – das erleben wir manchmal auch hier bei den Sicherheitsvorkehrungen im Deutschen Bundestag –, kommt es gelegentlich zu Beklemmungen. Man muss immer wieder das richtige Maß finden und sich an die Erfordernisse anpassen. Deswegen ist es sinnvoll, solch ein Forschungsprogramm zu haben. Wir unterstützen dieses Forschungsprogramm und sorgen dafür, dass es im Haushalt ordentlich verankert wird. Hier sehen wir uns auf einem guten Weg. Deswegen bringen wir diesen Antrag ein und hoffen auf Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8573 und 17/8500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b sowie den Zusatzpunkt 8 auf: 10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken – Rahmenfrist verlängern – Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwickeln – Drucksache 17/8574 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser absichern – Drucksache 17/8579 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitslosengeld statt Hartz IV – Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern – Drucksache 17/8586 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Angelika Krüger-Leißner (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Nachricht, dass rund ein Viertel der Menschen, die nach Beschäftigung arbeitslos werden, kein Arbeitslosengeld bekommt, hat mich tief erschüttert. Das belegen aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit; die Presse hat ausführlich darüber berichtet. Die Betroffenen fallen direkt in die Grundsicherung, obwohl sie regelmäßig Beiträge an die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben. Das bedeutet: Für 25 Prozent der Beschäftigten hat die Arbeitslosenversicherung ihre Schutz-funktion verloren, und die Tendenz ist steigend. Für mich stößt das Gesetz an die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit, und ich wage nicht, vorherzusagen, wie eine entsprechende Verfassungsklage ausginge; denn ein Viertel der Beschäftigten leistet Beiträge, um sich für den Fall der Arbeitslosigkeit abzusichern, aber wenn dieser Fall eintritt, schauen die Menschen in die Röhre. Ich meine, das entzieht dieser Versicherung die Legitimationsgrundlage; ich persönlich halte das für einen sozialpolitischen Skandal. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das können wir nicht hinnehmen; wir müssen handeln. Die SPD-Fraktion hat verschiedene Arbeitsmarktexperten konsultiert, um eine Lösung zu finden. Unser Antrag ist das Ergebnis dieser Bemühungen. Wir wollen die Rückkehr zur Rahmenfrist von drei Jahren. Das würde auch nach Einschätzungen der BA einem großen Teil der Betroffenen helfen; wir könnten sie wieder in die solidarische Versicherung hereinholen. Das würde die Arbeitslosenversicherung stärken, letztendlich auch unseren Sozialstaat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es gar nicht verschweigen: Wir selbst haben 2003 in Regierungsverantwortung die Rahmenfrist von drei auf zwei Jahre verkürzt. Aber was damals, 2003, richtig war, muss nicht auch heute noch angemessen sein. Der Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen Jahren geradezu dramatisch verändert: Jedes zweite neue Arbeitsverhältnis ist befristet. Die Kurzbefristungen nehmen weiter zu: Leiharbeit, Saisonbeschäftigung, Teilzeitbeschäftigung und Praktikantentätigkeiten haben stark zugenommen. Projektgebundene Beschäftigung ist im Kreativ- und Kulturbereich vorrangig. Ja, die Welt hat sich verändert, und darauf müssen wir reagieren. Dabei sind wir lernfähig und halten nicht ideologisch an dem fest, was einmal richtig war. Noch ein Hinweis, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Damals haben Sie gegen die Verkürzung der Rahmenfrist gestimmt. Vielleicht erinnern Sie sich noch; Sie können es nachlesen. Heute haben Sie nicht nur die Möglichkeit, den alten Zustand wiederherzustellen, sondern auch noch allen Grund dazu. Die Experten werden Ihnen das vor Augen führen, wenn wir in wenigen Wochen die Anhörung zu den vorliegenden Anträgen durchführen. Wenn Sie den Anträgen nicht zustimmen wollen, erwarten wir Ihre Vorschläge, wie Sie auf die Erosion der Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung reagieren wollen. Die Analyse des Arbeitsmarktes zeigt uns auch, dass mit der dreijährigen Rahmenfrist nicht allen geholfen ist. Es bleibt ein Kernbereich der kurz befristet Beschäftigten, die weiterhin auf eine Sonderlösung angewiesen sind. Dazu gehören viele Beschäftigte im Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft, vor allem bei Film, Fernsehen und Theater. In einer Stunde wird die Berlinale eröffnet. Natürlich stehen vor allem die Stars im Mittelpunkt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie nur ein Teil der Filmbranche sind. Zur ganzen Wirklichkeit gehören auch diejenigen, die hinter der Kamera stehen. Erst mithilfe dieser Filmschaffenden werden all die Filme möglich, die wir in den nächsten Tagen zu sehen bekommen. Die Berufswirklichkeit und die soziale Absicherung der Filmschaffenden sehen alles andere als rosig aus. Projektgebundene Arbeit mit regelmäßigen Unterbrechungen zwischen den Arbeitsverhältnissen, niedrige Gagen und lange Drehtage sind bei vielen die Regel. Für diese kurzfristig Beschäftigten aller Branchen haben wir 2009 eine auf sechs Monate verkürzte Anwartschaft geschaffen. Aber das ist an Voraussetzungen gebunden, die von den meisten nicht erfüllt werden können, sodass bisher kaum jemand von der Sonderregelung profitiert hat. Nach zweieinhalb Jahren Erfahrung wissen wir: Dieses Gesetz läuft ins Leere, und es verfehlt sein Ziel. Belegt wird das durch zwei Monitoringberichte an den Haushaltsausschuss. Danach haben aufgrund dieser Regelung innerhalb eines Jahres sage und schreibe 242 kurz befristet Beschäftigte Arbeitslosengeld bezogen, fast die Hälfte kommt aus dem Kulturbereich. Wissenschaftliche Studien, in Auftrag gegeben von Verdi und dem Schauspielerverband, zeigen auf, dass trotz der verkürzten Anwartschaft gerade einmal 5,5 Prozent der befragten Filmschaffenden Arbeitslosengeld I beziehen konnten, lediglich 4,6 Prozent der Schauspieler profitierten davon. Es gibt überhaupt keinen Zweifel: Das Gesetz von 2009 ist wirkungslos. Ablesen können wir das an den geringen Kosten, die es bisher verursacht hat. Wir erinnern uns: Veranschlagt waren 50 Millionen Euro jährlich, de facto hat es die BA im vergangenen Jahr noch nicht einmal 1 Million Euro gekostet. Darum ist unser Vorschlag: Fortschreibung der auf sechs Monate verkürzten Anwartschaft für alle kurzfristig Beschäftigten unter Wegfall aller Hürden. Sowohl die Begrenzung der Beschäftigungsdauer – derzeit sechs Wochen – als auch die Einkommensgrenzen gehen an der Berufswirklichkeit der Menschen, die eigentlich davon profitieren sollen, vorbei. Mit unserem Vorschlag wollen wir uns aber nicht auf ein ungewisses Abenteuer einlassen. Deshalb befristen wir das Gesetz auf drei Jahre und begleiten es durch eine wissenschaftliche Evaluation. Dadurch erhalten wir laufend Erkenntnisse über die Auswirkung, übrigens auch in finanzieller Hinsicht, und wir können entsprechend nachsteuern. Wir wissen, dass die Sonderregelung für alle kurz befristet Beschäftigten in wenigen Monaten ausläuft, genau am 1. August. Es muss also gehandelt werden. Was fällt der Koalition dazu ein? Sie will im Wesentlichen alles beim Alten lassen. Eine kleine Änderung will sie allerdings vornehmen. Die zu berücksichtigende Beschäftigungsdauer soll von sechs auf zehn Wochen erhöht werden. Das ist lächerlich. Sämtliche Stellungnahmen von Verbänden und Gewerkschaften, die seit langem auf dem Tisch liegen, belegen, dass bei der Verlängerung der Frist auf zehn Wochen kaum mehr Menschen in den Genuss von Arbeitslosengeld I kommen würden. Die Ignoranz, die Sie gegenüber den Betroffenen an den Tag legen, hat mich sehr überrascht. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Ich kann an die Koalition nur appellieren, ihre Pläne noch einmal zu überdenken. Die Anhörung in wenigen Wochen wird Gelegenheit dazu geben. Noch ein Wort zum Antrag der Grünen. Ich freue mich über diesen Antrag. Ihr Vorschlag geht total in die richtige Richtung. Rechnerisch kommen wir zum gleichen Ergebnis. Es ist egal, ob sechs Monate Beschäftigung in drei Jahren oder vier Monate Beschäftigung in zwei Jahren nötig sind, um Arbeitslosengeld I zu erhalten. Das wird auch von den Verbänden so gesehen. Ich glaube, das ist eine gute Basis. Um das umzusetzen, werden wir bestimmt zusammenkommen. Auch den Antrag der Fraktion der Linken, der mich heute erreicht hat, kann ich nur begrüßen. Wir stimmen in vielen Punkten überein. Vizepräsidentin Petra Pau: Frau Kollegin Krüger-Leißner, können Sie die weitere Beratung dieser Anträge jetzt tatsächlich in die Ausschüsse verlegen? Ihre Redezeit ist überschritten. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Ich möchte der Koalitionsfraktion noch etwas ans Herz legen: Nehmen Sie die Veränderung der Arbeitswelt zur Kenntnis. Überdenken Sie Ihren Vorschlag noch einmal, und passen Sie ihn der Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Menschen, die kurzfristig beschäftigt sind, an! Danke. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Linnemann für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über drei Anträge, Frau Krüger-Leißner. Auch die Linken haben einen Antrag gestellt. Es geht um das Thema Arbeitslosenversicherung. Der Vorwurf lautet, dass die Schutzfunktion in der Arbeitslosenversicherung nicht ausgeprägt genug ist. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Genau so ist es!) Frau Krüger-Leißner, gestatten Sie mir, bevor ich auf den Antrag der Grünen und der Linken eingehe, eine grundsätzliche Bemerkung. Es ist schon ein bisschen grotesk; denn dies ist der zweite Aufschlag, den Sie in diesem Jahr machen, um Ihre Arbeitsmarktreformen zurückzudrehen. Auch im Tennis gibt es zwei Aufschläge. Der erste wird nicht auf Sicherheit gespielt, sondern mit vollem Risiko, der zweite aber auf Sicherheit. Sie spielen meiner Meinung nach beide mit vollem Risiko (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Ich nicht! Ich bin nicht der Meinung!) und setzen damit die arbeitsmarktpolitischen Erfolge dieses Landes aufs Spiel. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Nein!) Anfang Januar war es die Rente mit 67, die Sie infrage gestellt haben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Leider nicht!) Wir haben groteskerweise Herrn Müntefering in Schutz genommen und an dem festgehalten, was wir gemacht haben. Mit dem zweiten Aufschlag wollen Sie heute eine weitere wichtige Arbeitsmarktreform zurückdrehen. (Katja Mast [SPD]: Setzen Sie sich doch einmal inhaltlich mit dem Antrag auseinander!) Noch grotesker wird es, wenn man sich die erfolgreiche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ansieht. Dieser Erfolg wird insbesondere im internationalen Vergleich deutlich; denn Sie müssen lange suchen, um Vergleichszahlen anderer Länder zu finden, die auf eine zumindest ansatzweise so erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik wie die unsrige hindeuten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist übrigens Ausdruck von Verantwortung: Wir haben damals, bei den Hartz-Reformen, konstruktiv mitgemacht. 2005, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, haben wir diese Arbeitsmarktpolitik zusammen mit der FDP konsequent und sehr erfolgreich fortgeführt. Das ist meiner Meinung nach Ausdruck von Verantwortung, und die Zahlen sprechen Bände. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Sie machen Kahlschlag bei der Arbeitsmarktpolitik!) – Nein. Wir können gerne auf die konkreten Vorschläge eingehen. Das war nicht einfach. Das ist eine komplizierte Materie, gerade wenn es um die Finanzierung geht. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Aber wir haben es einfach gemacht!) – Sie haben es einfach gemacht. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP], an die Abg. Angelika Krüger-Leißner [SPD] gewandt: Sie haben es sich einfach gemacht! Das ist sicher richtig!) Frau Krüger-Leißner, jetzt hören Sie doch erst einmal zu. Sie haben es gemacht, über Finanzierung lese ich in Ihrem Antrag aber überhaupt nichts. Von den Linken höre ich auch nichts zur Finanzierung. Frau Pothmer, ich freue mich auf Ihren Beitrag. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ich aber nicht!) Sie können mir ja einmal sagen, wie Sie das finanzieren wollen. Das müssen die Beitragszahler übernehmen. Nach seriösen Schätzungen kostet Ihr Vorschlag über eine halbe Milliarde Euro. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 240 Millionen, Herr Linnemann!) – Darüber können wir gleich reden. – Der Vorschlag der Linken soll 0,7 Milliarden Euro kosten. Jetzt einmal konkret zu Ihrem Vorschlag. (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Wie viel Hartz IV zahlen Sie denn dafür?) – Jetzt hören Sie doch erst einmal zu. Sie haben doch gleich das Wort. – Sie sagen – das ist der Kerngedanke Ihres Vorschlages –: Es ist nicht gut, dass viele Arbeitnehmer, die arbeitslos werden, zurück in Hartz IV rutschen. Das sind mehr geworden. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Obwohl sie zahlen!) – Obwohl sie zahlen. Da haben Sie völlig recht. Im Zeitraum von 2009 bis 2011 gab es eine Steigerung um 15 Prozent. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Das muss man dazusagen!) – Ja, aber das ist nur die halbe Wahrheit. – Sie unterstellen, dass die Zahl derjenigen, die aus dem Hartz-IV-System in den Arbeitsmarkt gewandert sind, gleichgeblieben ist. Das ist aber falsch. Ich habe Ihnen die Zahlen einmal mitgebracht. Im letzten Jahr sind 920 000 Menschen aus dem Hartz-IV-System in den ersten Arbeitsmarkt gewandert. Im Jahr 2009 – das ist ein Vergleichswert – waren das 730 000 Menschen. Das entspricht einer Zunahme um 26 Prozent. Das steht im Gegensatz zu der vorhin genannten Zunahme um 15 Prozent. Es wandern also mehr Menschen aus dem Hartz-IV-System in den ersten Arbeitsmarkt als zurückgehen. Das heißt, Sie ziehen die falschen Schlüsse. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Und die Aufstocker?) Sie müssen doch sehen, dass erstens die Chance für Langzeitarbeitslose, einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, noch nie so groß war wie heute. Sie ist nicht groß genug, aber die Zahlen sprechen Bände. Zweitens muss es jetzt unsere Aufgabe sein, uns die Frage zu stellen, wie diese Menschen im ersten Arbeitsmarkt bleiben und nicht wieder zurückkommen. Das ist doch die zentrale Frage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir dürfen kein neues Sozialsystem schaffen oder Menschen alimentieren, sondern wir müssen versuchen, den Menschen im ersten Arbeitsmarkt eine Perspektive zu geben. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Jetzt bin ich aber auf Ihre Vorschläge gespannt!) Ich habe mich gestern lange mit Herrn Alt von der Bundesagentur für Arbeit unterhalten, der das bestätigt hat. Das ist das Problem. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er sagt, man muss unbedingt eine neue Regelung schaffen!) Ich freue mich auf Vorschläge, wie man die Menschen im ersten Arbeitsmarkt halten kann. Wir müssen die Menschen intelligenter betreuen, intelligenter coachen und sie auch dann, wenn sie einen Beruf oder auch nur einen Job haben, noch weiter betreuen. (Katja Mast [SPD]: Machen Sie doch einmal Vorschläge!) Zum Schluss zu Ihrem konkreten Vorschlag mit der Sechs-Wochen-Frist, Frau Krüger-Leißner: Es gibt eine Studie, die besagt, dass 80 Prozent der Kulturschaffenden, Schauspieler und anderen Personen, die in diesen besonderen Bereich fallen, Verträge haben, die auf zehn Wochen befristet sind. Wir haben uns jetzt die Monitoringberichte angesehen und festgestellt, dass es Nachbesserungsbedarf gibt. Deswegen haben wir diese Monitoringberichte gemacht. Diese Nachbesserungen werden wir jetzt vornehmen. Karl Schiewerling und Johannes Vogel haben mir das gerade bestätigt. Wir werden auf diese Studie reagieren und die Sechs-Wochen-Befristung auf zehn Wochen erhöhen. Ich denke, das klappt noch vor dem Sommer. (Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Diese Studie können Sie mir einmal im Ausschuss zeigen! Wir haben ganz andere Untersuchungen!) – Frau Krüger-Leißner, das ist das Problem: Bei uns gilt das Prinzip Zielgenauigkeit. Bei Ihnen gilt das Prinzip Gießkanne. (Katja Mast [SPD]: Schicken Sie sie einfach vorbei!) Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor einiger Zeit haben wir uns mit Beschäftigten aus der Film- und Fernsehindustrie getroffen. Sie alle berichteten mir von ein und demselben Problem: Sie zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein, erhalten aber, wenn sie arbeitslos werden, kein Arbeitslosen-geld I, sondern fallen sofort in Hartz IV, und das ist ungerecht. (Beifall bei der LINKEN) Meist sind ihre befristeten Beschäftigungen zu kurz, um die entsprechenden Versicherungszeiten zusammenzubekommen. Das heißt, jedes Mal, wenn sie keinen Job haben, müssen sie ihre Finanzen offenlegen, werden zu sinnlosen Bewerbertrainings oder zur Arbeit in Callcentern gezwungen. Das ist unzumutbar und geht völlig an der Berufsbiografie vorbei. (Beifall bei der LINKEN) Es geht hier nicht allein um eine Berufsgruppe. Es geht um ein allgemeines Problem, das wir in Deutschland haben. Die Arbeitslosenversicherung hat nicht die Schutzfunktion, die sie haben sollte. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit rutscht inzwischen jeder vierte Erwerbslose direkt in Hartz IV. Wir Linke machen in unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge, wie der Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtert werden kann. (Beifall bei der LINKEN) Wir sollten uns aber auch einmal fragen: Wie konnte es so weit kommen? Da müssen wir in das Jahr 2002 zurückgehen, als die damalige rot-grüne Bundesregierung mit den Hartz-IV-Gesetzen die Weichen auf dem Arbeitsmarkt in eine völlig falsche Richtung gestellt hat. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Frau Zimmermann, ja!) – Frau Pothmer, auch Sie waren dabei. – Seitdem sprießen nämlich prekäre Beschäftigungsverhältnisse und kurzfristige Beschäftigungen wie zum Beispiel Leiharbeit und Minijobs wie Pilze aus dem Boden. Auf der anderen Seite ist die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung eingeschränkt worden; denn die Rahmenfrist, also der Zeitraum, in dem Beschäftigte Ansprüche auf das Arbeitslosengeld I erwerben können, wurde von drei auf zwei Jahre verkürzt. Das war Ihr Verdienst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke fordert eine grundlegende Korrektur dieser Fehlentscheidungen. (Beifall bei der LINKEN) Völlig unzureichend sind in jedem Fall die heutigen Sonderregelungen für kurzzeitig Beschäftigte. Eigentlich sollten kurzzeitig Beschäftigte bereits dann Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie sechs Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, also nicht zwölf Monate, wie regulär vorgesehen. Es gibt jedoch zwei Fußangeln, die eine Mehrzahl der Betroffenen ausschließen: zum einen die willkürliche Verdienstgrenze von derzeit monatlich etwa 2 600 Euro brutto. Wenn jemand mehr verdient, dann hat er Pech und bekommt kein Arbeitslosengeld. Zum anderen ist im Gesetz festgelegt, dass nur diejenigen Arbeitslosengeld erhalten, deren Beschäftigungsverhältnisse mehrheitlich jeweils nicht länger als sechs Wochen dauern. Hat jemand sechs Wochen und einen Tag gearbeitet, hat er auch Pech. Diese restriktiven Zugangsbedingungen führen zu abstrusen Situationen; denn viele Beschäftigte sind einerseits nicht lange genug beschäftigt, um regulär Arbeitslosengeld zu erhalten, aber andererseits zu lange, um die Sonderregelung zu nutzen. Beispiele dafür gibt es genug: in der Leiharbeit, in der Gastronomie, auch in der Wissenschaft, überall dort, wo Menschen in kurzzeitig befristeten Jobs arbeiten. Unsere Forderungen als Linke sind klar. Wir wollen erstens eine längere Rahmenfrist. Sie muss wieder drei Jahre statt zwei Jahre betragen. (Beifall bei der LINKEN) Wir fordern zweitens, in der derzeitigen Sonderregelung die restriktiven Zugangsbedingungen der Verdienstgrenze und die Beschäftigungsdauer zu streichen; dies fordert auch die SPD. (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie unsere Vorschläge umsetzen würden, würden viele prekär Beschäftigte erstmals Zugang zum Arbeitslosengeld I erhalten. Wir sagen zugleich: Es gilt auch, die prekäre Beschäftigung zu bekämpfen. Wir können uns nicht damit abfinden, dass Millionen Menschen nur noch befristet, und das oft für kurze Zeit, beschäftigt werden. Wir brauchen gute und sichere Arbeitsplätze. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Anträgen der Opposition werden verschiedene Themen miteinander vermengt. Die Kollegin von der SPD hat eben den Fakt beschrieben – Kollege Linnemann hat es ein bisschen erläutert –, dass wir über eine grundsätzlich sehr gute Nachricht reden. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist die Situation unendlich gut: Beschäftigungsrekorde, Hunderttausende von Menschen bekommen eine neue Perspektive. Das führt natürlich auch dazu, dass Menschen, die langzeitarbeitslos und im Hartz-IV-System sind, erfreulicherweise häufiger den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen. Ja, nicht alle bleiben dann leider lange genug beschäftigt, um Ansprüche auf Arbeitslosengeld zu erwerben. Wir sollten uns überlegen, wie wir diesen Menschen eine Perspektive geben, dass sie nicht nur den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen, sondern auch im Arbeitsmarkt bleiben und eine Aufstiegsperspektive haben. Das ist richtig; darüber müssen wir gemeinsam nachdenken. Dieses Problem löst man aber nicht im Rahmen der Arbeitslosenversicherung, sondern zum Beispiel durch Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern; denn in Wahrheit spaltet ja in erster Linie fehlende Qualifikation den Arbeitsmarkt. Genau dort haben wir mit den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten angesetzt. Und genau da hätte ich mir dann eine Zustimmung von Ihnen gewünscht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition; wenn Sie sagen, dass Sie da etwas machen wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das war leider nicht der Fall. Stattdessen legen Sie uns hier Anträge zur Änderung der Arbeitslosenversicherung vor. Ich will kurz im Einzelnen darauf eingehen. Zuerst zu den Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Liebe Frau Kollegin Mast – Frau Kollegin Krüger-Leißner musste leider schon weg –, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hatte Besseres zu tun!) Sie machen hier in der Tat etwas Bemerkenswertes – Kollege Linnemann hat eben gesagt, es sei das zweite Mal in diesem Jahr; ich finde, gefühlt etwa das 223. Mal in dieser Legislaturperiode –: Sie wollen etwas zurückdrehen, das Sie im Rahmen der Agenda 2010 selber eingeführt haben. So langsam mache ich mir Sorgen, (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Armer Herr Vogel! Von der Sorge niedergedrückt!) ob da nicht eine Art milder Schizophrenie vorliegt, weil die SPD in der Regierung immer grundlegend etwas anderes denkt als die SPD in der Opposition. Besonders glaubwürdig ist das nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Wenn sich die Realität weiterentwickelt, muss man dazulernen! Das können Sie anscheinend nicht!) Sie wollen wieder einmal etwas zurücknehmen, das Sie im Rahmen der Agenda damals selbst eingeführt haben, Sie wollen statt der zweijährigen Rahmenfrist wieder die dreijährige Rahmenfrist. (Katja Mast [SPD]: Was wollen Sie gegen prekäre Beschäftigung tun?) Kollegin Krüger-Leißner hat das eben interessant begründet. Sie hat gesagt: Der Arbeitsmarkt hat sich gewandelt. (Katja Mast [SPD]: Ja!) Ich frage mich ernsthaft: Was hat sich seit 2009 in dieser Hinsicht Wesentliches auf dem Arbeitsmarkt verändert? (Katja Mast [SPD]: Prekarisierung von Arbeit! Befristete Beschäftigung!) Sie haben es damals selber eingeführt. Bis 2009 war das Arbeitsministerium SPD-geführt. Bis dahin sahen Sie keinen Handlungsbedarf. Schwupp, wenn Sie in der Opposition sind, muss man es natürlich wieder andersherum machen. Ein Argument dafür, was sich seit 2009 verändert hat – einmal abgesehen von der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt –, habe ich eben nicht gehört. Ich bin gespannt, ob dazu im Laufe der weiteren Beratung Ihres Antrags noch etwas kommt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Katja Mast [SPD]) Außerdem wollen Sie die Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte ändern. Diese muss es in der Tat geben. Ja, es gibt Arbeitsverhältnisse, zum Beispiel für Filmschaffende, die qua ihrer Natur kurzfristig sind. Das ist richtig; das sehen auch wir. Für diese muss es ein passgenaues Angebot in der Arbeitslosenversicherung geben. Aber warum Sie die Verdienstgrenze abschaffen wollen, ist mir, ehrlich gesagt, nicht ganz klar. Die Linken nennen die Verdienstgrenze sogar willkürlich. Es handelt sich sozusagen um eine besondere Regelung zugunsten einer Gruppe in der Versichertengemeinschaft; dies zahlt die gesamte Solidargemeinschaft. Warum man hier eine Verdienstgrenze einführen sollte, hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner, SPD, in der letzten Legislaturperiode in einem Brief ausgeführt (Pascal Kober [FDP]: Oh! Von der SPD war der? Aha!) – ich will das kurz vorlesen –: Die Sonderregelung greift nur zugunsten von Personen, die zuletzt ein Jahresentgelt erzielt haben, das nicht über dem Durchschnitt aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegt. Damit vermeiden wir, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die … ein überdurchschnittlich hohes Jahreseinkommen erzielen, in ihren beschäftigungsfreien Zeiten zusätzlich Arbeitslosengeld erhalten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! Interessant!) Dieses müsste durch die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Teil mit einem geringen Jahreslohn auskommen müssen, sowie durch deren Arbeitgeber finanziert werden. In meinen Worten: Wer überdurchschnittlich viel verdient, kann nicht auf besondere Solidarität bzw. eine Sonderregelung zulasten der gesamten Solidargemeinschaft hoffen. Das funktioniert nicht. (Katja Mast [SPD]: Das werden wir in der Anhörung erfahren!) Wer überdurchschnittlich viel verdient, erfährt also keine besondere Behandlung durch die Solidargemeinschaft. Dazu sollten Sie sich in meinen Augen weiterhin bekennen. (Katja Mast [SPD]: Abwarten!) In der letzten Legislaturperiode haben Sie das noch verstanden; Ihr eigener Staatssekretär hat das ausgeführt. Jetzt sagen Sie, das sei nicht mehr nötig. Eine Begründung habe ich dafür nicht gehört, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. (Katja Mast [SPD]: Abwarten! Wir werden ja eine Anhörung haben!) Jetzt will ich zum Antrag der Grünen kommen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo! – Gegenruf des Abg. Pascal Kober [FDP]: Na ja! Ob der so „Bravo“ ist, weiß ich nicht!) Liebe Frau Kollegin Pothmer, man muss sagen: Sie lassen wenigstens den populistischen Unsinn im Zusammenhang mit der Rahmenfrist. Sie greifen zu Recht einen anderen Punkt auf und suchen eine Antwort auf die Frage: Was machen wir für diejenigen, die qua Natur ihres Beschäftigungsverhältnisses (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immerhin: Sie haben es verstanden, Herr Vogel!) – ja, das habe ich verstanden – eine Sonderregelung brauchen? (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann ich Ihnen erklären!) Nur, eines verstehe ich nicht: Warum wollen Sie auch gleich eine Vermittlungspause einführen? Sie wollen, dass die Menschen dann gar nicht mehr vermittelt werden. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Falsch!) Dadurch wollen Sie, wie Sie schreiben, neue Optionen schaffen. Mir ist nicht ganz klar, was das bedeuten soll. Ich wäre wirklich froh, wenn Sie das gleich erklären würden. Normalerweise funktioniert Vermittlung so, dass sich zwei Beteiligte bemühen, den Zustand der Arbeitslosigkeit zu beenden: der Betroffene selbst und die Bundesagentur für Arbeit. Wenn Sie die Bemühungen der Bundesagentur streichen, dann sind es nicht mehr zwei, die sich bemühen, sondern dann ist es nur noch einer. Wie dadurch mehr Optionen und bessere Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt geschaffen werden sollen, ist mir nicht einsichtig. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir das gleich erklären würden, Frau Kollegin Pothmer. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freiberufler! Selbstständige!) Grundsätzlich muss ich sagen: Ja, es gibt, zum Beispiel in der Filmindustrie – heute Abend findet die Berlinale statt; es ist ja kein Zufall, dass wir heute über dieses Thema diskutieren, wenn ich das so sagen darf –, Menschen, für die qua Natur ihres Beschäftigungsverhältnisses eine Sonderregelung gilt. In diesem Bereich gibt es nämlich viele Jobs, die befristet sind, und zwar deshalb, weil auch die entsprechenden Projekte befristet sind. Diesen Menschen müssen wir ein Angebot machen. Aber: Rot-Grün hat das nie für nötig gehalten; das muss man dann eben ehrlicherweise auch sagen. Erst die Große Koalition hat hier eine Sonderregelung eingeführt; der Kollege Linnemann hat eben darauf hingewiesen. Es ist nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als würden wir nicht wissen, dass diese Regelung im August dieses Jahres ausläuft. Nein, wir haben in der Koalition schon vereinbart, diese Regelung zu verlängern. Im Rahmen dieser Verlängerung wollen wir die Situation zudem an einer entscheidenden Stelle verbessern. Wir wollen die zugrunde liegende Beschäftigungsdauer von sechs auf zehn Wochen erhöhen. Das ist nämlich die entscheidende Stelle, an der es in der Vergangenheit Probleme gab, weil die bestehende Regelung nicht passgenau war. Die neue Regelung werden wir zudem zunächst evaluieren, bevor wir an der Systematik der Arbeitslosenversicherung etwas Grundlegendes ändern. Ich kann nur festhalten: Die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Linken betreiben wieder einmal nur Selbstbeschäftigungstherapie im Zusammenhang mit der Agenda 2010. (Katja Mast [SPD]: Nein! Wir werden den Sachverständigen zuhören!) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, beschäftigen sich zwar mit einem realen Problem, mit einer realen Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben für dieses Problem aber schon eine bessere Lösung gefunden. Deshalb glaube ich, dass es für Ihren Antrag – ich denke insbesondere an den mir nicht einsichtigen Unsinn im Zusammenhang mit der Vermittlungspause – keine Notwendigkeit gibt. Auf die weitere Diskussion im Ausschuss freue ich mich. Vor allem von der SPD würde ich gerne weitere Begründungen hören. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Arbeitslosenversicherung orientiert sich nach wie vor an dem alten Bild des Normalarbeitsverhältnisses. Sie ist dazu da, langjährig Beschäftigten ein Minimum an Sicherheit zu geben. Ich würde sagen: Das tut sie. Aber, Herr Linnemann: Bei allen Erfolgen in der Arbeitsmarktpolitik muss man zur Kenntnis nehmen, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt grundlegend verändert hat. Die Hälfte aller neu begründeten Beschäftigungsverhältnisse ist inzwischen befristet. Die Leiharbeit hat exorbitant zugenommen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Besser als gar keine Arbeit!) Projektarbeit und Kurzzeitmanagement sind Arbeitsverhältnisse, die nicht nur bei Kreativen, sondern auch bei Nachwuchswissenschaftlern sowie bei Journalistinnen und Journalisten vorkommen. Auch deren Arbeitsalltag ist davon geprägt. Sie alle sind im Falle der Arbeitslosigkeit ungeschützt. Im Jahr 2010 – hören Sie sich diese Zahl einmal an – wurde der Antrag auf Arbeitslosen-geld I bei 120 000 Menschen abgewiesen, weil sie die Rahmenbedingungen nicht erfüllt haben. Daran sehen Sie, über welche Dimension Sie reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Zum Thema Zielgenauigkeit will ich Ihnen einmal etwas sagen: Ihre Regelung hat genau 242 Menschen getroffen. Das ist Zielgenauigkeit à la FDP und CDU/ CSU. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES  90/DIE GRÜNEN und der SPD – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Frau Kollegin, wie war das denn zu Zeiten der Großen Koalition? Sie haben gar nichts geregelt! Warum hat Rot-Grün gar nichts geregelt? – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kümmerlich!) Meine Damen und Herren, die Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass Leute in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, aber keinen Cent daraus bekommen, weil die Bedingungen dazu führen, dass sie durch den Rost fallen. Hier besteht eine riesengroße Gerechtigkeitslücke, und diese Situation müssen wir korrigieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE]) Genau hier verweigern Sie sich. Weder schieben Sie den ausufernden befristeten Beschäftigungsverhältnissen, der Leiharbeit etc. einen Riegel vor noch sorgen Sie dafür, dass die betroffenen Menschen im Falle der Arbeitslosigkeit wenigstens einigermaßen abgesichert sind. Sie lassen die Leute wirklich im Regen stehen. Die Erkenntnis, dass Ihre Sonderregelung unwirksam ist, haben Sie nicht etwa erst jetzt nach der Evaluierung gewonnen. Ich hatte vor zwei Wochen wirklich ein Erlebnis der dritten Art. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Zuruf von der FDP: In Ihrer Fraktion?) Auf einer Podiumsdiskussion haben sich Filmschaffende zu Recht darüber beklagt, dass die Regelung, die Sie angeblich für sie getroffen haben, unwirksam ist. Auf dieser Veranstaltung war auch Frau Connemann, die heute leider nicht hier ist. Sie hat sich nicht im Geringsten erstaunt gezeigt. Sie hat nämlich ganz unumwunden zugegeben, dass sie bereits bei der Schaffung der Regelung fest davon überzeugt war, dass diese Regelung unwirksam ist. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenigstens ehrlich!) Meine Damen und Herren, das war ein Gesetz für die Galerie, und Sie sind im Begriff, ein zweites Gesetz für die Galerie zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) So schafft man Politikverdrossenheit. Ich fordere Sie deswegen auf: Schaffen Sie eine praxistaugliche Regelung, mit der wirklich auch den 120 000 Menschen, die derzeit durch den Rost fallen, ein Angebot gemacht wird. Ihr Angebot, die Sechs-Wochen-Regelung auf zehn Wochen auszuweiten, wird daran nichts Grundlegendes ändern. Herr Vogel, Sie haben unseren Antrag schon zitiert. Wir sagen, wir machen eine unbürokratische, einfache und realitätstaugliche Regelung. Für Sie komme ich jetzt noch einmal ganz kurz zur Vermittlungspause. Sie haben hier ja schon einige der von Kurzzeitbeschäftigungsverhältnissen Betroffenen genannt. Was macht es für einen Sinn, wenn ein Filmschaffender, der nach einem Engagement arbeitslos wird, in ein Bewerbungstraining und ähnliche Maßnahmen geschickt wird? Diese Zeit muss er in Absprache mit der Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter dazu nutzen, sich eine neue Perspektive zu schaffen und ein neues Engagement zu besorgen. Hier kann man mit einer Vermittlungspause erstens Geld sparen und zweitens die Betroffenen darin unterstützen, sich selber ein neues Angebot zu organisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Die Vermittlungspause gilt für alle, Frau Kollegin, nicht nur für Filmschaffende!) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Pothmer, kommen Sie bitte zum Schluss. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. Verehrte Abgeordnete der Regierungsfraktionen, die Sonderregelung läuft im Sommer aus. Die Vorschläge der Opposition liegen auf dem Tisch. Die Einzigen, die die Hausaufgaben nicht gemacht haben, sind Sie, und das finde ich verantwortungslos. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Vorrednerin hat ausgeführt, sie habe ein Erlebnis der dritten Art gehabt. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Frag sie doch einmal, warum Rot-Grün gar nichts gemacht hat!) Liebe Frau Pothmer, ich hatte gestern auch ein Erlebnis der dritten Art. Ich habe meine Zeitung aufgeschlagen und sah darin eine ernst schauende Brigitte Pothmer. Daneben las ich einen Kommentar der B.Z.: Schlimm genug, dass sich viele Menschen von Job zu Job hangeln müssen. Noch schlimmer ist die Konsequenz, die SPD und Grüne ziehen: Statt dafür zu kämpfen, dass aus Kurzzeit- wieder Dauerarbeitsplätze werden, zementieren sie mit einer Ausweitung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld genau jenen Zustand: Firmen wird es umso leichter fallen, Jobs zu befristen. Und um all das zu finanzieren, werden die Beiträge steigen. Die Diagnose ist richtig, die Medizin … falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir diskutieren heute Anträge der Grünen, der SPD und der Linken zur Veränderung des Arbeitslosengeld-I-, aber auch des ALG-II-Bezuges. Das ist abermals, wie die Vorredner bereits zum Teil ausgeführt haben, alter Wein in neuen Schläuchen. Man kann es auch anders sagen: Das ist ein wunderschön geschnitztes trojanisches Pferd. Es klingt gut, zu sagen: Jeder, der arbeitslos wird, soll möglichst bald einen Anspruch auf ALG I, also 60 Prozent seines letzten Einkommens haben. – Das klingt toll, aber Sie lassen in Ihren Anträgen vermissen, wie Sie das finanzieren wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Frau Kollegin Krüger-Leißner hat ausgeführt: Bei kurzfristiger Beschäftigung besteht kein Anspruch auf ALG I, auch wenn regelmäßig Beiträge gezahlt wurden. Nun erklären Sie mir doch einmal, wie bei einer Beschäftigungszeit von vier Monaten regelmäßig Beiträge gezahlt werden, die einen der Gemeinschaft gegenüber zu rechtfertigenden Anspruch auf ALG-I-Bezug begründen können. Das funktioniert nicht. Da in Ihrem Antrag nicht steht, wie Sie das finanzieren wollen – es lässt sich trefflich darüber streiten, ob wir nun über 300 oder 500 Millionen Euro reden; das werden wir in der Anhörung im Ausschuss sicherlich kontrovers diskutieren müssen –, gibt es die Möglichkeit, das Geld woanders einzusparen oder die Beiträge zu erhöhen. Das kann man tun. Von Beitragserhöhungen steht in keinem der Anträge etwas. Das heißt, das Geld wird irgendwo eingespart werden müssen. Wo kann man das Geld einsparen? Bei den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen. Das heißt, es geht hier um den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit. Genau das wollen wir nicht. Sie kommen zu dem Ergebnis: 50 Prozent der Geringqualifizierten beziehen ALG II. So steht das in dem Antrag der SPD. Das heißt, 50 Prozent der Geringqualifizierten erhielten einen Anspruch auf den Bezug von ALG I, wenn sie denn tatsächlich arbeitslos würden oder im Beruf blieben. Hier geht es um eine Veränderung am Arbeitsmarkt. Von allen Vorrednern der Opposition wurde hier eben ausgeführt: Es hat maßgebliche Veränderungen am Arbeitsmarkt gegeben. – Ja, das stimmt. Der Beschäftigungsboom ist auch bei den Langzeitarbeitslosen angekommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Kehrseite der Medaille ist, dass jemand nach ein paar Monaten in Arbeit als Langzeitarbeitsloser noch nicht die Ansprüche hat wie derjenige, der nur kurz arbeitslos war und danach wieder in Lohn und Brot vermittelt wurde. Genau das sind die 25 Prozent, von denen Sie mit Krokodilstränen in den Augen in Ihrem Antrag schreiben und sagen: Jawohl, 25 Prozent rutschen direkt in den Wirkungskreis von SGB II. – Das sind aber größtenteils Mitbürgerinnen und Mitbürger, die vorher lange Jahre keine Beschäftigung gehabt haben. Das sollte man den Leuten ehrlicherweise sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt komme ich zu meinen Freunden von der SPD. Kollege Vogel und Kollege Linnemann haben darauf hingewiesen: Sie machen abermals einen Kehrtschwenk von Ihren an sich sehr vernünftigen Reformen. Das, was Sie damals mit der Agenda 2010 von Schröder/Fischer gemacht haben, war gar nicht so dumm. Aber wenn Sie jetzt alles vergessen wollen, was Sie in der Vergangenheit auf den Weg gebracht haben, dann gibt das schon erheblichen Grund zur Sorge. Das, was alle Experten von den überschuldeten Ländern in Südeuropa jetzt fordern, arbeitsmarktpolitische und sozialpolitische Reformen anzugehen, haben Sie mit den Grünen zum Glück zusammen auf den Weg gebracht. Wir haben zugestimmt. Aber jetzt wollen Sie all das wieder vergessen. Die Erfolge, die es uns ermöglicht haben, die Krise so gut zu überstehen, wie wir sie überstanden haben, wollen Sie vergessen machen. Hier handelt es sich abermals um einen Fall kollektiver Amnesie bei den Genossinnen und Genossen von der SPD. So geht das natürlich nicht. (Zurufe von der SPD: Oh! – Katja Mast [SPD]: Das machen wir in der Anhörung!) Ich will aus dem Schreiben eines Staatssekretärs zitieren. Das ist nicht von Staatssekretär Brauksiepe, sondern es ist von einem seiner Vorgänger: Eine weitergehende Ausdehnung des Sechs-Wochen-Zeitraums – hier geht es um die Künstlerregelung –, wie dies insbesondere die Verbände der Kulturschaffenden gefordert haben, ist sowohl aus arbeitsmarktpolitischen als auch aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen. Arbeitsmarktpolitisch führt eine Ausdehnung der als kurz befristet geltenden Beschäftigungen zu Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber Saisonarbeitnehmerinnen und Saisonarbeitnehmern, die regelmäßig Beschäftigungen zwischen sechs und acht Monaten ausüben. Jetzt raten Sie einmal, wer das geschrieben hat. Das war der bereits vorhin vom Kollegen Vogel zitierte Staatssekretär Klaus Brandner. Der Mann hat recht. Gleichwohl ist uns in enger Übereinstimmung mit unserer Koalitionsspitze das Anliegen der Kulturschaffenden ein großes Anliegen. Kollege Linnemann hat schon darauf hingewiesen: Wir werden überprüfen, ob gerade im Bereich der Kulturschaffenden die Beschäftigungszeiten von derzeit sechs Wochen ausgeweitet werden können und zehn Wochen möglich sind, sodass wir soziale Härten abfedern können. Aber das Moratorium, das auch die Grünen fordern, dass man sich nicht vermitteln lassen muss, wenn man arbeitslos wird, konterkariert Ihre bisherige, an sich erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik, die Sie seinerzeit noch unter der Schröder-Regierung auf den Weg gebracht haben. Wir werden dies nicht mitmachen. Wir werden die Anhörung konstruktiv begleiten. Aber ich glaube – dafür muss ich kein Augur sein –, dass in den Anträgen nicht so viel enthalten ist, dass wir ihnen zustimmen können. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Lehrieder, meine ausdrückliche Anerkennung für die Einhaltung der Redezeit ohne irgendeine Ermahnung! Ich bitte bei den folgenden Tagesordnungspunkten darum, uns das Geschäft hier vorne auch in dieser Weise zu erleichtern. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8574, 17/8579 und 17/8586 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern – Drucksache 17/8451 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte jetzt die Kolleginnen und Kollegen, die nicht bei uns bleiben können, dafür zu sorgen, dass wir genügend Aufmerksamkeit für die Debatte haben. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Helga Daub für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Helga Daub (FDP): Frau Präsidentin! Kollegen und Kolleginnen! Jeder neunte Arbeitsplatz in Deutschland hängt inzwischen vom Tourismus ab – Tendenz steigend, hieß es jüngst im Tourismusbericht. Damit wurde in einem Jahr ein Einkommen von etwa 97 Milliarden Euro geschaffen. Die Bedeutung des Tourismus für die deutsche Wirtschaft ist gestiegen und wird noch weiter steigen. Denken wir an Tourismus, so denken wir im Allgemeinen an Erwachsene, die touristische Angebote unterschiedlicher Art wahrnehmen. Kinder und Jugendliche hingegen werden als bedeutende Zielgruppe häufig unterschätzt. Jugendtourismus findet im Wesentlichen im Dreiklang Klassenfahrten, Jugendaustausch und Jugendherbergen statt. Das sind zweifellos wichtige Pfeiler, die jungen Menschen den Blick für Neues und anderes erweitern helfen. Die soziale Kompetenz wird gestärkt oder auch erst richtig erlernt; denn der Anteil der Einzelkinder unter den Jugendlichen steigt. Nie mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und aufnahmebereit wie gerade in der Jugend. Genau deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtourismus mehr in den Fokus zu nehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Besonders engagiert hatten sich in diesem Bereich in der Vergangenheit die Kirchen und Vereine. Sie erreichen aber heutzutage bei Weitem nicht mehr alle Schichten der Bevölkerung. Übrigens, als Jugendlicher mit den Eltern zu verreisen, ist völlig uncool. Noch uncooler sind allerdings Einrichtungen und Angebote, die den Charme einer vergangenen Zeit ausstrahlen. Dabei hat sich bei den Jugendherbergen bereits viel getan. Auch mit den vielen Hostels in den größeren Städten deutet sich eine leichte Trendwende zugunsten der Jugendlichen an. Um auch hier auf der Höhe der Zeit zu sein, hilft die öffentliche Hand bei notwendigen Finanzierungen. Die Deutsche Zentrale für Tourismus wird 2013 einen Themenschwerpunkt „Junges Reiseland Deutschland“ setzen. Eine interessante Initiative gibt es auch in Mecklenburg-Vorpommern mit McPom, einem speziellen Angebot für Klassen- und Jugendreisen. Das könnte auch für andere Bundesländer eine Anregung sein, Ähnliches zu organisieren. Denn Action am Strand, Rangertouren im Wald oder paddeln statt pauken kann man nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch anderswo machen. Es gibt noch sehr viel Potenzial. Wichtig dabei ist allerdings – darauf sollten wir großen Wert legen – die Möglichkeit der Teilhabe aller Jugendlichen, was natürlich auch die Barrierefreiheit einschließt. Das bedeutet aber eine ganz besondere Verantwortung und stellt daher beispielsweise an Unternehmen und Reiseleitungen hohe Anforderungen. Sie tragen auch die Verantwortung für Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung. Ein einheitliches Qualitätssiegel ist dabei hilfreich und ein guter Leitfaden für Eltern und Jugendliche. Eltern möchten nämlich gern wissen, ob sie ihre Kinder in gute Hände abgeben. Das Bundesforum Kinder- und Jugendreisen hat deswegen für die Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystems gesorgt und unsere Anerkennung verdient. Die positiven Rückmeldungen aus dem ganzen Land sprechen für sich. Mittlerweile sind nach Angaben des Forums über 400 Häuser in Deutschland daran beteiligt. Hinzu kommt noch eine Zertifizierung der Rahmenbedingungen für die Reisebegleiter. Diese ist absolut wichtig, denn die Jugendlichen brauchen eine gute Begleitung, die gleichzeitig Lernziele und Lerninhalte vermitteln kann. Wir wollen das Bundesforum Kinder- und Jugendreisen weiter in seiner Arbeit unterstützen. Wie überall im Leben gilt aber: Das Bessere ist der Feind des Guten. Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, gehört eine Internetplattform absolut dazu. Es gehört aber auch ein Internetzugang in den Einrichtungen für die Jugendlichen dazu. Der Kinder- und Jugendtourismus stellt andere Anforderungen als der Tourismus für Erwachsene. Darauf müssen wir uns zum Beispiel mit einer besseren Vernetzung der Vermittlung einstellen. Die Bundesregierung wird auch diesen touristischen Bereich weiter unterstützen, und zwar finanziell, aber auch dort, wo es gilt, ausgetretene Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Dort, wo der notwendige Dialog mit den Verbänden intensiviert werden kann und muss, werden wir das auch tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kinder oder die Jugendlichen, die lernen, über den Tellerrand hinauszusehen, sind ein Gewinn für die Zukunft. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Hiller-Ohm jetzt das Wort. (Beifall bei der SPD) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, es ist prima, dass wir heute über Kinder- und Jugendtourismus diskutieren. Das ist eine wirklich wichtige Sache. Umso mehr wundert es mich, dass Ihr Wirtschaftsminister zu diesem Thema nichts vorgelegt hat. Er ist doch zuständig für den Tourismus. (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Staatssekretär auch nicht! – Gegenruf des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Der Staatssekretär ist doch da!) Er könnte die Sache gleich richtig anpacken und den Kinder- und Jugendtourismus mit einer entsprechenden Vorlage ein ordentliches Stück voranbringen. (Beifall bei der SPD) Doch von Ihrem Minister Rösler höre und sehe ich nichts. Selbst bei diesem wichtigen Thema ist er heute nicht hier bei uns im Plenum. (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Er kann ja nicht an drei Stellen gleichzeitig sein!) Das ist für einen Wirtschaftsminister mehr als erstaunlich, denn der Tourismus ist mit rund 3 Millionen Beschäftigten und einer Wertschöpfung von fast 100 Milliarden Euro eine der wichtigsten Boombranchen in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, nun haben Sie Ihren Antrag vorgelegt, um den Minister in Sachen Kinder- und Jugendtourismus auf Trab zu bringen. Das ist an sich lobenswert. (Helga Daub [FDP]: Die Pferde laufen schon!) Ich kann mir jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, wie das mit Ihrem mehr als müden Papier gelingen soll. Sie haben 13 Forderungen an die Regierung aufgeschrieben. Nimmt man diese unter die Lupe, so wird sehr schnell deutlich: Hier fehlt der Tiger im Tank. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sie haben doch gar nichts aufgeschrieben!) Ich habe gerade einmal drei „harte“ Aufträge an die Regierung gefunden: Erstens. Sie soll eine Liste erstellen. Zweitens. Sie soll den internationalen Jugendaustausch weiter fördern. Drittens. Sie soll die Qualifizierung von Mitarbeitern und Ehrenamtlern weiter fördern. Dann kommt zehnmal „prüfen“, „anregen“, „hinweisen“ und „sich einsetzen“. Das ist kein Antrag, sondern ein echtes Armutszeugnis, was Sie hier abgeliefert haben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat der Kinder- und Jugendtourismus wirklich nicht verdient. (Beifall bei der SPD) Er braucht einen tatkräftigen Minister und starke Fraktionen, die Steine aus dem Weg räumen und es allen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, auch tatsächlich zu reisen. Wir haben im Vermittlungsausschuss für diese Kinder gekämpft und durchgesetzt, dass neben den Hartz-IV-Kindern weitere 500 000 Kinder aus einkommensschwachen Familien das Geld für Klassenfahrten erstattet bekommen. (Beifall bei der SPD) Für den Kinder- und Jugendtourismus brauchen wir natürlich auch gute, preiswerte Unterkünfte und hochwertige Bildungsangebote. Wir haben in Deutschland eine Vielzahl toller Einrichtungen wie die mehr als 400 Naturfreundehäuser und 530 Jugendherbergen. Ich greife hier einmal die Jugendherbergen heraus. Sie stehen seit mehr als 100 Jahren für preiswerten und pädagogisch-programmorientierten Jugendurlaub. Fast jeder Kollege und fast jede Kollegin dürfte eine solche Einrichtung im Wahlkreis haben und wird sie zu schätzen wissen. In meinem Wahlkreis in Lübeck an der Ostsee haben wir sogar zwei, und mit Glück kommt bald eine dritte hinzu. Prima, dass wir diese Häuser haben! Was machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen? Sie schlagen die so wichtige Förderung für die Jugendherbergen kurz und klein. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Sie haben beschlossen, dass die Jugendherbergen in diesem Jahr mit sage und schreibe 40 Prozent weniger Mitteln auskommen müssen. Ich wiederhole: 40 Prozent weniger. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist aber nicht in Ordnung, Herr Liebing!) Sie werden sich hoffentlich erinnern: Die SPD-Fraktion war es, die im Haushaltsausschuss Ende September beantragt hat, die Summe wieder zu erhöhen. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Aber ohne Deckung, einfach nur auf Pump! – Stephan Thomae [FDP]: Das waren Ihre Sparvorschläge!) Wir wollten den Jugendherbergen Planungssicherheit geben. Sie haben unser Anliegen nicht unterstützt und die Jugendherbergen eiskalt im Regen stehen lassen. (Beifall bei der SPD – Stephan Thomae [FDP]: Sie hatten viele tolle Sparvorschläge! – Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Nun mal halblang!) Das ist fatal; denn für Investitionen müssen Bund, Länder und die Träger der Häuser gemeinsam aufkommen. Fällt die Bundesförderung weg, können die Einrichtungen dies in der Regel nicht auffangen, und dann brechen auch die Mittel der Länder weg. Das ist das Aus für dringend erforderliche Investitionen, wie sie auch meine Kollegin Frau Daub eingefordert hat. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Malen Sie nicht den Untergang des Abendlandes an die Wand, Frau Hiller-Ohm!) So, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, sieht Ihr Engagement für den Kinder- und Jugendtourismus tatsächlich aus! Sie bringen nichts voran, nein, schlimmer noch: Sie schwächen den Kinder- und Jugendtourismus und zerstören Vertrauen. Das können Sie auch mit Ihrem schlappen Antrag nicht wiedergutmachen. Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich dafür ein, dass das nötige Geld vom Bund für den Kinder- und Jugendtourismus wieder bereitgestellt wird! (Beifall bei der SPD) Treten Sie Ihrem Minister Rösler kräftig auf die Füße, damit er endlich in die Gänge kommt! (Beifall bei der SPD) Wir werden einen Antrag zur Absicherung der Fördermittel vorlegen. Sie haben dann noch einmal die Chance, Ihre Kürzungsorgie zurückzunehmen. Warum ist Kinder- und Jugendtourismus so wichtig? Erstens. Reisen bildet. Junge Menschen lernen so ihr eigenes Land kennen, bei internationalen Jugendbegegnungen andere Länder und andere Kulturen. Zweitens. Reisen verbindet und macht toleranter. Gemeinsam auf Reisen zu gehen, schafft Verständnis füreinander und stärkt Toleranz gegenüber anderen Menschen und anderen Kulturen. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das haben Sie jetzt aus unserem Antrag abgeschrieben, nicht?) – Ich brauche nichts abzuschreiben; ich habe einen eigenen Kopf – im Gegensatz vielleicht zu Ihnen. Drittens. Reisen stärkt die persönliche Entwicklung. Kinder und Jugendliche erleben sich in einer neuen Rolle, werden so selbstbewusster, und ihr soziales Verhalten wird gefördert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rot-Grün hat es 2002 vorgemacht, wie man Kinder- und Jugendreisen richtig fördert. Wir haben den Aktionsplan zum Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland ins Leben gerufen. Wir haben zwei wichtige Grundlagenstudien finanziert. Wir haben eine bundesweite Zertifizierung von Kinder- und Jugendunterkünften für geprüfte Jugendreisequalität in Gang gesetzt. Wir haben Geld für Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveranstaltungen und Publikationen im Bereich Jugendbegegnungen und pädagogische Kinder- und Jugendreisen bereitgestellt. Dies müssen wir fortsetzen. Packen Sie es an, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, aber richtig und mit Power! (Beifall bei der SPD) Schon im kommenden Jahr stellt die Deutsche Zentrale für Tourismus das junge Reiseland Deutschland in den Mittelpunkt der Vermarktung. Tragen Sie dazu bei, dass diese Aktion zum Erfolg wird – für den Deutschlandtourismus und natürlich vor allem für die Kinder und Jugendlichen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. – Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ingbert Liebing. Bitte schön, Kollege Ingbert Liebing. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag zum Kinder- und Jugendtourismus rücken wir, die Koalitionsfraktionen, eine Branche in den Fokus, die oftmals unterschätzt wird. Dabei ist sie ein beachtliches Segment des Tourismus in unserem Land. Kinder- und Jugendtourismus umfasst einen Jahresumsatz von etwa 12 Milliarden Euro. Kinder- und Jugendreisen machen einen Anteil von 20 Prozent des Inlandstourismus aus. Allein Jugendherbergen verzeichnen über 10 Millionen Übernachtungen und einen Umsatz von insgesamt über 1 Milliarde Euro an Wertschöpfung, wie gerade eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendherbergswerkes ausdrücklich nachgewiesen hat. Wer von uns erinnert sich nicht gern an Aufenthalte in Jugendherbergen in seiner eigenen Jugendzeit, zum Beispiel bei Klassenfahrten, vielleicht mit Lagerfeuer und Gitarrenmusik? Mir liegen die Jugendherbergen besonders am Herzen, und zwar nicht nur deshalb, weil mein Wahlkreis der Wahlkreis mit den meisten, nämlich zwölf, Jugendherbergen ist, sondern auch, weil sie von einem großen ehrenamtlichen Engagement geprägt sind, das über 1 000 ehrenamtliche Mitarbeiter erbringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber der Blick auf den Kinder- und Jugendtourismus lohnt nicht nur wegen des wirtschaftlichen Aspektes, sondern es geht um mehr. Der Kinder- und Jugendtourismus hat pädagogische und soziale Bedeutung: zum einen im Inland, denn junge Menschen lernen auf diese Weise die eigene Heimat kennen und lieben, und zum anderen im Ausland, wo sie Kontakt mit anderen Nationen und Kulturen bekommen. Jugendtouristische Einrichtungen stellen sich dieser Herausforderung zum Beispiel mit gezielten Angeboten zur Förderung von gesunder Ernährung und Bewegung. Es gibt beispielsweise konsequent alkoholfreie Jugendherbergen, das heißt auch für erwachsenes Begleitpersonal. Die inhaltliche Ausgestaltung ist eine permanente Aufgabe, die darin besteht, mit attraktiven und sinnstiftenden Freizeitaktivitäten, mit Bildungs- und Erlebnisangeboten immer auf der Höhe der Zeit zu sein. Dies ist eine Aufgabe, der sich die Einrichtungen stellen. Die Bundesregierung unterstützt diesen Bereich nach Kräften. Die Ausfälle in Ihrer Rede, Frau Hiller-Ohm, in diesem Zusammenhang verstehe ich überhaupt nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das waren doch keine Ausfälle! – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das war die nackte Wahrheit!) Ich finde es bezeichnend, dass Sie rückwärtsgewandt vieles kritisieren und auch unseren Antrag in Grund und Boden verdammen, aber in Ihrer Rede nicht einen einzigen konkreten Vorschlag machen, was Sie anders oder besser machen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Der kommt ja noch!) Sie haben gerade nichts anderes als Mäkelei abgeliefert, Frau Hiller-Ohm. Die Bundesregierung unterstützt den Kinder- und Jugendtourismus in vielfältiger Form. Der Kinder- und Jugendplan des Bundes finanziert internationale Jugendreisen und den Austausch mit über 20 Millionen Euro sowie deutsch-französische und deutsch-polnische Jugendbegegnungen mit über 15 Millionen Euro und unterstützt das Deutsche Jugendherbergswerk, das die deutsch-israelischen Jugendbegegnungen organisiert. Außerdem unterstützen wir überregionale Jugendbegegnungsstätten mit 5 Millionen Euro im Bundeshaushalt. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Genau!) Die DZT wird 2013 das Themenjahr „Junges Reiseland Deutschland“ weltweit vermarkten, und zwar mit Unterstützung aus dem Bundeshaushalt, in dem wir die Finanzierung der DZT auf über 27 Millionen Euro aufgestockt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, dies ist ein ausdrücklicher Beweis dafür, dass die Bundesregierung dem Segment des Jugendtourismus große Aufmerksamkeit widmet und tatkräftige Unterstützung bietet. Viele Organisationen engagieren sich gerade in diesem Bereich vor allem für Qualitätssicherung und -steigerung. Ich nenne insbesondere das BundesForum Kinder- und Jugendreisen mit dem Qualitätsmanagementsystem QMJ, aber auch Klassifizierungsinitiativen zum Beispiel des Landesjugendringes Schleswig-Holstein. Meine Damen und Herren, das Ende des Zivildienstes hat auch im Bereich von Jugendbegegnungsstätten, Jugendherbergen eine neue Herausforderung mit sich gebracht. Allerdings war die Bedeutung des Zivildienstes schon deutlich gesunken; viele Einrichtungen hatten ihn gar nicht mehr genutzt. Umso positiver kommt dort jetzt der neue Bundesfreiwilligendienst an; er schafft neue Möglichkeiten gerade in Jugendeinrichtungen. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Voller Erfolg!) Auch in den Jugendherbergen sind die ersten Bufdis angekommen. Dies entwickelt sich zu einem Erfolgsmodell. Auch das haben wir als Koalition zusammen mit der Bundesregierung auf den Weg gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es geschieht also viel, aber es gibt auch noch einiges zu tun, auch in der Zuständigkeit der Bundesländer. Ich nenne zum Beispiel die Anregung, die wir in unseren Antrag mit aufgenommen haben, die Anerkennung von Auslandsschuljahren von Schülern stärker zu fördern, insbesondere durch die Anerkennung dieser Zeit für die eigene Schulzeit im Inland. Das ist durch die Verkürzung der Gymnasialschulzeit auf acht Jahre, die richtig war, schwieriger geworden, aber trotzdem sollte man die Möglichkeiten der Anerkennung dieser Auslandsjahre verbessern. Ich nenne des Weiteren die Klassenfahrten. Hier ist es sinnvoll, pädagogische Inhalte noch stärker in den Vordergrund zu stellen. Und ich nenne das Stichwort der Ausbildung von Jugendreiseleitern, in der die Themen von Gewalt, auch sexueller Gewalt, verstärkt einbezogen werden müssen. Wir erinnern uns an spektakuläre Schlagzeilen. Dies waren sicherlich spektakuläre Einzelfälle, aber auch jeder Einzelfall ist ein Fall zu viel. Deswegen lohnt es sich, in der Ausbildung von Jugendreiseleitern einen stärkeren Fokus auf diese Themen zu richten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegin Daub hat das Thema der Vermarktung angesprochen – die Internetplattform „Jugendtourismus in Deutschland“. Daran arbeitet die Branche seit langer Zeit selber, aber der große Durchbruch wurde noch nicht erreicht. Wir regen an, diese seitens des Bundes durch Kooperationen zu unterstützen. Meine Damen und Herren, Kinder- und Jugendtourismus ist ein Thema mit Zukunft für den Tourismusstandort Deutschland. Viele Familien machen dort Urlaub, wo sich die Eltern, als sie Kinder waren, wohlgefühlt haben, wo sie in ihrer Kindheit glücklich waren. Ich erlebe das gerade auf Sylt, wo ich zu Hause bin, sehr oft. Dort gibt es viele Jugendeinrichtungen, Schullandheime usw. Viele kommen mit ihren eigenen Kindern wieder und zeigen ihnen: Hier habe ich, als ich so alt war wie ihr, einmal Urlaub gemacht. – Die Förderung von Kinder- und Jugendtourismus ist also auch nachhaltig, weil sie über Jahrzehnte nachwirkt und so den Tourismusstandort Deutschland stärkt. Der Kinder- und Jugendtourismus zahlt sich über Jahrzehnte aus und verdient unsere Unterstützung. Über die Vorschläge in unserem Antrag intensiver zu diskutieren, lohnt, auch in der Ausschussberatung. Ich würde mich allerdings freuen, wenn wir das mit etwas mehr Tiefgang machen könnten, als es eben in Ihrem Beitrag der Fall war, Frau Hiller-Ohm. In diesem Sinne freue ich mich und hoffe auf eine breite Unterstützung für unsere Initiative in diesem Haus. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ingbert Liebing. – Der nächste Redner ist Kollege Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Kollege Dr. Seifert. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich Ihren Antrag in die Hände nahm, war ich richtig begeistert. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Wir auch! – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist ja ein dickes Lob!) Endlich, dachte ich, unterstützen uns die Koalitionsfraktionen bei der Förderung des Kinder- und Jugendtourismus. Klasse, dachte ich. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nach der Überschrift war Schluss!) Aber bedauerlicherweise – Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben recht – ging es dann mit dem Text los. Da kam nur noch der „Wirtschaftsfaktor“ Kinder- und Jugendtourismus vor. Herr Liebing, Sie haben hier vorhin gesagt, das Wichtigste sei der Umsatz von 12 Milliarden Euro. Wir sind hier aber nicht die Außenstelle von TUI oder Neckermann. Wir sind der Deutsche Bundestag. Beim Kinder- und Jugendtourismus müssen wir uns um etwas anderes kümmern. Wir dürfen nicht nur den Wirtschaftsfaktor Kinder- und Jugendreisen sehen, sondern beispielsweise auch den Bildungs-, den Erholungs-, den Gesundheits- und den Weltanschauungsfaktor. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, wir müssen uns um die Jugendherbergen kümmern. Wir müssen uns um die KiEZe, also die Kinder- und Jugenderholungszentren kümmern. Das müsste im Mittelpunkt eines Antrags stehen, der sich der Förderung und Unterstützung des Kinder- und Jugendtourismus widmet. Immerhin haben Sie unter Punkt sieben Ihres Forderungskatalogs gefordert, „die Qualifizierung von im Kinder- und Jugendtourismus tätigen Mitarbeitern und ehrenamtlichen Helfern weiter zu fördern“. Das ist positiv. Sie bekennen sich auch zum Ziel der Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus. Wunderbar! Aber Sie verschweigen ganz diskret, dass 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in diesem Land überhaupt nicht reisen können. Hier muss die Politik ansetzen und nicht da, wo es sowieso läuft. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt drei große Barrieren im Tourismus: die finanziellen, die kulturellen und die baulichen Barrieren. Auf meine Frage zu den finanziellen Barrieren antwortete Staatssekretär Hintze vor Monaten, dass Reisen nicht regelbedarfsrelevant sei. Also müssen die armen Leute und die Hartz-IV-Kinder zu Hause bleiben und können nicht reisen. Dann erklärte mir Staatssekretär Heitzer, dem ich vorgestern viele Fragen gestellt habe, auf die Frage, welche Erkenntnisse denn die Bundesregierung hinsichtlich des Reisens von Kindern mit Migrationshintergrund habe – hier sind wir bei den kulturellen Barrieren –, die Bundesregierung habe hierüber „weiterhin keine Erkenntnis“ und eine personengruppenspezifische Statistik gebe es nicht. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wollen Sie weiterentwickeln? Ich habe den Staatssekretär auch nach Erkenntnissen über die Teilhabe von Kindern mit Behinderungen am Tourismus gefragt. Die Antwort des Staatssekretärs war, der Bundesregierung lägen „keine Erkenntnisse“ vor und entsprechende Daten würden nicht erhoben. Und das wollen Sie weiterentwickeln? Wie soll das gehen, wenn Sie überhaupt nicht wissen, was Sie erreichen wollen? (Beifall bei der LINKEN) Ich empfehle Ihnen diesbezüglich einen Blick in die UN-Behindertenrechtskonvention. Da sind insbesondere die Art. 7, 24 und 30 zu nennen. Die Linke schlägt Ihnen vor: Setzen Sie die Losung „Reisen für alle“ um und denken Sie an die 30 Prozent Kinder und Jugendliche, die dies bis jetzt nicht können. Nicht nur der Markt, sondern auch – ich sage es noch einmal – Bildung, Erholung, Gesundheit und Weltanschauung sind wichtig. Machen Sie aus Klassenfahrten Bildungsaufträge! Machen Sie solche Fahrten zur Pflicht an Schulen! Sorgen Sie mit uns gemeinsam für einen Mix aus Objekt- und Subjektförderung, damit die armen Leute reisen und die KiEZe überleben können! (Beifall bei der LINKEN) Schließlich: Machen Sie Barrierefreiheit in allen Bereichen zum übergreifenden Prinzip unserer gemeinsamen Arbeit. Dann werden wir vorankommen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Seifert. – Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Markus Tressel. Bitte schön, Kollege Markus Tressel. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich außerordentlich, dass wir heute die Debatte über den Kinder- und Jugendtourismus in diesem Hause führen. Es ist eine ausgesprochen wichtige Debatte; denn – die Kollegin Hiller-Ohm hat es gesagt – Reisen bildet und Reisen trägt zu einer positiven Persönlichkeitsentwicklung bei. Wir haben im Jahr 2002 mit dem Aktionsplan eine gute Grundlage gelegt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Debatte ist aber nicht nur wichtig, weil der Kinder- und Jugendtourismus ein bedeutender Faktor der deutschen Reisebranche ist, sondern vor allem auch, weil die Debatte unter sozialen Aspekten geboten ist. Meine Vorredner haben es bereits angesprochen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt uns ganz schnell, wo die Probleme immer noch liegen. Die Zahlen muss man sich an dieser Stelle noch einmal deutlich vor Augen führen: Etwa 2,2 Millionen Kinder in diesem Land können nicht am Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen. Während die Urlaubsintensität der Deutschen ab 14 Jahren zunimmt, geht die Zahl der Urlaubsreisen mit Kindern bis zu 13 Jahren seit 1996 kontinuierlich zurück. Es können viel weniger Kinder aus einkommensschwachen Familien am Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen. Das größte Problem in diesem Bereich ist, dass das öffentlich geförderte Kinder- und Jugendreisen, insbesondere im Kontext der Kinder- und Jugenderholung, seit den 90er-Jahren rückläufig ist. Staatliche Förderungen im Kinder- und Jugendreisebereich sind um bis zu 30 Prozent gesunken. Die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen hat sich in den Jahren 2000 bis 2004 um 23 Prozent reduziert. Das sind eklatante Zahlen, die man in diesem Zusammenhang in der Debatte nennen muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aufgrund dieser Kürzungen besteht nicht nur die Gefahr, dass Kinder- und Jugendreisen teurer werden. Es besteht auch die Gefahr, dass sich die soziale Schere weiter öffnet. Das hat gerade gestern die GfK-Studie zum Tourismus noch einmal deutlich gemacht. Die soziale Schere öffnet sich. Wenn wir die Bedeutung – ich meine nicht nur die ökonomische – dieses Reisesegments wirklich ernst nehmen, dann muss sich die öffentliche Hand wieder stärker engagieren. Das fehlt in Ihrem Antrag komplett, liebe Kolleginnen und Kollegen. Darauf hat die Kollegin Hiller-Ohm hingewiesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wenn wir es schafften, die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen zu erhöhen, dann hätte es den schönen Nebeneffekt, dass man auch die innerdeutsche Reiseaktivität von Jugendlichen steigern könnte. Es wäre also nicht nur aus sozialen Aspekten sinnvoll, die eigene Region oder das europäische Umfeld in den Blick zu nehmen, insbesondere bei Klassenfahrten. Wir wissen, hier sind die Länder gefordert. Der eine oder andere hat aber durchaus Einflussmöglichkeiten in den Ländern. Ich glaube, das müssen wir auf die Agenda setzen. Angebote, wie etwa die der National- und Naturparke, der Jugendherbergen, der Schullandheime, müssen besser vernetzt und vermarktet werden. Hier braucht es eine bessere Koordinierung der Länder und entsprechende Angebote. Wir alle wissen, Mecklenburg-Vorpommern geht mit einem sehr guten Beispiel voran. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition – ich sage das jetzt freundlich, nachdem es in dieser Debatte so viele unfreundliche Worte gegeben hat –, Sie machen mit Ihrem Antrag einen Aufschlag. Der ist an vielen Stellen (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Gut!) sehr unkonkret und mit sehr vielen Prüfaufträgen versehen. Deswegen gibt es noch einiges zu tun. Es gibt aber auch Punkte, wo wir nah beieinander sind, etwa das Thema Qualifizierung von Jugendreiseleitern oder die Thematisierung von sexueller Gewalt in der Ausbildung von Jugendreiseleitern. Das haben Sie, Herr Kollege Liebing, auch angesprochen. Ich glaube, hier gibt es auch die Möglichkeit, sich zu einigen. Uns fehlen – das ist auch angesprochen worden – klare Anforderungen an die Bundesregierung. An vielen Stellen werden komplette Aspekte in Ihrem Antrag, wie etwa das Thema nachhaltige Mobilität oder Gesundheitsprävention, vollkommen ausgeblendet. Wir brauchen keine Prüfaufträge, sondern es muss gehandelt werden. Das ist die Devise. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage ganz deutlich – der Tourismusausschuss ist für seine konsensuale Arbeit bekannt –: Ihr Antrag braucht noch etwas Zuwendung und Konkretisierung seitens der Opposition. Wie wir das letztlich im Verfahren regeln, müssen wir sehen. (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Machen Sie Vorschläge! Bisher liegen von Ihnen keine auf dem Tisch! Herzlich willkommen!) – Lieber Herr Liebing, wir werden das diskutieren. Wir haben viele Vorschläge. Im Interesse der Sache wäre es mir am liebsten, wenn wir zu einem fraktionsübergreifenden Antrag kämen. Oder wir bringen einen eigenen Antrag ein. Wir haben viele Vorschläge. Die werden wir dem Ausschuss unterbreiten, und dann können wir noch einmal diskutieren. In diesem Sinne, vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ingbert Liebing [CDU/ CSU]: Herzlich willkommen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Markus Tressel. – Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/ CSU unser Kollege Klaus Brähmig. Bitte schön, Kollege Klaus Brähmig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klaus Brähmig (CDU/CSU): Hochgeschätzter Herr Präsident Oswald! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Art und Weise, wie, wohin und mit wem wir in Kindertagen und in unserer Jugend verreisen, prägt für gewöhnlich unser gesamtes späteres Reiseverhalten. In großem Maße wird aber auch unsere Sicht auf Fremdes und Eigenes durch diese ersten Erfahrungen bestimmt. Gerade für uns Politiker muss es daher ein ganz besonderes Bestreben sein, den Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland auf ein solides, verlässliches und überprüfbares Fundament zu stellen. Dies beabsichtigt der gemeinsame Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich darf von dieser Stelle aus ein herzliches Dankeschön unseren Kollegen Marlene Mortler und Jens Ackermann stellvertretend für die beiden Koalitionsfraktionen, aber auch für die gesamte Arbeitsgruppe aussprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meines Erachtens hat das starke Segment des Kinder- und Jugendtourismus neben Aspekten der Erholung, Bewegung und Freude für die Kinder und Jugendlichen vor allem ein gewichtiges soziokulturelles Bildungsmoment. Dies können wir bei aller Diskussion über Zuständigkeiten und Standards nicht außer Acht lassen. Wir Tourismuspolitiker dürfen nicht müde werden, immer wieder zu betonen: Reisen bildet, erweitert den eigenen Horizont und schmiedet Freundschaftsbande über Grenzen, Religionen und Herkunft hinweg. Der Umstand, dass zwischen den großen Nationalstaaten Europas mehr als ein halbes Jahrhundert, genauer gesagt 67 Jahre, durchgehend Frieden herrscht, ist ein bislang nie dagewesenes Phänomen in der Geschichte unseres Kontinents, unseres geeinten Europas. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In einer Atmosphäre von Frieden, Stabilität, Demokratie, gegenseitigem Respekt und Toleranz kann man durch diese Form des Tourismus noch weitere Vorurteile abbauen und aufeinander zugehen. Es gilt, sich bereits früh auf den Weg zu machen, neugierig und offen für unbekannte Kulturen, Lebensweisen und Ansichten zu sein. So lernen wir die Vielfalt der Landschaften und Regionen, der Völker sowie ihre Sprachen und Traditionen als kostbaren Wert zu begreifen und erkennen Gemeinsamkeiten im Unterschied. Der Nährboden von Vorurteilen und Ablehnung ist Unkenntnis und fehlender Kontakt mit anderen Kulturen. Wer auf Reisen durch persönliche Erfahrungen gelernt hat, wie spannend und bereichernd das Miteinander der Kulturen ist, wird gewiss keine Vorbehalte gegenüber anderen Ländern, Kulturen und Religionen entwickeln. Daher sollen und müssen wir unsere Kinder und die Jugend Europas auf Reisen schicken, damit sie sich kennenlernen, gegenseitig achten und anfreunden. Dieser Aspekt ist nach meiner festen Überzeugung mehr denn je notwendig, damit wir nicht erleben müssen, wie kürzlich im Fernsehen zu beobachten, dass unsere Fahnen in Nachbarstaaten verbrannt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Warum nicht zum Beispiel Klassenfahrten nach Griechenland? Eine Vielzahl von Initiativen und Akteuren leistet auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendreisen hierzulande seit Jahrzehnten vorbildliche Arbeit. Die Jugendwerke der Kirchen und Wohlfahrtsverbände erbringen durch ihre Jugendreiseangebote für die Völkerverständigung, für die Toleranz und Solidarität in unserer Gesellschaft einen unschätzbar großen Dienst. So wird es aus meiner festen Überzeugung zum Beispiel auch zum Luther-Jubiläum 2017 sein. Ebenso sorgen die unzähligen Jugendherbergen, Naturschutzgruppen, Sportvereine, Geschichtswerkstätten oder Ortsgruppen von freiwilliger Feuerwehr, THW etc. in diesem Land überwiegend ehrenamtlich dafür, dass unsere Kinder und Jugendlichen ein kollektives Gruppenerlebnis auch außerhalb der gewohnten Umgebung genießen können. Feriencamps, Auslandsaufenthalte, Sprachreisen und Klassenfahrten sind unerlässlich, um Werte wie Gemeinschaft, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft zu fördern. Unter anderem ist auch Urlaub auf dem Bauernhof sehr beliebt. Er erfreut sich einer absolut großen Nachfrage und hat in allen Preissegmenten für alle Gruppen dieser Gesellschaft etwas im Angebot. „In Vielfalt geeint“ lautet der Leitspruch unserer Europäischen Gemeinschaft. Wir wollen mit unserem Antrag dazu beitragen, dass sich sowohl Anbieter als auch Teilnehmer von Kinder- und Jugendreisen der Unterstützung des Bundes und der Länder sicher sein können. Durch qualitativ hochwertige Produkte soll diese Vielfalt und Einheit auf Reisen für Kinder und Jugendliche noch besser erfahrbar werden. Wie hat Alexander von Humboldt so trefflich gesagt: Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben. (Zuruf von der FDP: Sehr wahr! – Beifall des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD]) – Danke schön, Herr Kollege Hacker. – Der Kinder- und Jugendtourismus kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, selbstbewusste, tolerante und kritische sowie solidarische junge Menschen heranwachsen zu lassen. Unterstützen Sie daher bitte unseren Antrag zur Stärkung des Kinder- und Jugendtourismus, der eine wertvolle Investition in die Zukunft und die Völkerverständigung ist. Wir als politisch Verantwortliche müssen angemessene Rahmenbedingungen schaffen, die es den Organisatoren, Anbietern, Teilnehmern und Betreuern erleichtern, solche Erfahrungen für Kinder und Jugendliche in der Gruppe auf Reisen erlebbar zu machen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss ein Dankeschön an den Tourismusbeauftragten Ernst Burgbacher aussprechen, der sich nun schon seit über zwei Jahren außerordentlich engagiert mit den vielfältigen Themen aus den Bereichen Mittelstand, Tourismus und Dienstleistungen beschäftigt. Weil ich schon seit vielen Jahren – man kann sagen: seit fast 20 Jahren – engstens mit dir zusammenarbeite, will ich dir ganz bewusst ein großes Dankeschön für deine Arbeit aussprechen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Klaus Brähmig. – Wir sind am Ende unserer Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren – Mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen – Drucksache 17/7654 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Rüdiger Veit. Bitte schön, Kollege Veit. (Beifall bei der SPD) Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um gleich die Antwort auf eine mir eben auf dem Weg hierher von der Kollegin Daðdelen gestellte Frage zu geben: Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD genauso wie vom Bündnis 90/Die Grünen und von der Linkspartei, müssen zum vermehrten Male diese Koalition oder das, was von ihr vielleicht noch wahrnehmbar übrig ist, darauf hinweisen, dass es allerhöchste Zeit ist, endlich das Staatsbürgerschaftsrecht vernünftig zu reformieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir wollen, dass die Hinnahme von Mehrstaatigkeit, die sogenannte doppelte Staatsbürgerschaft, generell zulässig ist. Wir wollen die Optionspflicht abschaffen und die Voraussetzungen für die Einbürgerung nachhaltig erleichtern. Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, für uns Sozialdemokraten ist die Einbürgerung nicht etwa der ins Schaufenster gestellte, krönende Abschluss der Integration, sondern ein ganz wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur vollständigen Integration in unsere Gesellschaft, in unser Gemeinwesen. Das wollen wir befördern. Wir wollen eben nicht nur auf Integrationsgipfeln oder bei anderen Anlässen Reden schwingen und Lippenbekenntnisse abgeben, sondern konkrete Taten sehen – wenn es geht, eben auch von dieser Koalition. Sie haben leider unseren Gesetzentwurf am 10. November 2011 abgelehnt, mit dem wir die gleiche Intention verfolgt haben, und zwar in namentlicher Abstimmung mit sämtlichen Stimmen der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP; der Rest des Hauses hat freundlicherweise zugestimmt. Wir müssen Sie jetzt auffordern, endlich einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Ich sage auch deswegen „endlich“, weil spätestens im nächsten Jahr die Frist für diejenigen, die dann 23 werden, abläuft, um sich in der Frage der Staatsbürgerschaft – entweder die deutsche oder die ausländische Staatsbürgerschaft – zu entscheiden. Spätestens dann wird sich erweisen, dass wir mit dem Optionsmodell eine Art Bürokratiemonster geschaffen haben; darauf komme ich noch zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchmal hat man bei den Debatten um die Staatsbürgerschaft den Eindruck, dass das, was Rot-Grün dem Haus in den Jahren 1998 und 1999 präsentiert hat, etwas völlig Neues war. Dabei würde ich gerne einmal daran erinnern, dass die doppelte Staatsbürgerschaft bzw. die Hinnahme von Mehrstaatigkeit – so lautet der Fachausdruck – keineswegs so furchtbar neu und revolutionär ist. Manchmal ist ein geschichtlicher Rückblick ganz nützlich. Da habe ich etwas gefunden, das ich Ihnen gerne einmal hier zum Besten geben möchte. Ich zitiere aus einem Einbürgerungsantrag von Herrn Domenico Costa aus Furtwangen, der in einem Brief an den Landeskommissär von Konstanz Folgendes schreibt: Großh. Herrn Landeskommissär bitte ich ergebenst, von der Beibringung des Nachweises meiner Entlassung aus dem italienischen Staatsverband Abstand nehmen zu wollen, da ich neben der badischen Staatsangehörigkeit auch die italienische beibehalten will. Zur Begründung meiner Bitte füge ich bei, dass mein 70 Jahre alter Vater in Asiago (Italien) ein Bauerngut … besitzt und betreibt, welches evtl. n. A. meines Vaters durch Erbschaft mir zufallen würde. … Zudem ist meine Heimatgemeinde Asiago eine ziemlich reiche Gemeinde, sodaß die Angehörigen derselben immer noch in finanzieller Hinsicht gewisse Vorteile haben, welche ich auch nicht gerne preisgeben möchte. Dieser Antrag auf doppelte Staatsbürgerschaft liegt ziemlich genau 99 Jahre zurück. Klar wird das mit dem eigenen Interesse begründet, keineswegs werden übergeordnete Gesichtspunkte angeführt. Wir sollten uns 99 Jahre später nicht so furchtbar schwertun und einigermaßen flexibel mit dieser Situation umgehen, zumal bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts das sogenannte Geburtsortprinzip durchaus auch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht üblich war. Es war nur konsequent, dass wir 1998/1999 versucht haben, das alte, von 1913 stammende Gesetz zu verändern. Wir sind an der Mehrheit im Bundesrat gescheitert, die sich durch die hessische Landtagswahl verändert hatte. Dazu möchte ich ein paar Worte sagen; das sei mir als Hesse, der das damals nicht zuletzt im Straßenwahlkampf selbst miterlebt hat, erlaubt. Bevor die Doppelpasskampagne des damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch losgetreten wurde, wurde von der hessischen CDU eine Werbeagentur beauftragt, eine Kampagne zu entwerfen, durch die sich das Blatt zugunsten der CDU wenden könnte. Man hat sich dann dieses emotionalisierende Thema ausgesucht. Übrigens hat die SPD damals nicht deswegen verloren. Wir haben im Februar 1999 sogar noch 1,2 Prozent dazugewonnen. Leider haben die Grünen aus verschiedenen Gründen erheblich verloren, und das konnten wir nicht mehr kompensieren. So ging dann auch die Mehrheit dahin. Ich will Ihnen sagen, warum die damalige Kampagne so unglaublich hinterhältig und doppelbödig war. Bis zum Inkrafttreten des von uns initiierten Rechtes war es in Deutschland fast ausnahmslos die Regel, dass jemand türkischer Herkunft, der zum Konsulat gegangen ist, um seine türkische Staatsbürgerschaft abzugeben, und der anschließend die deutsche erworben hat, auf ausdrückliches Bitten des Konsulatsmitarbeiters hinterher noch einmal erschienen ist, um seine türkische Staatsbürgerschaft wieder zu beantragen. Ich habe im letzten Herbst zum ersten Mal einen Menschen türkischer Abstammung getroffen, der vor dem Jahr 2000 eingebürgert wurde und dann hinterher nicht wieder die türkische Staatsbürgerschaft erworben hat. Das war eine junge Frau, die erzählt hat, ihre Eltern hätten damals Angst gehabt, diesen Schritt zu tun. Das war die einzige Person. Es war niemand anderer als Helmut Kohl – der bekanntermaßen nicht der rot-grünen Regierung, sondern der Regierung einer anderen Mehrheit vorgestanden hat –, der anlässlich eines Staatsbesuches seinen türkischen Amtskollegen darum gebeten hat, mit dem offensiven Werben in den Konsulaten aufzuhören nach dem Motto: Wenn du einen deutschen Pass hast, dann kommst du wieder hierher, dann kriegst du auch den türkischen. – Deswegen spreche ich davon, dass es in besonderer Weise doppelbödig, hinterhältig und auch verlogen war, dass mit dieser Kampagne seinerzeit gegen die Hinnahme von Mehrstaatigkeit Stimmung gemacht wurde. Wir wollen das generell ermöglichen, auch deswegen, weil wir das integrationspolitische Ziel verfolgen, möglichst viele der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger im Sinne eines einheitlichen Wahlvolkes zu Staatsbürgern zu machen. Wir wollen, dass sich die Betreffenden stärker, besser und intensiver mit der deutschen Kultur identifizieren. Das würde uns jedenfalls sehr freuen. Dazu kann der Erwerb der Staatsbürgerschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Deswegen sollten wir den Menschen keine Hindernisse in den Weg legen. Bitte beachten Sie, dass die Zahl der Einbürgerungsanträge nach Inkrafttreten des neuen Rechts im Jahre 2000 zwar kurzzeitig auf ungefähr 180 000 pro Jahr hochgeschnellt ist, mittlerweile aber wieder drastisch auf rund 100 000 Anträge zurückgegangen ist, und das, obwohl es Millionen von Menschen in Deutschland gibt, die die Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen würden, worüber wir uns eigentlich freuen sollten. Wir sollten nicht nur Sonntagsreden über Integration halten. Wir sollten einen Beitrag dazu leisten. Dazu gehört in erster Linie die Beseitigung von Hindernissen für die Einbürgerung und die Abschaffung der Optionspflicht, damit nicht jene jungen Menschen, die demnächst, also 2013 – ich habe das Datum bereits genannt –, 23 Jahre alt werden, in einen Loyalitätskonflikt zwischen ihrer Abstammung und dem Herkunftsland der Eltern und der deutschen Kultur, in der sie aufgewachsen sind, geraten. Vielmehr sollten wir uns freuen, dass sie einen Beitrag zur Integration leisten, indem sie weiterhin deutsche Staatsbürger bleiben. Das ist unser Anliegen. Wir werden nicht lockerlassen. Darauf können Sie sich verlassen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Rüdiger Veit. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zu dem heute zu debattierenden Antrag der SPD-Fraktion kann man nur sagen: alter Wein in alten Schläuchen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alter Wein ist ja nicht unbedingt schlecht!) Meine sehr geehrten Kollegen von der SPD, es ist nicht neu, dass Sie für die Abschaffung des Optionsmodells sind, dass Sie für die generelle Zulassung der Mehrstaatigkeit sind. Mich wundert nur, dass Sie in regelmäßigen Abständen mit den gleichen Anträgen oder Gesetzentwürfen kommen. Ich kann mir das – mit Verlaub – nur so erklären, dass Sie, lieber Herr Kollege Veit, immer noch traumatisiert sind, weil Sie 1999 dem Kompromiss beim Staatsangehörigkeitsrecht zugestimmt haben. Sie kommen immer wieder mit alten Kamellen über vergangene Landtagswahlen. Ich glaube, dass es Zeit ist, sich mit den aktuellen Themen, insbesondere mit den Problemen der Integration, auseinanderzusetzen. Das ist sinnvoller, als hier immer wieder in steter Regelmäßigkeit die gleichen Anträge zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wollen mit Ihrem Antrag den mühsam geschlossenen gesellschaftspolitischen Kompromiss aus dem Jahr 1999 aufkündigen. Herr Kollege Veit, in Ihrer Rede haben Sie den entscheidenden Unterschied zwischen Ihnen und uns deutlich herausgestellt. Sie sagen: Die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Integration in die deutsche Gesellschaft. Ich sage Ihnen ganz offen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dezidiert anderer Auffassung. Wir sind der Meinung: Die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit kann erst am Ende eines erfolgreichen Integrationsweges stehen. Dabei bleiben wir. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Auch wenn gewisse Fragen mittlerweile nicht mehr akut sind – beispielsweise aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland –, bleiben eklatante rechtliche Schwierigkeiten für den Fall bestehen, dass man generell die Mehrstaatigkeit zulässt. (Rüdiger Veit [SPD]: Nein!) Dann würden zunehmend sogenannte hinkende Rechtsverhältnisse entstehen, zum Beispiel im Bereich des Erb- und Familienrechts, etwa wenn es um die Anerkennung von Eheschließungen, um Scheidungen oder Namensänderungen geht. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch alles lösbar!) Es kann natürlich sein, dass wir diese Fragen dann, zumindest wenn es nach dem Justizminister von Rheinland-Pfalz geht, nach der Scharia regeln. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er zurückgenommen!) Ich sage Ihnen ganz offen: Wir von der CDU/CSU-Fraktion werden Ihnen hierzu eine ganz klare Absage erteilen. Die Scharia hat auf deutschem Boden nichts verloren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch nicht um Strafgerichtsbarkeit!) Wir sind dezidiert der Auffassung, dass wir aufgrund unserer abendländisch-christlich-jüdischen Kultur eine gewachsene Rechtsordnung, eine gewachsene Rechtsstruktur haben, sodass überhaupt keine Notwendigkeit besteht, auch nicht in Ausnahmefällen, Rechtsstreitigkeiten nach dem islamischen Recht, nach der Scharia, zu lösen. Es gibt schon heute die Möglichkeit, Mehrstaatigkeit zuzulassen. Es gibt die Härtefallregelung des § 12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Wenn die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit eine besondere Härte darstellt, wenn das andere Land jemanden nicht aus der Staatsangehörigkeit entlässt, wenn unzumutbare Bedingungen erhoben werden oder erhebliche Nachteile drohen, dann gibt es auch heute schon die Möglichkeit, Mehrstaatigkeit zuzulassen. Es besteht deshalb aus meiner Sicht überhaupt keine Notwendigkeit, die Mehrstaatigkeit auf deutschem Boden generell einzuführen. Die Einbürgerungsstatistik zeigt sehr eindrucksvoll, dass sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund durchaus bereit sind, sich für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Im Jahr 2010 zum Beispiel hatten 25 Prozent derjenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben, einen türkischen Migrationshintergrund. Lieber Herr Kollege Veit, Sie haben gesagt, dass es Millionen von Menschen auf deutschem Boden gibt, die die formalen rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten, dass sie sie nur nicht beantragen. Dazu sage ich Ihnen ganz offen: Vielleicht wissen sie ganz genau, warum sie sie nicht beantragen. Sie wollen es eben nicht. Es gibt doch überhaupt keine Notwendigkeit, jemandem die deutsche Staatsangehörigkeit aufzudrängen. Ich glaube, wir sind bisher gut damit gefahren, die Mehrstaatigkeit nicht generell zuzulassen. In Ausnahmefällen ist dies aber sehr wohl der Fall und möglich. Ich sage Ihnen ganz offen, dass es auch unsere Aufgabe ist, Privilegierungen im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts zu vermeiden. Ich meine zum Beispiel das Wahlrecht. Gerade wir sind aufgerufen, für eine möglichst gleiche Behandlung aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu sorgen. Es ist unbestreitbar so, dass Personen, die die doppelte Staatsangehörigkeit haben bzw. über mehrere Staatsangehörigkeiten verfügen, in einer gewissen Weise privilegiert werden. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir zunächst einmal die Erfahrungen abwarten, die wir mit dem Optionsmodell machen werden. Ich spreche ungern – auch das sage ich ganz offen – von Optionspflicht; denn an sich ist das ja eine zusätzliche Möglichkeit, unter verschiedenen Alternativen zu wählen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso? Sie hatten vorher zwei und haben hinterher nur eine!) Sie wissen ganz genau: Wenn man sich bis zum 23. Lebensjahr nicht entscheidet – man muss sich nicht entscheiden –, dann entfällt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch de jure besteht also keine Optionspflicht, sondern es gibt eine Optionsmöglichkeit. Wir haben ein Optionsmodell. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur bei EU-Bürgern stimmt das, was Sie sagen!) Erst seit 2008 gibt es Menschen in Deutschland, die diese Option überhaupt wahrnehmen können. Es werden jetzt zwischen 3 800 und 6 700 Personen im Jahr sein. Ab dem Jahr 2018 wird es sich um ungefähr 40 000 Personen im Jahr handeln, die sich entscheiden können, das heißt, die dann fünf Jahre lang Zeit haben, sich zu entscheiden. Bis dahin wird es umfangreiche Evaluierungen geben. Wir, die christlich-liberale Koalition, haben uns darauf verständigt, verschiedene Studien anfertigen zu lassen. So werden unter anderem zwei Studien von der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge durchgeführt. Sehr viel erwarte ich mir von der Überprüfung des Einbürgerungsrechts und des Verfahrens aufgrund der Zahlen, die die Länder bis Ende des Jahres zu liefern haben. Ich glaube, wir sind gut beraten, diese Studien, die jetzt auf verschiedenen Ebenen gemacht werden, erst einmal abzuwarten. Dann können wir uns im Wissen um diese Erfahrungen und Zahlen wieder mit dieser Thematik beschäftigen. Aber bis dahin besteht überhaupt keine Notwendigkeit zum Aktionismus und zu vorschnellen Entscheidungen. Deswegen ist dem Antrag der SPD-Fraktion in aller Entschiedenheit die Absage zu erteilen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau Sevim Daðdelen. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der LINKEN) Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich habe mich gefragt, warum die SPD diesen Antrag kurz nach der Beratung im November jetzt noch einmal eingebracht hat. Man kommt zu dem Schluss: Nur der stete Tropfen höhlt den Stein. Das Problem ist: Hier geht es nicht um einen Stein; das ist anscheinend ein Fels, an dem man wirklich viele Jahre knacken muss, damit man ein so unsinniges Gesetz kippen kann. (Beifall bei der LINKEN) Denn anders kann ich mir diese ideologische Borniertheit der CDU/CSU und der FDP nicht erklären, vor allen Dingen auch deshalb nicht, weil ich von der FDP erkennbar auch andere Stimmen zur Kenntnis nehme. So hat zum Beispiel die FDP im Niedersächsischen Landtag eine komplett andere Position und sagt in ihrem Papier zur Ausländer- und Flüchtlingspolitik, dass die Situation in Niedersachsen unerträglich sei. Sie sagt, der Umgang mit türkischen Staatsangehörigen sei nicht hinnehmbar. Ihnen werde in Niedersachsen die Mehrstaatigkeit verweigert, und auch die Optionspflicht sei unerträglich. Deshalb müsse eine bundeseinheitliche Änderung vorgenommen werden. Ich wünsche mir, dass man diesen Kolleginnen und Kollegen und auch dem Doppelstaatler, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten McAllister von der CDU, entgegenkommt und sagt: Wir schaffen diese blöde Optionsregelung ab. Herr Mayer, Sie haben gesagt, in Ausnahmefällen gibt es in Deutschland die Mehrstaatigkeit. Demgegenüber muss ich Sie daran erinnern, dass die Mehrstaatigkeit in Deutschland längst Realität und allgemeine Praxis ist. Über 57 Prozent aller Eingebürgerten in Deutschland sind Doppelstaatler. Das sind über 4,5 Millionen Menschen. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Dann müssen wir doch gar nichts ändern!) Das sind doch dann in Deutschland überhaupt keine Ausnahmen, sondern das ist längst Praxis. Deshalb fragt man sich: Was ist eigentlich Ihr Problem mit der Optionspflicht und der generellen Hinnahme der Mehrstaatigkeit? Dazu muss ich sagen: Offensichtlich geht es Ihnen um etwas anderes. In Ihrer Rede haben Sie die Scharia erwähnt; ich wüsste nicht, welche Bundestagsfraktion die Einführung der Scharia gefordert hat. Sie versuchen hier, einen Popanz aufzubauen. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Der Justizminister aus Rheinland-Pfalz hat das letzte Woche doch gefordert!) – Hier im Bundestag in dieser Diskussion heute hat niemand die Scharia gefordert, Herr Mayer. (Zuruf des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]) Nehmen Sie das zur Kenntnis! Das ist die Realität. Ich weiß nicht, wovon Sie nachts träumen. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Ich träume von anderen Dingen!) Dies hat hier jedenfalls nicht stattgefunden, Herr Mayer. Was ist das Problem? Offensichtlich geht es Ihnen um die Verhinderung der Einbürgerung von Türkinnen und Türken in Deutschland. Anders sind die unterschiedlichen Quoten der einzelnen Bundesländer trotz bundeseinheitlicher Rechtsgrundlagen nicht zu erklären. (Beifall bei der LINKEN – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Eine boshafte Unterstellung!) Die Quote der akzeptierten Mehrstaatigkeit bei Einbürgerungen beträgt bundesweit über 53 Prozent. Bei türkischen Staatsangehörigen liegt sie bei nur 28 Prozent. Das heißt, Mehrstaatigkeit wird bei nichttürkischen Staatsangehörigen in Deutschland mehr als doppelt so häufig akzeptiert wie bei türkischen. Kommen wir einmal zu Ihrem Bundesland, zu Bayern. In Bayern wird die doppelte Staatsangehörigkeit gerade einmal zu 3,7 Prozent anerkannt. Das waren im Jahre 2010 ganze 78 Personen. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Wir halten uns an Recht und Gesetz! – Gegenruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die anderen nicht?) Die Doppelstaatlerquote nichttürkischer Staatsangehöriger beträgt in Bayern 64,5 Prozent. Die gezielte Einbürgerung zum Beispiel türkischer Staatsangehöriger wird extrem erschwert. Diese ausgrenzende Praxis, die gezielte Verweigerung der Einbürgerung vor allem türkischer Staatsangehöriger – dies geschieht besonders in Bayern, aber auch zum Beispiel in Baden-Württemberg –, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ändert sich da jetzt! Die haben eine türkischstämmige Ministerin!) trägt zu dieser extremen Einbürgerungsquote bei. Ja, das ist so. Ich finde, das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Diese Menschen haben einen Anspruch auf Einbürgerung. Es handelt sich um bundeseinheitliche Gesetze. Diese Menschen wollen deutsche Staatsangehörige und nicht irgendwelche Bayern werden. Es darf nicht anhand irgendwelcher bayerischen Maßstäbe entschieden werden, ob ihnen die Staatsangehörigkeit gegeben wird. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nun hören Sie aber mit Bayern auf! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht ganz Bayern beschimpfen! Nur die Regierung! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Diese Unverschämtheit! Immer wieder das Gleiche!) Insofern kann ich nur an Sie appellieren: Hören Sie in diesem Land mit Ihrer Türkenfeindlichkeit auf! Hören Sie damit auf, trotz bundeseinheitlicher Rechtsgrundlagen unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen! Das ist überhaupt nicht tragbar. (Beifall bei der LINKEN) Ich meine, es ist auch nicht zeitgemäß, dass das Staatsangehörigkeitsgesetz so rigide ist. Es geht nicht nur um die Optionspflicht. Das ist unsere Kritik an dem Antrag der SPD: Sie glauben, durch die Abschaffung der Optionspflicht wäre das Thema gegessen. – Wir haben seit der Reform von 1999 eine Trendwende; die Zahlen der Einbürgerungen sind in den letzten zehn Jahren gesunken, und sie werden nicht besser. So werden wir das Demokratiedefizit – dies hat auch das Bundesverfassungsgericht konstatiert – bei der Problematik nicht beseitigen, dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, ausgegrenzt werden, indem sie nicht an Wahlen teilnehmen können. Dieses Problem werden wir nicht allein dadurch beheben, dass wir die Optionspflicht abschaffen. Dazu müssen wir zum Beispiel die Voraussetzungen für Einbürgerungen ändern. Vizepräsident Eduard Oswald: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Wir müssen zum Beispiel die Vorgabe bezüglich der Aufenthaltsdauer ändern. Fünf Jahre reichen. Warum sollen es sechs oder sieben Jahre sein? Warum bleiben wir nicht bei den einfachen Sprachkenntnissen als Voraussetzung, wie es früher der Fall war? Vor allen Dingen: Warum verzichten wir nicht komplett auf die Einbürgerungsgebühren oder senken sie insoweit, dass wir nur einen symbolischen Betrag verlangen? Vizepräsident Eduard Oswald: Ich darf Sie wirklich bitten, auf die Redezeit zu achten. Sevim Daðdelen (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident, für die Geduld und das Verständnis. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Hartfrid Wolff. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Und täglich grüßt die SPD. Wieder einmal fordern die Sozialdemokraten die Abschaffung des Optionsmodells. Klasse! Das hat die SPD erst vor zehn Jahren selbst beschlossen. Im vergangenen Herbst überraschte Rüdiger Veit die Nation mit der angeblich neuen Forderung nach Hinnahme von Mehrfachstaatsangehörigkeiten. (Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) Wir haben Ende letzten Jahres einen SPD-Antrag vom Februar 2010 beraten. Jetzt kommt erneut aufgegossener Tee, diesmal vom November letzten Jahres. Offenbar sind unsere sozialdemokratischen Kollegen etwas unterbeschäftigt. Wer immer wieder denselben Antrag auf die Tagesordnung setzt, hat offenbar keinerlei neue Ideen, Kollege Veit. Der Eindruck bleibt: Der Opposition fällt nichts mehr ein. (Rüdiger Veit [SPD]: Ihr kommt aber auch nicht weiter! Wo bleibt die Evaluierung?) Dass sich die SPD von den Ergebnissen ihrer eigenen Regierungsarbeit abwendet, haben wir in den letzten beiden Jahren schon sehr oft erlebt, und es erstaunt nicht wirklich. Sachlich bleibt es dabei: Es macht einfach keinen Sinn, ein Gesetz zu ändern, zu dessen Wirkung es praktisch noch keine verwertbaren Daten gibt; auch das wurde schon gesagt. Der Kollege Mayer hat recht: Es ist sinnvoll, erst einmal Erfahrungen zu sammeln, wie sich diese Regelung auswirkt, und danach die rechtlichen Anpassungsmöglichkeiten zu prüfen. Alles anderes wäre Aktionismus. Die Koalition hat vor, diese Prüfung bald durchzuführen. Wir Liberalen haben seinerzeit das Optionsmodell vorgeschlagen, um den Weg hin zu einer Öffnung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts in Richtung auf das Jus Soli zu ermöglichen. Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen ist es nach Auffassung von Rot-Rot-Grün aber unzumutbar, sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Die Partei Die Linke tut sich mit der Wahlfreiheit, der Kompetenz des Individuums, sich entscheiden zu dürfen, ja generell schwer. (Widerspruch bei der LINKEN – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Oje! – Gegenruf der Abg. Gisela Piltz [FDP]: Willkommen im Plenum!) Anders als die Kinder deutscher Eltern sollen die Betreffenden durch eine Mehrfachstaatsangehörigkeit privilegiert werden. Im SPD-Antrag heißt es ausdrücklich, es solle fürderhin ein konsequentes Bekenntnis zur doppelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaft geben. Meine Damen und Herren, die SPD frohlockte einst über die Abschaffung des Abstammungsprinzips bei der Staatsangehörigkeit. Für Migranten will sie es jetzt beibehalten. Das ist verkehrte Welt. (Manuel Höferlin [FDP]: Ja!) Wer die doppelte Staatsangehörigkeit fordert, stoppt die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Galt Linken, Grünen und Sozialdemokraten das Abstammungsrecht bei deutschen Aussiedlern jedenfalls noch als reaktionäres Rechtsprinzip, ist es im Hinblick auf die Doppelstaatsangehörigkeit, etwa für Araber, plötzlich wieder erwünscht. Es ist in der Tat absurd, in dem Land, in dem man geboren ist und in dem man dauerhaft leben will, Ausländer zu sein. Allerdings: Niemand hier im Haus will Menschen, die sich für Deutschland entscheiden, die die deutsche Sprache beherrschen und sich auf unsere Grundwerte verpflichten, daran hindern. Aber einen Herkunftsnationalismus zu beschwören, ist reaktionär. (Lachen des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass sich die Oppositionsparteien dabei vor diesen Karren spannen lassen, ist jedenfalls aus meiner Sicht ein Armutszeugnis. Fortschrittlich dagegen wäre es, das Jus Soli tatsächlich weiterzuentwickeln. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht ihr aber auch nicht! – Rüdiger Veit [SPD]: Macht mal!) Die Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur gelingen, wenn man sich zu gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche Gesellschaft integriert. Rot-Rot-Grün tut so, als ob Migration allein eine geografische Standortveränderung wäre – und damit basta. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Dazu haben wir ja noch gar nichts gesagt!) Das ist Unfug. Jeder, der sich mit dem Thema Migration auseinandersetzt, weiß, dass Zuwanderung nicht einfach in ein neues Territorium erfolgt, sondern in ein Land mit anderen Menschen, mit eigener Tradition, eigener Sprache und eigener Kultur; das weiß niemand besser als unsere bayerischen Freunde. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Ein wahres Wort!) Wer das verschweigt oder kleinreden will, zerstört die Zukunftschancen von Migranten. Eine Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, stärkt keinesfalls die Akzeptanz von Migranten. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Es sind wahrscheinlich auch so viele Migranten in Ihrer Partei, weil Sie so viel Ahnung haben!) Wer eine Zukunft anstrebt, in der nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern allein der Wille und die freiwillige Verpflichtung, dazuzugehören, für die Zugehörigkeit zur deutschen Nation entscheidend sind, der muss verhindern, dass Abstammungsfragen in Deutschland wieder salonfähig werden, wie es durch das Instrument der mehrfachen Staatsangehörigkeit im Prinzip geschieht. Meine Damen und Herren, die FDP wird weiterhin die freie Entscheidung des Individuums und die Integrationsleistungen jedes Einzelnen höher schätzen als die Beschwörung von Herkunft und ethnischen Milieus. So gestalten wir in der Koalition den überfälligen Neuanfang in der Integrationspolitik: auf dem Weg hin zu einer neuen Kultur des Willkommens (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es lustig!) und auf der Basis von Gleichberechtigung, gegenseitiger staatsbürgerlicher Loyalität und fairem Miteinander. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Macht mal! Nicht nur ankündigen!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Hartfrid Wolff. – Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kollege Memet Kilic. Bitte schön, Herr Kollege. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in dieser Debatte schon gemerkt, dass ich einiges richtigstellen muss. Deutschland hat im europäischen Vergleich eine der schlechtesten Einbürgerungsquoten. Fast jeder Neunte in unserer Bevölkerung hat keinen deutschen Pass. Viele von ihnen wollen sich einbürgern lassen, scheitern aber an den hohen Einbürgerungshürden. Stellen Sie sich vor, Sie wären einer von ihnen: Welches Bild hätten Sie in dieser Debatte von Ihrer eigenen Partei? Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Art. 2 Abs. 1 unseres Grundgesetzes heißt es: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit … In unserer zivilen Gesellschaft braucht das Individuum staatsbürgerschaftliche Rechte, um sich entfalten zu können. Einwohner ohne deutsche Staatsbürgerschaft bleiben deswegen oft Zaungast. Eine der besten Maßnahmen gegen Rassismus ist die Stärkung der Rechte der potenziellen Opfer. Die Erleichterung der Einbürgerung ist die richtige Antwort auf die rassistische Mordserie der NSU. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle möchte ich den Antrag der SPD loben. Darin fordert die SPD größtenteils die inhaltliche Umsetzung unserer Gesetzentwürfe aus dem Jahr 2010. Unsere Kernforderungen sind: erstens die Abschaffung des Optionszwangs. Es ist integrationspolitischer Unsinn, in Deutschland geborene Jugendliche vor die Zwangswahl zwischen ihren zwei Staatsbürgerschaften zu stellen. Zweitens. Einbürgerungsanträge von Rentnern dürfen nicht wegen fehlender Lebensunterhaltssicherung abgelehnt werden. Wenn Renten nach 30-jähriger Berufstätigkeit unter dem Sozialhilfeniveau liegen, ist das kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Drittens fordern wir die uneingeschränkte Hinnahme der Mehrstaatigkeit. In Deutschland lebt seit Jahrzehnten eine Vielzahl von Menschen ohne Probleme mit zwei Staatsangehörigkeiten. So haben Millionen von Spätaussiedlern die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, ohne dass sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben mussten. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Genau! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das waren doch keine Ausländer! Das ist doch eine ganz andere Personengruppe! Sie können doch die Spätaussiedler nicht mit Ausländern vergleichen!) Ebenso haben alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger das Recht auf Mehrstaatigkeit. 2010 erfolgten 53,1 Prozent aller Einbürgerungen unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit. In vielen europäischen Staaten wird die Mehrstaatigkeit generell hingenommen. Probleme verursacht die Mehrstaatigkeit dort nicht. Lassen Sie uns diese integrationspolitische Katastrophe endlich gemeinsam beenden und die Mehrstaatigkeit uneingeschränkt hinnehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Im August 2008 habe ich mit der GAL in Heidelberg eine Quizshow mit Fragen aus dem Einbürgerungstest veranstaltet. Die überwiegende Mehrheit der Einheimischen fand die Sprache des Testes zu kompliziert. Viele hatten Schwierigkeiten, den Kontext der Fragen zu verstehen. Durch den hohen intellektuellen Anspruch der Fragen werden Menschen mit niedrigem Bildungsniveau von der Einbürgerung ausgeschlossen. Der Test hat seine abschreckende Wirkung besonders bei älteren Menschen gezeigt. Daher muss der Test abgeschafft werden, liebe Freundinnen und Freunde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die SPD hat vor wenigen Jahren, in der Großen Koalition, gegen jegliche Vereinfachungen bei der Einbürgerung gestimmt. Nun hat sie in ihrer Zeit auf der Oppositionsbank gleich zwei fast wortgleiche Anträge eingebracht, mit denen sie die Einbürgerung vereinfachen möchte. Die letzte Initiative der SPD haben wir unterstützt, diese werden wir auch unterstützen. Selbst wenn die SPD in dieser Wahlperiode noch zehnmal den gleichen Antrag einbringen wird, werden wir sie zehnmal unterstützen. (Rüdiger Veit [SPD]: Das gilt umgekehrt genauso!) Abschließend möchte ich der SPD einen Tipp mit auf den Weg geben: Liebe SPD, wenn Sie es mit der Sache ernst meinen, dann sollten Sie nicht mit einer Großen Koalition liebäugeln; denn mit der Union – Sie haben es gesehen – können Sie auf diesem Gebiet nur weitere Verschärfungen durchführen, aber keine Vereinfachungen. Lassen Sie es deshalb sein! (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Rüdiger Veit [SPD]: Das müssen Sie doch nicht mir sagen!) Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Memet Kilic. – Letzter Redner in unserer Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ingo Wellenreuther. Bitte schön, Herr Kollege Wellenreuther. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal hat die SPD das Thema Staatsangehörigkeitsrecht auf die Tagesordnung gesetzt. Sie wollen mit Ihrem Antrag die Optionspflicht abschaffen und die mehrfache bzw. doppelte Staatsbürgerschaft, Herr Veit, ermöglichen. Bereits viermal haben wir in den letzten zwei Jahren im Deutschen Bundestag über entsprechende Anträge der Opposition debattiert, zuletzt – es wurde angesprochen – vor genau drei Monaten. Jedes Mal haben die Regierungsfraktionen erklärt, am Grundsatz, mehrfache Staatsangehörigkeiten prinzipiell zu vermeiden, festzuhalten. Dieser Grundsatz ist völkerrechtlich anerkannt und prägt das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. Sie kennen unsere überzeugenden Argumente dazu. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kennen die Argumente! Aber sie überzeugen uns nicht!) Sie wissen, dass wir Ihren Antrag heute ablehnen werden. Trotzdem stellen Sie ihn. Das ist natürlich Ihr gutes Recht, aber es zeigt doch nur eines: Es geht Ihnen nicht um Integration, sondern Sie schielen nur nach Wählerstimmen. Sie wollen bei unseren Mitbürgern mit ausländischem Pass punkten, um angesichts ihrer schlechten Umfragewerte wieder Boden gutzumachen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! Das haben wir auch bei guten Umfragewerten gefordert!) Das ist allerdings so plump und offensichtlich, dass Ihnen das nichts nutzen wird. Sie haben in keiner Weise die Sache im Blick. Ihnen geht es allein um die Show. Deshalb leisten Sie, Herr Veit, mit Ihrem Antrag gerade keinen Beitrag, das Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft zu fördern. Integrationspolitisch sind Sie mit Ihrem Vorschlag auf dem Holzweg. Rot-Grün hat noch immer nicht begriffen, dass es bei der Integration ausländischer Mitbürger oder Menschen mit Migrationshintergrund nicht darum gehen kann, die deutsche Staatsbürgerschaft gleichwohl mit der Gießkanne zu verteilen. Integration gelingt nicht mit der Aushändigung eines deutschen Passes. Sie lösen damit kein einziges Problem, das im Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Kulturen entstehen kann. Integration ist vielmehr eine Sache des Kopfes und des Herzens; darauf habe ich schon im November 2011 hingewiesen. Deshalb muss die Staatsbürgerschaft am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang. (Beifall bei der CDU/CSU) Vollkommen kontraproduktiv ist daher auch das, was die neue grün-rote Landesregierung in meinem Heimatland Baden-Württemberg gerade vollzogen hat. Durch Änderungen bei der Ausführung des Staatsangehörigkeitsrechts sollen künftig insbesondere mehr Fälle der Mehrstaatigkeit hingenommen und Abstriche beim Erfordernis der Deutschkenntnisse gemacht werden. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Das ist kein Beitrag, Integration zu fördern. Ganz im Gegenteil: Das baden-württembergische Integrationsministerium wird hier seinem Namen nicht gerecht. Richtig ist dagegen unser Ansatz. Wir wollen gut integrierte Ausländer, die Deutschland als ihre Heimat empfinden und sich einbürgern lassen, weil sie Deutsche werden wollen, und nicht nur deshalb, weil sie unter Beibehaltung ihrer Staatsbürgerschaft die Vorteile der deutschen Staatsbürgerschaft zusätzlich in Anspruch nehmen wollen. Integration ist im Wesentlichen ein innerer Prozess. Diesen hat der Staat zu fördern, insbesondere durch Angebote an Deutsch- und Integrationskursen. Dafür nimmt der Staat zu Recht viel Geld in die Hand; denn es ist uns schon immer klar: Entscheidend für eine gelungene Integration ist, dass die hier lebenden Ausländer die deutsche Sprache lernen und beherrschen. Das ist der Schlüssel für eine gute Bildung und Ausbildung und dies wiederum für gesellschaftliche und berufliche Teilhabe. Deshalb zielen die integrationspolitischen Bemühungen der unionsgeführten Bundesregierung seit dem Jahr 2005 in genau diese Richtung. Damit haben wir schon große Erfolge erzielt. Wenn Integration gelingt, werben wir sehr dafür, dass möglichst viele derer, die die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen; denn dadurch wird die Zugehörigkeit zu unserem Land und zur wechselseitigen Verantwortung seiner Bürger am stärksten ausgedrückt. Vor diesem Hintergrund freut es uns wirklich sehr, dass im Jahre 2010 die Zahl der Einbürgerungen um 5,6 Prozent gestiegen ist und der Anteil der Einbürgerungen mit fortbestehender ausländischer Staatsangehörigkeit erfreulicherweise leicht zurückgegangen ist. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Zahl der Einbürgerungen im letzten Jahr weiter gestiegen ist. Auch zum zweiten Punkt, der von der Opposition geplanten Abschaffung der Optionspflicht, kennen Sie aus den Debatten unsere klare Haltung. In der Koalitionsvereinbarung ist vorgesehen, die Erfahrungen mit einer nennenswerten Zahl der ersten Optionsfälle auszuwerten und einen möglichen Verbesserungsbedarf zu prüfen. Diese Prüfungen betreffen zum einen das Verwaltungsverfahren. Hier liegt der Schwerpunkt bei den Ländern, wobei das Bundesinnenministerium die Maßnahmen koordiniert und die Ergebnisse zusammenfasst. Die Länder waren gebeten worden, dazu entsprechende Angaben bis zum 31. Januar dieses Jahres zu übersenden. Sie von der SPD können nicht einmal eine Woche stillsitzen und stellen schon heute einen Showantrag in das Schaufenster des Bundestages. Die Evaluierung betrifft zum anderen die Evaluierung der Maßnahme selbst. Hier werden erstens die von den Ländern zum 31. Januar dieses Jahres zur Verfügung gestellten Zahlen über das Entscheidungsverhalten der Optionspflichtigen ausgewertet. Auch wenn diese Auswertung gerade erst begonnen hat, zeichnet sich bisher die Tendenz ab – Herr Veit, Sie wissen das wahrscheinlich –, dass sich 95 Prozent der Optionspflichtigen, die sich bisher gemeldet haben, für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden haben. Fast alle geben also ein ganz klares Bekenntnis zu unserem Land ab. Ich halte das für ein wunderbares, eindeutiges Zeichen dafür, dass sich Menschen anderer Herkunft in unserem Land wohlfühlen. Zugleich ist es ein erfreuliches Zeichen dafür, dass wir in Deutschland ganz überwiegend eine offene und tolerante Gesellschaft haben. Ich finde, gerade in Zeiten, in denen menschenverachtende Straftaten von Neonazis die Schlagzeilen beherrschen, ist dies eine sehr wichtige Nachricht. (Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]) Bei der Evaluierung der Maßnahme selbst wird zweitens die Wahrnehmung der Optionsregelung durch die Betroffenen selbst untersucht. Uns ist es wichtig, wie die optionspflichtigen jungen Menschen diese Pflicht zur Entscheidung empfinden. Deshalb sind die zwei bereits angesprochenen umfassenden Studien der Forschungsgruppe des BAMF in Auftrag, die derzeit durchgeführt werden. Die Untersuchung der Forschungsgruppe umfasst darüber hinaus auch das Einbürgerungsverhalten allgemein und stellt deshalb eine wesentliche Grundlage für die Prüfung möglicher Hemmnisse im Einbürgerungsrecht dar. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann wollen Sie denn die Schlussfolgerungen daraus ziehen?) – Noch nicht, Herr Winkler. Warten wir ab! Die Ergebnisse dieser umfassenden Prüfungen und wissenschaftlichen Studien werden in der ersten Hälfte dieses Jahres erwartet. Auch das ist schon mehrfach gesagt worden, und Sie von der SPD wissen das auch, Herr Veit. Deshalb gilt erneut: Sie sind mit Ihrem Antrag wieder einmal zu früh dran. Um die Sache geht es Ihnen auch heute wenig. Sie wollen aus taktischen Gründen mit Ihrem Aktionismus für Ihre Fraktion Kapital schlagen. Das ist zu durchschaubar, als dass jemand darauf hereinfallen könnte. Ihren Antrag lehnen wir schon aus diesem Grund ab, aber vor allem aufgrund der bereits mehrfach genannten inhaltlichen Argumente. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Wellenreuther. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/7654 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung – Drucksache 17/8236 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 17/8506 – Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Manfred Zöllmer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Kollege Hartmut Koschyk. Bitte schön, Herr Staatssekretär. Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eine der Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise war die Schaffung neuer, stringenter Aufsichtsstrukturen für das Finanzwesen in Europa. Wer die Verhandlungen über den Sitz dieser Behörden miterlebt hat, der weiß, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass es der Bundesregierung gelungen ist, eine dieser drei Aufsichtsbehörden nach Deutschland zu holen. Es wurden Aufsichtsbehörden für das Bankenwesen und das Wertpapierwesen und eine für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung geschaffen. Nachdem Frankfurt am Main schon Sitz der Europäischen Zentralbank geworden ist, war es ein großer Verhandlungserfolg der Bundesregierung, die wichtige Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, die das schöne europäische Kürzel EIOPA hat, auch nach Frankfurt zu bekommen. Traditionell – das wissen wir – spielt die Versicherungswirtschaft für die deutsche Volkswirtschaft eine herausgehobene Rolle. Mit dem Sitz von EIOPA in Frankfurt ist auch die Bedeutung der Stadt Frankfurt als wichtiges europäisches Finanzzentrum unterstrichen worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit dem heute im Bundestag zu verabschiedenden Entwurf eines Vertragsgesetzes werden die rechtlichen Grundlagen für das völkerrechtliche Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Bundesregierung und EIOPA über deren Sitz in Frankfurt am Main geschaffen. Gleichzeitig soll das Abkommen jetzt auch die Zustimmung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften erhalten. Ich durfte gemeinsam mit dem damaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Werner Hoyer, und Carlos Montalvo, dem Exekutivdirektor von EIOPA, am 18. Oktober 2011 im Auswärtigen Amt in Berlin das Sitzabkommen unterzeichnen. Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Staatsminister Link, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes für die gute Federführung bei der Aushandlung des Sitzabkommens und die gute Kooperation bedanken. Es war ein mustergültiges Zusammenwirken verschiedener Ressorts bei der Abschlussverhandlung zu diesem Sitzabkommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) EIOPA ist Teil des europäischen Finanzaufsichtssystems. Sie ist, wie bereits gesagt, eine von drei im Zuge der europäischen Aufsichtsreform geschaffenen Aufsichtsbehörden. Sie hat ihre Tätigkeit bereits am 1. Januar 2011 aufgenommen. Mit dem heute vom Bundestag zu verabschiedenden Sitzabkommen kommen wir als Bundesrepublik Deutschland unseren Verpflichtungen als Sitzstaat nach. Durch dieses Abkommen werden klare rechtliche Rahmenbedingungen für EIOPA geschaffen, um ein reibungsloses Funktionieren der Behörde und die unabhängige Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewährleisten. Wir orientieren uns dabei am Sitzabkommen der Europäischen Zentralbank. Im Hinblick auf die haushälterische Situation ist eines wichtig: Durch dieses Abkommen kommen keine zusätzlichen finanziellen Belastungen auf die Bundesrepublik Deutschland zu. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hervorragendes Signal!) Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Sitz einer solchen Behörde ist das eine. Der Geist, in dem eine solche Behörde ihre Arbeit aufgenommen hat, ist das andere. Dass EIOPA nicht nur eine Aufsichtsbehörde ist und dass sie für die Branche in Europa und auch in Deutschland nicht immer ein bequemer Partner sein wird, merken wir bei der aktuellen Debatte über Solvency II. Hier müssen wir im Hinblick auf die aktuellen Verhandlungen auf Brüsseler Ebene dafür Sorge tragen, dass das bewährte System der betrieblichen Altersvorsorge in Deutschland nicht unter die Räder kommt. Welche wichtige Rolle EIOPA neben den Aufsichtsaufgaben jetzt schon im Bereich der legislativen Rechtssetzung auf europäischer Ebene spielt, merken wir. Ich habe es mit dem Exekutivdirektor bei der Unterzeichnung des Sitzabkommens besprochen: Die Bundesrepublik möchte einen offenen und zielführenden Dialog mit dieser wichtigen Behörde mit Sitz in Deutschland. Ich möchte auch den Deutschen Bundestag einladen, mit dieser Behörde einen offenen Dialog zu führen. An die anwesenden Kolleginnen und Kollegen des Finanzausschusses des Bundestages gerichtet, sage ich: Vielleicht könnte der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages diese wichtige Behörde mit Sitz in Frankfurt einmal besuchen, um deutlich zu machen, dass der Deutsche Bundestag, vertreten durch seinen Finanzausschuss, an einem lebendigen Dialog mit EIOPA interessiert ist. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Sitzabkommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muss schon ein wenig erstaunen, dass wir heute in diesem Hohen Haus über den Dienstsitz einer neuen Behörde debattieren sollen. Ich habe nichts dagegen, ein paar Minuten über die neue europäische Versicherungsaufsichtsbehörde mit Sitz in Frankfurt zu sprechen. Eigentlich könnte ich mich hier hinstellen und sagen: Frankfurt, Frankfurt, Frankfurt. Mehr steht in dem Gesetzentwurf nicht drin. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Haben wir gerade Oberbürgermeisterwahlen?) Mir und meinen Kolleginnen und Kollegen in der Opposition drängt sich allmählich der Eindruck auf, wir sollen jetzt eine halbe Stunde über Frankfurt am Main reden, weil die Koalition in ihrer permanenten Zerstrittenheit – besonders beim Thema Regulierung – kaum noch etwas entscheidet und das Problem hat, Debattenzeit zu füllen. Offensichtlich ist das in der Regierungskoalition aber niemandem mehr peinlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Dies ist der verfassungsrechtliche Hintergrund. Deswegen müssen wir heute über diesen Gesetzentwurf abstimmen. Der faktische, der ökonomische Hintergrund ist natürlich ein anderer. Die Finanzkrise 2007/2008 hat uns allen gezeigt, dass es erhebliche Defizite bei der Finanzaufsicht in Europa gab. Die Analyse belegte, dass es Mängel bei der Zusammenarbeit, der Koordinierung und der Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten beim nationalen Umgang mit den Praktiken der Finanzinstitute gab. Finanzmärkte und Banken agieren global; die Aufsicht war national. Die daraus resultierenden Defizite wurden in der Finanzmarktkrise offenkundig. (Beifall bei der SPD) Das Europäische Parlament hat daher eine Reform der europäischen Finanzaufsicht auf den Weg gebracht, die erstmals bisher ausschließlich nationale Befugnisse auf die europäische Ebene verlagert. Wir begrüßen diese Entwicklung ausdrücklich. Die Etablierung dieser Aufsichtsbehörden wird das Vertrauen fördern und das Risiko einer Destabilisierung des globalen Finanzsystems auch in Bezug auf das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung vermindern. Ziel der europäischen Versicherungsaufsicht, der EIOPA – das ist eine wirklich merkwürdige Abkürzung –, ist die Wahrung der Stabilität und Effizienz des Finanzsystems. Sie wird sich die Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen, Finanzkonglomerate, Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung sowie die Versicherungsvermittler genauer ansehen und entsprechend kontrollieren. Gleichzeitig übernimmt die EIOPA Tätigkeiten im Bereich des Verbraucherschutzes, indem sie etwa Verbrauchertrends analysiert und passende Ausbildungsstandards für die Wirtschaft entwickelt. Das begrüßen wir sehr. Die Struktur der EIOPA ist insgesamt sinnvoll. Sie ist durch gemeinsame Gremien mit den anderen europäischen Aufsichtsbehörden verknüpft. Hier seien der Gemeinsame Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden und der Beschwerdeausschuss der EIOPA genannt. Die laufende Aufsicht über die Unternehmen verbleibt im Wesentlichen auf nationaler Ebene, in Deutschland bei der BaFin. Dies bedeutet, dass beide Einrichtungen kollegial zusammenarbeiten müssen. Das braucht notwendigerweise etwas Zeit und den Willen zur kollegialen Zusammenarbeit. Das ist nicht immer so ganz einfach, weil neue Institutionen entstehen, die dann Bereiche bereits bestehender Organisationen übernehmen. Ich bin mir aber sicher, dass dieser Wille zur kollegialen Zusammenarbeit bei der BaFin unter der Leitung ihrer neuen Chefin, Frau König, vorhanden ist. Ich habe auch sehr begrüßt, dass Frau König in einem Interview deutlich gemacht hat, dass man zwischen Banken und Versicherungen unterscheiden sollte und die Regeln, die für Banken sinnvoll und notwendig sind, nicht einfach eins zu eins auf Versicherungen übertragen sollte. Ich denke, das ist ein vernünftiger Ansatz. Die Aufsichtsbehörden in Europa werden für die notwendige Harmonisierung und eine kohärentere Anwendung von Vorschriften auf Finanzinstitute und -märkte der Europäischen Union sorgen. Für die neuen EU-Behörden bedeutet dies im Vergleich zu ihren Vorgängergremien einen erheblichen Aufgabenzuwachs. Damit sind wir bei einem sehr aktuellen und wichtigen Thema aus dem Bereich der betrieblichen Altersversorgung, einem Thema, das eben auch von Staatssekretär Koschyk angesprochen wurde. Ich darf zu diesem Thema einfach einmal aus der Presse dieser Tage zitieren: Die EU-Kommission betrachtet unser Betriebsrentensystem künftig als Versicherung. Daher müssten für sie auch die in Solvency II festgelegten strengen Eigenkapitalvorschriften von bis zu 40 % gelten. Weiter heißt es: Folge: Vielen deutschen Pensionskassen droht die Pleite. Andere müssen ihre Rentenzahlungen drastisch kürzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein, dass aus der Harmonisierungsnotwendigkeit ein Harmonisierungswahn und eine Zerstörung etablierter Strukturen deutscher betrieblicher Altersversorgung werden. Das deutsche Drei-Säulen-Modell staatlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge empfiehlt sich durchaus auch für Europa. (Beifall bei der SPD) Es hat sich bewährt, und es muss geschützt werden. Die Anwendung von Solvency II muss mit Augenmaß geschehen und sollte nicht dazu führen, dass die gut funktionierende betriebliche Altersversorgung hier in Deutschland zerstört wird. Gleiches sollte in Europa gleich behandelt werden. Dafür braucht man gemeinsame Normen, Transparenz und Kennzahlen zur Bewertung. Die betriebliche Altersversorgung ist aber mit vielen nationalen Besonderheiten im Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht verbunden. Sie ist nicht mit großen Versicherungskonzernen zu vergleichen. Eine undifferenzierte europaweite Vereinheitlichung hilft hier nicht weiter. In einer Stellungnahme an den Finanzausschuss hat das Bundesfinanzministerium deutlich gemacht, dass es Verhandlungslinie der BaFin sei, Solvency-II-Eigenkapitalvorschriften möglichst nicht bei der betrieblichen Altersversorgung anzuwenden. Staatssekretär Koschyk hat diese Position eben dankenswerterweise für die Bundesregierung bekräftigt. Wir begrüßen dies ausdrücklich, fordern die Bundesregierung aber auf, entsprechend tätig zu werden und dafür zu sorgen, dass das auch umgesetzt wird. (Beifall bei der SPD) Wir wünschen der neuen europäischen Aufsichtsbehörde einen guten Start und erfolgreiche Arbeit. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD – Holger Krestel [FDP]: So kann man acht Minuten über nichts reden!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Als Nächster steht auf meiner Rednerliste Kollege Holger Krestel, der seine Rede zu Protokoll gibt.2 (Holger Krestel [FDP]: Das hätten Sie auch tun sollen, Herr Zöllmer!) Somit erteile ich für die Fraktion Die Linke unserem Kollegen Harald Koch das Wort. Bitte schön, Kollege Harald Koch. (Beifall bei der LINKEN) Harald Koch (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen der drei Eckpfeiler im Europäischen Finanzaufsichtssystem, nämlich über die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, kurz EIOPA. Im Januar 2011 nahm diese Behörde ihre Arbeit auf, mit Sitz in Frankfurt am Main. Die Europäische Bankaufsichtsbehörde, EBA, sitzt in London, die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, in Paris. Ich bezweifle, dass diese örtliche Zersplitterung wirklich nötig ist. Gewiss möchten verschiedene Staaten etwas vom Aufsichtskuchen abhaben und sich damit brüsten. Doch Egoismen sind hier fehl am Platze. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert: Stellen Sie lieber Arbeitsfähigkeit, gute Zusammenarbeit über kurze Wege sowie Effizienz in den Mittelpunkt! Wir brauchen keinen Bonn/Berlin-Streit für Europa. Für die EIOPA werden nun gemäß Sitzabkommen zur Gewährleistung der unabhängigen Wahrnehmung ihrer Aufgaben rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen. So gibt es zum Beispiel spezielle begünstigende Regelungen für das beamtete Personal der Behörde. Art. 13 des Abkommens stellt klar, dass die Gehälter, Löhne und anderen Bezüge des Behördenpersonals der EU-internen Steuer unterliegen. Diese sind im Gegenzug von innerstaatlichen Steuern befreit. Die Linke vertritt auch bezüglich des beamteten Behördenpersonals unzweifelhaft die Auffassung: Gute Arbeit muss auch gut bezahlt werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dennoch müssen wir ein wachsames Auge darauf haben, dass die Behörde nicht zu einem Selbstbedienungsladen wird. Seit Jahren sind die irrealen Gehaltsstrukturen auf EU-Ebene Gegenstand mannigfaltiger Kritik. Das Personalstatut für EU-Beamte, das auch für das EIOPA-Personal gelten soll, muss daher dringend überarbeitet werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Veraltete Privilegien und Dutzende Zulagen sowie Sonderregelungen gehören abgeschafft. Die dort arbeitenden Beamten sollen gut verdienen, und sie tun es ja auch. Die krasse Differenz zum durchschnittlichen Einkommen einer hiesigen Angestellten kann man aber niemandem plausibel erklären. Es müssen endlich sozial gerechte Gehaltsstrukturen geschaffen werden. (Beifall bei der LINKEN) Anstößig sind aber erst recht die ganz besonderen Steuerregelungen. EU-Beamte mit einem Grundgehalt von 7 600 Euro zahlen gerade einmal rund 12 Prozent Steuern. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist sehr wenig!) Ich denke, jeder sollte zumindest die Steuern zahlen, die er auch in seinem Heimatland zahlt, (Gisela Piltz [FDP]: Oder am besten noch mehr!) oder man sollte wenigstens auf deutlich höherem Niveau einen gemeinsamen Steuersatz finden; Stichwort: „Harmonisierung“. Für die Menschen draußen, die zuschauen, mutet das gerade in Zeiten der Euro-Krise mehr als paradox an: Zig Staaten werden Schuldenbremsen aufgedrückt; Spardiktate zwingen unter anderem zum späteren Renteneintritt und Verzicht auf Lohnerhöhungen. Auf der anderen Seite haben sich EU-Beamte ihr eigenes Steuerparadies geschaffen und wollen nicht davon abrücken. Eines ist klar: Die EU darf in dieser Hinsicht nicht länger Steueroase bleiben. (Beifall bei der LINKEN) Grundsätzlich darf man auf die weitere Arbeit der EIOPA gespannt sein. Genauso wie bei den anderen beiden Aufsichtsbehörden gab ihr die Kommission leider keine politisch-ökonomischen Leitlinien mit auf den Weg. Auch muss man die Erkenntnisse und Maßnahmen der EIOPA transparent machen. Ob das bei dem allgegenwärtigen Lobbyismus gelingt, ist fraglich, ebenso ob die EIOPA in Krisenfällen tatsächlich über effektive Befugnisse verfügt. Alles in allem brauchen wir ein schlagkräftiges und weitreichendes Aufsichtssystem auch auf EU-Ebene. Grundpfeiler sind eingeschlagen. Um einen dauerhaft sicheren Stand zu gewährleisten, sind aber noch einige Konstruktionsfehler auszumerzen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Harald Koch. – Der nächste Redner ist jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard Schick. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was hier vorliegt, ist nicht wirklich strittig und kann auch nicht mehr stark geändert werden. Wir haben die Beratungen im Ausschuss deswegen auch sehr knapp halten können. Das ist einfach ein Standardvertrag, wie er üblich ist. Deswegen ist die Debatte hier auch nicht von großen Differenzen bezüglich des Sachverhalts dieses Gesetzes geprägt. Aber es lohnt sich natürlich, einmal einen Blick darauf zu werfen, was wir in Europa eigentlich gerade machen. Man sieht, dass dort eine Aufsichtsstruktur entstanden ist, die in zwei Dimensionen noch nicht zufriedenstellend ist. Die eine ist die Dimension der räumlichen Aufteilung. Es gibt eine Aufsichtsbehörde für Banken in London, eine Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen in Frankfurt – mit dieser befassen wir uns gerade – und die Aufsichtsbehörde für Fonds in Paris. Das Zusammenwirken dieser verschiedenen Institutionen wird natürlich dadurch erschwert, dass in drei verschiedenen Ländern und in drei verschiedenen Sprachkulturen verhandelt werden muss. Auf diese Art und Weise – darin besteht das Problem – kommen wir nicht zu einer einheitlichen Finanzaufsicht und einer intensiven Kooperation. Die zweite Dimension ist, dass die Aufgabenteilung mit den nationalen Behörden an vielen Stellen nicht so klar definiert ist, dass sie einen Sinn ergibt. Es ergibt keinen Sinn, eine kleine, rein regional tätige Bank oder Versicherung von europäischen Institutionen beaufsichtigen zu lassen, während gleichzeitig Durchgriffsrechte der europäischen Aufsichtsbehörden bei grenzüberschreitend tätigen Banken und Versicherungen fehlen. Wir müssen in Europa unbedingt zu einem besseren Aufsichtssystem kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dabei bleibt es aber nicht. Auch inhaltlich gibt es massive Probleme. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Bankenaufsicht in London und die Versicherungsaufsicht in Deutschland sitzt. Vielmehr gibt es bei den beiden Regulierungsprojekten – Basel III für die Banken und Solvency II für die Versicherungsunternehmen – keinen einheitlichen Regulierungsansatz. Wenn man die Kapitalanforderungen für bestimmte Anlagen in Solvency II und Basel III vergleicht, dann kommt man zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Für eine zehn Jahre laufende Unternehmensanleihe, die mit BB bewertet ist, wird in Basel III eine Kapitalunterlegung von 11,8 Prozent, von den Versicherern in Solvency II aber eine von 45 Prozent verlangt. Ein Portfolio mit gewerblichen Immobilienkrediten muss in Basel III mit 8 Prozent, in Solvency II aber mit nur 5 Prozent Eigenkapital unterlegt werden. Dabei könnte es grundsätzlich sogar Sinn ergeben, Banken und Versicherer unterschiedlich zu behandeln. Allerdings müssten sich die Kriterien dann danach ausrichten, welche Risiken von der jeweiligen Branche am besten getragen werden können. So könnten Lebensversicherer aufgrund der langfristigen Verpflichtungen wesentlich besser in der Lage sein, kurzfristige Marktpreisschwankungen abzufedern und langfristige Geschäfte einzugehen. So wären Versicherer sicherlich als Investor für langjährige Anleihen und Aktivitäten gut geeignet. Doch das Aufsichtsrecht setzt hier leider einen gegenteiligen Anreiz. Eine 30 Jahre laufende Infrastrukturanleihe muss in Basel III mit 7,1 Prozent, in Solvency II aber mit 32,5 Prozent unterlegt werden. So ist ziemlich klar, dass die Versicherungsunternehmen gerade in diese Projekte nicht verstärkt einsteigen werden. Damit entsteht insgesamt gesehen eine Regulierung, bei der aufgrund des mangelnden Zusammenwirkens der Versicherungs- und Bankenregulierung eine Verortung der Risiken an der richtigen Stelle des Finanzsystems nicht gelingen wird. Wir haben die wichtige Aufgabe, die Vorgaben zur Versicherungsregulierung in deutsches Recht umzusetzen und dabei zu schauen, an welcher Stelle eine Kohärenz von Banken- und Versicherungsregulierung möglich ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es darf nicht passieren, dass bei der inhaltlichen Regulierung das repliziert wird, was wir bei den behördlichen Strukturen finden, nämlich dass die Bankenaufsicht in London und die Versicherungsaufsicht in Frankfurt räumlich so weit voneinander entfernt sind wie die Logik der Bankenregulierung und die Logik der Versicherungsregulierung. An dieser Stelle sehe ich noch großen Handlungsbedarf. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Letzter Redner in unserer Aussprache ist unser Kollege Ralph Brinkhaus für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob das, was wir hier machen, peinlich ist, möchte ich bezweifeln. Zu einer Peinlichkeit komme ich später noch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Obwohl das Gesetz relativ einfach ist, ist es aus drei Gründen sinnvoll, dass wir uns an dieser Stelle mit diesem Gesetz beschäftigen. Der erste Grund ist, dass dieses Gesetz mittlerweile das zwölfte ist, das im Bereich der Bankenregulierung von der Regierungskoalition auf den Weg gebracht wird. Das alles geschah innerhalb der letzten 22 Monate. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt aber nicht das große Gesetz! Bitte!) Dies ist meines Erachtens deswegen bemerkenswert, weil mit dem Prozess der Errichtung der EIOPA in Frankfurt durchaus Arbeit verbunden war. Das sollte man an dieser Stelle einmal würdigen. Ich glaube, diese Debatte ist eine gute Gelegenheit dafür. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der zweite Grund, warum es wichtig und gut ist, dass wir diese Debatte führen, ist, dass es durchaus Sinn macht, sich ein wenig mit den europäischen Aufsichtsbehörden zu beschäftigen. Eine große Erkenntnis aus der Finanzkrise 2008 war, dass die Aufsicht europäisiert werden muss. Wir haben dies zusammen mit unseren europäischen Partnern innerhalb von zwei Jahren sehr schnell umgesetzt. Wir haben einen European Systemic Risk Board, also eine Risikoaufsicht, gegründet. Es ist die EBA, die Bankenaufsicht, die ihren Sitz in London hat, gegründet worden. Außerdem gibt es die ESMA, die Wertpapieraufsicht in Paris. Daneben gibt es – das habe ich bereits gesagt – die EIOPA, die Versicherungsaufsicht in Frankfurt. Diese Aufsichtsbehörden haben relativ schnell ihre Arbeit aufgenommen. Man muss allerdings sagen, dass es an diesen Behörden auch Kritik gab und noch gibt. Dieser Kritik müssen wir uns stellen; denn als Mitglieder des Deutschen Bundestages sind wir an der Durchführung der Aufgaben, die diese Behörden haben, durchaus beteiligt. Der erste Kritikpunkt ist, dass diese Aufsichtsbehörden viel zu mächtig sind, dass sie viel zu viel dürfen, dass sie technische Standards setzen dürfen und dass sie im Zweifelsfall sogar in das Geschäft der Mittelständler in Deutschland, der Volksbanken und der Sparkassen, eingreifen dürfen. Das ist so nicht gewollt. Wir wollen eine demokratische Kontrolle und eine Proportionalität in der Aufsicht. Wir wollen außerdem, dass die Aufsichtsbehörden das europäisch Notwendige regeln. Ein gutes Beispiel hierfür ist die HRE. Wir wollen aber nicht, dass der Eingriff kleinteilig bei unseren Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, bei den Sparkassen und bei den Volksbanken erfolgt. Da sind wir als Parlamentarier gefordert. Ich glaube, diese Debatte ist ein guter Anlass, diesen Punkt heute einmal zu betonen. Der zweite Kritikpunkt ist, dass die ersten Schritte, die von diesen Aufsichtsbehörden gemacht worden sind – insbesondere ist da die EBA mit dem Bankenstresstest zu erwähnen –, nicht ganz ruckelfrei waren. Es gab eine Menge Beschwerden, dass die Kommunikation nicht gut war und dass Parameter geändert worden sind. Das ist richtig. Diese Kritik nehmen wir sehr ernst. Wir sind als Bundestag gefordert, aufzupassen, dass die Arbeit der Behörden richtig läuft. Ich möchte aber nichtsdestotrotz um Verständnis, was die Arbeit dieser Behörden angeht, werben. Denn wenn man sich einmal die Arbeit der EBA in London anschaut – wir waren letzte Woche dort –, dann sieht man, dass es sich um Start-ups handelt, die erst seit anderthalb Jahren auf dem Markt sind und die erst noch ihr Personal und ihre Organisationsstruktur finden müssen. Parallel dazu müssen sie Aufsicht nach hohen Qualitätsstandards durchführen. Wir sollten diesen Prozess positiv, aber auch kritisch begleiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Der dritte Punkt – da wende ich mich an die Kollegen von der SPD; Herr Sieling, bleiben Sie ruhig sitzen; das geht auch Sie an –, warum es gut und richtig ist, diese Finanzmarktdebatte zu führen, ist der Wahlkampfauftakt der SPD für die Bundestagswahl 2013 nach dem Motto „Demokratie gegen Bankenmacht“ oder „Wer bin ich, und, wenn ja, wie viele?“. Es ist der SPD gelungen, eine Website zu installieren und eine Kampagne zu starten, die vom Ansatz her eigentlich gar nicht so unintelligent ist. Denn Sie haben brillant analysiert, dass es sich nicht lohnt, gegen Angela Merkel Wahlkampf zu machen, weil sie einfach zu stark und zu gut für Sie ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD) Sie haben weiterhin brillant analysiert, dass eigentlich alle sozialdemokratischen Themen quasi abgeräumt sind. Wir haben das Thema Arbeit erledigt, wir haben das Thema Gerechtigkeit erledigt, und wir sind dabei, andere Themen zu erledigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD und der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die Gerechtigkeit habt ihr erledigt!) Dementsprechend versuchen Sie verzweifelt, noch ein Thema zu finden. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, dass Sie das Thema Finanzmarkt aufgreifen. An dieser Stelle habe ich schon oft gesagt, dass hier noch einiges zu tun ist. Wenn man sich aber anschaut, in welcher Form Sie sich inhaltlich damit auseinandersetzen, dann muss man sagen, dass das mehr als peinlich ist. Es ist Ihre Sache, dass Sie auf Ihren Parteiwebseiten schlecht gemachte Trickfilmchen zeigen. Sie selber müssen wissen, ob es nicht unter Ihrer Würde ist, auf Flugblättern das Parteilogo nicht abzubilden und sich so den NGOs anzubiedern. Aber ich dachte, dass wir in der Politik darüber hinweg sind, dumpfe Feindbilder aufzubauen. Mit dem dumpfen Feindbild, das Sie aufbauen, diskreditieren Sie nicht nur die auf dem Finanzmarkt tätigen Menschen, die ohne Zweifel vieles falsch gemacht haben, sondern auch Hunderttausende Menschen in Deutschland, die auf dem Finanzmarkt ihrer Arbeit ehrlich nachgehen. Das haben diese Menschen nicht verdient. So viel zur Form. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: So viel zum Thema dumpf!) Kommen wir zum Inhalt. Auf Ihren Flugblättern verkürzen Sie die Lösungen auf vier Punkte. Sie schreiben, man müsse den Finanzmarkt schärfer regulieren. Oh Wunder! Darauf sind wir auch gekommen. Deswegen liegt unser Gesetzentwurf vor. Ihre Schlussfolgerung ist wahrlich keine intellektuelle Spitzenleistung. Weiter fordern Sie, dass Banken, denen geholfen wird, verstaatlicht werden müssen. Leider sind die meisten Banken, denen wir geholfen haben, staatliche Banken. Dann sagen Sie: Wir müssen ein Trennbankensystem einführen. – Sie erklären dabei nicht, was die deutschen Universalbanken mit der Krise zu tun hatten, wie ein Trennbankensystem organisiert werden soll und wie es künftig das Entstehen von Krisen verhindern soll. Zum Schluss kommt wieder die alte Leier: Wir brauchen eine Spekulationsteuer. – Ich möchte nur darauf hinweisen: Kein anderer Finanzminister hat sich so sehr für die Einführung einer Finanztransaktionsteuer eingesetzt wie Wolfgang Schäuble. Sie sagen den Menschen in diesem Land: Diese Steuer löst alle Probleme. – Das ist schlichtweg falsch. Wir gehen einen anderen Weg. Wir arbeiten konstruktiv. Wir wollen die Mühen der Ebene bewältigen. Das tun wir mit diesem Gesetz. Deswegen kann ich Sie nur aufrufen, diese unselige Wahlkampfkampagne zu beenden, konstruktiv mitzuarbeiten und sich der Union und den Liberalen anzuschließen. Dann kommen wir auf den Finanzmärkten auch voran. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. – Kollege Brinkhaus war der letzte Redner in dieser Aussprache. Diese schließe ich nun. Wir kommen zur zweiten Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz dieser Aufsichtsbehörde. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8506, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8236 anzunehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/ Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. – Damit ist der Gesetzentwurf mit der von mir festgestellten Mehrheit angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren – Drucksache 17/8376 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache ein halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dies so beschlossen. Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Wolfgang Gehrcke. Bitte schön, Kollege Wolfgang Gehrcke. (Beifall bei der LINKEN) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sehr viele Menschen in diesem Land, die über 40 Jahre darauf gewartet haben, dass dieses Parlament – von der Regierung hat man das kaum erwartet – den einfachen Satz ausspricht: Entschuldigung, euch ist Unrecht geschehen. (Beifall bei der LINKEN) Ich glaube, diese Menschen haben einen Anspruch darauf. Der Radikalenerlass hat viel Demokratie in unserem Lande zerstört. Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen in Erinnerung rufen. 3,5 Millionen Menschen sind per Regelanfrage vom Verfassungsschutz überprüft worden. Wenn das kein Beleg für einen Spitzelstaat ist, dann weiß ich nicht, was ein Spitzelstaat ist. (Holger Krestel [FDP]: Sie wissen ganz genau, was ein Spitzelstaat ist! Wenn das einer weiß, dann sind das Sie und Ihre Genossen!) 11 000 Berufsverbotsverfahren haben stattgefunden. 1 256 Menschen ist die Einstellung in den öffentlichen Dienst verweigert worden. Es hat viele Entlassungen gegeben. Bringen wir nicht einmal die Courage auf, diesen Menschen zu sagen: „Wir haben euch geschadet; das war Unrecht, und das wollen wir korrigieren“? Ich sage Ihnen: Ein Großer Ihrer Partei, Willy Brandt, der den Radikalenerlass mit zu verantworten hat, hat öffentlich festgestellt: Der Radikalenerlass war ein Fehler. (Beifall bei der LINKEN) Warum können dieses Parlament und insbesondere Ihre Partei das nicht eingestehen? Ich halte ein solches Eingeständnis für unbedingt notwendig. Das ist eine Frage der Demokratie. Die Bundesregierung hat sich anders entschieden. Die Erklärung der Bundesregierung ist relativ simpel: Alles war rechtens; nichts ist passiert. – Man ist nicht bereit, über das Unrecht zu reden, das einigen Menschen angetan worden ist. Man darf den Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung, die die Bundesrepublik zutiefst verändert hat, und dem sogenannten Radikalenerlass und den dann erfolgten Berufsverboten nicht außer Acht lassen. Man wollte den rebellischen Geist der 68er in diesem Lande eindämmen. Ich habe die Sorge, dass die jetzige Debatte über den Verfassungsschutz und all das, was in diesem Zusammenhang hochgepusht wird, ein wenig mit der derzeitigen sozialen Lage zu tun hat. Man ist unsicher, weil man nicht weiß, welche politischen Bewegungen in diesem Lande noch entstehen werden. Mich selber betrifft das nicht so sehr. Ich werde seit über 50 Jahren vom Verfassungsschutz überwacht; daran hat sogar meine Parlamentsmitgliedschaft nichts geändert. Ich möchte aber nicht, dass sich der Ungeist der Berufsverbote in Deutschland wieder verbreitet. (Beifall bei der LINKEN) Berufsverbote stehen im Widerspruch zum Grundgesetz. Ich finde, dass man sehr engagiert für das Grundgesetz kämpfen muss und kämpfen kann. Man war so klug, im Grundgesetz keine bestimmte Wirtschaftsordnung festzulegen. Das Grundgesetz ist offen und ermöglicht, privates Eigentum zum Zwecke des Gemeinwohls in öffentliches Eigentum zu überführen. Wolfgang Abendroth, ein großer Jurist, hat zwischen Staatsräson und Verfassungstreue unterschieden; er war immer für Verfassungstreue. Auch die Linke ist für Verfassungstreue und dafür, dass das Grundgesetz eingehalten wird. (Steffen Bilger [CDU/CSU]: Es darf gelacht werden!) Das ist unsere Botschaft. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte, dass endlich der Kalte Krieg beendet wird. Zum Ende des Kalten Krieges gehört es, die Berufsverbote aufzuheben und festzustellen, dass diese Unrecht sind. Ich möchte, dass junge Menschen in unserem Land wieder mit rebellischem Geist – dafür werden sie selber sorgen – sowie mit der Bereitschaft zum Widerspruch und der Erkenntnis aufwachsen, dass man nicht zu oft Ja sagen darf. Ich möchte, dass sie in dem Bewusstsein aufwachsen, dass Alternativen möglich und nötig sind. Berufsverbote waren immer das Gegenteil; sie waren stets Ausdruck einer Politik des Duckmäusertums und des Abgewöhnens von Demokratie. Darüber müssten wir inzwischen hinweg sein. Lassen Sie bitte diesen vielen Menschen Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie ihnen sagen: Es war Unrecht, was euch geschehen ist. Wir entschuldigen uns. Wir werden euch rehabilitieren. – Darauf haben diese Menschen einen Anspruch, genauso wie die Demokratie in diesem Land; das ist viel wichtiger. Danke sehr. (Beifall bei der LINKEN und der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Gehrcke. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Helmut Brandt. Bitte schön, Kollege Helmut Brandt. (Beifall bei der CDU/CSU) Helmut Brandt (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beim ersten flüchtigen Durchsehen der Tagesordnung dieser Woche habe ich gedacht: Mein Gott! Die Linke wacht auf. Berufsverbote aufheben, Opfer rehabilitieren – jetzt wird der Unrechtsstaat DDR aufgearbeitet. – Ich musste mich dann eines Besseren belehren lassen, als ich die Vorlage studierte. Das, was Herr Gehrcke hier eben zum Besten gab, hat meine Einschätzung bestätigt. Was wollen die Linken mit ihrem Antrag erreichen? Es geht um den sogenannten Radikalenerlass vom Januar 1972. Die Linke beantragt unter Bezug auf diesen Erlass, … alle erforderlichen Maßnahmen zur Rehabilitierung der Betroffenen einzuleiten, … dafür einzutreten, dass Verfassungsschutzakten, die auf dem Radikalenerlass beruhen, … den Betroffenen und der Wissenschaft zugänglich gemacht werden und dass gesetzliche Regelungen zur materiellen Entschädigung der Betroffenen geschaffen werden; … die mit der Bewilligung von Mitteln aus den Programmen gegen Rechtsextremismus verbundene Extremismusklausel ersatzlos zu streichen. (Beifall des Abg. Harald Koch [DIE LINKE] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Genau!) Der Antrag wird mit Hinweis auf folgende Aspekte begründet: Das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbiete eine Diskriminierung wegen politischer Überzeugungen. Aus einer Verurteilung der Berufsverbotspraxis durch den Europäischen Gerichtshof ergebe sich, dass der Radikalenerlass Unrecht gewesen sei. Dies sei nie – Herr Gehrcke hat das wiederholt – öffentlich eingestanden worden. Es handle sich um Berufsverbote, die zu verurteilen seien. Dann folgt der Opferbegriff, der für mich entlarvend ist, zeigt er doch, was Sie eigentlich beabsichtigen. Meine Damen und Herren Kollegen von der Linken, angesichts der erschütternden Mordserie der sogenannten Zwickauer Zelle und des Anstiegs der Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten – im letzten Jahr hatten wir allein 14 000 Straftaten zu verzeichnen, die von der rechten Szene zu verantworten sind – bin ich über Ihren Antrag doch sehr überrascht. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was soll das denn jetzt sein?) Die Morde der Zwickauer Zelle zeigen doch gerade, dass auch aus heutiger Sicht die Forderung nach einer wehrhaften Demokratie aktueller denn je ist. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist doch absurd!) Ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist angesichts der immer noch währenden Gefahr des Links- und Rechtsextremismus nach wie vor erforderlich. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist absurd!) – Das ist keineswegs absurd. Das ist unserem Grundrechtssystem immanent. Herr Gehrcke sprach hier von Verfassungstreue; wir erwarten sie gerade von denen, die für dieses Land arbeiten. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Es geht doch darum, dass in Westdeutschland Kommunisten keine Postboten werden durften!) So heißt es im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Mai 1975: Ist auf die Beamtenschaft kein Verlaß mehr, so sind die Gesellschaft und ihr Staat in kritischen Situationen „verloren“ … Offensichtlich wollen Sie genau dies erreichen. Der Europäische Gerichtshof hat aus dem Grund, den ich zitiert habe – anders als Sie es glauben machen wollen –, ausdrücklich anerkannt: Der demokratische Staat hat das Recht, – er hat auch die Pflicht – von seinen Beamten Verfassungstreue zu verlangen. Die Verfassungstreue ist ein althergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes. Den Beamten obliegt hiernach eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und der Verfassung. (Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Haben Sie eigentlich zugehört?) – Hören Sie mir doch zu. Vielleicht können Sie dann nachvollziehen, weshalb ich so radikal anderer Auffassung bin als Sie. Der als Radikalenerlass bezeichnete Extremistenbeschluss wurde durch die am 19. Mai 1976 beschlossenen und am 17. Januar 1979 bekräftigten „Grundsätze für die Prüfung der Verfassungstreue“ ersetzt, die bis heute fortgelten. Seither wird im Zusammenhang mit der Einstellung in den öffentlichen Dienst beim Verfassungsschutz keine Regelabfrage zur Verfassungstreue mehr vorgenommen. Nur wenn konkrete Ansatzpunkte für eine fehlende Verfassungstreue vorliegen, kann in Einzelfällen eine Abfrage gemäß § 19 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes erfolgen. Ich füge hinzu: Dann muss sie auch erfolgen. Die Gewähr, jederzeit für die demokratische Grundordnung einzutreten, ist Teil der von der Verfassung geforderten Eignungsvoraussetzungen für die Einstellung in den öffentlichen Dienst; auch hier kann ich mich auf das Bundesverfassungsgericht berufen. Diese Rechtslage bestand bereits zum Zeitpunkt des sogenannten Extremistenbeschlusses und gilt bis heute fort. Trotz der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungstreue zugunsten der Bewerber für den öffentlichen Dienst verpflichtet diese Rechtslage den Dienstherrn bei Vorliegen von Anhaltspunkten zur Prüfung der Verfassungstreue. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz wurden seit 1980 keine entsprechenden Anfragen bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst mehr vorgenommen. Es ist gleichwohl weiterhin notwendig, in entsprechenden Fällen eine solche Überprüfung durchzuführen. Die Mitgliedschaft eines Beamten in einer Vereinigung, die Pläne zur Systemüberwindung hatte oder hat – Herr Gehrcke, ich glaube, dass Sie einer solchen Partei zumindest angehört haben – und deren Schriften zur Systemüberwindung aufriefen bzw. aufrufen, ist mit dem Verhältnis eines Beamten zum Staat nicht vereinbar. Eine wehrhafte Demokratie kann so ein Verhalten insbesondere denen gegenüber, die sich in einem besonderen Treueverhältnis an den Staat gebunden fühlen, nicht akzeptieren. Soweit ein Bewerber in der Vergangenheit nicht in den öffentlichen Dienst aufgenommen wurde, weil eine Abfrage beim Verfassungsschutz begründete Zweifel an der Verfassungstreue ergaben, ist dies mit den Grundrechten vereinbar und entschädigungslos hinzunehmen. Ich vermag darin keine unbillige Härte zu erkennen. Niemand wird gezwungen, als Beamter in den öffentlichen Dienst einzutreten. Niemand wird gezwungen, Mitglied einer Vereinigung zu sein, die Pläne zu einer Systemüberwindung hat oder deren Schriften zur System-überwindung aufrufen. Aber beides geht nicht. Man muss sich schon überlegen, was man will. Eine Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung signalisiert auch eine Identifikation mit deren Zielsetzungen. Wenn die Zielsetzungen einer Vereinigung im Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, dann ist die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung mit der Treue-pflicht eines Beamten zum Staat nicht vereinbar. Im Gegenteil: Die Treuepflicht erfordert eine klare Distanz zu Gruppen, die den Staat, seine Institutionen und die bestehende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen oder diffamieren. Ich sage es noch einmal: Auch aus heutiger Sicht ist die Forderung nach einer wehrhaften Demokratie aktuell. Ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist angesichts der immer noch währenden Gefahr von Links- wie Rechtsextremismus nach wie vor erforderlich, und es liegt an der Person des Bewerbers für den öffentlichen Dienst, ob er die an ihn gestellten Voraussetzungen erfüllen will oder nicht. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das habe ich mir fast gedacht!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Helmut Brandt. – Nächster Redner für die sozialdemokratische Fraktion ist unser Kollege Michael Hartmann. Bitte schön, Kollege Michael Hartmann. (Beifall bei der SPD) Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Antrag, mit dem wir uns zu dieser späten Stunde befassen dürfen, hatte ich zunächst als einen eingestuft, der eher folkloristischer Natur ist oder zeitgeschichtlichen Aufarbeitungswünschen entspricht. Aber ich befürchte fast, dass manches, was darin steht, doch ernst gemeint ist. Wenn Sie wollen, dass Ihr Antrag ernst genommen wird, sollte sich ein Redner wie Sie, Herr Gehrcke, der 1961 in die KPD eingetreten ist, der Mitbegründer der SDAJ und bis 1990 Mitglied der DKP war, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich bin ein Überzeugungstäter!) von diesem Pult aus erst einmal für all das Unrecht, das er direkt oder indirekt zu verantworten hat, entschuldigen. Erst dann kann er Entschuldigungen von anderen verlangen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das werden Sie nicht erleben! Da können Sie sicher sein!) – Ich weiß, dass ich das bei Ihnen nicht erleben werde. Aber Sie müssen das, was ich von diesem Pult aus sage, ertragen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Wenn es uns Sozialdemokraten nicht möglich ist, etwas unverkrampfter mit Ihrer Fraktion umzugehen, liegt das auch an Personen wie Ihnen, die eine bestimmte Haltung einnehmen, sehr geehrter Herr Gehrcke. Eine weitere Bemerkung. Ich will ernsthaft auf das Thema eingehen. 1972 gab es den sogenannten Radikalenerlass, der vom Bundeskanzler und von den Ministerpräsidenten gemeinsam verabschiedet wurde. Das war – man wird sich erinnern, manche sogar sehr persönlich – die Hoch-Zeit des RAF-Terrorismus, die Zeit, in der der Kalte Krieg tobte. Man hat dabei ohne Zweifel das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Man hat Menschen beobachtet, ausgeforscht und nicht für den öffentlichen Dienst zugelassen. Aus heutiger Sicht ist es schwierig, die diesem Vorgehen zugrunde liegende Haltung nachzuvollziehen. Deshalb war es richtig und konsequent, dass der sogenannte Radikalenerlass nach einem Urteil des Verfassungsgerichts seine Gültigkeit verloren hat. Ohne Frage entsprach das alles nicht unseren heutigen Maßstäben. Das ist keine Praxis, die wir uns in irgendeiner Weise wieder wünschen würden. Allerdings ist auch klar – gestern wie heute –, dass Beamtinnen und Beamte, dass Menschen, die in den öffentlichen Dienst eintreten wollen, selbstverständlich eine besondere Treuepflicht gegenüber diesem Staat und gegenüber diesem Grundgesetz haben. Ich weiß nicht, warum man sich auf einer Seite dieses Hauses so schwertut, diese Aussage als eine richtige, notwendige und unabdingbare anzuerkennen. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer hat denn hier von Verfassungstreue gesprochen?) Es war Willy Brandt – wenigstens ihn haben Sie erwähnt –, der von einem großen Fehler gesprochen hat, und es war Helmut Schmidt, der mit Recht gesagt hat, dass damals mit Kanonen auf Spatzen geschossen wurde. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Warum haben Sie es dann danach nicht abgeschafft?) Das alles wurde ausgesprochen. Das alles war richtig. Wissen Sie, Sie mögen sich in Ihrer Rolle als Verfolgte oder Verfemte gefallen: aber diese Rolle steht Ihnen wahrhaftig nicht so gut zu Gesicht. Kämpfen Sie politisch mit uns. Wir kämpfen politisch mit Ihnen. Aber führen Sie nicht biografische Schlachten der Vergangenheit. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist für die Menschen, die betroffen waren, ganz aktuelle Gegenwart!) Vizepräsident Eduard Oswald: Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es spricht in gewisser Weise für sich, dass die Redner von SPD und CDU/CSU – ich nehme an, dass gilt auch für die Rednerin der Grünen, die gleich spricht – Ihrem Antrag, dem der Linken, mit einer gewissen Skepsis begegnen. Das liegt nicht daran, dass Sie die historische Situation der 70er-Jahre und die Situation, in der es zum Radikalenerlass kam, gerne wiederhätten und alles wiederholen möchten, sondern daran, dass aus jeder Zeile Ihres Antrags parteipolitisches Kalkül spricht. Gerade wenn es darum geht, historisch brisante und in dem einen oder anderen Fall nicht ganz adäquate Vorgehensweisen aufzuarbeiten, wenn es darum geht, sich der Geschichte und der Situation, die in den 70er-Jahren herrschte, zu stellen, gegebenenfalls auch zuzugeben, dass damals über das Ziel hinausgeschossen wurde, dann verträgt sich das überhaupt nicht mit einem Antrag, der ausschließlich parteipolitischem Kalkül dient, was bei Ihrem Antrag der Fall ist. Damit leisten Sie keinen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte. Der Gerechtigkeit und den zu Unrecht Betroffenen leisten Sie einen Bärendienst, wenn Sie so vorgehen. (Beifall bei der FDP) Ich glaube, alle Demokraten sind sich darüber einig, dass man damals über das Ziel hinausgeschossen ist. Die Äußerung von Helmut Schmidt, dass man mit Kanonen auf Spatzen geschossen hat, die Herr Hartmann genannt hat, aber auch die Äußerungen von führenden FDP-Politikern oder auch von Willy Brandt, wurden vielfach genannt. Aber auch heute gilt, dass ein Staat darauf achten muss, dass die Beamten, dass die Menschen, die für diesen Staat arbeiten – das ist geltendes Beamtenrecht –, fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen müssen. Dieser Kern ist bis heute gültig, und er ist auch heute noch richtig. Bei dem einen oder anderen von Ihnen hat man leider den Eindruck, dass Sie auch an dieser Stelle nicht einer Meinung mit uns sind. Weil Herr Brandt und Herr Hartmann schon viel Richtiges gesagt haben, will ich mich kurzfassen. Wenn Sie ein Interesse daran hätten, diese Sache sauber aufzuarbeiten, wenn Sie wirklich ein Interesse daran hätten, festzustellen, wo im Einzelnen übers Ziel hinausgeschossen wurde, dann hätten Sie Ihren Antrag nicht mit parteipolitischen Spitzen gespickt, dann hätten Sie keine Nebenkriegsschauplätze aufgemacht, die nicht dazugehören. Insofern ist der Antrag unsauber erarbeitet, und darüber hinaus werden Sie dem eigentlichen Thema damit auch nicht gerecht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Zitieren Sie doch einmal ein Beispiel!) – Sie befassen sich beispielsweise mit der Extremismusklausel von heute, über die man sicherlich streiten kann. Sie berühren also Themen, die mit dem eigentlichen Gegenstand des Antrags gar nichts zu tun haben. Insgesamt ist das eine Sache, die man sicherlich nur aus der Geschichte heraus verstehen kann: RAF, Deutscher Herbst, viele Ereignisse, die damals Millionen von Deutsche bedroht haben und bei denen der Staat sicherlich etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Ihr Antrag ist zur Aufarbeitung dieser Geschichte schlicht kein Beitrag, sondern kontraproduktiv; insofern ist er abzulehnen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich der Kollegin Ingrid Hönlinger von Bünd-nis 90/Die Grünen das Wort. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 28. Januar 1972 verabschiedete sich Bundeskanzler Willy Brandt gemeinsam mit den Regierungschefs der Bundesländer von seinem ursprünglichen Motto „Mehr Demokratie wagen“. An diesem Tag wurde der Beschluss zu den „Grundsätzen über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen“ gefasst, auch „Radikalenerlass“ genannt. Damit wurde die sogenannte aktive Verfassungstreue zur Voraussetzung für die Einstellung in den öffentlichen Dienst. Eine Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation genügte zur Begründung der Verfassungsfeindlichkeit. Für eine große Anzahl von Menschen hatte das schwerwiegende Folgen. Bereits die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Deutsche Friedensgesellschaft/ Vereinigte Kriegsdienstgegner oder die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen waren dem Staat zu radikal. Im Antrag der Linksfraktion ist dargelegt, dass der Radikalenerlass zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst führte. Heute verbietet das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das AGG, eine Diskriminierung aufgrund der politischen Überzeugung. Berufsverbote greifen unmittelbar und direkt in die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG ein und unterliegen deshalb hohen verfassungsrechtlichen Hürden. Berufsverbote können einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellen. (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Die Lehrerin Dorothea Vogt wurde aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der DKP aus dem Staatsdienst entlassen und später wieder eingestellt. Im September 1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass dieses Vorgehen einen Verstoß gegen Art. 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstelle, also einen Verstoß gegen das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Versammlungsfreiheit. Die Bundesrepublik wurde vom Straßburger Gerichtshof zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt. Allerdings bezog sich das Urteil nur auf bereits eingestellte Beamtinnen und Beamte und nicht auf Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst. Es wäre deshalb ein anständiger Zug der Bundesregierung und des gesamten Bundestages, sich für das Unrecht, das durch den Radikalenerlass an den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern begangen wurde, zu entschuldigen. (Beifall bei der LINKEN) Noch ein Rückblick in die Geschichte. 1976 wurde der Radikalenerlass auf Bundesebene von SPD und FDP aufgehoben; auf Landesebene erst sehr viel später. Willy Brand selbst nannte den Radikalenerlass später einen Fehler seiner Regierung. Dieser Sinneswandel hatte sicherlich mit der damaligen sozialliberalen Regierungskoalition zu tun. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Damals waren die Liberalen noch liberal! – Gegenruf des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Herr Gehrcke, da redet doch der Blinde von der Farbe, oder?) Damals war die FDP eben noch eine rechtsstaatsliberale Partei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Auf ähnliche Werte kann man in der heutigen christlich-liberalen Koalition leider nicht mehr hoffen. Wäre das nämlich so, würde die unsinnige Extremismusklausel der Familienministerin längst der Vergangenheit angehören – die Klausel, die staatliche Förderung für demokratische Organisationen ausschließt, wenn diese nicht die politische Haftung für ihre Partnerorganisationen übernehmen können oder wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das, was Sie da erzählen, ist ein völliger Unsinn!) Als grüne Bundestagsfraktion begrüßen wir die Initiative der Linksfraktion. Auch wir wollen, dass Maßnahmen zur Rehabilitierung der Betroffenen eingeleitet und dass die entsprechenden Unterlagen des Verfassungsschutzes über das Bundesarchiv für die Betroffenen und für die Wissenschaft zugänglich gemacht werden. Außerdem – das kann man nicht oft genug fordern – muss endlich die unsägliche Extremismusklausel der Familienministerin abgeschafft werden; (Beifall bei der LINKEN) denn diese Klausel stärkt nicht die Demokratie. Mit solchen Maßnahmen schwächt man – und Frau – die Demokratie. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Ganz schlechte Rede! Da sieht man wieder mal die dunkelroten Wurzeln der Grünen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8376 mit dem Titel „Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller anderen Fraktionen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG KOM(2011) 824 endg.; Ratsdok. 18008/11 – Drucksachen 17/8426 Nr. A.44, 17/8617 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Wichtel c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2011) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11 – Drucksachen 17/8426 Nr. A.46, 17/8618 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Wichtel Zu dem zweiten Verordnungsvorschlag liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Es ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Beiträge von Peter Wichtel, CDU/CSU, und Daniela Ludwig, CDU/CSU, Kirsten Lühmann, SPD, Patrick Döring, FDP, Herbert Behrens, Die Linke, Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen3. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8617. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese Entschließung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist einstimmig so beschlossen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/8618. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8620. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit – Drucksache 17/8492 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Beiträge von Roderich Kiesewetter, CDU/CSU, Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU, Johannes Pflug, SPD, Dr. Bijan Djir-Sarai, FDP, (Beifall bei der FDP) Jan van Aken, Die Linke, Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.4 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8492 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes – Drucksache 17/8320 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Auch diese Reden gehen zu Protokoll: Manfred Kolbe, CDU/CSU, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, SPD, Dr. Daniel Volk, FDP, (Beifall bei der FDP) Richard Pitterle, Die Linke, Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen. Manfred Kolbe (CDU/CSU): Vor gerade einmal knapp vier Monaten hatten wir hier an dieser Stelle das letzte Mal über eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes debattiert. Damals ging es um die dauerhafte Einführung der Istbesteuerung für Unternehmen mit einem Jahresumsatz bis 500 000 Euro. Die war richtig, um kleine und mittelständische Unternehmen zu stützen, Bürokratie abzubauen und eine einfachere Systematik einzuführen. Wir hatten die unterschiedlichen Regelungen in Ost und West sowie die immer nur zwei Jahre geltenden Regeln der Umsatzgrößen abgeschafft und eine Systematik verankert, bei der jetzt dauerhaft klar ersichtlich, einfach und auf Dauer gesichert ist, wie und wann die Umsatzsteuer an den Fiskus zu entrichten ist. Dies war ein Schritt zu Einfachheit, Systematik und Ordnung. Zum aktuellen Gesetz. Heute debattieren wir wieder über den Punkt für ein einfacheres und gerechtes System der Umsatzsteuer, nämlich die Frage, ob die Beförderung von Fahrgästen auf Schiffen nun ermäßigt oder voll besteuert werden soll und ob diese Art der Dienstleistung einen menschlichen Grundbedarf darstellt bzw. dem Gemeinwohl dienlich ist. So fordert es ja auch die SPD seit langem für die Umsatzsteuer – allen voran SPD-Ministerpräsident Beck, der ja die ermäßigte Umsatzsteuer für die Hotellerie als „jämmerliches Stück Klientelpolitik“ bezeichnet und ein Umsatzsteuersystem vorgeschlagen hat, bei dem „wir den ermäßigten Mehrwertsteuersatz nur für Grundnahrungsmittel und einige Grundbedarfe“ erheben. Beginnen wir also nun mit der Prüfung, ob auch die Personenbeförderung mit Schiffen, Fährverkehr ausgenommen, einen Grundbedarf darstellt. Zum Regelungsinhalt. Lassen Sie mich noch einmal kurz die Geschichte der Regelung über die Besteuerung der Umsätze in der Fahrgastschifffahrt Revue passieren: Bis Anfang der 1980er gab es keine Umsatzbesteuerung bei der Personenbeförderung mit Schiffen in der Bundesrepublik. Die 6. Umsatzsteuerrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft von 1977 sollte dies ändern. Diese sah vor, dass die Beförderung von Personen mit Schiffen nicht mehr grundsätzlich umsatzsteuerfrei sein darf, da diese Transportart nicht eine dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit war. So war die Bundesrepublik gezwungen, die Umsatzsteuer bei der Personenschifffahrt einzuführen. Dies geschah allerdings schrittweise, damit sich die Reedereien auf die Besteuerung wirtschaftlich einstellen konnten und damit auch entsprechende Regelungen in den anderen EG-Ländern beschlossen werden konnten, um wirtschaftliche Nachteile für deutsche Unternehmen in Grenzen zu halten. Insbesondere bei der Ausflugs- und Kabinenschifffahrt auf dem Rhein wäre folgendes Problem aufgetreten: Bei den Flusskreuzfahrten, beispielsweise von Basel nach Amsterdam über den Rhein, liegt der Hauptteil der Strecke auf deutschem Besteuerungsgebiet. Ein niederländischer Reeder hätte damals nach den Gesetzen seines Landes nur Umsätze besteuern müssen, die in den Niederlanden anfallen, da nach den dortigen Gesetzen ein voller Vorsteuerabzug auf Umsatzsteuer im Ausland gewährt worden war. Aufgrund dessen, dass deutsche Schiffe für den Großteil der Strecke keine Steuerrückerstattung erhalten hätten, wäre es hier zu großen Nachteilen für die in der Bundesrepublik zugelassenen Fahrgastschiffe gekommen. Aus diesem Grund wurde bis 1984 die Personenbeförderung mit Schiffen gar nicht besteuert. Aus den bereits zuvor genannten Gründen sahen sich die Betreiber von Ausflugs-, Tanzschiff- und Hafenrundfahrten sowie die Kabinenschifffahrt nicht in der Lage, die ab 1984 geltende volle Umsatzsteuerbelastung sofort auf die Verbraucher umzulegen. So wurde zunächst eine fünfjährige Übergangszeit mit der Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes durch den Gesetzgeber geschaffen. Diese Regelung wurde dann insgesamt siebenmal verlängert, zuletzt durch das Jahressteuergesetz 2008 bis 31. Dezember 2011. Dies wurde getan, obwohl die Voraussetzungen mittlerweile andere sind als Ende der 1970er-Jahre. Seit dieser europäischen Harmonisierungsphase in den 1980er müssen europaweit bei der Personenbeförderung die jeweiligen länderspezifischen Umsatzsteuern gezahlt werden; also auch der niederländische Reeder muss die volle deutsche Umsatzsteuer zahlen und kann sie nicht mehr als Vorsteuer in den Niederlanden abziehen. Wettbewerbsnachteile wurden dadurch abgebaut, sodass dieses Argument für die Wiedereinführung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf die Personenbeförderung mit Schiffen entfällt. Wie der Bundesrechnungshof in seinem Bericht über den ermäßigten Umsatzsteuersatz 2010 festgestellt hat, wurde bereits 2005 der deutschen Binnenschifffahrt durch das Bundesfinanzministerium mitgeteilt, dass die ermäßigte Besteuerung alsbald auslaufen werde. Die Harmonisierung war gut vorangeschritten, die Wettbewerbsnachteile waren weiter abgebaut und weiterhin galten Hafen-, Ausflugs- und Flusskreuzfahrten nicht als lebensnotwendig und Grundbedürfnis der Gesellschaft. Zwar hat der Gesetzgeber 2008, wie bereits erwähnt, noch einmal die Übergangsregelung verlängert, aber es wurde deutlich gemacht, dass der Anpassungsprozess an die volle Besteuerung demnächst abgeschlossen werden wird, sodass die Schifffahrtsbranche ausreichend Zeit hatte, entsprechend zu kalkulieren. Weiterhin ermäßigt besteuert wird selbstverständlich der Fährverkehr, der im Rahmen des dem Allgemeinwohl dienenden öffentlichen Nahverkehrs agiert. Zur politischen Zielsetzung. Da die christlich-liberale Koalition das Ziel verfolgt, dass System der Umsatzsteuer einfacher und systematischer zu gestalten, war die endgültige Aufhebung dieser Ermäßigung nur ein logischer Schritt. Wir wollen, dass die Umsätze aus Güterhandel und Dienstleistung dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen, welche dem Gemeinwohl dienen und zuträglich sind. Wir arbeiten an der Reform dieser Steuer und nehmen jede aktuelle Änderung zum Anlass, die Umsatzsteuer entsprechend auszurichten. Dabei wollen und dürfen wir natürlich die weitere Harmonisierung der Umsatzsteuer auf EU-Ebene nicht aus den Augen verlieren, um Wettbewerbsnachteile für unsere Unternehmen so gering wie möglich zu halten. Wir wollen dabei europaweit definieren, was ein Grundbedarf ist und was nicht. Eine Stadtrundfahrt auf der Spree oder ein Nachmittagsausflug auf der Elbe zählen sicherlich nicht dazu. Für den Bereich der Personenbeförderung bleibt deswegen hier noch einmal festzuhalten, dass von Basel bis Amsterdam jeder Reeder den jeweils länderspezifischen Steuersatz für seine Dienstleistung der Beförderung entrichtet. Also zahlt der deutsche wie der niederländische Unternehmer für seine Beförderungsleistung 19 Prozent in der Bundesrepublik und später dann nach Grenzübertritt 6 Prozent im Königreich. Umsatzsteuererstattungen für Unternehmen innerhalb der EU gibt es nicht mehr. Auch unter gesellschaftlichen Aspekten ist es meines Erachtens wichtig, dass wir Flusskreuz- oder Hafenrundfahrten nicht mehr mit dem gleichen Steuersatz belegen wie Lebensmittel oder wirkliche Lebensgrundbedarfe. Auch müssen wir davon abkommen, mit der Umsatzsteuer Wirtschaftspolitik zu betreiben. Aber wir sind hier im Bundestag noch am Anfang dieser Debatte. Mit der heutigen Überweisung dieser Gesetzesvorlage in den Finanzausschouss werden wir uns noch gründlicher mit der Thematik beschäftigen. Hier bin ich mir sicher, dass bei diesem Bundesratsgesetzentwurf von SPD-Ministerpräsident Beck seitens der SPD-Fraktion sicherlich sehr gute fachliche Erfahrungen kommen werden, da die Sozialdemokraten über ihre Beteiligungsgesellschaft DDVG auch SPD-Reiseservice betreiben und hier ja auch bereits umfängliche Erfahrungen mit Flussreisen haben. Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der aus meinem Heimatland Rheinland-Pfalz stammt. Worum geht es in diesem Gesetzentwurf? Es geht um die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Beförderung von Personen mit Schiffen. Der ermäßigte Steuersatz konnte langjährig angewendet werden, weil dies aufgrund einer zeitlich befristeten, insgesamt siebenmal verlängerten Regelung ermöglicht wurde. Der Bundesrat wollte mit seinem Gesetzentwurf erreichen, dass diese einzelne Regelung zu einer ermäßigten Mehrwertsteuer nicht einzeln, sondern im Rahmen einer grundsätzlichen Überarbeitung der ermäßigten Mehrwertsteuer behandelt wird. Der Bundesrat will nicht die „Pfründe der SPD sichern“. Herr Wissing, ich wette, dass die Quote der Hotelbesitzer bei der FDP höher ist als die Quote der Schiffbesitzer bei der SPD. Nein, dem Bundesrat und damit allen Ländern, die dem Gesetzentwurf zugestimmt haben, geht es darum, nicht an einzelnen Symptomen herumzudoktern, sondern die Krankheit zu behandeln. Komisch, das will doch die Regierung auch. Jedenfalls sagt sie uns das jedes Mal, wenn wir eine Anfrage zur Mehrwertsteuer stellen. Wir hören immer wieder: Das können wir nicht ohne die Kommission zur Neuordnung des Mehrwertsteuersystems entscheiden. Und wenn wir fragen: Wann tagt die?, kriegen wir zur Antwort: Wissen wir nicht. – So geht es nun schon die ganze Legislaturperiode. Die Regierung will also nicht ein einzelnes Thema herausgreifen – mit Ausnahme der Hotelsteuer natürlich –, sondern systematisch handeln und alle Ermäßigungstatbestände gemeinsam überprüfen. Das will der Bundesrat auch. Wieso will dann der Bundesrat etwas tun und die Regierung nicht? Recht hat der Bundesrat. Wenn man nicht etwas einzeln herausgreifen will, dann kann man nicht eine einzelne Regelung auslaufen lassen; denn damit verändert man an dieser Stelle etwas und verstößt gegen das Prinzip „keine Einzeländerung“. Verstehen Sie mich richtig: Das ist keine Bewertung der Frage, ob der einzelne Ermäßigungstatbestand gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Es geht lediglich darum, dass Sie, die Regierung und die Regierungsfraktionen, uns bei jeder Anfrage zur Mehrwertsteuer mit der Kommission und der Einheitlichkeit des Handelns hinhalten und dann doch einzeln abändern. Sie werden damit unglaubwürdig, ich korrigiere: noch unglaubwürdiger. Der Gesetzentwurf des Bundesrates machte also durchaus Sinn aus dem Gedanken heraus, dass man nicht Einzeltatbestände verändert. Dies tut er aber jetzt nicht mehr; denn die Änderung ist bereits zum 1. Januar 2012 eingetreten, und eine Befolgung des Gesetzentwurfes des Bundesrates wäre eine erneute Änderung. Diesbezüglich könnten und sollten wir nun tatsächlich auf die umfassende Neuregelung warten. Bitte: Sie sind am Zug. Sehr lange Zeit haben Sie nicht mehr. Dr. Daniel Volk (FDP): Dem Vorschlag des Bundesrates, die Übergangsregelung zur Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes von 7 Prozent auf die Umsätze im Bereich der Personenbeförderung mit Schiffen auch bei Beförderungen außerhalb einer Gemeinde und bei einer Beförderungsstrecke von mehr als 50 Kilometern bis zum 31. Dezember 2013 zu verlängern, werden wir uns nicht anschließen. Es ist dabei sehr verwunderlich, dass der Bundesrat im Jahr 2008 das Auslaufen der Übergangsregelung erst unterstützt und nun zurückrudert und das Gegenteil fordert. Ebenfalls ist das Einbringen des Gesetzesvorschlages kurz vor Jahresende zu kritisieren, da das Auslaufen der Regelung seit Jahren bekannt war und eine nachträgliche Rückgängigmachung für den Verbraucher keinerlei Nutzen hätte. Für Personenbeförderungen mit Schiffen im genehmigten Linienverkehr und im Fährverkehr innerhalb einer Gemeinde oder bei Beförderungen von nicht mehr als 50 Kilometern verbleibt es auch nach Auslaufen der Übergangsregelung beim ermäßigten Steuersatz. Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine einseitige Subvention zugunsten einer bestimmten Gruppe und widerspricht unserem Anspruch, das Steuersystem einfacher und gerechter zu machen. Beim Auslaufen der Regelung hatte die Bundesregierung nicht vor, eine Mehrwertsteuererhöhung für die Binnenschifffahrt zu beschließen. Es wurde nur das umgesetzt, was in dem von der SPD initiierten Jahressteuergesetz 2008 steht. Darin ist ein Auslaufen des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für die Binnenschifffahrt für das Ende des Jahres 2011 vorgesehen. Nachdem die Ausnahmeregelung nun schon seit 1984 besteht und siebenmal verlängert wurde, gibt es keinen Grund mehr, dieses ein weiteres Mal zu tun. Es ist erstaunlich, wie die SPD-Finanzminister nun wieder eine Ausnahmeregel durchsetzen wollen. Die unberechtigte Kritik an dem Auslaufen der Subvention ist daher an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten und ein deutlicher Beleg dafür, dass das finanzpolitische Konzept der SPD das Papier nicht wert ist, auf dem es gedruckt wurde. Es geht der SPD wohl nur darum, ihre eigenen Schiffe, wie die „MS Princess Daphne“, zu subventionieren, um jedes Jahr schöne Gewinne für die Partei einzufahren. Es ist schon erstaunlich, dass, sobald ein ermäßigter Umsatzsteuersatz zur Disposition steht, die SPD für die Beibehaltung der Subvention eintritt. Ein Subventionsabbau kann und wird mit der SPD niemals gelingen. Die FDP hat einer achten Verlängerung dieser Mehrwertsteuersubvention nicht zugestimmt und wird deshalb diesen Gesetzesvorschlag ablehnen. Es bleibt bei dem auch von der SPD beschlossenen Auslaufen 2011. Wenn der Bundesrat die Bürgerinnen und Bürger entlasten will, dann täte er gut daran, dem Gesetz zum Abbau der kalten Progression zuzustimmen; denn dann würde nicht nur die SPD-Parteikasse profitieren, sondern alle Menschen in diesem Land. Richard Pitterle (DIE LINKE): Vom Bundesrat bekommen wir normalerweise eher selten einen Gesetzentwurf. Meist kommt er aus den Reihen der Bundesregierung. Aber das, was uns der Bundesrat heute vorlegt, kann nur abgelehnt werden. Die Antragsteller fordern, dass die Beförderung von Personen mit Schiffen auch im Jahr 2012 mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent besteuert wird, statt mit dem vollen Satz von 19 Prozent. Was sie aber nicht schreiben, ist, dass es hier um Kreuzfahrtschiffe und Tagesausflugsschiffe für Touristen geht. Denn die Personenbeförderung mit Schiffen im genehmigten Linienverkehr oder im Fährverkehr innerhalb einer Gemeinde bzw. von nicht mehr als 50 Kilometern bleibt weiterhin ermäßigt besteuert. Und warum fordern die Antragsteller eine Steuerermäßigung für Kreuzfahrtschiffe und Tagesausflugsschiffe für Touristen? Dafür geben sie zwei Begründungen: Erstens heißt es in der Gesetzesbegründung: „Ein ermäßigter Steuersatz von 7 Prozent für die Fahrgastschifffahrt wurde erstmals im Jahr 1984 durch das Steuerentlastungsgesetz eingeführt und ist seit dieser Zeit kontinuierlich verlängert worden.“ Ein klarer Fall von: Haben wir erst einmal ein Privileg, dann für immer. Aber seit 1984 haben die Verbraucher zweimal erhöhte Steuersätze zahlen müssen. Daher ist für die Betreiber von Tourismusschiffen eine Änderung zumutbar. Die zweite Begründung ist nicht viel besser. Da heißt es, dass im Zuge der geplanten Mehrwertsteuerreform vom Bund eine Kommission eingesetzt worden sei, die ein Gesamtkonzept zur Neufestsetzung aller Mehrwertsteuersätze erarbeite und der nicht vorgegriffen werden solle. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann warten sie noch heute. Denn die besagte Kommission gibt es nicht. Zwar wurde ihre Einsetzung im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt und wurde sie vor ziemlich genau einem Jahr mehrmals angekündigt, aber bis heute hat sie sich nicht konstituiert. Bundesfinanzminister Schäuble selbst hat mehrmals verlauten lassen, dass er eine Reform der Mehrwertsteuer mittlerweile für aussichtslos hält. Wer auf die Mehrwertsteuerreformkommission wartet, kann bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Statt die Personenbeförderung mit Kreuzfahrtschiffen und Tagesausflugschiffen zu ermäßigen, fordern wir, dass der öffentliche Personennah- und Personenfernverkehr für die Bürgerinnen und Bürger bezahlbar ist. Die Steuerbefreiung des internationalen Flugverkehrs soll abgeschafft werden und stattdessen der öffentliche Personennahverkehr langfristig kostenlos werden. Auch der öffentliche Schienenpersonenfernverkehr soll mit dem ermäßigten Satz besteuert werden. Davon profitieren viel mehr Bürgerinnen und Bürger als von einer Steuerbefreiung für den internationalen Flugverkehr oder einer Steuerermäßigung für die Beförderung von Touristen auf Kreuzfahrtschiffen und Tagesausflugsschiffen. Die Verlängerung der Regelung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für die Personenschifffahrt um ein Jahr ist nichts anderes als die Verlängerung eines Privilegs für eine Branche, die erfolgreiche Lobbypolitik betrieben hat. Die Linke hat den vorliegenden Gesetzentwurf im Bundesrat abgelehnt, und wir werden ihn auch hier ablehnen. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum wiederholten Male rufen wir das Thema „Umsatzsteuergesetz“ hier im Deutschen Bundestag auf. Zu Recht, sind doch die Einnahmen aus der Umsatzsteuer – inklusive der Einfuhrumsatzsteuer – mit insgesamt mehr als 180 Milliarden Euro neben der Einkommensteuer die wichtigste Einnahmequelle der öffentlichen Hand zur Finanzierung ihrer Aufgaben. Umso wichtiger ist es, mit dieser Steuer wirklich verantwortungsvoll umzugehen. Auf dem Papier hat die Regierungskoalition dies auch anerkannt, heißt es doch im Koalitionsvertrag: „Auch die Umsatzsteuer muss an die modernen Anforderungen angepasst werden.“ Und weiter: „Es gibt Handlungsbedarf bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen.“ Aber hat die Koalition auch geliefert? Zunächst hat sie vollkommen unsystematisch und gegen die Intentionen des eigenen Koalitionsvertrags einen weiteren ermäßigten Mehrwertsteuersatz eingeführt. Da musste wohl zunächst eine Wahlkampfunterstützungsrechnung beglichen werden. Als Betriebsunfall der Koalitionsnacht, an deren Ende „Horst und Guido“ sich duzten, fielen scheinbar noch mehr Hemmungen: Es wurden nicht die ursprünglich ins Auge gefassten Gastwirte mit dem verminderten Mehrwertsteuersatz beglückt, sondern vollkommen unsinnigerweise das Übernachtungsgewerbe. Das hat zwar der Hotelbranche zusätzlich eine knappe Milliarde in die Kassen gespült, hatte aber keinen nennenswerten positiven wirtschaftspolitischen Effekt und führte darüber hinaus zu erheblichen Bürokratiekosten für die Wirtschaft. Außerdem stieg das Defizit im Staatshaushalt. Volkswirtschaftlich war diese Maßnahme ein Schuss in den Ofen: viel Rauch, großer Lärm, aber keine Wirkung. Nun hat die Mehrheit im Bundesrat beschlossen, die zum Ende 2011 bereits ausgelaufene Regelung zum verminderten Mehrwertsteuersatz für Binnenschiffe wieder einzuführen. Das Argument der Länder dafür lautet, sie wollen keine singuläre Lösung, sondern Änderungen sollten nur im Zusammenhang mit einer generellen Umsatzsteuerreform und insbesondere einer Abschaffung vieler Einzelregelungen vorgenommen werden. Es ist richtig, dass das Auslaufen der Regelung für die Binnenschifffahrt mit dem Ende des verminderten Mehrwertsteuersatzes für Übernachtungen, Schnittblumen, Pferde, Skilifte, Außer-Haus-Umsätze in der Gastronomie – um die wichtigsten branchenspezifischen Regelungen zu nennen – hätte zusammenfallen müssen. Zu solch einer Regelung hat sich die schwarz-gelbe Koalition aber nicht durchringen können. Viel schlimmer ist, dass sie noch nicht einmal begonnen hat, über eine Reform der Umsatzsteuer nachzudenken. Die im Koalitionsvertrag zu diesem Thema vereinbarte Arbeitsgruppe hat nicht ein einziges Mal getagt, und die bemerkenswert klare Aussage aus dem Finanzministerium zu Fragen nach der Mehrwertsteuerreform lautet: „Weiß nicht“. Man lasse sich das noch mal auf der Zunge zergehen: Zur längst überfälligen Reform der wichtigsten Steuerart sagt das Finanzministerium: „Weiß nicht“. Wenn man sich in der Koalition mit dem Thema Umsatzsteuer befasst, dann nur deshalb, weil wie im vorliegenden Fall die Länder es verlangen oder, wie bei der aktuell im Finanzausschuss diskutierten Aufhebung des verminderten Mehrwertsteuersatzes für Pferde, weil ein Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes es erzwingt und ein Nichtreagieren des Gesetzgebers unter Strafe stellt. Die Bundestagsfraktion der Grünen lehnt den Vorschlag des Bundesrates ab. Das Auslaufen der Sonderregelung für Binnenschiffer ist zwar nur ein kleiner Schritt, aber er geht in die richtige Richtung. Wir wollen den verminderten Mehrwertsteuersatz nur dort einsetzen, wo er eine soziale Wirkung hat. Da die Mehrwertsteuer eine degressive Wirkung hat, das heißt, dass sie Geringverdiener mehr belastet als Gutverdiener, muss diese Wirkung abgeschwächt werden. Das ist das wesentliche Kriterium zur Begründung von Mehrwertsteuerermäßigungen. Andere Begründungen, wie eine gezielte Unterstützung einer Branche oder einer Technologie, sind nicht nachvollziehbar. Denn es ist erwiesen, dass eine Förderung mithilfe des verminderten Mehrwertsteuersatzes immer eine Krücke ist, weil sie ineffektiv und nicht zielgerichtet ist und außerdem große Mitnahmeeffekte und ein erhebliches Missbrauchspotenzial hat. Und damit es hier an dieser Stelle gesagt sei: Der verminderte Mehrwertsteuersatz für Binnenschiffer wird nach wie vor im öffentlichen Nahverkehr wirksam: Die Hafenfähre in Hamburg und die Radlfähre am Rhein unterliegt nach wie vor dem verminderten Mehrwertsteuersatz. Das macht auch Sinn; denn hier ist die soziale Komponente der Regelung wie im gesamten öffentlichen Personennahverkehr wirklich relevant. Die Beispiele zeigen, dass der Reformbedarf im Umsatzsteuerrecht nach wie vor hoch ist. Durch die Abschaffung der ungerechtfertigten Branchensubventionen bei der Mehrwertsteuer entstehen jährlich Einnahmeausfälle von 3 bis 4 Milliarden Euro. Die Koalition handelt verantwortungslos, wenn sie die längst überfällige Reform der Mehrwertsteuer nicht angeht. Diese Reform darf dann aber nicht im Sinne des Bundesrates Ermäßigungen konservieren, sondern muss sie endlich abschaffen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8320 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b und c auf: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und -pflanzen – Drucksachen 17/8344, 17/8614 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth Dr. Matthias Miersch Stephan Thomae Halina Wawzyniak Ingrid Hönlinger c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.  Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Patente auf Leben – Drucksache 17/8584 – Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, kommen von Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU, und Dr. Max Lehmer, CDU/CSU, Dr. Matthias Miersch, SPD, Stephan Thomae, FDP, (Beifall bei der FDP) Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, und Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.5 Wir kommen zur Abstimmung. Zunächst Tagesordnungspunkt 26 b. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8614, den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8344 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist einstimmig so beschlossen. Tagesordnungspunkt 26 c. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8584. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die soziale Dimension von Bologna stärken – Drucksache 17/8580 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, kommen von Tankred Schipanski, CDU/CSU, Axel Knoerig, CDU/CSU, Ulla Burchardt, SPD, Dr. Martin Neumann, FDP, Nicole Gohlke, Die Linke, und Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.6 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8580 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Werner, Diana Golze, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Militärische Verwendung von Minderjährigen beenden – Ehemalige Kindersoldatinnen und Kindersoldaten unterstützen – Drucksache 17/8491 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, kommen von Ute Granold, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD, Karin Roth, SPD, Pascal Kober, FDP, Katrin Werner, Die Linke, und Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen. Ute Granold (CDU/CSU): Wir debattieren heute über den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Militärische Verwendung von Minderjährigen beenden – Ehemalige Kindersoldatinnen und Kindersoldaten unterstützen“. Zu Beginn meiner Ausführungen will ich zunächst noch einmal die Dimension des Themas verdeutlichen: Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten missbraucht. Auf der jährlich von der UNO veröffentlichten „Liste der Schande“ stehen aktuell 22 Länder, in denen Minderjährige vom Staat oder von Rebellen rekrutiert werden. Auch der jährliche Bericht des UN-Generalsekretärs gibt Auskunft über den Einsatz von Kindersoldaten. Besonders gravierend ist die Situation in Ländern wie Burma, Kolumbien, Angola, Somalia, Uganda und auch in Afghanistan, Irak oder Indien. Entgegen den Behauptungen Ihres Antrages engagiert sich die Bundesregierung mit Nachdruck gegen dieses bedrückende Unrecht. Kinder sind die schwächsten Mitglieder in einer Gesellschaft. Wir alle verurteilen den Missbrauch von Kindern als Kindersoldaten zutiefst. Niemand kann ernsthaft wollen, dass Kinder in Konflikten benutzt und zum Kämpfen gezwungen werden. Sie brauchen unseren besonderen Schutz. Der vorliegende Antrag zeigt einmal mehr, dass es Ihnen im Kern gar nicht um die Unterstützung von ehemaligen Kindersoldaten geht. Sie instrumentalisieren die Schicksale der Opfer, um damit ihre ideologische Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung fortzuführen. In Ihrem Antrag sprechen Sie das Fakultativprotokoll an. Das Fakultativprotokoll vom 12. Februar 2002 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten ergänzt die Kinderrechtskonvention um den Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten. Es setzt das Mindestalter für die Teilnahme an Kampfhandlungen von bisher 15 auf 18 Jahre herauf und verbietet die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen unter 18 Jahren. Am 13. Dezember 2004 hat Deutschland dieses zweite Zusatzprotokoll ratifiziert und beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie daran erinnern, dass sich der UN-Sicherheitsrat auf Initiative Deutschlands unter Federführung von Außenminister Westerwelle im Juli 2011 mit dem Schicksal von Kindersoldaten intensiv auseinandergesetzt hat. Einstimmig wurde die Resolution 1998 zum Schutz von Kindern verabschiedet. Dank des deutschen Engagements vor den Vereinten Nationen sind Millionen Kinder in Konflikten künftig besser geschützt. Bei Angriffen auf Schulen oder Krankenhäuser sieht die Resolution vor, Sanktionen wie Reiseverbote oder Kontosperrungen zu verhängen. Damit wurde ein zentrales deutsches Anliegen, nämlich der bessere Schutz von Kinderrechten – auch in Konflikten –, durchgesetzt. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Absatz aus Ihrem Antrag zitieren, in dem Sie auf das Fakultativprotokoll eingehen: „Trotz des deutschen Vorsitzes in der Arbeitsgruppe ,Kinder in bewaffneten Konflikten‘ der UN 2011 wurden bislang keinerlei Anstrengungen unternommen, um jenseits von diplomatischen Bemühungen zumindest im eigenen, nationalen Rahmen konkrete Maßnahmen zur wirksamen Umsetzung der UN-Konvention und des dazugehörigen Fakultativprotokolls durchzuführen. Während die Mehrheit der 141 Unterzeichnerstaaten den Empfehlungen nachgekommen ist und auf die Rekrutierung von Minderjährigen für ihre regulären Streitkräfte verzichtet, hält die Bundesregierung an dieser bedenklichen Praxis fest.“ Damit erwecken Sie den Anschein, als gehöre Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten in Deutschland zur Tagesordnung. Nach Art. 3, Abs. 3 des Protokolls müssen Vertragsstaaten, die die Einziehung von Freiwilligen unter 18 Jahren zu ihren nationalen Streitkräften gestatten, entsprechende Schutzmaßnahmen treffen. Dazu zählen: Erstens. Die Einziehung erfolgt tatsächlich freiwillig. Zweitens. Die Einziehung erfolgt mit der in Kenntnis der Sachlage abgegebenen Zustimmung der Eltern oder eines Vormunds. Drittens. Die Person wird über die mit dem Militärdienst verbundenen Pflichten umfassend aufgeklärt. Viertens. Die Person muss vor Aufnahme in den staatlichen Militärdienst einen verlässlichen Altersnachweis erbringen. Das Wehrrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr 2011 eröffnet deutschen Staatsbürgern, die das 17. Lebensjahr vollendet und die Vollzeitschulpflicht erfüllt haben, die Möglichkeit, freiwillig – ich betone: freiwillig – Wehrdienst zu leisten. Minderjährige Soldaten unterliegen dabei einem besonderen Schutz. Sollte die Tätigkeit als Soldaten oder Soldatinnen nicht ihren Vorstellungen entsprechen, können sie während der sechsmonatigen Probezeit jederzeit aus dem Wehrdienst entlassen werden. Des Weiteren ist der Gebrauch der Waffe für sie allein auf die Ausbildung beschränkt und unter eine besondere Aufsicht gestellt. Ferner nehmen sie nicht an Auslandsverwendungen und Einsätzen teil. Sie dürfen darüber hinaus eigenverantwortlich und außerhalb der militärischen Ausbildung keine Funktion ausüben, in denen sie zum Gebrauch der Waffe gezwungen sein könnten. Was Sie in Ihrer Ausführung ebenfalls ausblenden, ist die Tatsache, dass Jugendliche bei der Bundeswehr im direkten Anschluss an ihre schulische Ausbildung häufig eine ganz normale Berufsausbildung absolvieren. Mit den rund 1 400 Ausbildungsplätzen, die die Bundeswehr jährlich bereitstellt, zählt sie zu den größten zivilen Arbeitgebern in Deutschland. Durchschnittlich befinden sich dort 5 000 Jugendliche in einer zivilen Ausbildung. Die Berufsausbildung bei der Bundeswehr unterliegt dem Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung sowie der jeweils gültigen Ausbildungsverordnung. Ich will noch auf einen weiteren Punkt Ihres Antrages eingehen. Darin wird behauptet, Deutschland verletze mit seiner asylverfahrensrechtlichen Praxis grundlegende Vertragspflichten, indem es die besondere Schutzwürdigkeit von ehemaligen Kindersoldaten und anderen minderjährigen Flüchtlingen missachte. Fakt ist, dass die Bundesregierung der Auffassung ist, dass ehemalige Kindersoldaten besonders schutzwürdige Personen darstellen. Richtig ist aber auch – und das belegen die Gutachten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge –, dass bei Asylverfahren, die Kindersoldaten betreffen, die häufigsten Ablehnungen aus der fehlenden Glaubwürdigkeit der Betroffenen resultieren. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass in vielen dieser Fälle wegen einer drohenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder eines fehlenden Existenzminimums ein Abschiebungsverbot festgestellt wird. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge liegen die praktisch relevanten Ablehnungsgründe meist dann vor, wenn keine konkret drohende Gefahr vorliegt oder wenn mithilfe von Sprach- oder Textanalysen festgestellt wird, dass eine Täuschung über die Staatenangehörigkeit vorliegt. Eine praktische Schwierigkeit im Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten liegt darin, dass sie beim Eintreffen in Deutschland nicht als solche identifiziert werden können, wenn sie entweder aus Scham wegen begangener Taten oder Furcht vor Strafverfolgung nicht entsprechend vortragen oder wegen eines möglicherweise erlittenen Traumas hierzu gar nicht fähig sind. Die Identifizierung als ehemaliger Kindersoldat ist in erster Linie Aufgabe des Clearingverfahrens, das im Rahmen der Inobhutnahme durch das Jugendamt nach der Einreise durchgeführt wird. Denn dort finden die ersten diesbezüglichen Gespräche – etwa über Fluchtgründe – statt. Im Clearingverfahren erfolgt eine Erhebung des vollständigen sozialen Hintergrundes, die zeitlich auch abhängig von der aktuellen Situation und der Fähigkeit des Jugendlichen ist, über das Erlebte offen zu sprechen. Die Zuständigkeit für das Clearingverfahren liegt bei den Jugendämtern. Ein Asylverfahren schließt sich nicht zwingend an. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge können nur Verhaltensauffälligkeiten oder ein konkreter Sachvorgang während der Anhörung zum Erkennen einer besonderen Schutzbedürftigkeit führen. Bei positiver Bewertung und vorliegenden sonstigen Anerkennungsvoraussetzungen erfolgt die Anerkennung als Flüchtling. Es handelt sich um Einzelfallentscheidungen, die nicht verallgemeinert werden können. In Ihrem Antrag kritisieren Sie darüber hinaus, die Bundesregierung sei bislang ihrer Verantwortung, zur Beendigung des Einsatzes von Kindern in bewaffneten Konflikten beizutragen, nur unzureichend nachgekommen. Tatsache ist jedoch, dass die Bundesregierung die Bestrebungen auf EU-Ebene unterstützt, unbegleiteten Minderjährigen als besonders schutzbedürftige Gruppe die nötige besondere Aufmerksamkeit und spezielle Maßnahmen zukommen zu lassen. Bei den gegenwärtigen Verhandlungen über die Vorschläge der Kommission zum gemeinsamen europäischen Asylrecht orientieren sich die Verhandlungspositionen der Bundesregierung an der nationalen bzw. geltenden Rechtslage. Und diese zielen darauf ab, der Wahrung des Kindeswohls in allen Mitgliedstaaten in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur vierten zentralen Forderung Ihres Antrages sagen. Darin fordern Sie die Bundesregierung dazu auf, den Export von Kleinwaffen und leichten Waffen in Staaten und Konfliktregionen zu untersagen, in denen Kindersoldaten tatsächlich oder potenziell rekrutiert werden können. Sie fordern zu etwas auf, was längst getan wird: Maßgeblich für die Bewilligung von Rüstungsexporten sind die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Danach wird der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland besonderes Gewicht beigemessen. In diesem Rahmen ist gemäß dem Leitfaden zur Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts unter anderem zu prüfen, ob im Endbestimmungsland ein Mindestalter für die Rekrutierung zum Wehrdienst festgelegt worden ist und ob gesetzliche Maßnahmen getroffen worden, mit denen die Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz bei Feindseligkeiten untersagt und geahndet werden. Bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass zur Ausfuhr vorgesehene Kleinwaffen oder leichte Waffen unter Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention oder das Fakultativprotokoll gegen Kinder bzw. Minderjährige eingesetzt oder an Kindersoldaten ausgehändigt werden, wird die Ausfuhrgenehmigung versagt. Das zeigt, dass der Schutz von Kindern bei rüstungsexportkontrollpolitischen Entscheidungen bereits berücksichtigt wird. Durch die Ex-ante-Prüfung wird von vornherein gesichert, dass Rüstungsgüter nicht an Empfänger geliefert werden, bei denen die Gefahr besteht, dass die Güter umgeleitet werden. Wenn Zweifel am gesicherten Endverbleib beim Empfänger bestehen, werden Ausfuhranträge abgelehnt. Wie Sie sehen, befassen sich die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung bereits intensiv mit diesem Thema und konnten dabei wesentliche Verbesserungen bewirken. Diesen Weg wollen wir auch in Zukunft konsequent weitergehen. Die Forderungen des vorliegenden Antrages sind dabei in der Sache nicht hilfreich. Christoph Strässer (SPD): Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für militärische Zwecke muss geächtet werden. Das Verbot der Vereinten Nationen, Kinder als Soldaten zu missbrauchen, hat nur dann einen Wert, wenn es auch praktisch durchgesetzt wird. Kinder sind wehrlos, sie sind immer Opfer. Deshalb muss es darum gehen, sie vor diesem schlimmen Schicksal zu bewahren und ihnen und ihren Familien Perspektiven für eine lebenswerte Zukunft zu eröffnen. Immer noch werden weltweit Kinder in Kriegsgebieten als Soldaten eingesetzt und damit ihrer Kindheit, ihrer Lebensperspektive und ihrer Würde beraubt. Dabei wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die als Soldaten rekrutiert werden, auf fast 300 000 geschätzt. Gerade vor dem Hintergrund des internationalen Red Hand Day, der jährlich am 12. Februar auf die schlimmen Schicksale dieser unzähligen Kinder aufmerksam macht und so ein Zeichen gegen den Einsatz von Kindersoldaten setzt, begrüßen wir die Initiative zu diesem Antrag. Und vor allem begrüßen wir den intensiven Einsatz des Deutschen Bündnisses Kindersoldaten, das aus elf Nichtregierungsorganisationen besteht und eng mit weiteren internationalen Organisationen wie Child Soldiers International zusammenarbeitet, um gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten zu kämpfen. Umso erstaunlicher und nicht hinnehmbar ist es, dass die Bundesregierung ihre freiwilligen Leistungen an das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, im letzten Jahr um fast 30 Prozent gekürzt hat. Nicht hinnehmbar ist dies unter anderem deshalb, weil UNICEF sich unter anderem darum kümmert, Kindersoldaten – Jungen wie Mädchen – aus Armeen und Rebellengruppen zu befreien und wieder in ein normales Leben zurückzuführen. Dies ist nicht einfach. Familiär entwurzelt und häufig drogenabhängig mussten die Kinder für skrupellose Armeen- und Milizenführer kämpfen und auch morden. Viele sind durch das Erlebte schwer traumatisiert, manchmal weigern sich ihre Familien, sie wieder bei sich aufzunehmen. Sie brauchen psychotherapeutische Behandlung, Bildung und eine zivile berufliche Perspektive. Deshalb ist eine Kürzung der Unterstützung schlicht verantwortungslos. Seit 2002 ist gemäß einem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention der Missbrauch von Kindern als Soldaten verboten. Über 100 Staaten haben es ratifiziert. Trotzdem gibt es immer noch unzählige Kindersoldaten weltweit, vor allem im Tschad, im Sudan, in Uganda, im Kongo, im Jemen, in Kolumbien und in Birma. Eine konsequente bilaterale und internationale Politik gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten könnte viel bewirken. Beispielsweise sollten Staaten, die Kindersoldaten einsetzen, keine Militärhilfe mehr erhalten. Der Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten muss mit Initiativen zur Begrenzung des Handels mit Kleinwaffen einhergehen. Mit diesen flexiblen und leicht handhabbaren Kampfmitteln werden auch Kinder ausgerüstet, die oft nicht älter als acht Jahre sind. Auch bedarf es eines Asylrechtes, welches den besonderen Umständen, in denen diese Kinder waren, Rechnung trägt. Denn es gilt, alles dafür zu tun, dass die von den einzelnen Staaten eingegangenen Selbstverpflichtungen im Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten umgesetzt werden. Dies betrifft nicht nur Maßnahmen im Ausland, sondern auch ihre Behandlung als Flüchtlinge in den jeweiligen Aufnahmeländern. Und das betrifft auch uns. Deshalb strebt die SPD-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht auch eine Verbesserung der Situation für asylsuchende ehemalige Kindersoldaten an. In diesem Gesetzentwurf fordern wir deswegen unter anderem, dass im Aufenthalts- und im Asylverfahrensgesetz bei der Rechtsanwendung das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist, dass das Flughafenverfahren keine Anwendung auf unbegleitete Minderjährige finden darf und dass stattdessen die Kinder im Alter bis zu 18 Jahren durch das Jugendamt in Obhut zu nehmen sind, um so die Durchführung eines Clearingverfahrens zu gewährleisten. Dadurch entfällt auch der umstrittene Aufenthalt im Flughafentransit für diese Kinder. Wir wollen außerdem, dass bei der Gewährleistung eines Clearingverfahrens die Zurückweisung an der Grenze für unbegleitete Minderjährige ausgeschlossen ist. Grundsätzlich unterstützen wir insofern das Anliegen der Linken, dem Schicksal der Kindersoldaten weltweit mehr politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu widmen, um auch konkrete politische Maßnahmen daraus abzuleiten. Ob die Maßnahmen und Instrumente, die im Antrag der Linken angesprochen und vorgeschlagen werden, tatsächlich effektiv und die richtigen sind, sollten wir ausführlich in den Ausschüssen diskutieren. Karin Roth (Esslingen) (SPD): In Art. 38 der UN-Kinderrechtskonvention, die 1989 von der UN-Generalversammlung angenommen wurde, steht: „Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, dass von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden.“ Heute – 23 Jahre später – haben rund 2 Millionen Kinder in den letzten zehn Jahren im Zuge gewaltsam ausgetragener Konflikte ihr Leben verloren. Die Zahl der verletzten Kinder liegt noch um ein Vielfaches höher. Laut Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sind von den weltweit 15,2 Millionen Flüchtlingen, 27,1 Millionen Binnenvertriebenen und 983 000 Asylsuchenden mehr als 40 Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. In Zahlen ausgedrückt: Über 17 Millionen Kinder und Jugendliche leben derzeit als Flüchtlinge, Vertriebene oder Asylsuchende. Aber nicht nur das: Laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, kämpfen etwa 250 000 Kinder in 22 Staaten als Soldatinnen und Soldaten in Regierungsarmeen oder bewaffneten Gruppen. Der Einsatz von Kindern im Krieg ist Kindesmissbrauch. Entweder werden sie zwangsrekrutiert, oder sie schließen sich den Truppen aufgrund von Armut und Perspektivlosigkeit freiwillig an. Kindersoldatinnen leiden besonders, sie werden häufig Opfer sexueller Gewalt, viele müssen Zwangsehen mit Kämpfern eingehen. Und das, obwohl ein Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention festlegt, dass Kinder unter 18 Jahren nicht unmittelbar an kriegerischen Auseinandersetzungen teilnehmen dürfen. Vor zehn Jahren, am 12. Februar 2002, trat das Zusatzprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten in Kraft, das inzwischen über 140 Länder ratifiziert haben. In dem Protokoll verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, keine Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren zu rekrutieren. Das Zusatzprotokoll ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Rekrutierung von Kindern. Dennoch müssen wir uns weiter anstrengen, damit kein Kind mehr Kindersoldat werden muss. Diese Kinder erleiden seelische Traumata und Demütigungen, müssen bedingungslos gehorchen und morden. Deshalb müssen wir weiterhin unser Augenmerk auf diese Kinder richten und darauf, dass die Verpflichtungen im Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten eingehalten werden. Inzwischen gibt es in der Strafverfolgung von mutmaßlichen Tätern Erfolge. Der ehemalige Staatspräsident Liberias, Charles Taylor, und ehemalige Kommandeure aus dem Kongo sind vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt, weil sie Kinder rekrutiert haben sollen. Dennoch gehen viel zu viele Täter noch immer straffrei aus, wie es beispielsweise in Myanmar oder Kolumbien geschieht. Auf diese Regierungen muss die Staatengemeinschaft den Druck erhöhen, um endlich diese Verbrechen an Kindern zu bestrafen und zu stoppen. Gerade Deutschland muss hier eine Vorreiterrolle einnehmen, nicht zuletzt als derzeitiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und Vorsitzender der UN-Arbeitsgruppe „Kinder und bewaffnete Konflikte“. Bundesentwicklungsminister Niebel ist dieser Tage in Myanmar. Herr Minister, zeigen Sie klare Kante, und machen Sie der Regierung in Myanmar klar, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen und alle Kinder aus der Armee entlassen werden müssen! Wenn wir es wirklich ernst meinen im Kampf gegen den Einsatz von Kindern im Krieg, dann muss die Entwicklungszusammenarbeit einen größeren Beitrag dazu leisten als bisher. Es müssen mehr Mittel bereitgestellt werden für konkrete Reintegrationsprogramme von Kindersoldatinnen und Kindersoldaten. Nur so erhalten diese traumatisierten Kinder wirklich eine Chance, ein geordnetes und hoffentlich friedliches Leben zu führen. Besonders die Situation der Mädchen muss dabei beachtet werden. Viele wurden während der kriegerischen Auseinandersetzungen vergewaltigt und werden deshalb von der Gesellschaft stigmatisiert. Wir brauchen gezielte Eingliederungsprogramme, die die Mädchen und Jungen psychologisch betreuen. Noch einmal: Der Einsatz von Kindern im Krieg ist Kindesmissbrauch und ein Menschenrechtsverstoß. Pascal Kober (FDP): Kinder gehören zu den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft und sind Hauptopfer von bewaffneten Konflikten und Kriegen. Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, haben 2 Millionen Kinder in den vergangenen zehn Jahren durch gewaltsam ausgetragene Konflikte ihr Leben verloren. Die Zahl verletzter Kinder ist noch um ein Vielfaches höher. Eine besonders grausame Art von Gewalt gegen Kinder ist deren Einsatz als Soldaten, was in vielen Ländern noch immer trauriger Alltag ist. Die Zahl der Kindersoldaten wird derzeit auf weltweit 250 000 bis 300 000 geschätzt, wobei nicht nur nichtstaatliche Gruppierungen, Milizen und Bürgerkriegsparteien Kinder rekrutieren, sondern auch einige reguläre Armeen. Ein großer Teil dieser Länder befindet sich in Afrika, beispielsweise Sudan, Somalia und Uganda. Druck, Ängste und Perspektivlosigkeit zwingen dort Kinder an die Waffe. Für die Konfliktparteien ist dies eine zynische Rechnung – denn Kinder sind anspruchsloser und billiger als erwachsene Soldaten, zudem sind sie leichter zu manipulieren. Diese menschenverachtende Praxis steht jedoch in eklatantem Widerspruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und zum Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention. Die direkten Auswirkungen auf diese Kinder sind exzessive Gewalterfahrungen, sexueller Missbrauch, Flucht, Vertreibung und das Zerreißen von Familien. Zurück bleiben schwer traumatisierte, von Gewalt, Entbehrungen und sozialer Isolation gezeichnete Kinder. Viele sind durch die Folgen von Kriegen auf sich allein gestellt. Oftmals ist Gewalt die einzige Methode, die sie zur Lösung von Konflikten erlernt haben. Sie leiden ein Leben lang unter ihren Erlebnissen und unter dem, was sie anderen antun mussten, häufig sogar ihren engsten Freunden und ihren eigenen Familienangehörigen. Hinzu kommen die indirekten Folgen von bewaffneten Konflikten. Besonders hart trifft Kinder der Hunger, die fehlende Schulbildung und Gesundheitsversorgung durch Zerstörung von Schulen und Krankenhäusern. Denn damit werden sie auch ihrer Zukunftsperspektiven jenseits des Soldatendaseins beraubt. Die Rückkehr in ihre Heimatorte ist für viele ehemalige Kindersoldaten unmöglich, weil sie dort nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen werden. Diese Ablehnung treibt viele der Kinder erneut in die Arme von Soldaten oder bewaffneten Gruppen. Dabei ist die Wiedereingliederung ehemaliger Kindersoldaten von besonderer politischer Relevanz; denn sie ist eine unabdingbare Voraussetzung für gesamtgesellschaftliche Versöhnungs- und Wiederaufbauprozesse. Darum führt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Dirk Niebel vor Ort, also in den Ländern, wo der Einsatz von Kindersoldaten ein vordringliches Problem ist, zahlreiche Maßnahmen durch. Kindersoldaten bilden dabei eine eigenständige Zielgruppe deutscher Entwicklungsprojekte. Beispielsweise fördert das Ministerium in großem Umfang Projekte zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kindersoldaten in der zentralafrikanischen Region der Großen Seen und in Sierra Leone. Im Jahr 2010 finanzierte das Ministerium insgesamt neun bilaterale und ein überregionales Vorhaben zur Reintegration von Kindersoldaten in Afrika. Die Entwicklungszusammenarbeit mit den betroffenen Partnerländern beinhaltet dabei gezielte Maßnahmen der Schul- und Berufsausbildung sowie der Beschäftigungsförderung. Um diesen Kindern eine langfristige Perspektive zu eröffnen, müssen sie Zugang zur Grundbildung und eine Qualifizierung für den Arbeitsmarkt erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass Bundesminister Niebel den Bildungsbereich zu einem Schwerpunkt deutscher entwicklungspolitischer Arbeit gemacht hat. Denn die Gewährleistung einer Grundbildung für möglichst viele Kinder bildet nicht nur eine Reintegrationschance, sondern stellt auch zugleich die beste Prävention dar, indem sie Kindern eine berufliche Alternative und den Ländern eine langfristige positive Entwicklung ermöglicht. Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung nachdrücklich die Arbeit der UN-Sonderbeauftragten für Kinder und bewaffnete Konflikte, Radhika Coomaraswamy, und die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs in diesem Bereich. Im Juli 2011 hat der UN-Sicherheitsrat außerdem eine unter deutscher Federführung erarbeitete Resolution zum Schutz von Kindern in Konflikten einstimmig verabschiedet. Unter Leitung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle stimmte das höchste UN-Gremium für die Resolution, die den Angriff auf Schulen und Krankenhäuser ächtet. Auch die UN-Sonderbeauftragte Radhika Coomaraswamy hat diesen Einsatz der deutschen Regierung ausdrücklich gelobt. Die Weltgemeinschaft muss sich verstärkt für Kinder einsetzen, gegen deren Einsatz in Streitkräften oder bewaffneten Gruppen vorgehen und ein besonderes Augenmerk auf ihre Situation in Kriegs- und Konfliktgebieten legen, wie es der vorliegende Antrag der Linken fordert. Jedoch übersieht der Antrag geflissentlich das bereits bestehende umfangreiche Engagement der Bundesregierung in diesem Bereich, das ich Ihnen soeben dargelegt habe. Somit scheint mir die Forderung Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsprogramme für Kindersoldaten als eigenen Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu etablieren, überflüssig; denn es würde für die Betroffenen nichts bewirken. Angesichts dessen kann ich Ihrem Antrag daher leider nicht zustimmen. Katrin Werner (DIE LINKE): Kinder sind unsere Zukunft und bedürfen besonderen Schutzes. Aus diesem Grund hat die Linke die Rücknahme des deutschen Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung stets als wichtigen Schritt begrüßt. Allerdings müssen aus der Rücknahme des Vorbehalts auch entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Dies erfordert insbesondere Gesetzesanpassungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, die in weitaus stärkerem Maß dem Schutz des Kindeswohls dienen müssten. Kinder, die schon in jungen Jahren unter extrem widrigen oder sogar lebensgefährlichen Verhältnissen aufwachsen mussten, bedürfen besonderer Fürsorge. Ich meine vor allem Kinder, die trotz ihres minderjährigen Alters Gefahren für Leib und Leben riskieren, um vor bewaffneten Konflikten in ihrem Herkunftsland zu fliehen. Dies betrifft neben anderen Fällen von sogenannten unbegleiteten Minderjährigen vor allem ehemalige Kindersoldatinnen und Kindersoldaten. Gegenwärtig werden in mindestens 22 Staaten insgesamt circa 250 000 Kinder als Soldatinnen und Soldaten eingesetzt. Ihr Einsatz ist Ausdruck der Verrohung einer Gesellschaft, in der Krieg herrscht. Eine Gesellschaft, die nicht davor zurückschreckt, Kinder für schlimmste Verbrechen gegen andere zu missbrauchen, aber die Kinder eben auch dazu zwingt, sich selbst Verbrechen auszusetzen. Kindersoldaten sind meist beides: traumatisierte Opfer und brutale Gewalttäter. Im Krieg ist scheinbar alles erlaubt. Es ist aber die höchste Stufe der Entmenschlichung erreicht, wenn Kinder lernen müssen, zu töten, zu foltern und zu vergewaltigen. Auch bei unterstützenden Tätigkeiten als Sanitäter, Nachrichtenbote oder Küchenhilfe werden sie oft Zeugen schrecklichster Geschehnisse, die sich tief in ihre Seelen einbrennen und die ihr gesamtes Leben zeichnen. In der Demokratischen Republik Kongo und in Nepal wurden Kinder von regierungsnahen wie von aufständischen, bewaffneten Gruppierungen rekrutiert und für den Krieg gedrillt. Noch in der Schlussphase des Bürgerkriegs in Sri Lanka meldeten sich, trotz der absehbaren Niederlage, Kinder sogar als Kriegsfreiwillige bei den tamilischen Rebellen, ebenso wie auch singhalesische Paramilitärs Minderjährige als Kämpfer rekrutierten. Jedes Kind, das dem Krieg entkommt, darf sich zwar glücklich schätzen, wenigstens überlebt zu haben. Doch damit sind die Probleme keineswegs gelöst. In den meisten Bürgerkriegsländern und Krisenregionen mangelt es an geeigneten therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten für die erlittenen Kriegstraumata und an einem familiären und gesellschaftlichen Umfeld, das ehemalige Kindersoldaten wieder aufnehmen und ihnen soziale und berufliche Perspektiven im normalen zivilen Leben zurückgeben würde. Doch selbst wenn es ihnen gelingt, zu fliehen, bestehen häufig nur geringe Aussichten auf Besserung. Wer nach Deutschland flieht, wird als Fahnenflüchtiger ohne politische Verfolgung eingestuft, der keinen besonderen Schutz benötigt. Geflohene Kindersoldaten werden regelmäßig in nicht kindergerechte Asylverfahren gedrängt und wie andere unbegleitete Minderjährige bereits mit Vollendung des 16. Lebensjahres als verfahrensmündig, also wie Erwachsene, behandelt. Sie werden üblicherweise weder in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht noch durch ausgebildetes Fachpersonal angemessen betreut. In den Sammelunterkünften herrschen oft katastrophale humanitäre und hygienische Zustände: Dächer sind undicht, Wände feucht und schimmlig, und Duschanlagen und Toiletten sehen mitunter noch aus, als stammten sie aus Kaisers Zeiten. Im Menschenrechtsausschuss erlebe ich oft, dass die Regierungsfraktionen argumentieren, die Bundesregierung arbeite bereits an einer Lösung der Probleme und deshalb müssten sie unsere Anträge ablehnen. Internationale Experten und Institutionen sehen dies beim Thema Kindersoldaten deutlich anders. Nicht nur der vierjährig erscheinende „Weltbericht Kindersoldaten“ („Global Report Child Soldiers“) bescheinigte Deutschland 2008 erhebliche Defizite beim Umgang mit Kindersoldaten. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes sah 2008 große Umsetzungsdefizite bei den Staatenpflichten Deutschlands bezüglich der UN-Kinderrechtskonvention und dem dazugehörigen Fakultativprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten. Neben den schon erwähnten Missständen bei Asyl- und Aufenthaltsfragen, an denen sich bislang jedenfalls nichts geändert hat, betrifft dies auch die Praxis der Nachwuchsrekrutierung der Bundeswehr. Demnach gehört Deutschland nicht nur zu den Ländern, in denen Freiwillige unter 18 Jahren für den Militärdienst angeworben werden, sondern auch zu denjenigen Ländern, in deren regulären Streitkräften tatsächlich auch Minderjährige den Dienst an der Waffe ausüben. Damit ist Deutschland sogar selbst in der EU weitgehend isoliert; denn dies ist nur noch in Großbritannien, Irland, den Niederlanden, Luxemburg und Österreich erlaubt. Alle anderen EU-Mitglieder haben diese Praxis längst beendet. Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Beenden Sie unverzüglich die Anwerbung und den Einsatz von Minderjährigen in der Bundeswehr! In Sonntagsreden wie am Red Hand Day singt die Bundesregierung gern das Hohelied der Menschenrechte, während sie gleichzeitig durch ihr politisches Handeln zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen beiträgt. Die Bundesregierung weigert sich, die 2008 vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes an Deutschland gerichtete Empfehlung umzusetzen, keine Waffenexporte an Staaten zu genehmigen, die Kindersoldaten für bewaffnete Konflikte rekrutieren und einsetzen. Dies beweist eindeutig: Die Profitinteressen der Rüstungsindustrie sind der Bundesregierung wichtiger als die Rechte von Kindern! Das ist kein Wunder; denn schließlich zieht die Rüstungslobby gegenüber den sie unterstützenden Parteien gern die Spendierhosen an. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit nur wenig Engagement zeigt, die berufliche und zivile Rehabilitierung von ehemaligen Kindersoldaten in den Herkunftsländern aktiv zu unterstützen. Nach Berichten des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ ist Bundesminister Dirk Niebel wohl vor allem damit beschäftigt, das Entwicklungshilfeministerium zu einem Arbeitsbeschaffungsministerium für altgediente FDP-Funktionäre umzubauen. Mit dieser Amigopolitik disqualifiziert sich die FDP entwicklungs- und menschenrechtspolitisch. Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Beenden Sie unverzüglich die militärische Zusammenarbeit mit autoritären Regimen und sämtliche Waffenexporte in alle Länder, in denen Kinder als Soldatinnen und Soldaten missbraucht werden! Gewähren Sie den in Deutschland lebenden Kindersoldaten politisches Asyl, und unterstützen Sie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Rückkehrer in den Herkunftsländern mit Demobilisierungsprogrammen und nachholenden Bildungs- und Ausbildungsangeboten! Alle Kinder haben ein Recht darauf, in Frieden aufwachsen zu dürfen. Kinder sind keine Soldaten! Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am 12. Februar 2012 feiern wir zehnjähriges Jubiläum des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Das Protokoll hat die Altersgrenze für eine Beteiligung in bewaffneten Konflikten von 15 auf 18 Jahre angehoben und weltweit dazu beigetragen, dass der Missbrauch von Kindern als Soldaten geächtet wird. Dennoch werden mehr als 250 000 minderjährige Mädchen und Jungen in über 20 Ländern weiterhin zum Kämpfen gezwungen, sexuell missbraucht und gefoltert. In den letzten zehn Jahren sind dabei mehr als 2 Millionen Kinder ums Leben gekommen. Allein in Myanmar gehören Schätzungen zufolge mehrere Zehntausend Kinder zur staatlichen Armee und Tausende zu bewaffneten Oppositionsgruppen. Ich erwarte von Bundesentwicklungsminister Niebel, dass er sich bei seinem Besuch in Myanmar vom 12. bis 14. Februar 2012 gegenüber der Regierung dafür ausspricht, alle Kinder aus der Armee zu entlassen und ins zivile Leben zu reintegrieren. Verbesserte internationale Schutzmaßnahmen sind weiterhin dringend geboten. In diesem Zusammenhang würdige ich das unermüdliche Engagement des deutschen Botschafters bei den Vereinten Nationen in New York, Botschafter Wittig. Seit Januar 2011 hat er den Vorsitz der Sicherheitsrats-Arbeitsgruppe „Kinder und bewaffnete Konflikte“, Security Council Working Group on Children and Armed Conflict, inne. Die Arbeitsgruppe listet staatliche und nichtstaatliche Konfliktparteien, die Kinder töten, sexuell missbrauchen oder als Soldaten rekrutieren. Dadurch sollen Täter erstens zur Rechenschaft gezogen werden können und zweitens unter Druck gesetzt werden, Schutzmaßnahmen für Kinder einzuführen. Wenn die Täter nicht mit den Vereinten Nationen kooperieren – etwa durch Aktionspläne zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kindersoldaten – kann ihre Listung zu Sanktionen führen. Es ist dem beharrlichen Einsatz von Botschafter Wittig zu verdanken, dass der Sicherheitsrat nun auch gezielte Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser als Tatbestände für diese Listung aufgenommen hat. Im Juli 2011 wurde eine von Deutschland erarbeitete Sicherheitsratsresolution – 1998 (2011) – einstimmig angenommen. Damit hat Deutschland die internationalen Schutzmechanismen für Kinder und die Rolle der Vereinten Nationen insgesamt gestärkt. Ein solches Engagement wünsche ich mir in allen Gremien und auf allen Ebenen der Vereinten Nationen. Die Politik der Bundesregierung auf nationaler Ebene steht in Widerspruch zu ihrem Engagement auf UN-Ebene. Hierzulande verletzt die Bundesregierung ihre Fürsorgepflicht gegenüber traumatisierten ehemaligen Kindersoldaten. Das hat auch der für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und das Fakultativprotokoll zuständige UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes in seinen Empfehlungen an Deutschland kritisiert. Nach dem Asylverfahrensgesetz werden geflohene Kindersoldaten ab dem vollendeten 16. Lebensjahr als verfahrensmündig angesehen und in nicht kindergerechte Asylverfahren gedrängt. Ihr Zugang zur medizinischen Versorgung und zu Bildung ist eingeschränkt. Da ehemalige Kindersoldaten nicht als politisch Verfolgte angesehen werden, erhalten sie keine Asylberechtigung. Oft droht geflohenen Kindersoldaten in Deutschland Abschiebehaft. Diese Verhältnisse sind peinlich und widersprechen dem Geist der UN-Kinderrechtskonvention und des Zusatzprotokolls. Die gesetzlichen Vorgaben, insbesondere des Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetzes, müssen an die UNKinderrechtskonvention angepasst werden. Auch zwei Jahre nach Rücknahme des deutschen Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention ist hier noch nichts geschehen. Die Bundesjustizministerin hat am 5. Mai 2010 erklärt, es gebe „keine legislative Handlungsnotwendigkeit und keine Verpflichtung, Gesetze zu ändern ... Unsere Situation entspricht vielmehr den Forderungen der Konvention.“ (Plenarprotokoll vom 5. Mai 2010, 17/39) Ich sehe das anders, und ich bin da nicht allein. Laut Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ist „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, … das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen“. In diesem Sinne sollen die Vertragsstaaten „in größtmöglichem Umfang … die Entwicklung des Kindes“ gewährleisten (Art. 6 Abs. 2) und „das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ (Art. 24) sowie das Recht auf Bildung anerkennen (Art. 28). Flüchtlingskinder sollen „angemessenen Schutz … bei der Wahrnehmung der Rechte“ erhalten, zu denen sich die Vertragsstaaten verpflichtet haben (Art. 22). Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, die Rekrutierung als Kindersoldat endlich als Asylgrund anzuerkennen, das Kindeswohl als vorrangiges Prinzip im Asyl- und Aufenthaltsrecht zu verankern, die Verfahrensmündigkeit im Asylverfahren auf 18 Jahre heraufzusetzen, Minderjährige in kindergerechten Einrichtungen unterzubringen und besonders zu betreuen, das Asylbewerberleistungs- und das Aufenthaltsgesetz zu ändern, damit das Recht auf Schulbildung und Gesundheit für alle in Deutschland lebenden Kinder gilt, und die Abschiebungen von minderjährigen ehemaligen Kindersoldaten zu unterlassen. Außerdem erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie das 3. Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, das am 19. Dezember 2011 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde und ein Individualbeschwerdeverfahren vorsieht, rasch zeichnet und ratifiziert. Damit sollte sie nicht so lange warten wie mit dem Zusatzprotokoll zum Sozialpakt, dessen Ratifizierung sie seit dem 24. September 2009 vor sich herschiebt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit – Drucksache 17/8581 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Es sind die Reden von Dietrich Monstadt, CDU/ CSU, Dr. Marlies Volkmer, SPD, Mechthild Rawert, SPD, Jens Ackermann, FDP, (Beifall bei der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Super, dass die zu Protokoll genommen ist!) Harald Weinberg, Die Linke, und Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen. Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Wir debattieren heute die Konsequenzen des Skandals um die gefährlichen Brustimplantate des französischen Herstellers PIP. Dabei muss unser Augenmerk nicht nur auf die Minderung des bereits eingetretenen Schadens gerichtet sein. Vielmehr gehört es zur Verantwortung des Gesetzgebers, zu prüfen, ob sich aus dem Geschehen Verbesserungsansätze im Medizinprodukterecht ableiten lassen, die ähnlichen Fällen in der Zukunft vorbeugen oder diese rascher entdecken lassen. Bevor ich über Konsequenzen spreche, wollen wir die Situation betrachten, wie sie sich nach heutigem Kenntnisstand darstellt. In seiner ersten Sitzung im neuen Jahr hat sich der Gesundheitsausschuss des Bundestages eingehend damit befasst. Dabei hat das Bundesgesundheitsministerium einen ausführlichen Bericht vorgestellt, der den bislang ermittelten Sachstand sowie die Maßnahmen und Empfehlungen der zuständigen Behörden des In- und Auslands enthält. Medizinprodukte werden, je nach Zweckbestimmung der Produkte und dem Gefährdungspotenzial für den Patienten, den vier Risikoklassen I, IIa, IIb oder III zugeordnet. Brustimplantate gehören wie etwa auch Herzklappen zur Klasse III, es handelt sich um sogenannte Hochrisikoprodukte, für die ein höchstmögliches Sicherheitsniveau erforderlich ist. Kern des Geschehens ist ein bislang ungekanntes Maß an krimineller Energie aufseiten der Herstellerfirma. Der Hersteller PIP hat mit erheblicher krimineller Energie etwa 75 Prozent seiner Produktion mit einem nicht der CE-Zertifizierung des Originalproduktes entsprechenden Material vermarktet. Der Benannten Stelle TÜV Rheinland wurden bei Audits die einwandfreien 25 Prozent der Produktion vorgeführt. Unbestritten ist, dass der französische Hersteller sich vorsätzlich kriminell verhalten und in Betrugsabsicht gegen Gesetze und andere Vorschriften verstoßen hat. Was bedeutet dieses kriminelle Handeln hinsichtlich des Inverkehrbringens von Produkten der Klasse III? Eine andere Regelung des Marktzugangs – etwa ein behördliches Zulassungsverfahren anstelle des seit 25 Jahren praktizierten New Approach – hätte dieses vorsätzliche kriminelle Verhalten nicht mit Sicherheit verhindert. Denn auch einer Zulassungsbehörde hätte der Hersteller eine gefälschte Dokumentation und eine unbedenkliche Probe vorlegen können. Die Problematik liegt daher nicht in den Voraussetzungen für das erstmalige Inverkehrbringen, sondern in der Kontrolle der laufenden Produktion und der Überwachung der Anwendung. Der TÜV Rheinland als Benannte Stelle sowie deutsche und französische Behörden haben sich im Konformitätsbewertungsverfahren bzw. bei der Überwachung, soweit ich es übersehen kann, korrekt verhalten. Nach der Information durch die französische Behörde hat das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte dem jeweiligen Informationsstand entsprechend gehandelt. Die gegenwärtige Empfehlung des BfArM lautet, Implantate des Herstellers PIP in jedem Fall entfernen zu lassen. Natürlich wird jetzt die Frage gestellt, ob man das Gefährdungspotenzial der betroffenen Brustimplantate nicht früher hätte erkennen können. Die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung, MPSV, verpflichtet unter anderem Händler, Ärzte und Krankenhäuser, die „Medizinprodukte beruflich oder gewerblich betreiben oder anwenden“, zur Meldung von „Vorkommnissen“. Die Definition eines „Vorkommnisses“ steht in § 2 Nr. 1 MPSV: „Vorkommnis“ ist „eine Funktionsstörung, ein Ausfall oder eine Änderung der Merkmale oder der Leistung oder eine Unsachgemäßheit der Kennzeichnung oder der Gebrauchsanweisung eines Medizinprodukts, die unmittelbar oder mittelbar zum Tod oder zu einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten, eines Anwenders oder einer anderen Person geführt hat, geführt haben könnte oder führen könnte ...“ Die Ruptur eines Brustimplantats, das Auslaufen bzw. Ausschwitzen des Silikongels und die gesundheitlichen Folgen, die eine operative Entfernung erforderlich machen, genügen der Definition eines „Vorkommnisses“. Sie müssen daher entsprechend den Regelungen der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung gemeldet werden. Dennoch wurden in Deutschland bis zum 22. Dezember 2011 nur insgesamt 19 Fälle von Rupturen gemeldet, was bei geschätzten 10 000 Implantationen auf ein hohes Meldedefizit hindeutet. Die Verringerung dieses Meldedefizites dient mittelbar dem Schutz von Patienten und gegebenenfalls Anwendern, da die Bundesoberbehörde frühere und konkretere Produktwarnungen aussprechen kann. Daher ist zur effektiveren Durchsetzung der Meldepflichten die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung um eine Bußgeldvorschrift zu ergänzen, die sich an der entsprechenden Vorschrift der GCP-Verordnung orientieren sollte. Ein weiteres wichtiges Element ist die Überwachung durch die Landesbehörden, die eben nicht erst dann tätig werden sollen, wenn bereits zahlreiche Menschen gesundheitlich geschädigt worden sind. Von daher ist es richtig und begrüßenswert, dass nach der neuen, im Dezember vom Bundeskabinett verabschiedeten Medizinprodukte-Durchführungsvorschrift, MPGVwV, die zuständigen Behörden anlassunabhängig zu inspizieren haben. Dabei können beispielsweise bei Herstellern, Handel und Gesundheitseinrichtungen Stichproben von Medizinprodukten genommen werden. Auch sollten Benannte Stellen zu unangekündigten Fertigungsstättenkontrollen mit Stichprobenziehungen sowohl im Fertigungsprozess als auch bereits vermarkteter Produkte verpflichtet werden. Damit dies für in der ganzen EU verkehrsfähige Produkte Wirkung entfaltet, bedarf es klarer Vorgaben im europäischen Recht. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, im europäischen Recht stichprobenartige Kontrollen direkt vor der Anwendung bzw. der Implantation des Medizinproduktes vorzuschreiben. Solche Kontrollen sind bei Arzneimitteln seit 1968 vorgesehen. Apotheker sind verpflichtet, Fertigarzneimittel stichprobenweise zu überprüfen und das Ergebnis ist in einem Prüfprotokoll festzuhalten. Nach geltendem europäischen Recht kann der Hersteller eines Medizinproduktes der Klasse III zwischen zwei Konformitätsbewertungsverfahren wählen. Einerseits gibt es die Baumusterprüfung, wobei die Benannte Stelle die Produktdokumentation prüft und auch am Produkt selbst Prüfungen durchführt. Im Gegensatz dazu wird bei der Konformitätserklärung das Produkt von der Benannten Stelle nur anhand des vom Hersteller eingereichten Dossiers bewertet. Zusätzlich erfolgt eine regelmäßige Überprüfung des Qualitätssicherungssystems des Herstellers durch die Benannte Stelle. Wichtig ist, dass bei der Konformitätserklärung das Produkt selbst von der Benannten Stelle nicht geprüft wird. Im Interesse der Sicherheit von Patienten und der Vertrauenswürdigkeit europäischer Medizinprodukte sollte jedoch die Baumusterprüfung für die Klasse III obligatorisch werden. Dafür ist die Änderung europäischen Rechts erforderlich. Schließlich erscheint es unerlässlich, dass nicht nur die Benannten Stellen zur Meldung von Vorkommnissen an die zuständigen Behörden verpflichtet sind, sondern auch umgekehrt die Benannten Stellen von den Behörden unterrichtet werden, falls eines der von ihnen bewerteten Produkte auffällig wird. Der Vorschlag im Antrag der Linken verlangt die Abschaffung von § 52 Abs. 2 SGB V, der Kostenbeteiligung bei Folgeerkrankungen medizinisch nicht indizierter Schönheitsoperationen. Dies ist eine alte Position der Linken, die niemanden überraschen wird. Vor allem aber ist sie als einzige Konsequenz aus den durch den PIP-Skandal bekanntgewordenen Problemen völlig ungenügend. Denn schließlich kann der Lerneffekt nicht nur darin bestehen, in Zukunft die Opfer von kriminellem Handeln und teilweisen Insuffizienzen des Systems zulasten der gesetzlichen Krankenkassen zu behandeln. Es kommt doch vielmehr darauf an, solchem kriminellen Handeln für die Zukunft durch zielgenaue Nachbesserungen etwa bei Kontroll-, Informations- und Meldepflichten vorzubeugen. Es bleibt deshalb dabei: Bei gesetzlich Krankenversicherten übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Explantation. Soweit die ursprüngliche Implantation aus medizinischen Gründen erfolgt war, etwa nach einer Brustkrebsbehandlung, gibt es keine Kostenbeteiligung der Patientin. Wenn jedoch die ursprüngliche Implantation nicht aus medizinischen Gründen, sondern als Schönheitsoperation vorgenommen wurde, müssen die Kassen die Betroffenen in angemessener Höhe an den Kosten beteiligen. Für diese Kostenbeteiligung haben sich die Krankenkassen auf eine Beteiligung von 50 Prozent bei Einhaltung von Zumutbarkeitsobergrenzen verständigt, die je nach Einkommen und Kinderzahl zwischen 1 und 7 Prozent des Jahreseinkommens liegen. Im Übrigen trägt hinsichtlich von Schönheitsoperationen die Begründung zu § 52 Abs. 2 SGB V im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz unverändert: „Da sich Versicherte, die derartige Maßnahmen durchführen lassen, aus eigenem Entschluss gesundheitlichen Risiken aussetzen, ist es nicht sachgerecht, diese Risiken durch die Versichertengemeinschaft abzudecken. Hier ist von den betroffenen Versicherten die Übernahme von Eigenverantwortung einzufordern.“ Ich habe einige Ansätze vorgestellt, die geeignet sind, ähnlichen Fällen wie dem PIP-Skandal in der Zukunft so weit wie möglich vorzubeugen. Wir werden in der christlich-liberalen Koalition und in Zusammenarbeit mit unseren Partnern auf EU-Ebene die geeigneten Umsetzungswege sorgfältig prüfen. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Wir sind uns hier alle einig, dass den durch den sogenannten Brustimplantateskandal geschädigten Frauen schnell und unbürokratisch geholfen werden muss. Von den fehlerhaften, aus Industriesilikon hergestellten Implantaten geht eine direkte Gefahr für die Gesundheit der Betroffenen aus. Anfang Januar 2012 hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aufgrund der bestehenden Risiken empfohlen, alle betroffenen Implantate zu entfernen. Und die Risiken sind offensichtlich: Das vom Hersteller verwendete billige Industriesilikon ist nicht nur besonders reißanfällig; selbst ohne Risse können die Implantate gesundheitsgefährdende Stoffe an den Körper abgeben. Diese Stoffe verursachen schmerzhafte Entzündungen und können auch in die Lymphknoten diffundieren, so kann es zu gesundheitlichen Schäden außerhalb der Brust kommen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass sich dadurch die Gefahr einer Krebserkrankung erhöht. Das Entfernen oder Ersetzen der gefährlichen Implantate ist hierbei die einzig sichere Lösung, da sich auch auf bildgebenden Verfahren Risse oder ausgetretene Stoffe nicht erkennen lassen. Wir als SPD-Fraktion sprechen uns in diesem besonderen Fall für die vollständige Übernahme der entstehenden Kosten durch die gesetzliche Krankenversicherung aus, das heißt also der Kosten, die bei der Entfernung der Implantate und einer möglicherweise notwendigen medizinischen Behandlung anfallen, auch wenn ursprünglich eine Schönheitsoperation durchgeführt wurde. Einige Krankenkassen haben diese Verfahrensweise bereits zugesagt. Wir appellieren an die übrigen, es im Interesse ihrer Versicherten ebenfalls zu tun. Hier sind Frauen zu Opfern eines betrügerischen Unternehmens geworden, das ohne Rücksicht auf die Gesundheit von Menschen Profite machen wollte. Jahrelang wurden die zuständigen Behörden und Kontrolleure bewusst getäuscht. Keine der betroffenen Frauen hatte im Vorfeld dieses Eingriffs ahnen können, dass für sie durch kriminelle Machenschaften derartige gesundheitliche Risiken entstehen. Leider kann der französische Hersteller der Implantate nicht zur finanziellen Wiedergutmachung herangezogen werden, da er Insolvenz angemeldet hat. Möglicherweise hätten unangekündigte schärfere Kontrollen des Medizinprodukteherstellers die kriminellen Machenschaften verhindern oder zumindest einschränken können. Die Bundesregierung blieb bei dem ganzen Fall erschreckend untätig, das Bundesgesundheitsministerium sieht nach eigenen Aussagen keinen Handlungsbedarf. Das steht in Kontinuität dazu, dass erst mehr als zwei Jahre nach der letzten Novelle des Medizinproduktegesetzes, nämlich im Dezember letzten Jahres, die dazugehörigen allgemeinen Verwaltungsvorschriften durch das BMG erlassen wurden. Diese Verwaltungsvorschriften regeln unter anderem die Überwachung der Medizinprodukte und die Inspektionen bei den Herstellern und würden unangemeldete Kontrollen ermöglichen. Sie sollen nach dem Willen des BMG erst 2013 in Kraft treten. Hier werden dringend notwendige Änderungen verschleppt. Die Konsequenzen haben jedoch alleine die durch fehlerhafte Medizinprodukte geschädigten Menschen zu tragen. Neben den Kontrollen ist im Bereich der Medizinprodukte auch wesentlich mehr Transparenz nötig. Transparenz heißt, dass die Aufklärung der Patientinnen und Patienten vor Eingriffen über mögliche Folgekosten und Komplikationen verbessert werden muss. Wenn Medizinprodukte verwendet werden, ist auch über diese eine Aufklärung geboten – ein wichtiger Punkt, den ich im Referentenentwurf zum Patientenrechtegesetz noch vermisse. Transparenz heißt auch, dass klar sein muss, bei wem wo welche Implantate eingesetzt wurden. Wir wissen ja nicht einmal, wie viele Frauen sich jedes Jahr für einen derartigen Eingriff unters Messer legen; die genannten Zahlen schwanken zwischen 20 000 und 60 000. Weiterhin weiß niemand, was für Implantate jeweils verwendet worden sind. Das Medizinproduktegesetz sieht in der Sicherheitsplanverordnung vor, dass essenzielle Daten, wie Namen der Patientinnen und Patienten, bei denen Medizinprodukte implantiert wurden, 20 Jahre lang aufzubewahren sind. Es soll sichergestellt werden, dass im Falle eines Rückrufs aufgrund eines schadhaften Implantates die Betroffenen identifiziert und benachrichtigt werden müssen. Wir haben dafür auch ein Meldesystem. Doch die gesamte Kette funktioniert offensichtlich überhaupt nicht: Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte lagen nach letzten Informationen gerade mal 25 Meldungen über schadhafte Implantate vor. Das ist natürlich viel zu wenig angesichts der schätzungsweise 7 500 in Deutschland Betroffenen. Was im Bereich der Medizinprodukte zwingend gebraucht wird, ist ein Zentralregister, wie es die SPD schon seit langer Zeit fordert – zuletzt im Rahmen eines Patientenrechtegesetzes im letzten März –, und die Meldepflicht für schadhafte Medizinprodukte. Nur durch diese Maßnahmen kann überhaupt eine Nachverfolgbarkeit und eine zeitnahe Information der Patientinnen und Patienten erreicht werden. Bei den Mängeln mit Endoprothesen im Knie- und im Hüftbereich haben wir gesehen, dass sich mögliche Nebenwirkungen oft erst im Einsatz zeigen und sich nicht durch Zulassungsverfahren ausschließen lassen. All dies findet sich im Antrag der Linke-Fraktion nicht wieder. Die vorgebrachten Vorschläge leisten nichts zur Lösung der angesprochenen Probleme. Mechthild Rawert (SPD): Die Fraktion Die Linke reagiert mit ihrem Antrag „Übernahme der Behandlungskosten infolge des Brustimplantate-Skandals“ auf einen Skandal, der tagtäglich größere Dimensionen annimmt. Es geht mittlerweile nur noch vordergründig, quasi anlassbezogen, um die mit minderwertigem Industriesilikon hergestellten Brustimplantate der französischen Firma PIP, Poly Implant Prothèse, bzw. um die baugleichen Implantate der niederländischen Firma Rofil Medical Nederland B.V. Seit dem 31. Januar warnt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nun auch vor den titanbeschichteten Implantaten des Typs TiBREEZE der Nürnberger Firma GfE Medizintechnik GmbH. Ich bin überzeugt, die Liste der Unternehmensnamen wird sich noch erweitern. Es geht um einen aus Profitgier mit viel krimineller Energie verursachten Skandal, der bei Hunderttausenden Frauen zur Angst führt, ein erhöhtes Krebsrisiko zu haben. Es geht aber auch um den Skandal, dass unsere nationalen und europäischen Gesetze nicht ausreichen, um die Sicherheit von Patientinnen zu gewährleisten. Es geht um einen Skandal, der mit den unterschiedlichsten Klagepunkten zu unsäglich vielen Gerichtsverfahren – viele davon auch grenzüberschreitend – führen wird. Die Juristen haben zu tun – doch was ist mit den betroffenen Frauen, was ist mit ihrem gesundheitlichen Risiko, was mit ihren Rechten auf Schadensersatzansprüche, was mit der Übernahme der auf sie zukommenden Kosten? Die Angst der Frauen ist losgelöst davon, ob es sich um eine medizinisch indizierte oder um eine ästhetische Operation, Schönheitsoperation, handelt, ob diese in Deutschland, in Europa oder beispielsweise Israel oder Brasilien durchgeführt wurde. Sie alle müssen sich auf jeden Fall mit der Frage einer weiteren Operation, der Übernahme der Kosten für die medizinische Behandlung – Entfernung des Implantats, gegebenenfalls Erneuerung eines Implantats – und den Kosten für das Produkt beschäftigen. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich bei all den Ärztinnen und Ärzten, den Kliniken und Krankenkassen, die sich frühzeitig mit den betroffenen Frauen in Verbindung gesetzt haben und ihnen von sich aus Unterstützung gaben – im Sinne einer guten medizinischen Beratung und Betreuung. Mich empört, dass dies 2011 nur in Einzelfällen geschehen ist. Der Presse war zu entnehmen, dass das Bundesministerium nach der Empfehlung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, Billig-Brustimplantate sicherheitshalber entfernen zu lassen, die Kassen in der Pflicht sieht. Diese Meinung gelte grundsätzlich sowohl für aus medizinischen als auch aus ästhetischen Gründen eingesetzte Implantate. Gesundheitsexpertinnen von Verbraucherzentralen sind der Meinung, dass die nach Schönheitsoperationen ansonsten gesetzlich festgelegte Eigenbeteiligung in diesem Ausnahmefall nicht gerechtfertigt ist. Schließlich hätte keine der betroffenen Frauen mit der kriminellen Energie von PIP rechnen können. Die durch den vorgelegten Antrag der Linksfraktion zu führende Debatte begrüße ich. Ich finde aber die damit verbundenen Forderungen als zu kurz gesprungen. Gerne greife ich zu einem anderen Zeitpunkt die schon zu Zeiten der Großen Koalition geführten Debatten zu Schönheitsoperationen, Tattoos und Piercing etc. wieder auf. Als damalige Berichterstatterin bedauere ich es noch heute, dass der erarbeitete Gesetzentwurf hierzu gegen Ende der Legislaturperiode seitens der CDU/ CSU-Fraktion dann doch abgelehnt wurde. Die SPD-Fraktion hatte sowohl Maßnahmen zum Komplex „kritischer Umgang mit Schönheitsoperationen“ vorgesehen als auch im Interesse von Patientinnen und Patienten, von Verbraucherinnen und Verbrauchern Lücken in den Haftungsketten schließen wollen. Eines muss uns allen klar sein: Jede Operation, ob mit medizinischer Indikation oder als Schönheitsoperation durchgeführt, birgt gesundheitliche Risiken. Von den minderwertigen Brustimplantaten sind allein europaweit Hunderttausende Frauen betroffen. Um für Deutschland zu klären, wie viele Frauen Trägerinnen von schadhaften Brustimplantaten sind, läuft seit dem 30. Januar eine bundesweite Abfrage. Erste Ergebnisse sollen Ende Februar vorliegen. Ob „nur“ nach in Deutschland erfolgten Operationen gefragt wird oder ob die vielen Frauen, die die Operation im Ausland haben vornehmen lassen, auch erfasst werden sollen, ist mir nicht bekannt. Die Bundesregierung zeichnet sich nicht durch besondere Schnelligkeit hinsichtlich Patientinneninformation und Patientinnensicherheit aus; das hat auch die Antwort der Bundesregierung auf meine Ende Dezember gestellte schriftliche Frage an die Bundesregierung gezeigt. Schon mindestens seit März 2010 ist dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und den zuständigen Überwachungsbehörden der Länder bekannt, dass seit Jahren fehlerhafte Implantate auf dem Markt gewesen sind. Aber erst vor wenigen Wochen hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, eine staatliche Aufsichtsbehörde, die Entfernung dieser Brustimplantate empfohlen. Viele – auch die zuständigen ärztlichen Fachgesellschaften – haben also von einem Risiko für die Frauen gewusst – am wenigsten aber die Frauen selbst, die Trägerinnen dieser Brustimplantate. Staatliche Stellen haben sich hinsichtlich der Aufklärung und des Informationsflusses unter Einbeziehung der Patientinnen also ebenso wenig mit Ruhm bekleckert wie viele Fachgesellschaften. Nur mehr als zögerlich wird nun sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene über Verschärfungen gesetzlicher Vorgaben für die Zulassung von Medizinprodukten als auch für die entsprechenden Sicherheitskontrollen diskutiert. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert schon seit langem eine bessere, vor der Zulassung von unabhängigen wissenschaftlichen Stellen vorzunehmende Risiko-Nutzen-Bewertung von Medizinprodukten und ein verpflichtendes Register unter anderem für Hochrisikoprodukte. Ich fordere die Bundesregierung, insbesondere den Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr, und die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ilse Aigner, auf, ihr vorgelegtes Patientenrechtegesetz zu überarbeiten, damit dieses tatsächlich zu einer Stärkung der medizinischen, aber auch haftungsrechtlichen Rechte von Patientinnen und Patienten führt, auf nationaler und EU-Ebene durch gesetzliche Verschärfungen die Sicherheit von Medizinprodukten vor ihrer Zulassung zu erhöhen und durch schärfere Qualitäts- und Sicherheitskontrollen, unter anderem durch zusätzliche unangemeldete Inspektionen, auch den Produktionsprozess besser zu kontrollieren. Ich erinnere noch einmal: Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2010 in ihrem Antrag „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“, Drucksache 17/907, gefordert, das Medizinproduktegesetz weiterzuentwickeln. Ich hoffe im Interesse der Patientinnen und Patienten sehr, dass die Bundesregierung den Skandal um die Firma PIP zum Anlass nimmt, sich jetzt endlich in diesem Sinn zu engagieren und sowohl nationale als auch europäische Regelungen für Zulassungsverfahren für Medizinprodukte auf den Weg zu bringen. Jens Ackermann (FDP): Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis die Linkspartei versucht, auf populistische Art und Weise politisches Kapital aus dem Skandal um mangelhafte Brustimplantate zu schlagen. Auch wenn die Antragsteller hier suggerieren, es ginge ihnen um die betroffenen Frauen, handelt es sich um nichts anderes als ein böses Spiel mit ihren Ängsten und Sorgen. Zudem schüren Sie mit Ihrem Antrag Hoffnungen, die Sie niemals erfüllen werden. Es handelt sich bei dem Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate schlichtweg um eine hochkriminelle Handlung ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Trägerinnen der minderwertigen Brustimplantate. Diesbezüglich ist die Aufarbeitung dieses Skandals zunächst eine Frage des Strafrechts. Ich wünsche mir, dass die französischen Strafgerichte hier ein Zeichen setzen, das zukünftig andere davon abhält, aus reinem Gewinntrieb die Gesundheit von Tausenden Menschen aufs Spiel zu setzen. Dieser Skandal muss uns veranlassen, zu überprüfen, was bei uns besser gemacht werden muss, um in Zukunft die Wahrscheinlichkeit solch krimineller Handlungen zu verringern oder diese früher aufzudecken. Schnellschüsse aus der Hüfte, wie sie im Januar an der Tagesordnung waren, helfen uns da nicht weiter. Bei der Aufarbeitung des Skandals zählt Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Es muss jedoch überprüft werden, inwieweit in der Zulassung und Kontrolle von Medizinprodukten Verbesserungen notwendig sind. Mich überraschte, dass es keinerlei unangekündigte Kontrollen bei den Herstellern gab. Hier sehe ich einen Ansatzpunkt zur zukünftigen Vermeidung solcher Delikte. Wir dürfen jedoch nicht zulassen, dass durch eine Überbürokratisierung der Zulassungs- und Kontrollverfahren medizinische Innovationen nicht zügig zu den Patienten kommen. Denn wir müssen uns vor Augen führen, dass der Primärzweck medizinischer Produkte – dazu gehören eben auch Brustimplantate – nicht die Verschönerung des Körpers ist, sondern das Lindern von menschlichem Leid und Schmerzen. Zurück zum Antrag der Linkspartei. Der Grund, seinerzeit mit dem § 52 Abs. 2 SGB V die Selbstverschuldensregelung einzuführen, war der, mehr Eigenverantwortung im System zu implementieren bzw. diese zu verdeutlichen. Der Passus, den Sie streichen wollen, ist eigentlich logische Konsequenz aus § 1 Satz 2 SGB V, der verdeutlicht, dass die Versicherten für ihre Gesundheit mitverantwortlich sind. Zu dieser Mitverantwortung gehört auch, unnötige gesundheitliche Risiken zu vermeiden. Durch Piercing, Tätowierungen oder nicht medizinisch indizierte Schönheitsoperationen, wie zum Beispiel Brustvergrößerungen, entstehen oft gravierende Gesundheitsstörungen, die erhebliche Kosten für die Solidargemeinschaft der Versicherten verursachen können. Da sich Versicherte diesen gesundheitlichen Risiken aus eigenem Entschluss aussetzen, ist es nicht gerecht, diese Risiken durch die Solidargemeinschaft der Versicherten abzudecken. Die Krankenkassen haben sie daher an den Behandlungskosten angemessen zu beteiligen und Krankengeld gegebenenfalls ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern. Die Einforderung von Eigenverantwortung der betroffenen Versicherten ist nicht nur gerecht, sondern auch sozial. Dementsprechend ist das Anliegen des vorliegenden Antrags zutiefst unsozial. Mit Ihrem Antrag wollen Sie, dass auch Geringverdiener, Rentner oder Arbeitslose, denen wir weder Praxisgebühr noch andere Zuzahlungen ersparen, mit ihren Beiträgen die Kosten für verpfuschte ästhetische Eingriffe bei Menschen, die zum Beispiel mit ihrem Einkommen an der Beitragsbemessungsgrenze liegen, finanzieren. Überlegen Sie mal, wie Sie das diesen Menschen erklären wollen. Dass Ihnen diese Erklärung und die Legitimation für einen solch unsozialen und unsolidarischen Antrag schwerfällt, merkt man der dünnen Begründung an. Ihr Verweis auf die privaten Krankenversicherungen zielt ins Leere. Wenn wir jetzt beginnen, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung dem Leistungsspektrum der privaten anzupassen, werden uns die Kosten zukünftig um die Ohren fliegen. Sie vergessen dabei auch, zu erwähnen, dass auch die Beihilfe die Kosten des Ausbaus des Implantats im Regelfall nicht übernimmt, wie der Bericht der Bundesregierung zu den fehlerhaften Brustimplantaten ergab. Zuweilen frage ich mich beim Lesen der Begründung, ob ein Karnevalsscherz oder eine Büttenrede aus Versehen den Weg in Ihre parlamentarischen Initiativen gefunden hat. Sie wollen doch nicht ernsthaft das medizinische Risiko von nicht medizinisch indizierten Eingriffen mit denen des Tragens hochhackiger Schuhe oder denen des Fahrradfahrens oder Sporttreibens vergleichen? Bei den beiden Letzteren steht einem überschaubaren Risiko ein erheblicher gesundheitlicher Nutzen gegenüber. Das ist bei Piercing, Tätowierungen und nicht notwendigen Schönheitsoperationen nicht der Fall. Sicherlich ist es bedauerlich für betroffene Frauen, wenn sie neben der gesundheitlichen Schädigung oder der Sorge davor auch noch einen finanziellen Schaden durch das fehlerhafte Implantat haben. Wir reden hier jedoch nicht über Summen, die die Betroffenen in die Privatinsolvenz stürzen. Laut den Empfehlungen der Verbände der Krankenkassen zur Beteiligung an den Folgekosten medizinisch nicht indizierter Eingriffe sollen die Krankenkassen die finanzielle Situation ihrer Mitglieder berücksichtigen. Je weniger die Betroffenen an Einkommen zu Verfügung haben und je mehr Familienmitglieder von diesem Einkommen versorgt werden müssen, desto mehr vermindert sich die Selbstbeteiligungsquote. Was das konkret bedeutet, wird am folgenden Beispiel deutlich: Eine Frau aus einer dreiköpfigen Familie mit einem Jahreseinkommen von 30 000 Euro würde mit nicht mehr als 900 Euro an den Folgekosten beteiligt. Wäre sie alleinstehend mit diesem Einkommen, wären es 1 500 Euro. Das sind aus meiner Sicht Beträge, die in Anbetracht des Jahreseinkommens durchaus tragbar sind. Wer einen hohen vierstelligen Betrag für die Vergrößerung der Brust aus rein ästhetischen Gründen aufwendet, kann auch einen erheblich geringeren Betrag aufwenden, wenn sich aus diesem freiwilligen Eingriff Komplikationen ergeben. Der Antrag der Linken ist abzulehnen, da er weder die richtigen Schlüsse aus dem Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate zieht noch eine nachhaltige Hilfeleistung für die betroffenen Frauen anbietet. Nicht Geld ist für die Betroffenen das Problem, sondern Ungewissheit über und Angst vor Folgeschäden. Hier sollten entsprechende Angebote der Aufklärung und Beratung ansetzen, damit die betroffenen Frauen nicht allein im Regen stehen gelassen werden. Insgesamt ist zu überlegen, inwieweit wir den Trend, den Menschen als modellierbaren Körper zu betrachten, eindämmen können. Insbesondere die Medien stehen in der Pflicht, die Schönheitsideale, die sie verbreiten, zu hinterfragen. Manchmal frage ich mich auch, ob jeder Arzt, der solche Eingriffe durchführt, seine Patientinnen umfassend über die Risiken berät und den Entschluss zum Eingriff nicht zu selten hinterfragt. Letztendlich liegt es aber in der Verantwortung jedes Einzelnen, inwieweit er sich bestimmten Schönheitsidealen unterwirft und in welchem Maß er oder sie sich gesundheitlichen Risiken aussetzt. Zur Eigenverantwortung gehört dann auch, diese Risiken mitzutragen und sie nicht in die Verantwortung der Solidargemeinschaft zu legen. Harald Weinberg (DIE LINKE): Stellen Sie sich vor, Sie spielen in einer Hobbymannschaft auf dem Bolzplatz Fußball und brechen sich das Bein. Wer kommt dann für die Behandlungskosten auf? Die gesetzliche Krankenversicherung. Stellen Sie sich vor, Sie fahren Auto, haben es eilig, beachten nicht die Höchstgeschwindigkeit und verursachen einen Unfall. Auch hier zahlt die gesetzliche Krankenversicherung selbstverständlich Ihre Behandlung, auch wenn Sie an dem Unfall selbst schuld waren. Gleiches gilt für die Behandlungskosten von Übergewichtigen, Rauchern, Menschen, die sich ungünstig ernähren, Radfahrern und Motorradfahrern, Kletterern, Menschen, die zu viel oder zu wenig Sport machen oder nach Alkoholkonsum gestolpert und hingefallen sind. Sie sehen selbst: Diese Liste könnte man noch sehr lange fortsetzen. Fast jeder gehört zu einer Gruppe, die selbst eine Verantwortung für das eigene Leid trägt, und trotzdem zahlt die Kasse die Rechnung. Denn ein Grundprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dass sie nicht nach dem Schuldigen für eine Verletzung oder Erkrankung fragt, sondern schlicht nach dem Bedarf. Es gibt aber mittlerweile drei Ausnahmen, bei denen die Versicherten an den Kosten beteiligt werden: Erstens bei Folgeerkrankungen von Tätowierungen, also Entzündungen oder Unverträglichkeiten. Man muss ja Tätowierungen nicht gut finden, aber immerhin 25 Prozent der 16- bis 29-Jährigen haben Tätowierungen. Zweitens bei Folgeerkrankungen von Piercings. Da sind es vor allem Minderjährige, die da an den Kosten beteiligt werden sollen, zumal nach einer 2008 veröffentlichten Studie über die Hälfte der Gepiercten unter 18 Jahren sind. Ein Jugendparlament jedenfalls hätte einer solchen Diskriminierung von Gepiercten sicher nicht zugestimmt. Und der dritte Bereich, wo Versicherte für ihr Verhalten an den Kosten beteiligt werden sollen, sind Schönheitsoperationen. Der PIP-Skandal war ja zu Recht überall in den Medien zu finden. PIP, das war eine Firma, die die Kontrollbehörden, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte sowie die Patientinnen betrogen hat. Das war kriminell; das muss man ganz klar sagen. Den betrogenen Frauen nützt diese Feststellung jedoch wenig. Denn die Firma ist pleite, da ist nichts zu holen. Sie haben diese Implantate – bestehend aus billigem und gefährlichem Industriesilikon und einer mangelhaften Hülle – im Körper. Die zuständigen Behörden empfehlen, die Implantate zu entfernen. Das kostet Tausende Euro. Die übernimmt zwar die Krankenkasse. Sie ist aber nach dem Selbstverschuldensparagrafen gezwungen, die Patientinnen an den Kosten zu beteiligen; denn sie sind ja selbst schuld, dass die Implantate überhaupt eingesetzt wurden. Die Linke findet das falsch. Niemand soll an den Kosten einer medizinisch notwendigen Behandlung beteiligt werden, schon gar nicht Betrugsopfer. Der Fall PIP zeigt eindrücklich, wie absurd diese Regelung ist. Deswegen fordern wir in dem Antrag, der hier zur Debatte steht, dass diese Regelung abgeschafft wird. Eines gilt es dabei aber zu bedenken: Brustimplantate beispielsweise haben, wie viele Implantate, eine begrenzte Haltbarkeit. Ist diese überschritten, zum Beispiel zehn Jahre nach der Operation, spätestens aber wenn das Implantat defekt ist, dann wird es medizinisch notwendig, es zu tauschen und dann müsste im Zweifel die gesetzliche Krankenversicherung die Entnahme oder gar den Austausch zahlen. Wir wollen aber nicht, dass die Implantatehersteller an einer einmal auf eigene Kosten operierten Frau lebenslang auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung neue Implantate einsetzen können und damit Profit machen. Die gesetzliche Krankenversicherung darf nicht zum Finanzier der Schönheits-OP-Industrie werden. Deshalb fordern wir Regelungen, die dazu führen, dass weder die Frau noch die gesetzliche Krankenversicherung für Folgeoperationen aufkommen muss. Denkbar wäre da zum Beispiel, dass die Hersteller und die Ärzteschaft eine lebenslange Garantie gewährleisten müssen, die über eine Versicherung abgesichert ist. Es gibt sogar schon einen Hersteller, der das anbietet, wie wir im Ausschuss gehört haben. Das wäre ein Anreiz, hochqualitative Produkte herzustellen, die lange halten. Zurück zur Selbstverschuldensregelung: Aus unserer Sicht widerspricht sie dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes und ist damit verfassungswidrig. Das will ich begründen: Die Regelung sollte bei ihrer Einführung 2007 alle medizinisch nicht notwendigen Körperveränderungen, wie zum Beispiel Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen, umfassen. 2008 merkte die Große Koalition, dass damit ja auch jeder Ohrring gemeint wäre und schlimmstenfalls auch jeder Übergewichtige und jede Raucherin. Still und heimlich änderte man den Paragrafen. Nun waren es nur noch diese drei Gruppen, die belastet werden sollten. Das aber ist juristisch eine Ungleichbehandlung, die Art. 3 des Grundgesetzes widerspricht. Denn ein Gesetz darf nicht gleiche Sachverhalte bevor- oder benachteiligen. Das tut das Gesetz aber: Brandings, also das Einbrennen von Symbolen oder Schriftzeichen auf der Haut, Subdermals, also Metalle, die unter die Haut eingebracht werden, Cuttings, also bewusst herbeigeführte Schnittmuster, oder auch Tongue Cutting, also das Aufspalten der Zunge, damit sie amphibisch anmutet, sind mit Piercings durchaus zu vergleichen oder sogar noch größere, spektakulärere und weniger gesellschaftlich übliche Techniken. Trotzdem zahlt hier die Kasse vollständig für Folgeerkrankungen. Das widerspricht dem Gleichheitsgebot. Ebenso werden Kosten für die Behandlungen von Entzündungen aufgrund eines Ohrrings wohl übernommen, und er zählt im Sinne des Selbstverschuldensparagrafen nicht als Piercing. Auch das widerspricht dem Gleichheitsgebot. Wenn jemand lieber einen Augenbrauenring oder einen Ring in der Lippe mag, warum sollte der dann bei der Krankenversicherung gegenüber Ohrringträgern benachteiligt werden? Was man sich auch fragen kann: Gilt diese Ausnahme eigentlich für das ganze Ohr, also auch den Knorpel, oder aber nur für das Ohrläppchen? Und noch ein weiteres Problem spricht gegen den Selbstverschuldensparagrafen. Damit die Kassen den Patientinnen und Patienten überhaupt eine Rechnung präsentieren können, muss der Arzt den Kassen mitteilen, dass der Patient zum Beispiel ein Genitalpiercing hat. Ich meine, das geht eindeutig zu weit und geht niemanden außer den Arzt etwas an. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird hier verletzt. Selbst wenn es möglich wäre, eine gleichheitskonforme Selbstverschuldensregelung zu schaffen, die die Linke generell ablehnt, dann wäre immer noch die Verpflichtung des Arztes zur Mitteilung an die Krankenkasse grundrechtswidrig. Wenn dieser Antrag von einer Mehrheit des Hauses abgelehnt wird, dann wäre zu wünschen, dass eine der Tausenden Opfer des PIP-Skandals gegen diese Regelungen bis vor das Bundesverfassungsgericht klagt. Die Aussicht auf Erfolg ist überaus gegeben. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Skandal um schadhafte Brustimplantate hat die Tageszeitungen gefüllt, war Thema im Gesundheitsausschuss, die Bundesregierung hat – soweit es ihr möglich war – auf die Fragen unserer Kleinen Anfrage geantwortet. Wer das hört, könnte das Gefühl haben, dass nun alle Informationen auf dem Tisch liegen müssten. Aber das ist noch lange nicht so. Dies zeigt, dass uns die Themen Brustimplantate, Schönheitsoperationen, Selbstverschuldensprinzip und Medizinprodukte noch einige Zeit beschäftigen werden. Zum Themenkomplex Medizinprodukte werden wir Grünen in Kürze einen Antrag in den Bundestag einbringen. Bereits seit längerem habe ich auch gegenüber Herstellern darauf hingewiesen, dass das CE-Kennzeichen bei hochspezialisierten und bei implantierbaren Medizinprodukten nicht ausreicht. Wir fordern für implantierbare Medizinprodukte aus Hochrisikoklassen eine an die Arzneimittel angelehnte Zertifizierung und Nutzenbewertung. Nachdem Minister Bahr in ersten Presseäußerungen rundherum ablehnte, das europäische Medizinprodukterecht zu aktualisieren, lesen sich die Antworten auf unsere Kleine Anfrage sehr viel differenzierter. Dort liest man: verbindlichere Regelungen für „Benannte Stellen“, unangekündigte Kontrollen der Produkte und bessere Rückverfolgbarkeit. Ein Medizinprodukteregister und eine ausreichende Deckungsvorsorge in Schadensfällen werden nicht mehr rundweg abgelehnt. Das reicht uns noch nicht aus, aber immerhin: Der Minister befindet sich offenbar in einem Lernprozess. Das begrüßen wir. Der Antrag der Linken hat ein weiteres Fass des Gesamtthemas aufgemacht: die Selbstverschuldensregelung in § 52 Abs. 2 SGB V. Es war schon auffällig, wie sich das Gesundheitsministerium und die Koalitionsfraktionen darum gedrückt haben, der Öffentlichkeit darzustellen, was dort geregelt ist. Wer damals für diese Regelung kämpfte – und da sind auch die SPD und der Kollege Lauterbach angesprochen –, darf sich nicht verkriechen, wenn das eigene Gesetz nicht nur in Einzelfällen, sondern plötzlich bei einer größeren Zahl von Frauen greift. Gleichzeitig sollte man es sich auch nicht ganz so einfach machen wie die Linke in ihrem Antrag. Der Vorschlag der Linken bedeutet, dass rückwirkend alle Risiken im Zusammenhang mit Schönheitsoperationen – nicht nur im Zusammenhang mit den schadhaften Brustimplantaten – auf die Solidargemeinschaft abgewälzt werden. Wollen wir wirklich, dass Frauen viel Geld für solche Operationen ausgeben, „Schönheitsdoktoren“, bei denen es bei einigen große Fragezeichen bei der fachlichen Qualität gibt, gut verdienen, und bei allem, was schiefgeht, die Solidargemeinschaft zahlen soll? Dass auch der Linken hierbei nicht ganz wohl ist, zeigt, dass die Bundesregierung hier oder in Europa irgendwie regeln soll, dass weder Betroffene noch die gesetzlichen Kassen durch medizinisch notwendige Folgebehandlungen von Schönheitsoperationen finanziell belastet werden sollen. Dass die Linke hier nach Europa schielt, wundert mich doch sehr. Da spielt die Musik bei den Medizinprodukten, aber dazu finden sich keinerlei Forderungen in ihrem Antrag. Es geht um das Leistungsrecht bei Schönheitsoperationen, und da spielt die Musik definitiv in Deutschland. Und schon sind wir mitten im dritten Themenkomplex: bei den Schönheitsoperationen. Dass hier dicke Bretter gebohrt werden müssen, zeigen die Erfahrungen aus der letzten Wahlperiode. Selbst Vorstöße aus der Koalition kamen hier nicht voran. Daher sollte dieser Skandal um Brustimplantate genutzt werden, hier zu Lösungen zu kommen. Anders als die Linke mit dem vorgeschlagenen Fonds denken wir eher an eine verpflichtende Produkthaftpflichtversicherung oder eine damit vergleichbare Deckungsvorsorge, wie es das Arzneimittelgesetz kennt. Die von der Linken vorgeschlagenen verpflichtenden schönheitschirurgischen Komplettpakete, die alle Folgebehandlungen umfassen, gehen in eine ähnliche Richtung wie die Debatte, ob bei medizinisch nicht indizierten Schönheitsoperationen nicht ein ärztlicher Werk- und kein Dienstvertrag abzuschließen ist. Damit würden, wie bei der prothetischen Versorgung durch Zahnärztinnen und -ärzte, dann entsprechende Gewährleistungsregelungen gelten. Und ein weiterer Hinweis: Wir müssen endlich dafür sorgen, dass alle Ärztinnen und Ärzte ausreichende Haftpflichtversicherungen für alle Tätigkeitsfelder abschließen. Brustimplantate im Speziellen, Medizinprodukte im Allgemeinen, Schönheitsoperationen im Gesamten und die Frage der Selbstverschuldensregelung im Speziellen werden den Gesundheitsausschuss mit Sicherheit noch einige Zeit beschäftigen. Hoffen wir, dass dabei etwas Produktives im Interesse aller Versicherten herauskommt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8581 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Februar 2012, ein. Wegen der Durchführung von Fraktionssitzungen beginnt die Sitzung erst um 10.30 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 21.18 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 09.02.2012 Dreibus, Werner DIE LINKE 09.02.2012 Friedhoff, Paul K. FDP 09.02.2012 Glos, Michael CDU/CSU 09.02.2012 Günther (Plauen), Joachim FDP 09.02.2012 Hintze, Peter CDU/CSU 09.02.2012 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 09.02.2012 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.02.2012 Kipping, Katja DIE LINKE 09.02.2012 Kramme, Anette SPD 09.02.2012 Kretschmer, Michael CDU/CSU 09.02.2012 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.02.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.02.2012 Luksic, Oliver FDP 09.02.2012 Menzner, Dorothèe DIE LINKE 09.02.2012 Poß, Joachim SPD 09.02.2012 Remmers, Ingrid DIE LINKE 09.02.2012 Rupprecht (Tuchenbach), Marlene SPD 09.02.2012* Steinbach, Erika CDU/CSU 09.02.2012 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 09.02.2012 Zapf, Uta SPD 09.02.2012 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Berichterstattung des Abgeordneten Peter Altmaier (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Neuordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts (Zusatztagesordnungspunkt 4) Zur Beschlussempfehlung weise ich als Berichterstatter im Auftrag des Vermittlungsausschusses auf folgende, dort gemeinsam erarbeitete Begründung zu Art. 1 (§ 17 Abs. 3 Satz 4, 5 und 6 -neu- KrWG) hin: Zu Satz 4 (neu): Die bisherige Prüfung der „gleichwertigen Leistung“ wird durch das Merkmal der „Leistungsfähigkeit“ ersetzt. Die Sammel- und Verwertungsleistung des gewerblichen Sammlers muss „wesentlich leistungsfähiger“ sein als das bereits bereitgestellte oder konkret geplante Angebot des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers. Für die Beurteilung der Wesentlichkeit ist entscheidend, dass für die in Satz 5 genannten Leistungskriterien messbare und gewichtige Leistungsvorteile vorliegen. Eine nur unwesentliche Verbesserung des Angebots bleibt damit außer Betracht. Die Darlegungs- und Beweislast für die höhere Leistungsfähigkeit der gewerblichen Sammlung trägt wie bisher dessen Träger. Darüber hinaus wird die Anwendung der Prüfung der Leistungsfähigkeit beschränkt. Bezog sich die Gleichwertigkeitsprüfung bislang auf § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KrWG insgesamt, wird die Fallgruppe des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nummer 3 KrWG („diskriminierungsfreie und transparente Vergabe von Entsorgungsleistungen im Wettbewerb erheblich erschwert oder unterlaufen würde“) nunmehr freigestellt. Die von dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger durchgeführten Ausschreibungen sind damit auch dann besonders geschützt, wenn das Serviceangebot des gewerblichen Sammlers wesentlich leistungsfähiger ist. Die Regelung trägt insbesondere auch dem Schutz des vertraglich gebundenen Auftragnehmers Rechnung. Zugleich ist dem europarechtlich geschützten Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit bereits durch die transparente und diskriminierungsfreie Ausschreibung Genüge getan. Das mit der Prüfung der Leistungsfähigkeit verfolgte ökologische Ziel von hochwertigen Entsorgungsleistungen bleibt weiterhin erreichbar, denn der ausschreibende öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger ist gemäß § 20 KrWG an die Vorgaben der Abfallhierarchie gebunden. Zu Satz 5 (neu): Die neue Formulierung präzisiert die unterschiedlichen Betrachtungsweisen bei der Anwendung der Kriterien im Rahmen der Prüfung der Leistungsfähigkeit und dient so der Vollzugserleichterung. Die Kriterien der Qualität, der Effizienz, des Umfangs und der Dauer der Leistungen orientieren sich allesamt an den ökologischen Zielen der Kreislaufwirtschaft, während die gemeinwohlorientierte Servicegerechtigkeit aus Sicht aller privaten Haushalte im Gebiet des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers zu beurteilen ist. Wie bisher wird somit sichergestellt, dass es für den Leistungsvergleich nicht allein auf die vom Sammler gegebenenfalls gezielt angesteuerten ertragreichen Gebiete ankommt. Zu Satz 6 (neu): Der neue Satz 6 stellt ausdrücklich klar, dass es für die Prüfung der Leistungsfähigkeit allein auf einen Vergleich der konkreten Sammel- und Verwertungsleistungen ankommt und eventuelle Zusatzangebote des gewerblichen Sammlers zu seiner Sammlung, wie etwa eine Müllsortierung in Großwohnanlagen oder eine Stellplatzreinigung, nicht in die Vergleichsbetrachtung einbezogen werden dürfen. Damit ist sichergestellt, dass der gewerbliche Sammler sein Angebot nicht mit Zusatzleistungen aufwerten kann, die nicht in der Zweckbestimmung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes liegen. Anlage 3 Neuabdruck der Antwort des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage der Abgeordneten Inge Höger (DIE LINKE) (Drucksache 17/8537, Frage 68) (157. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2): Während eines öffentlich geführten politischen Gesprächs im Rahmen einer Gemeinschaftsveranstaltung von Körber-Stiftung und Spiegel am 30. Januar 2012 in Hamburg stellte der Chefredakteur des Spiegel-Magazins Verteidigungsminister de Maizière wörtlich folgende Frage: „Sind wir eigentlich nach über zehn Jahren Krieg in Afghanistan jetzt ein Land wie jedes andere, wenn es um Krieg geht?“ Bundesminister Dr. de Maizière antwortete darauf: „Noch nicht, aber wir sollten es sein.“ Diese Antwort auf die oben im genauen Wortlaut zitierte Frage des Spiegel-Chefredakteurs steht nicht im Widerspruch zu Art. 26 Grundgesetz. Selbstverständlich versteht sich die Äußerung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ermächtigungen und der völkerrechtlichen Rahmenbedingungen, einschließlich des Gewaltverbots. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung über den Sitz der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (Tagesordnungspunkt 11) Holger Krestel (FDP): Im vergangenen Jahr haben die drei durch das europäische Finanzaufsichtssystem eingesetzten Behörden, wie im Jahr zuvor vom Europäischen Parlament beschlossen, ihre Arbeit aufgenommen. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern haben wir so eine Aufsicht etabliert, welche nicht nur auf nationaler Ebene stattfindet, sondern durch die neuen Behörden auch auf europäischer Ebene harmonisiert und koordiniert wird. Hierdurch wird ein stabiler europäischer Finanzmarkt mit begrenzten Risiken und einheitlichen Regeln geschaffen, anstatt finanzwirtschaftlicher Kleinstaaterei, in der die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Passend zu der funktionierenden Zusammenarbeit sind auch die Sitze der Behörden über die europäischen Finanzmetropolen verteilt. So befindet sich das Hauptquartier der Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde in Paris, während die Bankenaufsicht in London angesiedelt wurde. Als weiteres bedeutendes Zentrum wurde Frankfurt am Main als Niederlassungsort für die Europäi-sche Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung ausgewählt, die den meisten unter der etwas weniger sperrigen englischen Kurzform EIOPA bekannt ist. Seit 2004 war hier bereits der Ausschuss für das europäische Versicherungswesen (CEIOPS) ansässig und die Entscheidung, nun die Nachfolgeorganisation EIOPA in Frankfurt anzusiedeln, naheliegend. Der Sitz befindet sich im Westhafen-Tower am Mainufer in der Frankfurter City, wo die Arbeit bereits am 10. Januar aufgenommen wurde. Von hier aus werden Unternehmensführung, Rechnungsprüfung und Finanzkontrolle von Versicherern, Rückversicherern, Versicherungsvermittlern sowie Einrichtungen betrieblicher Altersvorsorge überprüft, kontrolliert und reglementiert. Mit der gleichzeitigen Präsenz der Europäischen Zentralbank und dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken in Frankfurt festigt die EIOPA damit auch den Ruf der Stadt nicht nur als Zentrum internationaler Finanzwirtschaft, sondern auch als Zentrum europäischer Finanzpolitik. Die Etablierung solcher Zentren und viele führende deutsche Köpfe in der europäischen Verwaltung sind für Deutschland als größtes Mitgliedsland und Beitragszahler selbstverständlich und notwendig, um auch außerhalb der formalen Ebene unseren gestalterischen Anspruch geltend machen zu können. Zu guter Letzt stärkt die Ansässigkeit von EIOPA auch den Finanzplatz Frankfurt in einem besonderen Maße. Es sollen attraktive Arbeitsbedingungen geschaffen werden, wie die Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen. Diese werden auch benötigt, wenn die Belegschaft von aktuell 30 Mitarbeitern bis 2014 laut Plan auf 120 anwachsen soll. Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes fordert von diesem Hause ein Gesetz für Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln. Ich bitte Sie daher, diesem Entwurf zuzustimmen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 96/67/EG KOM(2011) 824 endg.; Ratsdok. 18008/11 – Beschlussempfehlung und Bericht: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen der Union im Rahmen eines ausgewogenen Ansatzes sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2002/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates KOM(2011) 828 endg.; Ratsdok. 18010/11 (Tagesordnungspunkt 13 a und c) Peter Wichtel (CDU/CSU): Mit den vorliegenden beiden Vorschlägen für Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates beraten wir heute Teile des sogenannten Flughafenpaketes der Europäischen Kommission, das Anfang Dezember des vergangenen Jahres vorgestellt wurde. Das aus insgesamt drei Verordnungen zu den Bodenverkehrsdiensten, zu Betriebsbeschränkungen und zur Slot-Vergabe bestehende Maßnahmenpaket soll laut EU-Verkehrskommissar Siim Kallas die Kapazität und Qualität von Flughäfen erhöhen. Zum Bedauern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gibt es aber schwerwiegende Bedenken im Hinblick auf die beiden vorliegenden Dossiers, auf die ich gerne ausführlich eingehen werde. So soll zunächst mit der Neuregulierung der bisherigen Bodenverkehrsrichtlinie 96/67/EG in Form einer Verordnung die Bodenabfertigung auf Flughäfen noch weiter liberalisiert werden. Dieser Eingriff ist nicht nur unnötig, da ein funktionierender Markt existiert und ein Anpassungsbedarf somit schlicht nicht vorhanden ist. Eine Umsetzung der angedachten Regelungen wäre zudem mit inakzeptablen Auswirkungen auf das in diesem Bereich beschäftigte Personal verbunden. Schon heute erwirtschaften die Flughäfen in dem margenschwachen Geschäftsbereich keine Gewinne mehr; die im Jahr 1996 eingeleitete erste Liberalisierung hat bereits zu einer Preissenkung von bis zu 25 Prozent geführt. Geringfügige und befristete Beschäftigungsverhältnisse sind als Konsequenz seitdem weit verbreitet. Eine weitere Markt-öffnung würde die Lohnkosten zwangsläufig noch weiter absinken lassen, Lohndumping und Arbeitsplatzverlust würden drohen. Auch die Sicherheit könnte unter einer unnötigen Marktöffnung leiden – Preisdruck und sinkende Löhne würden zwangsläufig zur Einstellung geringqualifizierter Arbeitskräfte führen, was in einem sicherheitsrelevanten Bereich mit erheblichen Risiken verbunden wäre. Wir wollen das gegenwärtige hohe Niveau an Qualität, Effizienz und Sicherheit bei der Bodenabfertigung an deutschen Flughäfen aufrechterhalten und Qualitätsverlust, Lohndumping und Sicherheitsprobleme ausschließen. Die CDU/CSU-Bundestagfraktion lehnt den Verordnungsvorschlag der Kommission daher ab und hat dies in einem gemeinsam mit den Fraktionen der FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen formulierten Entschließungsantrag deutlich zum Ausdruck gebracht. Soweit es überhaupt einen Anpassungsbedarf bei der Bodenabfertigung gibt, befürworten wir stattdessen eine EU-weite Umsetzung der bestehenden Richtlinie, die noch immer nicht in allen Mitgliedstaaten erfolgt ist. Auch der Verordnungsvorschlag zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen ist in der vorliegenden Form zum Bedauern der CDU/CSU-Fraktion nicht akzeptabel. Zwar ist die Anerkennung des Ruhebedürfnisses der Bürger in den Mitgliedstaaten der EU und die Zielsetzung, Verbesserungen für die von Fluglärm betroffenen Menschen zu erreichen, durchaus begrüßenswert. Schließlich ist es auch unser Bestreben, Fluglärm und die damit verbundenen Betroffenheiten zu mindern. Unabhängig davon ist das in der Verordnung verankerte Kontroll- und Vetorecht der Kommission aber nicht sachgerecht und geht deutlich über das gemäß Subsidiaritätsprinzip zulässige Maß an Kompetenz hinaus. Die vorgesehenen Ermächtigungen stellen einen weder gerechtfertigten noch hinnehmbaren Eingriff in die Befugnisse der Mitgliedstaaten dar. Über Betriebsbeschränkungen und Lärmschutz müssen auch weiterhin allein die Mitgliedstaaten anhand der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und der lokalen Auswirkungen entscheiden. Eine Verlagerung der Handlungsspielräume von der nationalen und regionalen Ebene nach Brüssel lehnen wir entschieden ab. Zudem schränkt der Verordnungsvorschlag das von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation, ICAO, festgelegte Konzept des „ausgewogenen Ansatzes“ bei der Bekämpfung von Fluglärm deutlich ein, indem mit der Möglichkeit der operationellen Betriebsbeschränkung nur eine einzelne Maßnahmenoption einseitig herausgestellt wird. Das Ziel einer einheitlichen Anwendung des ausgewogenen Ansatzes wird aber nur durch eine gleichwertige Würdigung aller vorgesehenen Elemente erreicht, also auch der Berücksichtigung der Senkung des Lärms an der Quelle, der Planung und Verwaltung der Flächennutzung sowie der betrieblichen Verfahren zur Lärmminderung. Der ausgewogene Ansatz der ICAO sieht die Möglichkeit einer Betriebsbeschränkung sogar lediglich als letztes Mittel vor. Vor diesem Hintergrund ist auch dieser Verordnungsvorschlag der Kommission in der vorliegenden Form abzulehnen, was die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP in einem diesbezüglich formulierten Entschließungsantrag auch verdeutlicht haben. Abschließend betrachtet sehen wir die beiden vorliegenden Verordnungsvorschläge des EU-Flughafenpakets überaus kritisch und haben dies in den bereits erwähnten Entschließungsanträgen als jeweilige Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes auch deutlich gemacht. Wir haben die Regierung dazu aufgefordert, die geplante Verordnung zu Bodenverkehrsdiensten abzulehnen und auch im Hinblick auf die Verordnung zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen auf eine Rücknahme des Vorschlages hinzuwirken. Sollte hierfür auf europäischer Ebene keine Mehrheit zustande kommen, appellieren wir, in beiden Fällen auf maßgebliche Verbesserungen hinzuwirken. Daniela Ludwig (CDU/CSU): Heute geht es um das sogenannte Flughafenpaket. Wenn etwas einen solchen Namen hat, dann ist es in der Regel ein Zusammenschluss von vielen Einzelteilen, die zu nennen viel zu viel Zeit kosten würde und der daher diesen freundlichen, kurzen Namen erhalten hat. Aber thematisch hat es das Flughafenpaket in sich. Wir sprechen über insgesamt drei, heute aber nur zwei Vorschläge für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates, die zusammengenommen eine Verbesserung der Verhältnisse auf den Flughäfen der Gemeinschaft ergeben sollen. Wie Sie sich vorstellen können, oder wie Sie sicherlich aus den Debatten wissen, ist dies nicht ohne Diskussionen an den nationalen Parlamenten vorbeigegangen. Das ist ja oft der Fall, wenn die Kommission eine Verordnung oder eine Richtlinie erlässt, die es dann umzusetzen gilt. Damit wir nicht überrascht werden von diesen Ideen und dann nicht mehr mitreden können, müssen wir immer gut aufpassen, was die Europäische Union plant und von uns verlangt. Nach vielen Diskussionen haben wir nun entsprechende Entschließungsanträge als Stellungnahmen gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 GG dazu vorliegen, über die wir abstimmen werden und die nachdrückliche Verbesserungsvorschläge beinhalten. Da wäre zum einen der Vorschlag, wie die Bodenabfertigungsdienste auf den Flughäfen der Union in Zukunft besser und einheitlicher geregelt werden können, was zur gleichzeitigen Aufhebung der Richtlinie 96/67/ EG führt. Zu diesem Punkt hat ja mein Kollege Wichtel schon ausführlich Stellung genommen und die aus unserer Sicht vorliegenden Knackpunkte und Haken beschrieben und unsere Verbesserungsvorschläge dargelegt. Daher möchte ich darauf jetzt nicht ausführlich eingehen. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Bundesregierung, Luftverkehrsverbände, Gewerkschaften und die Verkehrspolitiker der Koalition sowie der SPD und der Grünen erhebliche Einwände gegen den vorgelegten Verordnungsvorschlag haben und daher ein gemeinsamer Entschließungsantrag erarbeitet wurde. Wir fordern, dass es entweder keinen Verordnungsvorschlag zu den Bodenabfertigungsdiensten geben soll oder, sollte keine Mehrheit (EU-Rat und Parlament) für die Ablehnung zustande kommen, die Bundesregierung das Mandat erhält, in den weiteren Verhandlungen auf europäischer Ebene auf maßgebliche Verbesserungen des Verordnungsvorschlages hinzuwirken. Denn wir finden, dass die Erhöhung der Zahl von Drittanbietern nicht als qualitätsverbessernd angesehen werden kann. In Deutschland gibt es bereits einen funktionierenden Wettbewerb, der unseren hohen Anforderungen an Qualitäts- und Sicherheitsstandards gerecht wird. Sollten noch mehr Anbieter auf diesen Markt drängen, sehen wir diese Standards in Gefahr. Auch die Regelungen zur Untervergabe von Dienstleistungen sowie die Trennung von Bodenverkehrsdiensten und zentralen Infrastrukturunternehmen lehnen wir ab. Die Flughafenbetreiber sind eigenständige Dienstleister, und derartige Eingriffe in das unternehmerische Handeln sind von uns unerwünscht. Der zweite Vorschlag, den die Kommission formuliert hat, befasst sich mit einer Revision der Richtlinie über „lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen in Europa“ und deren Überführung in eine Verordnung. Gleich vorab: Wir sind erneut nicht damit einverstanden, dass es diesbezüglich zu einer Verordnung kommt. Ich werde auch gleich darlegen, warum wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und das Bundesverkehrsministerium dagegen sind. Aber wir unterstützen natürlich das Ziel, dass der Verkehrslärm und die Belastung der Bevölkerung stetig reduziert werden. Das betrifft nicht nur Flugzeuglärm, sondern jeglichen Verkehrslärm. Unsere Aktivitäten diesbezüglich in den letzten Monaten und Jahren kann man durchaus als erfolgreich und vielversprechend bezeichnen. Aber nun zum Inhalt des Vorschlags der Kommission und zu unserem Entschließungsantrag. Es ist geplant, vorrangig das Ziel zu verfolgen, dass es zu einer einheitlichen Anwendung des sogenannten „ausgewogenen Ansatzes“ zur Verminderung von Lärmproblemen im Flughafenumland kommt. Das klingt gut und ist unterstützenswert. Doch dies sollte nicht durch die Rechtsform einer Verordnung geschehen. Damit überschreitet die Kommission aus meiner Sicht ihre Befugnisse und greift direkt das Subsidiaritätsprinzip an. Sie hat durch das Setzen EU-übergreifender Rahmenbedingungen mit verschärften Kriterien zwar den richtigen Ansatz, aber in der vorliegenden Form wird ja nicht nur eine Empfehlung mit einer Richtlinie ausgegeben, sondern ausgeschlossen, also regelrecht verboten, dass Mitgliedstaaten die erforderliche Berücksichtigung jeweils örtlicher Belange und Gegebenheiten ihrer einzelnen Flughäfen vornehmen und dies werten können. Damit meine ich jeweils passgenaue Maßnahmen zum Lärmschutz, wie zum Beispiel Betriebseinschränkungen usw. Der „ausgewogene Ansatz“ muss, allein schon wegen seiner Komplexität, weiterhin im Ermessen der Nationalstaaten geregelt und erwogen werden können. Alles andere würde eine zu starke Einschränkung bedeuten. Es ist daher auch fraglich, ob überhaupt der Bedarf einer Änderung oder einer Überarbeitung der bereits bestehenden Richtlinie besteht. Wenn dies aber geschieht, dann muss, wie ich schon dargestellt habe, die individuelle Situation vor Ort weiterhin Berücksichtigung finden, sodass es nicht durch starre Vorgaben zu Umsetzungsproblemen oder gar Strafen kommt. Zusammengefasst: Unser Entschließungsantrag fordert die Bundesregierung auf, die Befugnisse der Kommission auf das notwendige Maß zu beschränken und die Handlungsspielräume auf nationaler und regionaler Ebene zu erhalten. Das grundsätzlich begrüßenswerte Ziel der einheitlichen Anwendung des sogenannten „ausgewogenen Ansatzes“ zur Verminderung von Lärmproblemen im Flughafenumland bedarf einer gleichwertigen Würdigung aller darin vorgesehenen Elemente und nicht einer einseitigen Fokussierung auf Betriebsbeschränkungen. Und: In den Verhandlungen auf EU-Ebene muss es zumindest zu Verbesserungen beim Verordnungsvorschlag der Kommission zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen kommen, wenn keine komplette Rücknahme durch die Kommission erzielt werden kann. Eines möchte ich noch sagen – und das sehen wir doch irgendwie alle so –: Die EU macht es sich immer öfter gerne leicht. Statt eine Richtlinie zu erlassen, geht man scheinbar dazu über, Verordnungen zu schreiben, um dann reihenweise die Mitgliedsländer zu verwarnen und Strafen zu verhängen. Das geht so nicht. Das dürfen wir so nicht ohne Weiteres zulassen. Wir bitten Sie daher heute, weiter die Augen offen zu halten und unseren Entschließungsanträgen zuzustimmen. Den Antrag der Linken lehnen wir ab. Kirsten Lühmann (SPD): Wir berichten heute aus dem Verkehrsausschuss über das sogenannte Flughafenpaket der EU-Kommission. Das Flughafenpaket besteht aus drei Verordnungsentwürfen. Die erste Verordnung regelt die Bodenabfertigungsdienste. Die zweite Verordnung behandelt die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen der Europäischen Union. Die dritte Verordnung besteht aus Regelungen zu lärmbedingten Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen. Bevor wir zu den einzelnen Verordnungsentwürfen kommen, kann man einen Punkt bereits vorwegnehmen: Alle Fraktionen waren sich in den Ausschussberatungen einig, dass es bei den Vorschlägen der EU zu Bodenabfertigungsdiensten und lärmbedingten Betriebsbeschränkungen jeweils keiner Verordnung bedurft hätte. Die bestehenden Richtlinien dazu haben die gewünschte Wirkung erzielt bzw. könnten dies bei der Richtlinie zu den Betriebsbeschränkungen mit geringfügigen Veränderungen erzielen. Zu der ersten EU-Verordnung, der Verordnung zu den Bodenabfertigungsdiensten auf Flughäfen. Der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Bodenabfertigungsdienste auf Flughäfen der Union soll eine Richtlinie (96/97/EG) aus den 90er-Jahren zu diesem Thema ersetzen. Im Zuge dieser Richtlinie erfolgte bereits eine Marktöffnung, die unserer Meinung vollkommen ausreicht. Tatsache ist: Die Bodenabfertigungsdienstleistungen an den deutschen Verkehrsflughäfen haben ein im internationalen Vergleich hohes Qualitätsniveau. Außerdem besteht durch die Marktöffnung bereits ein Wettbewerb, der in den letzten Jahren zum Sinken der Preise für die Dienstleistungen geführt hat. Eine Notwendigkeit für eine weitere, europäisch erzwungene Öffnung des Marktes besteht nicht. Sie würde nicht für mehr Sicherheit und Qualität an Flughäfen sorgen. Wir befürchten vielmehr, dass eine weitere Liberalisierung, wie sie der Verordnungsentwurf vorsieht, Lohndumping und Arbeitsplatzverlust für die Flughafenbeschäftigten bedeutet. So ist schon jetzt die Zahl der unsicheren Arbeitsverhältnisse wie Zeit- und Leiharbeit überproportional gestiegen. Selten sind sich alle Seiten so einig: Flughafenbetreiber wie Arbeitnehmer sehen die vorhandenen Standards gefährdet. Wir befürchten massive Qualitätsminderungen für Passagiere. Die Verordnung sieht außerdem vor, dass den Flughafenbetreibern verboten wird, selber Bodenabfertigungsdienste anzubieten. Damit würde die Verordnung erheblich in die unternehmerischen Belange der Flughafenbetreiber eingreifen. Wir befürchten eine Ungleichbehandlung, Diskriminierung der Flughafenbetreiber als Dienstleister. Derzeit sind es gerade die Flughafenbetreiber, die mit stabilen Beschäftigungsverhältnissen den Flughafenstandorten und der Region nutzen. Ich begrüße es sehr, dass wir als Ergebnis unserer Ausschussberatungen einstimmig den Entschließungsantrag der Regierungskoalition und der Oppositionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes beschlossen haben, und werbe auch hier im Parlament um ein deutliches Signal: Mit diesem Entschließungsantrag lehnen wir Parlamentarier die Verordnung zu den Bodenabfertigungsdiensten auf Flughäfen ab und fordern die Bundesregierung auf, bei den zukünftigen Verhandlungen auf europäischer Ebene Mitstreiter für unsere Positionen zu suchen. Nur für den Fall, dass keine Mehrheit für eine Ablehnung des Verordnungsvorschlags zustande kommt, fordern wir die Bundesregierung auf, mit allen Kräften wenigstens maßgebliche Verbesserungen durchzusetzen. Der zweite Verordnungsentwurf regelt die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen, die sogenannte Slot-Vergabe. Ziel dieses Entwurfs ist es, die vorhandenen Kapazitäten an Flughäfen besser zu nutzen, um den Wettbewerb zu fördern. So sollen Flughäfen zum Beispiel in Zukunft Reservierungsgebühren erheben dürfen, und die Anforderungen an die erneute Zuweisung von Zeitnischen – die sogenannten Großvaterrechte – sollen angehoben werden. Es soll sich dadurch für große Fluggesellschaften nicht mehr lohnen, die ohnehin häufig knappen Zeitnischen einfach zu reservieren, nur damit ein etwaiger Konkurrent nicht zu bestimmten Zeiten fliegen kann. Für Fluggesellschaften können fehlende oder zeitlich unattraktive Slots eine hohe Markteintrittsbarriere darstellen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion nehmen diesen Verordnungsentwurf zur Kenntnis, geben allerdings zu bedenken: Eine gewollte Slot-Verdichtung führt zu mehr Flugbewegungen und das bedeutet mehr Lärm. Damit sind wir beim nächsten Verordnungsentwurf. Der dritte Vorschlag der EU für eine Verordnung über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen auf Flughäfen hat mit Abstand am meisten Wirbel verursacht. Interessant ist, dass alle Fraktionen in den Ausschussberatungen einhellig der Meinung waren: Dieser Verordnungsentwurf der EU geht eindeutig zu weit. Er greift massiv in die Rechte der Mitgliedstaaten ein, und zwar über das gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zulässige Maß hinaus – eine Einschätzung übrigens, die der Bundesrat teilt und auf die er daher fristgerecht hingewiesen hat. Das erklärte Ziel der EU, mit dieser Verordnung die Zahl der von den Auswirkungen von Fluglärm betroffenen Menschen in den Mitgliedstaaten zu begrenzen oder zu reduzieren, begrüßen wir. Wir sind jedoch der Meinung, dass dieses Ziel mit dieser Verordnung eben nicht erreicht wird. Mit diesem Entwurf stellt die EU alle Betriebsbeschränkungen für Nachtflüge, die die Mitgliedstaaten nach teilweise aufwendigen Abwägungsverfahren festgelegt haben, unter Vorbehalt. Sie erhält ein umfangreiches Kontroll- und Vetorecht bei der Bewertung von lärmbedingten Betriebsbeschränkungen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen nicht, dass wir durch EU-übergreifende Rahmenbedingungen und verschärfte Kriterien nicht mehr in der Lage sind, anhand der jeweiligen örtlichen Besonderheiten von Flughafen zu Flughafen über Lärmschutz und Betriebsbeschränkungen zu entscheiden. In unserem Entschließungsantrag haben wir deutlich gemacht, dass wir einen „ausgewogenen Ansatz“ zur Lärmbekämpfung befürworten. Wir lehnen ausdrücklich eine einseitige Ausrichtung der Verordnung auf das Kriterium der Kosteneffizienz ab. Beim Lärmschutz zählt die wirksamste Maßnahme, nicht die kosteneffizienteste. Stattdessen fordern wir, dass eine ausgewogene Abwägung zwischen den Belangen der Anwohnerinnen und Anwohner und der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit bei der Bewertung der Betriebsbeschränkungen erfolgen soll. Grundsätzlich soll geprüft werden, auf welche Art und Weise die Interessen der Bevölkerung bei Wahrung der Wirtschaftlichkeit besonders in der Nacht eine größere Bedeutung erhalten können. Außerdem sehen wir, dass dem kontinuierlichen Fortschritt der Triebwerks- und Flugwerkstechnik sowie den Methoden zur Kartierung von Lärmkonturen Rechnung zu tragen ist. Abschließend betrachtet ist uns nicht klar – und da sind wir uns mit den Kollegen der anderen Fraktionen einig –, warum die Kommission den Weg einer Verordnung gegangen ist und, wenn überhaupt, die bestehende Richtlinie 2002/30/EG nicht überarbeitet hat. Wir werben daher dafür, unserem SPD-Entschließungsantrag nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz zu folgen, in dem wir die Bundesregierung auffordern, auf europäischer Ebene auf eine Rücknahme des Verordnungsvorschlages hinzuwirken. Sollte EU-weit keine Mehrheit für eine Ablehnung des Verordnungsvorschlags zustande kommen, fordern wir die Bundesregierung auf, in den weiteren Verhandlungen auf maßgebliche Verbesserungen des Vorschlags hinzuwirken. Die Befugnisse der Kommission müssen auf ein notwendiges Maß beschränkt werden und unsere nationalen Handlungsspielräume gewahrt werden. Die Kommission darf unsere Nachtflugverbote nicht kassieren. Wirtschaftlichkeit geht nicht vor Gesundheit. Wirtschaftlichkeit und Gesundheit müssen ausgewogen austariert werden. In diesem Zusammenhang finde ich es schade, dass wir uns im Bundestag, anders als der Bundesrat, nicht fristgerecht auf eine Subsidiaritätsrüge einigen konnten, sondern jetzt nur inhaltlich auf unsere Bedenken hinweisen. In diesem Sinne hoffe ich auf die Unterstützung unseres Antrags. Patrick Döring (FDP): Vor gut zwei Monaten hat EU-Verkehrskommissar Siim Kallas das sogenannte Flughafenpaket vorgestellt, ein Maßnahmenpaket, mit dem insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Flughäfen gesteigert werden soll. Im Einzelnen soll hierzu erstens die Zuweisung der Slots effizienter gestaltet, zweitens der Markt für Bodenverkehrsdienste liberalisiert und sollen drittens Verbesserungen für die von Fluglärm betroffenen Bürger erreicht werden – Ansätze, die ich grundsätzlich sehr begrüße. Doch wie bei so manchem, was aus Brüssel kommt, steckt auch hier der Teufel im Detail. Lassen Sie mich kurz auf die wichtigsten Punkte der drei Verordnungsentwürfe eingehen. Der erste Punkte betrifft die Slot-Verordnung. Mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission soll die Nutzung der knappen Start- und Landekapazitäten an koordinierten Flughäfen, sprich an Flughäfen, die an ihrer Kapazitätsgrenze arbeiten, verbessert werden. Denn auch wenn das gegenwärtige Verfahren der Slot-Koordinierung, das im Wesentlichen auf administrativen Vergabekriterien beruht, seit Jahren eingespielt ist und in sich schlüssig klingt, so weist es aus ökonomischer Sicht doch erhebliche Ineffizienzen auf. Im Ergebnis kann die knappe Infrastruktur an koordinierten Flughäfen also nicht so effizient wie möglich genutzt werden. Daher begrüßen wir als FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich die Zulassung des Slot-Handels, der die Effizienz deutlich steigern wird. Ob die anderen angestrebten Maßnahmen wie etwa die Verschärfung der „use it or lose it“-Regel geeignete Instrumente sind, um eine bessere Kapazitätsauslastung zu erreichen, bleibt kritisch abzuwägen. Die geplante Evaluierung der Verordnung scheint daher der richtige Ansatz zu sein. Der zweite Punkt, der von der FDP-Bundestagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet wird, ist die Frage der Liberalisierug der Bodenverkehrsdienste. Hier freut es mich ganz besonders, dass es der Koalition gelungen ist, im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorzulegen. Wir alle sind uns einig, dass sich die Qualität, Sicherheit und Effizienz der Bodenabfertigung an deutschen Flughäfen bereits heute auf einem hohen Niveau befinden. Die von der Kommission angestrebte Erhöhung der Zahl von Drittanbietern würde unserer Ansicht nach aber weniger der Qualitätsverbesserung dienen als vielmehr die vorhandenen Standards gefährden. Denn ein hohes Maß an Sicherheit und Qualität kann im Bereich der Bodenabfertigungsdienste nur dann erreicht werden, wenn es zu keiner dramatischen Absenkung des Lohnniveaus und der sozialen Absicherung des beschäftigten Personals kommt. Ebenso kritisch, sehen wir die im Verordnungsentwurf vorgeschlagenen Regelungen zur Untervergabe von Dienstleistungen und die rechtliche Trennung von Bodenverkehrsdiensten und zentraler Infrastruktureinrichtungen. Nicht allein, dass der Verordnungsentwurf an dieser Stelle massiv in die unternehmerischen Belange der Flughafenbetreiber eingreift. Derzeit sind es doch gerade die Flughafenbetreiber, die den Aufbau und Erhalt stabiler Beschäftigungsverhältnisse in den Flughafenregionen gewährleisten. Der dritte und letzte Punkt betrifft das Subsidaritätsprinzip. Auch wenn wir die Zielsetzung der Kommission, Verbesserungen für die von Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu erreichen, ausdrücklich unterstützen, so schießt die Kommission an dieser Stelle mit ihrem Verordnungsentwurf doch weit über das Ziel hinaus. Denn durch das Setzen EU-übergreifender Rahmenbedingungen und verschärfter Kriterien wird den einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen, eigenständig über Lärmschutzmaßnahmen und Betriebsbeschränkungen zu entscheiden. Auf lokale Gegebenheiten könnte dann kaum noch Rücksicht genommen werden. Ein ausgewogener Ansatz zur Bekämpfung von Fluglärm sieht anders aus. Zusammenfassend begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion die Zielsetzung der Europäischen Kommission, die Wettbewerbsfähigkeit und die Effizienz der europäischen Flughäfen zu verbessern. Die einzelnen Maßnahmen des Flughafenpakets sollten jedoch noch einmal kritisch dahin gehend überprüft werden, ob sie die angestrebten Ziele auch wirklich erreichen. Herbert Behrens (DIE LINKE): Runter mit den Kosten, runter mit den Standards bei den Arbeitsbedinungen – das ist die Devise der Europäischen Kommission. Europa wird auf Wettbewerb getrimmt. Dass es dabei um Menschen geht, wird gar nicht mehr wahrgenommen. Sie tauchen nur noch als Kostenfaktor auf, der um jeden Preis klein gehalten werden muss. Die EU-Kommission will eine Verordnung durchsetzen, mit der das Bodenpersonal mehr Konkurrenz bekommen soll. Große Flughäfen sollen jetzt ein zusätzliches drittes Abfertigungsunternehmen zulassen. Das betrifft die Menschen, die auf Flughäfen dafür sorgen, dass Passagiere, Gepäck, Tankwagen, Gangways, Busse und Flugzeuge zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Die Betroffenen und ihre Gewerkschaften befürchten einen weiteren Lohn- und Sozialabbau. Die letzten Verordnungen der EU-Kommission hatten die Arbeitsbedingungen bereits verschlechtert. Die großen Betriebe in der Branche, Aviation Handling Services, AHS, oder Swissport, beschäftigen bis zu 80 Prozent ihrer Mitarbeiter in prekären Arbeitsverhältnissen, wie zum Beispiel Leiharbeit, Befristung usw. Wir sagen: Schluss damit! Schluss mit noch mehr Deregulierung und Liberalisierung des Marktes! Zwar nicht so deutlich fordern das selbst die Flughafenbetreiber. Und es fordert die Regierungskoalition zusammen mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem gemeinsamen Antrag. Unsere Argumente zu dieser Verordnung sind sehr ähnlich. Warum die Fraktion Die Linke nicht mit auf dem gemeinsamen Antrag stehen soll, weiß der Kuckuck. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, gibt es etwa eine Ansage des Innenministers, keine gemeinsame Sache mit von ihm überwachten Politikerinnen und Politikern zu machen? Und Sie folgen dem willig? Egal. Wir unterstützen den Entschließungsantrag, auch wenn er weitergehen könnte. Die einzige Lösung wäre eine Revision der Richtlinie unter dem Aspekt: Deregulierung stoppen und Standards für die Ausbildung und die Qualität der Dienstleistungen festlegen. Ebenfalls zum Flughafenpaket gehört die Verordnung, mit der Betriebsbeschränkungen europaweit angeglichen werden sollen. Da geht es um Flugverbote und das Verbot von zu lauten Flugzeugtypen. Die lautesten Flugzeuge aus dem Verkehr zu ziehen, ist richtig; das werden auch die Anwohner an Flughäfen so sehen. Die Flughäfen werden dazu verpflichtet, umfangreiche Angaben zum Lärmschutz zu machen. Das hört sich gut an. Laut Art. 2 Abs. 7 aber bedeutet eine Betriebsbeschränkung „eine Lärmminderungsmaßnahme, die den Zugang oder die Kapazität eines Flughafens einschränkt“ und weiter „sowie partielle Betriebsbeschränkungen, die den Betrieb ziviler Luftfahrtzeuge in bestimmten Zeiträumen einschränken“. Das ist ein richtiger Hammer. Partielle Betriebsbeschränkungen heißt übersetzt Nachtflugverbote. Die Kommission will das Recht haben, Nachtflugverbote auszusetzen, wenn ein Mitgliedsland das verlangt, aber sie kann auch von sich aus handeln. Begründet wird das damit, dass die europäischen Flughäfen in der Zukunft Kapazitätsprobleme haben werden. Der Flugverkehr soll weiter wachsen, besonders in der Luftfracht. Wir haben gerade in den letzten Wochen gesehen, dass die Bürgerinnen und Bürger unter Flugrouten nicht länger bereit sind, Fluglärm geduldig zu ertragen. Sie protestieren und prozessieren. Am neuen Flughafen in Berlin-Brandenburg, BER, und in Frankfurt/Main, FRA, wurde nicht von den Behörden ein Nachtflugverbot beantragt, sondern nachträglich durch Gerichte angeordnet. Nur durch Prozesse waren die Menschen in der Lage, ihre Schutzinteressen zumindest teilweise durchzusetzen. Soll die Kommission nun das Recht haben, diese angeordneten Regelungen aufheben zu dürfen? Wir sagen Nein. Das geht zu weit. Kein Genehmigungsvorbehalt für die Kommission! Wir hatten einen Antrag vorgelegt, mit dem wir eine sogenannte Subsidiaritätsrüge verlangten. Das wäre ein deutliches Signal dafür gewesen, dass Rechte der Bürgerinnen und Bürger nicht beschnitten werden dürfen. Das wäre auch ein Signal dafür gewesen, dass die Einigung Europas die Interessen der Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht Kosteneffizienz, Kapazitätsengpässe auf Flughäfen und den freien Wettbewerb. Leider wollten sich weder die Mitglieder der Regierungskoalition noch die Oppositionsfraktionen unserem Antrag anschließen. Jetzt liegt uns der Entschließungsantrag der Regierungskoalition vor, der weit hinter dem zurückbleibt, was notwendig ist. Dennoch wollen auch CDU/CSU und FDP den Vorschlag einer Verordnung in dieser Form nicht. Sie fordern jetzt auch, „die Befugnisse auf das notwendige Maß zu beschränken und die Handlungsspielräume auf nationaler und regionaler Ebene zu erhalten“. Das hätten wir mit unserem Antrag deutlicher haben können. Die Linke fordert, die vorgesehene Kontrollbefugnis der Kommission ersatzlos zu streichen. Wir fordern, entweder im Vorschlag für eine Verordnung oder an anderer Stelle im europäischen Recht verbindliche, EU-weit gültige Grenzwerte zum Schutz der Menschen vor Flug- und Verkehrslärm zu verankern. Die Umgebungslärmrichtlinie wäre dafür richtig. Nur so können wir die Politik der Kommission bürgerfreundlicher machen. Die Menschen wollen mitbestimmen und nicht bevormundet werden. Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Europäische Kommission hat am 1. Dezember 2011 ein umfangreiches Maßnahmenpaket für die großen Flughäfen der Europäischen Union mit über 50 000 Flugbewegungen im Jahr vorgestellt. Dessen Hauptziel ist es, die Effizienz der europäischen Flughäfen zu erhöhen, da die EU-Kommission dort mit Engpässen rechnet. Das sogenannte Flughafenpaket umfasst ein zusammenfassendes Strategiepapier und drei konkrete Verordnungsvorschläge. Davon debattieren wir heute über den Vorschlag zu den Bodenabfertigungsdiensten und zur Regelung von lärmbedingten Betriebsbeschränkungen. Bei ersterem Vorschlag herrscht große Einigkeit zwischen allen Fraktionen, dass eine weitere Liberalisierung des Sektors der Bodenverkehrsdienste zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht, deren Bezahlung schon heute schlecht ist. Auch wir Grünen haben uns daher einem interfraktionellen Antrag dazu angeschlossen. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, die Umsetzung dieser Verordnung in Brüssel abzulehnen. Ebenfalls stark diskutiert wird der Verordnungsvorschlag zu den lärmbedingten Betriebsbeschränkungen, auf den ich mich in meiner Rede konzentrieren möchte. Während in Frankfurt im Wochentakt Tausende Menschen gegen Fluglärm demonstrieren und auch an anderen Flughafenstandorten wie beispielsweise in Berlin, München und Leipzig der Widerstand gegen die gesundheitsgefährdenden Belästigungen durch Fluglärm besonders in der Nacht wächst, plant die Europäische Kommission mit ihrem Verordnungsentwurf gerade erhebliche Verschlechterungen beim Schutz vor Fluglärm. Das lehnen wir ab. Wir fordern die Bundesregierung mit Nachdruck auf, sich in Brüssel dafür einzusetzen, dass der Verordnungsvorschlag grundlegend überarbeitet wird. Andernfalls sollte die Bundesregierung den Vorschlag der Europäischen Kommission im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ablehnen. Die für die Europäische Kommission vorgesehenen weitreichenden Kontrollbefugnisse und die Befugnis zur Aussetzung von Betriebsbeschränkungen müssen aus unserer Sicht gestrichen werden. Denn es ist zu befürchten, dass damit Nachtflugbeschränkungen und -verbote aus Kapazitäts- und Wettbewerbsgründen ausgesetzt werden könnten und zeitliche Beschränkungen des Betriebs kaum noch durchsetzbar wären. Der Entwurf der Kommission orientiert sich einseitig an den wirtschaftlichen Belangen, insbesondere an der Ausweitung der Flughafenkapazitäten. Die Verbesserung des Lärmschutzes spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Statt die Chance zu nutzen und bei der Überarbeitung der bisher gültigen Richtlinie den Einsatz von Betriebsbeschränkungen als wirksamstes Mittel zu stärken, sollen diese nach Ansicht der EU-Kommission nur als letztes Mittel der Wahl zum Einsatz kommen können. Schon die gültige Betriebsbeschränkungsrichtlinie hat aber an vielen Flughäfen wenig positive Wirkung für Lärmminderung entfaltet, wie aus dem Sachstandsbericht der EU-Kommission vom 28. Februar 2008 hervorging. Nach Auffassung der Bundesvereinigung gegen Fluglärm war die Wirkung sogar eher negativ. Umso unverständlicher ist es daher, warum die Regierungskoalition in ihrem Antrag zwar ebenfalls den Verordnungsentwurf ablehnt, sich dann aber dafür einsetzt, dass faktisch alles beim Alten bleibt. Oder wie, liebe Koalitionäre, soll man es verstehen, dass sie keinen grundlegenden Bedarf für die Überarbeitung der Richtlinie sehen? Das ist für uns nicht akzeptabel, deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Wir erwarten, dass sowohl die Bundesregierung als auch die Regierungskoalition klar Farbe bekennen und sich auf die Seite der betroffenen Bürgerinnen und Bürger stellen. Nach dem Willen der EU-Kommission sollen die kosteneffizientesten Maßnahmen Vorrang erhalten, nicht die wirksamsten. Lärmschutz darf aber nicht betriebswirtschaftlich betrachtet werden, sondern muss volkswirtschaftlich bewertet werden. Bei der Abwägung der unterschiedlichen Belange muss der Gesundheit der durch Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger, insbesondere in der Nacht, künftig eine höhere Bedeutung beigemessen werden als den wirtschaftlichen und verkehrlichen Belangen. Zudem muss klargestellt werden, dass es keinen Rückschritt zu bisherigen nationalen Schutzniveaus geben darf und bereits erlassene Betriebsbeschränkungen bestehen bleiben können. Wir brauchen europäische Schutzziele, die vorgeben, ab wann Fluglärm als schädlich zu werten ist und entsprechenden Handlungsbedarf auslöst. Das sind aus unserer Sicht insbesondere europaweit gültige Grenzwerte für die Lärmpegel an Flughäfen. Die Bemessungsgrenzen für den Ausschluss lauter Flugzeuge sollten nach unserer Auffassung eher verschärft, statt aufgeweicht werden. Denn selbst nach dem aktuellen Entwurf würde nur ein Minimum der Luftfahrzeugflotte davon erfasst werden. So berücksichtigt die Neuregelung beispielsweise immer noch nicht die häufig eingesetzten lauten Flugzeuge B 747-400 und MD 11. Der Verordnungsentwurf bringt daher keine Verbesserung. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit (Tagesordnungspunkt 16) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe, möchte ich doch hervorheben, dass Sie für Ihren Antrag generell nicht berücksichtigt haben, dass es sich bei Pakistan um einen sehr schwierigen Partner mit einem sehr ausgeprägten Sicherheits- und Souveränitätsbedürfnis handelt. „Einbindungsdiplomatie“ findet deshalb – ob wir es wollen oder nicht – bei verschiedenen wichtigen Themen an sich ihre Begrenzungen. Ihr Antrag gibt letztlich aber keine Antwort darauf, wie man mit einem Partner umgeht, der sich zumindest partiell schlichtweg einer Einbindung verweigert. Insofern bearbeiten Sie zwar ein wichtiges Thema, entwickeln aber keine ausreichenden Lösungsansätze. Da ich Anfang Februar 2012 von einer Dienstreise aus Pakistan zurückgekommen bin, werde ich im Folgenden einige diesbezügliche Anregungen vortragen. Zu den Einzelheiten Ihres Antrags: Teil 1: „Für eine aktive Einbindungspolitik“. Sie beschreiben den komplexen strategischen Kontext, in dem sich Pakistan befindet. Nicht nur seine schwierige Verquickung mit dem „Zwilling“ Afghanistan wird genannt, sondern ganz zu Recht auch die langjährige Feindschaft zu Indien. Diese Determinanten, neben der komplexen Beziehung zu den USA, sind handlungsleitend für die pakistanische Außen- und Sicherheitspolitik, die durch tiefes Misstrauen gegenüber den übrigen Akteuren in der Region getragen wird. Die einzige, aber maßgebliche Ausnahme ist China. China, USA, Afghanistan und Indien – auch Russland wäre zu nennen –, allein die Aufzählung dieser regionalen Akteure unterstreicht die geostrategische Bedeutung des Atomstaates Pakistan. Deshalb werden Sie aber immer an der sicherheitspolitischen Perzeption der pakistanischen Eliten ansetzen müssen, wenn Sie langfristig eine fundamentale Verbesserung der durch Sie aufgezeigten Probleme erreichen wollen. Diese entscheidende Dimension blenden Sie in Ihrem Antrag jedoch aus – deshalb springen Sie mit dem im Antrag beschriebenen Ansatz einer „Einbindungsdiplomatie“ deutlich zu kurz. Teil 2: „Pakistans demokratische Kräfte und Zivilgesellschaft stärken“. Wie eingangs angedeutet, habe ich auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung mit meinem Kollegen Ernst-Reinhard Beck, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, vom 29. Januar bis zum 1. Februar 2012 Pakistan bereist. Wir hatten dort ein hochrangiges Besuchsprogramm, in dessen Rahmen wir unter anderem die Außenministerin Hina Rabbani Khar, den Senatspräsidenten – Oberhaus – Naek und den stellvertretenden Parlamentsprecher Kundi treffen konnten. Daneben traf unsere Delegation, zu der auch der Kollege Michael Gahler aus dem Europäischen Parlament gehörte, mit den Führungen verschiedener Parteien wie der PML-Q, der JUI-F, dem früheren Premierminister des pakistanischen Teils Kaschmirs, der deutschen Freundschaftsgruppe im pakistanischen Parlament und Vertretern der pakistanischen Armee zusammen. Sie sehen: Unsere Fraktion bemüht sich unter Einbindung der europäischen Ebene intensiv um die Einbindung der zivilen und militärischen Gesprächspartner. Nur dieses hat vor dem Hintergrund der politischen Gegebenheiten in Islamabad wirklich Sinn – ein Beschränkung auf zivile Gesprächspartner bedeutete auch eine automatische Beschränkung der zu erreichenden Ergebnisse eines verstärkten politischen Dialogs. Insofern sind wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ihrem Antrag voraus – das heißt aber auch: Wir teilen Ihre grundsätzlichen Anliegen. Die pakistanische Seite gab uns durch die hochrangige Wahrnehmung zu verstehen, wie sehr ihr an weiterhin guten Beziehungen zu Deutschland gelegen ist – auch vor dem Hintergrund des kürzlichen Peschawar-Vorfalls. Wir konnten keine Eintrübung feststellen. Besonderes Interesse in Pakistan besteht an einer Intensivierung der Beziehungen zwischen den Parlamenten beider Länder. Das ist eine Anregung, die wir gerne aufnehmen wollen. Durch eine solche Intensivierung würden wir das pakistanische Parlament aufwerten und es weiter stärken. Wir werden vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu einen Vorschlag einbringen, um ganz konkret die bilaterale Zusammenarbeit von Parlamentsausschüssen zwischen Pakistan und Deutschland zu intensivieren: Im Hinblick auf Pakistan, Afghanistan und die gesamte Region bieten sich hierzu besonders drei Ausschüsse an: Auswärtiger Ausschuss, Verteidigungsausschuss und der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Eine solche Kooperation könnte parteiübergreifende bilaterale Treffen in Deutschland und Pakistan beinhalten. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie dieses Ansinnen konstruktiv aufnehmen würden. Aber auch die Gründung einer deutsch-pakistanischen Freundschaftsgruppe im Deutschen Bundestag sollte verstärkt in den Blick genommen werden. So hat auch der pakistanische Premierminister in seinen bilateralen Gesprächen am 1. Dezember 2009 mit Bundestagspräsident Professor Dr. Norbert Lammert und dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Herrn Ruprecht Polenz, für eine deutsch-pakistanische Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag geworben. Derzeit gibt es nur fünf Parlamentariergruppen im Deutschen Bundestag, die den Dialog mit der islamischen Welt unterstützen. Eine Aufwertung des Dialogs mit islamischen Demokratien ist im deutschen wie europäischen Interesse und könnte effektiv wie zeitnah durch ein verstärktes Engagement auf parlamentarischer Ebene manifestiert werden. Schließlich möchte ich diesen Rahmen nutzen, um auch einmal für die hervorragende Arbeit der politischen Stiftungen im Ausland zu danken, die wir alle, wie ich denke, auf unseren Reisen erleben dürfen. Diese Arbeit findet häufig unter schwierigen Bedingungen statt, sei es in Pakistan, Ägypten oder vielen anderen Ländern dieser Welt – umso wichtiger, dass sie uns Politikern Türöffner und Begleiter sind und auf diese Weise den politischen Dialog ermöglichen. Teil 3: „Entwicklungszusammenarbeit mit Pakistan intensivieren und verbessern“. Zu den fachlichen Schwerpunkten der Entwicklungszusammenarbeit verweise ich im Rahmen dieser Debatte auf die Ausführungen meiner zuständigen Kollegin Sibylle Pfeiffer. Zum Finanziellen muss ich allerdings feststellen, dass Sie mit falschen Zahlen argumentieren. Die Zusagen der bilateralen deutsch-pakistanischen Entwicklungszusammenarbeit erfolgen bekanntermaßen für einen Zeitraum von zwei Jahren. Die von Ihnen genannte Zahl von 15,7 Millionen Euro stellt nur eine Zwischenzusage zusätzlicher Mittel außerhalb dieses Rhythmus dar. Bei den letzten Regierungsverhandlungen für die Jahre 2011/ 2012 wurde eine Summe von 90 Millionen Euro zugesagt; auf dieses Jahr entfallen damit rechnerisch 45 Millionen Euro, also allein in diesem Jahr die dreifache Summe des von Ihnen genannten Beitrags. Im Übrigen sind die Zusagen seit dem Ende des Militärregimes unter Musharraf bereits signifikant erhöht worden – von 44 Millionen in 2005/06 bis auf jetzt 90 Millionen in 2011/2012. Seitdem die CDU regiert, ist also genau das getan worden, was Sie nun erst fordern! Insgesamt resümiere ich, dass Pakistan – wie Sie ja auch feststellen – nicht ausschließlich durch die „afghanische Brille“ betrachtet werden darf. Sie verweisen völlig zu Recht auf die enorme geostrategische Bedeutung dieses Landes in seiner Region, die auf vielfältige Weise noch keine regionale Stabilität entwickelt hat. Auch sind die gewählten Ansätze wie die Stärkung demokratischer Kräfte und der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit richtig – aber leider nicht vollständig und qualitativ nicht ausreichend durchdacht. Deswegen stimmt die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion dem vorliegenden Antrag nicht zu und lädt Sie zur Unterstützung der geschilderten Initiativen ein. Sybille Pfeiffer (CDU/CSU): Pakistan ist für Deutschland ein entwicklungspolitisches Kooperationsland der ersten Stunde. Im letzten Jahr haben wir den 50. Jahrestag der deutsch-pakistanischen Entwicklungszusammenarbeit begangen. Das sechstgrößte Land der Erde hat ein Bevölkerungswachstum von 2,4 Prozent. Damit hat es eine große und junge Bevölkerung und auch unglaublich viel Potenzial. Dennoch ist die Gesellschaft zweigeteilt: Auf der einen Seite gibt es eine kleine Elite mit hoher Bildung. Der steht auf der anderen Seite das Gros der Bevölkerung gegenüber, das in bitterster Armut lebt. 50 Prozent der Erwachsenen sind immer noch Analphabeten. Die Kindersterblichkeit liegt deutlich über dem asiatischen Durchschnitt. Darüber hinaus wurde Pakistan gerade in der jüngsten Vergangenheit immer wieder von schrecklichen Naturkatastrophen heimgesucht. Wir alle erinnern uns noch an das verheerende Erdbeben von 2005, das 90 000 Menschenleben forderte, oder an die Flut vom letzten Jahr. Daher ist Pakistan nicht nur unter geostrategischen Gesichtspunkten wichtig, sondern auch und gerade für die Entwicklungspolitik. Dazu hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag vorgelegt, der das Ziel verfolgt, Diplomatie, Demokratisierung und Entwicklungszusammenarbeit zu integrieren. Dadurch soll es ein Mehr an Sicherheit und Entwicklung in dieser Region geben. Ich muss sagen, dass der Antrag einige wichtige und richtige entwicklungspolitische Forderungen enthält, die auch die Unionsfraktion teilt: beispielsweise die Stärkung der Zivilgesellschaft, den Aufbau und die Konsolidierung demo-kratischer Strukturen oder die Förderung von Menschenrechten. Dennoch muss man sich an einigen Stellen nicht nur über die Wortwahl, sondern auch über die politischen Forderungen wundern. So bezeichnen die Antragsteller die entwicklungspolitischen Aktivitäten der Bundesregierung als „halbherzig und inkonsistent“. Pakistan müsse als bedeutsamer und eigenständiger Akteur „ernst genommen“ werden. Als ob wir das nicht tun würden! Bei den Regierungsverhandlungen im Mai letzten Jahres hat Deutschland für den Zeitraum 2011/2012 Neuzusagen in Höhe von 90 Millionen Euro gemacht. Die im Antrag zitierten 15,7 Millionen für 2012 sind damit schlichtweg falsch. Die Zusage der 90 Millionen Euro stellt im Übrigen eine Verdoppelung der Finanzmittel seit Beginn der unionsgeführten Regierungszeit 2005 dar. Damals betrugen die Zusagen lediglich 44 Millionen Euro. Hinzu kommen die Mittel, die die Bundesregierung über den UNHCR und das Welternährungsprogramm den pakistanischen Binnenvertriebenen zur Verfügung stellt. Also davon zu reden, dass wir Pakistan nicht ernst nehmen würden, ist schlichtweg absurd. Davon unabhängig konzentriert sich der Antrag aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion auch zu stark und einseitig auf das Engagement Deutschlands als Geber und zu wenig auf die Beiträge und Verpflichtungen des pakistanischen Partners. Nirgendwo lese ich etwas davon, dass Pakistan bei der Bewältigung wichtiger struktureller Defizite seine Hausaufgaben nicht macht, sei es im Bereich der Steuerreform, der Entwicklungsorientierung oder des Energiesektors. Abschließend möchte ich noch kurz auf zwei Einzelforderungen eingehen. Sie kritisieren das deutsche Engagement im Bildungssektor vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Großbritannien seine Mittel in diesem Sektor gerade verdreifacht hat. Wenn ich das unter dem Stichwort Geberharmonisierung werte, kann ich das theoretisch nachvollziehen – nur, es ist nicht auf dem aktuellsten Stand. Die Bundesregierung arbeitet seit 2009 an einer Anpassung des Portfolios. Daher wurde mit Pakistan im Rahmen der Regierungsverhandlungen 2011/ 2012 vereinbart, dass Deutschland sein Engagement im Bereich der Grundbildung bis spätestens 2015 an andere Geber übergibt. Der Übergangszeitraum soll die Konsolidierung der bisher erreichten Ziele und die Übergabe an einen geeigneten anderen Entwicklungspartner sicherstellen. Ähnliches gilt für die Berufsausbildung: Hier ist ab 2013 eine Entscheidung über die Fortführung auf der Basis der bisher erreichten Erfolge vorgesehen. Auch andere Kritikpunkte wie ein unzureichendes Engagement im Bereich Energie oder dezentraler Governancestrukturen laufen ins Leere, weil wir an diesen Themen sehr wohl arbeiten. Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anmerkung mit Blick auf die bilateralen parlamentarischen Beziehungen, die ebenfalls wichtig sind, wenn wir über Governance und die Stärkung demokratischer Strukturen sprechen. Sie erwähnen in Ihrem Antrag den Women’s Parliamentary Caucus, WPC, der ohne Frage gute Arbeit leistet. Doch so wichtig die Zusammenarbeit mit dem WPC ist, so falsch wäre es, die parlamentarischen Kontakte auf ihn zu reduzieren, wie es in Ihrem Antrag anklingt. Im Februar 2013 sind Parlamentswahlen angesetzt. Daher wäre es aus meiner Sicht richtiger, eine umfassende Stärkung der parlamentarischen Ausschusskon-takte zwischen Deutschland und Pakistan anzugehen. Gerade die drei Politikfelder Außen, Entwicklung und Verteidigung bieten sich an. Wir könnten dabei auf die bereits bestehenden und guten Kontakte der Pakistanisch-Deutschen Parlamentarischen Freundschaftsgruppe zurückgreifen, die sich 2009 formiert hat. Das wäre für unsere beiden Länder, aber auch die Entwicklung und Stabilität der ganzen Region wesentlich wichtiger. Johannes Pflug (SPD): „Pakistan ist das gefährlichste Land der Welt“ – obwohl dieser Satz zu einem Allgemeinplatz geworden ist, wird er so leider nicht weniger richtig. Innenpolitisch steht das politische System Pakistans unter enormem Stress, wie die jüngsten Konflikte zwischen Militärführung und Regierung oder auch zwischen Justiz und Regierung zeigen. Die Wirtschaftslage bleibt angespannt, und so fehlt vor allem vielen jungen Pakistanis eine Perspektive für ihre Zukunft. Dass so eine Situation einen guten Nährboden für Terrorismus und religiösen Extremismus bietet, kann nicht überraschen. Diese bedrohen nicht nur die staatliche Stabilität des Landes, sondern könnten auch die Sicherheit der pakistanischen Nuklearwaffen infrage stellen. Außenpolitisch sieht Pakistan sich in einem schwierigen Umfeld: Mit Indien schwelt der Streit um Kaschmir, die Beziehungen zum Iran sind spannungsgeladen, und mit Afghanistan bestehen Konflikte um die Grenzziehung und wegen der Einmischung Pakistans in die innerafghanischen Verhältnisse. Einzig zu China bestehen partnerschaftliche Beziehungen, die sich aber bestenfalls als „Schönwetterfreundschaft“ bezeichnen lassen. Zweifellos ist Pakistan zentral für Stabilität und Frieden in Zentral- und Südasien und damit auch für den Einsatz in Afghanistan. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik bezeichnet Pakistan daher mit Recht als „Ankerland“, das eine politisch herausragende Position in seiner Region einnimmt und für Deutschland von besonderer Bedeutung ist. Deshalb war es richtig und wichtig, dass die Kollegen von den Grünen das Thema Pakistan auf die Tagesordnung gesetzt haben. Denn in der Tat ist es leider so, dass sich die Bedeutung des Landes nicht ausreichend in der deutschen Pakistan-Politik widerspiegelt. Ich mache das nun nicht nur daran fest, dass die deutsche Entwicklungshilfe für Pakistan mit seinen über 170 Millionen Einwohnern im Vergleich zu Afghanistan deutlich geringer ausfällt. Hier sehe ich durchaus Bedarf zur Nachbesserung, allerdings darf man es sich auch nicht zu einfach machen. Ein pauschales Rufen nach „Mehr“ könnte in Pakistan, ebenso wie in Afghanistan, auch negative Auswirkungen haben, zum Beispiel eine Verstärkung der Korruption. Eine Erhöhung der Entwicklungshilfe muss somit sorgfältig geprüft und an sinnvolle Projekte gekoppelt werden. Deutschland wird, selbst bei massiver Erhöhung der Entwicklungshilfe für Pakistan, immer ein relativ kleiner Geber bleiben. Daher gilt durchaus, was der Kollege Dr. Stinner vor einigen Tagen festgestellt hat: Deutschland darf seinen Einfluss in Pakistan nicht überschätzen. Das dürfte spätestens klar sein, nachdem es im Dezember nicht gelungen ist, Pakistan doch noch zur Teilnahme an der Bonner Afghanistan-Konferenz zu bewegen. Deutschland wird deshalb in erster Linie über die Qualität der Entwicklungsarbeit Reformen im Land anstoßen können. Deshalb ist es auch sinnvoll, sich wie bisher auf eine begrenzte Anzahl von Kooperationsprogrammen zu beschränken. Vor dem Hintergrund des Einsatzes in Afghanistan ist es außerdem angebracht, sich auch regional zu beschränken und diese Programme vor allem in Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan und den Stammesgebieten durchzuführen. Für viel gravierender als die bescheidenen finanziellen Mittel halte ich aber das Fehlen einer ressortübergreifenden, kohärenten Gesamtstrategie für Pakistan. Es existieren zwar Initiativen der einzelnen Ministerien, etwa im Bereich der Armutsbekämpfung durch das BMZ oder Ausbildungskooperationen mit den pakistanischen Streitkräften. Sie sind aber nicht mit den Aktivitäten der anderen Ministerien verknüpft und erst recht nicht an einer kohärenten Strategie ausgerichtet, die deutsche Interessen und Kapazitäten verbindet. Vor einer Ausweitung der deutschen Kooperation mit Pakistan muss daher eine umfassende Zielbestimmung stehen und – in Zusammenarbeit mit unseren Partnern – die Entwicklung einer Strategie, die diesen Namen verdient. Diese muss dann auch durch eine stärkere Abstimmung zwischen den einzelnen Ministerien sowie durch ein gemeinsames Berichts- und Evaluationssystem ergänzt werden. Eine solche Aufwertung Pakistans in der deutschen Außenpolitik setzt natürlich auch Interesse an einer umfassenderen Kooperation in Pakistan selbst voraus, das sich gegenwärtig noch nicht abzeichnet. Deshalb ist es in der Tat wichtig, die zivile pakistanische Regierung als Ansprechpartner zu stärken, wie die Kollegen von den Grünen in ihrem Antrag fordern. Im Gegensatz zu ihnen hielte ich es aber für falsch, wenn dies auf Kosten unserer jahrzehntelangen Kontakte mit dem pakistanischen Militär ginge. Sie fordern in ihrem Antrag, die Kontakte zum pakistanischen Militär auf „das Übliche“ zu beschränken. Nun spielt aber das Militär in Pakistan gerade nicht die übliche Rolle. Es dominiert die Außen- und Sicherheitspolitik und wichtige Zweige der pakistanischen Wirtschaft. Es ist zweifellos richtig, die zivile Regierung gegenüber den Sicherheitskräften zu stärken. Aber es wäre unklug, das Militär dabei vor den Kopf zu stoßen. Denn eines ist klar: Zahlreiche der weitreichenden und dringend nötigen Reformen sind in Pakistan nur mit, nicht aber gegen den Militärapparat durchzusetzen. Zusätzlich werden in den nächsten Jahren vermehrt Offiziere in Führungspositionen in Pakistan gelangen, die während der Regierungszeit Zia ul-Haqs islamistisch sozialisiert wurden. Deshalb muss es besonders in unserem Interesse liegen, die Kontakte mit dem pakistanischen Militär noch zu intensivieren, um seine traditionelle prowestliche Ausrichtung zu stärken. Ich bin dabei auch der Auffassung, dass insbesondere unsere Bundeswehr, unsere Parlamentsarmee, mit dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform und ihrem Grundsatz der Inneren Führung eine Vorbildfunktion für die Streitkräfte Pakistans einnehmen kann und sollte. Pakistan ist eine gewaltige Herausforderung für den Westen mit großem Gefahrenpotenzial, der sich auch Deutschland nicht verschließen kann. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, ein strategisches Konzept zu entwickeln, ausreichende Finanzmittel bereitzustellen und die Kontakte mit der pakistanischen Zivilgesellschaft und den relevanten Kräften im Land zu intensivieren. Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Einigen Einschätzungen in diesem Antrag kann ich nur zustimmen. Pakistan gehört auf die politische Agenda. Die regionale Bedeutung des Landes dürfen wir hier in Deutschland nicht unterschätzen. Zu Recht erkennen wir daher Pakistan als äußerst wichtig für die Entwicklung der gesamten süd- und zentralasiatischen Region. Aber – und das ist genauso wichtig – wir müssen das Land auch mit der Sicht auf den Prozess „Afghanistan-Politik“ betrachten. Diesen Aspekt dürfen auch die Antragsteller nicht verkennen. Pakistan verfolgt in dieser Frage eine ambivalente und inkohärente Politik. Wir können davon ausgehen, dass Pakistan genau weiß, dass es seine sicherheitspolitischen Interessen in Afghanistan weiter durchsetzen muss, schon allein aufgrund der geografischen Lage. Pakistan wird sich nicht auf die Nachhaltigkeit unseres Engagements im Nachbarland verlassen. Pakistan habe – sagt die pakistanische Regierung – in dieser Region ein großes Gewicht. So müssten pragmatische und realistische Lösungen für die regionalen Probleme gefunden werden. Es wird aber auch betont, dass alle in den Kampf gegen diese Gefahr einbezogenen Länder eine gemeinsame Handlungsgrundlage haben müssten. Die Weltgemeinschaft müsse in Afghanistan gemeinsam handeln, wobei aber die Afghanen selbst bei der innerafghanischen Regelung die Hauptrolle spielen müssen. Alle Nachbarländer in der Region und die Weltgemeinschaft sollten sie dabei entschlossen unterstützen. Das Misstrauen in den Beziehungen Pakistans und Afghanistans lässt sich nicht Hals über Kopf verbessern, wobei – das haben die Antragsteller richtig erkannt – schon eine deutliche Verbesserung erkennbar ist, vor allem durch die intensive Besuchsdiplomatie und Fortschritte bei den Handelsbeziehungen. Der Antrag führt richtigerweise auf, dass die Probleme in Pakistan äußerst komplex sind. Er verkennt aber leider völlig, dass Pakistan ein sehr schwieriger Partner ist, und zwar vor allem, weil das Land geprägt ist von einem großen Sicherheitsbedürfnis und einem ebenso großen Souveranitätsbedürfnis. Pakistan hat sich schon seit jeher einer Einbindungsdiplomatie gut entzogen. Selbst die aktuelle Regierung handhabt dies so. Diese für Pakistan elementaren Grundsätze müssen wir beachten. In der Vergangenheit sind sie oft genug verletzt worden, mit der Folge, dass der diplomatische Handlungsspielraum weiter eingeschränkt wird. Die pakistanische Außenministerin Hina Rabbani Khar hat erst vor kurzem in Russland klargemacht, dass jegliche gegenseitigen Beziehungen bestimmten Regeln folgen müssten. So ist klar, dass sich die Beziehungen zwischen der NATO und Pakistan verschlechterten – durch Zwischenfälle an der afghanischen Grenze, durch die Tötung Osama Bin Ladens auf pakistanischem Staatsgebiet. Die NATO und Pakistan seien zwar Verbündete und Partner in Afghanistan. Sie wollten gemeinsam den Terrorismus in der Region ausrotten. Unterstützung könne es aber kaum geben, wenn NATO-Staaten eine Politik betreiben, die den Interessen Pakistans zuwiderliefen und die Sicherheit seiner Einwohner bedrohe. Der Antrag spricht völlig zu Recht an, dass die Europäische Kommission und viele EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf Pakistan eine wenig nachhaltige und wenig strategische Außenpolitik verfolgen. Großbritannien jedoch – im Antrag genannt –, aber auch Deutschland haben allerdings erkannt, dass in Pakistan ein Konzept der strategischen Geduld zur Anwendung kommen muss. Wir müssen Pakistan unterstützen, bei der Stabilisierung im Land und bei der Bewältigung seiner Zukunftsfragen. Das ist der Bundesregierung bewusst. Das müssen wir nicht erst einfordern. Ich stimme der Aussage völlig zu, dass ein Engagement für Menschenrechte und vor allem die Durchsetzung von Frauenrechten für Pakistan bedeutend sind. Und ja, Pakistan hat in den städtischen Regionen durchaus eine aktive und teilweise progressive Zivil- und Mediengesellschaft. Aber über eins müssen wir uns im Klaren sein: Dieses Engagement ist äußerst eingeschränkt. Pakistan ist ein gefährliches Terrain für zivilgesellschaftliche Akteure, nicht zuletzt wegen der im Antrag aufgeführten innenpolitischen und gesellschaftlichen Interessen, Konflikte und Defizite. So schränken Selbstzensur, Einschüchterung und physische Gewalt erheblich ein. Wir erwarten daher keine kurzfristigen Durchbrüche und gesellschaftlichen Umwälzungen. Wie bereits erwähnt, strategische Geduld ist nötig – in weitaus mehr Feldern, als in diesem Antrag aufgeführt. Nicht förderlich ist auch, dass das staatliche Gewaltmonopol nicht sichergestellt ist, genauso wie die damit verbundenen Schutzaufträge. Zudem sehen wir noch großes Verbesserungspotenzial bei der pakistanischen Justiz. Leider sind in dem hier vorliegenden Antrag nicht alle Zahlen gänzlich richtig. Die Antragsteller versuchen, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit deutlich in eine unzureichende Ecke zu stellen. Gesagt wird: 15,7 Millionen Euro für 2012 reichen nicht aus. – Aber bei 15,7 Millionen Euro ist auch noch nicht Schluss. Diese Zahl stellt eine Zwischenzusage zusätzlicher – ich betone: zusätzlicher – Mittel dar, außerhalb des zweijährigen Planungszeitraumes. Rechnerisch entfallen nach den Zusagen der Regierungsverhandlungen für die Jahre 2011/2012 allein auf dieses Jahr circa 45 Millionen Euro. Und diese Zusagen von deutscher Seite sind seit dem Ende des Militärregimes von Musharraf bereits deutlich erhöht worden. Für die Jahre 2005 und 2006 waren es noch 44 Millionen Euro. Der Verweis der Antragsteller auf die britische Regierung ist natürlich richtig. Sie hat die Mittel erhöht. Aber der Vergleich mit der deutschen Seite – das sehen Sie ja hier – hinkt ganz gewaltig. Im Bereich Bildung steht Deutschland in Kontakt mit der britischen Entwicklungszusammenarbeit, gerade weil wir die britischen Anstrengungen auf diesem Gebiet sehen. Wir wollen bereits erzielte Erfolge langfristig sichern. Das funktioniert sehr gut durch Spezialisierung. Effektiv soll auf der Basis des bisher Erreichten ab 2015 aufgebaut werden. Deshalb wird Deutschland bis dahin sein Engagement im Bereich der Grundbildung an andere Geber übergeben. Dieser vergleichsweise lange Zeitraum ist dafür notwendig. Die bisher erreichten Ziele müssen konsolidiert werden. Die Übergabe muss in Verantwortung an einen geeigneten Entwicklungspartner erfolgen. Zu Recht erkennt der vorliegende Antrag klar, dass die pakistanische Regierung ihre ambitionierten Ziele hinsichtlich des Aufbaus dezentraler Governance-Strukturen voraussichtlich nicht umsetzen kann, dass weitere Unterstützung im Bereich Energie dringend notwendig ist. Aber auch hier sei gesagt: Der Antrag greift nur die halbe Realität auf. Die Bundesregierung hat bereits seit 2009 Maßnahmen der dezentralen Regierungsführung und ländlichen Elektrifizierung im Nordwesten des Landes zugesagt. Diese befinden sich bereits teilweise in der Umsetzung. Die Bundesregierung sieht also eindeutig die Bedeutung dieser Ansätze. Das brauchen wir ihr also nicht von dieser Stelle aus ins Stammbuch zu schreiben. Wir nehmen Pakistan als bedeutsamen und eigenständigen Akteur ernst, auch wenn wir den vorliegenden Antrag nicht hier verabschieden. Denn zu stark wird in dem Text auf das Engagement Deutschlands als Geber fokussiert. Wir sollten aber nicht außer Acht lassen, dass Pakistan keine wesentlichen Fortschritte erzielt hat – nicht bei der Bewältigung struktureller Mängel bei der Entwicklungsorientierung und der Steuerreform, nicht bei der finanziellen Nachhaltigkeit des Energiesektors. Es sind Beiträge unseres pakistanischen Partners nötig. Ich glaube nicht, dass wir allein durch höhere externe Geldsummen diese Defizite ausgleichen können. Deutschland macht Angebote und setzt langfristig positive Anreize. Jan van Aken (DIE LINKE): Wenn man sich ansieht, wie in Deutschland über Pakistan geredet wird, dann fällt vor allem eines auf: Das Land wird immer in einem Atemzug mit Afghanistan und mit Terror genannt. Pakistan, das ist aus deutscher Sicht anscheinend nur ein sicherheitspolitischer Störfaktor. Das ist ein großes Problem – vor allem für die Menschen in Pakistan. Denn dieser Tunnelblick führt zu einer Politik, die auf Aufrüstung, auf Drohnen, auf gezielte Tötungen setzt und nur mehr Gewalt erzeugt. Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung bleiben auf der Strecke. Das Militär hat in Pakistan längst die Kontrolle übernommen. Und die USA helfen dabei leider kräftig mit, sie pumpen jährlich bis zu 2 Milliarden Dollar Militärhilfe in das Land. Sie setzen Drohnen zum gezielten Töten vermeintlicher Terroristen ein und nehmen dabei den Tod von Zivilistinnen und Zivilisten in Kauf. Dass dies alles mit Duldung der pakistanischen Regierung stattfindet, macht es nicht richtiger. Und dass die Bundesregierung dazu schweigt, ist unverantwortlich. Pakistan mit seinen 187 Millionen Einwohnern ist massiv unterentwickelt. Auf der Liste des Human Development Index rangiert Pakistan gerade mal auf Platz 145 von 187 aufgeführten Staaten – über 20 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, gerade einmal die Hälfte kann lesen und schreiben. Dass die Lage für die Menschen in Pakistan so katastrophal ist liegt auch daran, dass das Land über 20 Prozent des Haushaltes für das Militär ausgibt, Millionen fließen in immer neue Waffen. Für Bildung, Gesundheit und Entwicklung fehlt dieses Geld. Es ist an der Zeit, dass der Westen, dass die Bundesregierung endlich die Menschen ins Zentrum der Beziehungen zu Pakistan stellt. Sie muss aufhören, Sicherheitsinteressen vor Menschenrechte und Entwicklung zu stellen. Sie muss endlich verstehen, dass Pakistan nicht nur ein konfliktreiches Grenzgebiet zu Afghanistan ist. Sie muss mit einer Politik gegenüber Pakistan beginnen, die einer demokratischen Entwicklung des Landes und der Zivilbevölkerung zugutekommt. Eine – vermeintliche – Stabilität darf nicht länger über Demokratie und Menschenrechte gestellt werden. Wenn jemand sagt, dass das Militär in Pakistan gebraucht wird, um zu verhindern, dass die pakistanischen Atombomben in die Hände von Islamisten geraten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Eine Atombombe in den Händen des pakistanischen Geheimdienstes ISI macht genauso Angst und Bange. Und wie schnell es mit der „Stabilität“ von autoritären Regimen vorbei sein kann, haben Ägypten und Tunesien Ihnen doch gerade vorgeführt. Die Bundesregierung muss jetzt endlich den Kurs wechseln. Dazu gehört auch, dass die gezielten Tötungen, auch in Pakistan, endlich aufhören. Dafür kann die Bundesregierung sich bei den Amerikanern einsetzen, und vor allem muss sie jede Unterstützung dafür einstellen. Und sicherheitspolitisch muss man doch die ganze Region im Blick haben, allem voran den Kaschmir-Konflikt. Im letzten Sommer haben Pakistan und Indien den Dialog wieder aufgenommen und sich zu einem „Ende der Ideologie des militärischen Konflikts“ bekannt. Diesen Prozess zu unterstützen, wäre eine sinnvolle Aufgabe deutscher Außenpolitik – verbunden mit Verhandlungen über echte Abrüstungsschritte auf beiden Seiten. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte, auch nicht nach Pakistan. Im Jahre 2010 hat Deutschland Rüstungsexporte für 97 Millionen Euro nach Pakistan genehmigt. Und wissen Sie, wie viel Indien genehmigt wurde? Auch 97 Millionen Euro. Da rüsten Sie zwei Staaten gegeneinander auf. Das muss ein Ende haben! Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie nähert man sich am besten diesem Land Pakistan, das so zerrissen ist wie kaum ein anderes? Die vielen Gesichter Pakistans lösen Ängste aus; denn sie sind so bunt und vielfältig wie auch extrem, uns unverständlich wie faszinierend und erschreckenderweise immer wieder von Gewalt durchzogen. Das Land entlang dem Indus ist Atomstaat und mit seinem Nachbarn Indien in herzlicher Abneigung verbunden. Pakistan ist Nährboden für einen islamischen Fundamentalismus, der auch die eigene Bevölkerung terrorisiert. Pakistan ist Schauplatz und Ausgangspunkt des internationalen Terrorismus, insbesondere mit Bezug zum Krieg in Afghanistan. Aber Pakistan verfügt auch über eine aktive Zivilgesellschaft mit einer aufgeklärten und kritischen politischen Kultur, die sich mutig den Krisen entgegenstemmt. Gleichzeitig ist das Land vom Klimawandel in besonders krasser Weise bedroht. Die letzte Flutkatastrophe im Jahr 2010 hat ungeheures Leid über die Menschen im Land gebracht. Fakt ist: Pakistan stand viel zu lange abseits der politischen Agenda. Mit dem Antrag, den wir Grüne heute in den Bundestag einbringen, wollen wir eine Debatte über den konkreten Umgang mit diesem komplexen Land anstoßen. Einfache Lösungen gibt es nicht. Pakistan macht es uns immer wieder schwer. Die Ausweisung der BND-Mitarbeiter und die Entführungen von Entwicklungshelfern zeigen die komplizierten Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen. Drei Ziele könnten die Eckpfeiler einer konstruktiven Pakistan-Politik Deutschlands und Europas sein: erstens Pakistan aktiv diplomatisch einbinden, zweitens Pakistans demokratische Kräfte und die Zivilgesellschaft stärken, drittens mit Pakistan eine intensive Entwicklungspartnerschaft auf Augenhöhe etablieren. Zu Punkt eins. Nur wenn wir Pakistan Verantwortung zugestehen, können wir sie auch einfordern. Uns allen ist klar, dass eine politische Lösung in Afghanistan ohne Pakistan nicht zu erreichen ist. Obwohl oder gerade weil wir gleichzeitig wissen, welch zweifelhafte Rolle pakistanische Kräfte in und mit Bezug auf Afghanistan spielen, müssen wir dafür Sorge tragen, dass Pakistan an den Gesprächen und Verhandlungen um den Frieden in der Region beteiligt ist. Wir Europäer und insbesondere wir Deutsche sollten eine Brückenfunktion einnehmen, wenn es darum geht, das zerrüttete Verhältnis zwischen Pakistan und den USA wieder auf eine vertrauenswürdige Basis zu stellen. Aber wir brauchen Pakistan nicht nur mit Blick auf Afghanistan. Um das fragile Land mit seinen 180 Millionen Einwohnern langfristig zu Stabilität zu verhelfen, müssen wir – dies betrifft Punkt zwei – die demokratischen Kräfte in Regierung und Parlament ebenso wie die Zivilgesellschaft stärken. Was heißt das konkret? Das heißt zum Beispiel, wenn wir als Parlamentarierinnen Gesprächspartner in Pakistan suchen oder nach Deutschland einladen, schwerpunktmäßig und zuvorderst Zivilisten zu treffen und eben nicht dem Reflex zu verfallen: In Pakistan herrschen faktisch das Militär und der Geheimdienst, und deshalb muss man mit diesen Gruppen sprechen. Das reicht nicht. Pakistanische Parlamentarierinnen beispielsweise, die sich im Women’s Parliamentary Caucus zusammengefunden haben, brauchen unsere Unterstützung, damit sie Legitimität für ihre parlamentarische Arbeit bekommen. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Journalistinnen und Journalisten, Künstlerinnen und Künstler – und viele einfache Frauen und Männer leiden darunter, dass das Militär eine überwältigende Rolle spielt und mit seinen Privilegien die Gesellschaft aussaugt. Wir müssen deshalb an der Seite der Demokratinnen und Demokraten stehen. Zu Punkt drei. Schließlich brauchen wir eine differenzierte Entwicklungspartnerschaft. Die Folgen der Flutkatastrophe sind noch lange nicht überwunden. Im letzten Jahr grassierte eine Dengue-Epidemie. Die krassen Einkommensunterschiede und feudalen Gesellschaftsstrukturen sind Entwicklungshemmnisse. Terror- und Gewalttraumata sowie mangelnde Bildung belasten die Menschen über Generationen. Ich konnte mich auf meiner jüngsten Reise erneut davon überzeugen, wie aufnahmebereit und eigenverantwortlich Projekte beispielsweise im Swattal von Frauen und Männern umgesetzt werden. Hier müssen wir sehr viel mehr europäisch abgestimmt Angebote machen und als Freunde und Partnerinnen derjenigen agieren, die ein besseres Pakistan wollen. Wenn wir in Deutschland zum Ziel haben, dass in dieser Region Frieden und Stabilität einziehen können, dann braucht Pakistan Unterstützung, gerade auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Wir sollten und wir können dazu beitragen, Pakistan in die Pflicht zu nehmen und international einzubinden. Ich bin gespannt auf die Debatte. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die soziale Dimension von Bologna stärken (Tagesordnungs-punkt 17) Tankred Schipanski (CDU/CSU): Am 20. Oktober 2011, pünktlich zum Start dieses Wintersemesters, diskutierten wir in diesem Hohen Haus den Antrag der SPD mit dem Titel „Hochschulpakt Plus“. In der Debatte haben wir dann festgestellt, dass es durch mannigfache Maßnahmen von Bund und Ländern gelungen ist, einen sehr guten Start des Wintersemesters, gerade unter dem Blickwinkel von doppelten Abiturjahrgängen und dem Aussetzen der Wehrpflicht, zu gestalten. Die SPD konnte mit ihrem schwarzmalerischen Antrag keinen Pessimismus in der Bildungsrepublik Deutschland verbreiten, die Realität sprach eine andere Sprache. Am Ende meiner damaligen Rede wies ich auf die wirklichen Problemfelder hin: Es fehlen keine Studienplätze, sondern eine gute Infrastruktur. Zu Recht verwies ich auf die Städte München und Jena, mit zwei SPD-OB an der Spitze, die bis zum heutigen Tage die Probleme nicht in den Griff bekommen. Die Koordination zwischen Städten und Studentenwerken, die Kommune als Bildungspartner vor Ort zu begreifen – das sind die Herausforderungen, die es zu lösen gilt, und nicht einfach, gießkannenartig Bundesgelder über die Hochschulen zu verteilen! Dies waren unter anderem die Erkenntnisse der letzten Debatte. Leider hat dies bei der SPD nicht so gefruchtet, wie sich dies die Betroffenen und wir gewünscht hätten. Heute debattieren wir erneut einen Antrag, wieder will die SPD einen Pakt, heute ist es ein „Hochschulsozialpakt“. Wieder nimmt die SPD eine Gießkanne, füllt sie mit Bundesgeld, welches nicht vorhanden ist, und schüttet es nicht über den Hochschulen aus, sondern über den Studentenwerken. Diese sollen das Geld verwenden für den Ausbau von Mensen, Kindergärten, Wohnheimen usw. – alles schöne Dinge, nur, wir können es nicht finanzieren. Die Genossen der SPD müssen sich in der diesjährigen Faschingssaison mit Jupp Schmitz fragen lassen: Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, wer hat so viel Pinkepinke, wer hat so viel Geld? Liebe Genossen der SPD, merken Sie sich auch für alle weiteren Anträge einen Grundsatz: Der Bund ist nicht die Sparkasse der Länder. Zu Ihrem Evergreen bezüglich der Stärkung der Ko-operationskultur in unserem Land kann gerade auf dem Feld des Hochschulbaus und der sozialen Infrastruktur Folgendes festgehalten werden: Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau ist mit der Föderalismusreform I bewusst abgeschafft worden; die Länder erhalten jedoch als Ausgleich substanzielle Kompensationsleistungen in Höhe von rund 700 Millionen Euro jährlich (vergleiche Art. 143 c GG). Zudem erhalten die Länder rund 300 Millionen Euro jährlich für die dauerhafte Gemeinschaftsaufgabe „Forschungsbauten an Hochschulen einschließlich Großgeräten“ (Art. 91 b Abs. 1 Nr. 3 GG). Ein weiterer Evergreen Ihres Forderungskatalogs ist das Thema BAföG. So haben Sie auch bei diesem Antrag wieder mit Copy and Paste gearbeitet. Liebe Genossen der SPD, die Bundesregierung hat in ihrem dem Bundestag vorliegenden 19. Bericht nach § 35 BAföG bereits angekündigt, dass sie „das Gespräch mit den Ländern aufnehmen“ werde, „um gemeinsam einen Vorschlag zu erarbeiten für ausbildungspolitisch angemessene und haushaltspolitisch verantwortbare weitere Anpassungen und inhaltliche Fortentwicklung des BaföG“. Der erste Schritt ist hierbei jedoch, dass sich die Länder klar zu ihrer Mitverantwortung und dem Finanzierungsschlüssel „65 Prozent Bund – 35 Prozent Länder“ bekennen. Ferner muss abgewogen werden, ob Investitionen in Wohnheime nicht die bessere Verwendung von nur ein Mal vorhandenen Mitteln sind und nicht die immer weitere Erhöhung von BAföG-Sätzen. Die nächste Forderung Ihres Antrags ist rhetorisch auch wenig originell, und inhaltlich verkennen Sie wiederum die Rechtslage: ein Hochschulsozialpakt – ich erwähnte dieses Marketinginstrument bereits am Anfang meiner Rede. Der Bund engagiert sich mit dem Hochschulpakt 2020 und dem Qualitätspakt Lehre bereits in außergewöhnlichem Maße für ein ausreichendes und qualitativ hochwertiges Studienangebot. Mit dem Hochschulpakt stellt der Bund den Ländern in den Jahren 2011 bis 2015 insgesamt rund 4,7 bis 4,9 Milliarden Euro für die Aufnahme zusätzlicher Studienanfänger zur Verfügung. Mit dem Qualitätspakt Lehre, für den der Bund bis 2020 knapp 2 Milliarden Euro zur Verfügung stellt, werden an 186 Hochschulen aus allen Ländern Projekte zur Verbesserung der Studienbedingungen und der Qualität der Lehre gefördert. Viele dieser Projekte nehmen gezielt die Beratung und Betreuung der Studierenden, insbesondere in der Studieneingangsphase, in den Blick – so beispielsweise an meiner Heimatuniversität, der TU Ilmenau. Angesichts der aktuellen Herausforderungen des deutschen Hochschulsystems leistet der Bund im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten mit diesem beispiellosen Engagement einen wichtigen Beitrag für ein ausreichendes und qualitativ hochwertiges Studium in Deutschland. Der Bund will und kann aber nicht die Länder aus ihrer primären Verantwortung für die Hochschulen und die Studierenden entlassen. Die Länder sind gefordert, kontinuierlich ihre Beiträge zur Verbesserung von Studium und Lehre zu erbringen und gemäß ihrer aus der Verfassung sich ergebenden Zuständigkeit auch die Voraussetzungen für eine angemessene soziale Infrastruktur zu schaffen. Lassen Sie uns dabei speziell auf die Wohnheimproblematik schauen. Hierbei geht es insbesondere um die Forderung nach einem Bund-Länder-Programm für mindestens 25 000 zusätzliche Plätze im Studentenwohnheimbau. Hierfür wären nach Berechnungen des DSW Fördermittel in Höhe von 376 Millionen Euro erforderlich. Seit der Föderalismusreform sind die Hochschulbauförderung sowie die Förderung des sozialen Wohnungsbaus in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder übergegangen. Als Kompensationsmittel für die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen“ werden den Ländern auch in diesem Jahr wie in den Jahren 2009 und 2010 insgesamt Mittel in Höhe von 695 300 000 Euro, Titel 882 60 – 139, zur Verfügung gestellt. Eine Förderung im Rahmen des Hochschulpakts ist rechtlich unzulässig. Die Rechtsgrundlage für den Hochschulpakt deckt nur die Finanzierung von Vorhaben der Wissenschaft. Der Wohnheimbau ist kein Vorhaben im Sinne Art. 91 b GG. Die Länder nehmen ihre Verantwortung bezüglich der anteiligen finanziellen Förderung von studentischem Wohnraumneubau und -ausbau unterschiedlich wahr. Die Bereitschaft der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen im Bereich Förderung des studentischen Wohnraumneubaus und -ausbaus ist ausdrücklich zu begrüßen, weil mit dem weiteren Ausbau der Wohnheimplätze die notwendige Infrastruktur studentischen Wohnens angesichts der aktuell steigenden Studienanfängerzahlen auch in den nächsten Jahren eine sehr wichtige Maßnahme darstellt, um das Studieren vor Ort insbesondere an Studienstandorten mit angespanntem Wohnungsmarkt zu ermöglichen. Dem Beispiel sollten alle folgen, wobei auch hier zu erwähnen ist, dass beispielsweise der SPD-Kultusminister Matschie in Thüringen beim jüngsten Hochschulpakt Kürzungen bei den Studentenwerken vorgenommen hat. Lassen Sie mich zum Schluss auf einen dreisten Vorwurf in Ihrem Antrag reagieren. Wenn man den Forderungspunkt 6 Ihres Antrags liest, dann hört sich dies nach einem echten „Hagemann“ an. Nur durch Wiederholung erhöht man den Wahrheitsgehalt dieses Vorwurfs nicht! Mit einem Mittelabfluss von 99,4 Prozent hat das BMBF auch im Jahr 2011 die zur Verfügung stehenden Mittel sehr effizient und zielgerichtet für Bildung und Forschung eingesetzt. Zum Vergleich: In den sieben Jahren 2005 bis 2011 ist im gesamten BMBF-Haushalt weniger Geld stehen geblieben als in der 15. Legislaturperiode allein für das rot-grüne Prestigeprojekt „Ganztags-schulprogramm“. Es ist zudem unzutreffend, dass mit Ausgaberesten Mittel überjährig „angespart“ werden. Ausgabereste müssen bei Inanspruchnahme im jeweiligen Einzelplan gegenfinanziert werden und stellen daher kein adäquates Mittel dar: Sie gehen zulasten anderer Maßnahmen in Bildung und Forschung. Insofern sollte Ihr Kollege Hagemann das nächste Mal besser recherchieren, bevor er wieder falsche Behauptungen aufstellt! Axel Knoerig (CDU/CSU): Die SPD hat einen Antrag vorgelegt – mit dem Titel „Die soziale Dimension von Bologna stärken“. Darin fordert sie den Bau von 25 000 neuen Wohnheimplätzen für Studenten. Auf diese Weise soll die „soziale Infrastruktur“ der Hochschulen an die gestiegenen Studentenzahlen angepasst werden. Dieser Vorschlag ist – auf den ersten Blick betrachtet – durchaus nachvollziehbar: So gibt es, was die Studentenwohnheime betrifft, derzeit deutlich weniger Plätze als Bewerber. Die insgesamt 180 000 Wohnheimplätze bundesweit reichen nicht mehr aus. Selbst die 9 000 zusätzlichen Plätze, die sich 2011 im Bau befanden, können diese Lücke nicht füllen. Ursache dafür ist die sehr hohe Studienanfängerquote von 55 Prozent im laufenden Wintersemester. Denn insbesondere bei Erstsemestern ist diese Art der Unterbringung sehr beliebt. Insgesamt 625 Millionen Euro fordert die SPD nun für den Bau weiterer 25 000 Wohnheimplätze. Finanziert werden sollen diese durch ein neues Modell mit dem Titel „Hochschulsozialpakt Bund und Länder“. Dieser sogenannte Hochschulsozialpakt wird allerdings nicht weiter konkretisiert, was die finanziellen Leistungen von Bund und Ländern angeht. Warum, müssen wir uns fragen. Weil genau hier Anspruch und Wirklichkeit komplett auseinanderdriften. Wie ernst ist dieser Antrag überhaupt zu nehmen? Er ist dem Ausschuss vorenthalten und somit der Fachdebatte entzogen worden. Aufseiten der Länderbank sieht man auch keinen Vertreter sitzen, der diesen Antrag zumindest symbolisch unterstützen würde. Fakt ist stattdessen: Dieser Antrag ist nur ein weiterer Beweis für die völlige Fehleinschätzung der SPD, was die Bundeskompetenz in der Bildungsfinanzierung betrifft. Ähnlich fatale Vorschläge haben wir ja kürzlich schon mit dem SPD-Vorschlag zum Bildungsföderalismus gehört. Stellen wir also zunächst einmal klar: Die Hauptverantwortung für den Bau von Studentenwohnheimen tragen die Länder und nicht der Bund. Doch völlig im Widerspruch zu diesem Grundsatz soll hier – nun wieder einmal – der Bund als Zahlmeister einspringen, damit sich die Länder aus ihrer Verantwortung stehlen können. Gerade die SPD-regierten Bundesländer haben nämlich Millionen verloren – dadurch, dass sie die Studiengebühren gestrichen haben. Und jetzt sollen diese Verluste über eine Mogelpackung mit der Bezeichnung „Hochschulsozialpakt“ umfinanziert werden. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Allein Nordrhein-Westfalen verliert jährlich rund 280 Millionen Euro bis 2013. Essenzielle Mittel, die bisher für Dienstleistungen im Studium bereitgestellt wurden, sind einfach ohne jeglichen Ausgleich gestrichen worden. Und gerade jetzt, bei steigenden Studentenzahlen, wollen sich die Länder auch noch aus der Finanzierung der Studentenwerke zurückziehen?! Ich nenne dazu nur eine Zahl: Die Länderzuschüsse zur Gesamtfinanzierung der Studentenwerke sind seit Anfang der 90er-Jahre von 24 auf 10 Prozent gesunken. Das geht so nicht! Union und FDP werden nicht zulassen, dass der Bund hier für andere die Zeche zahlen muss. Dass es selbstverständlich auch anders geht, möchte ich kurz am Beispiel meines heimischen Bundeslandes Niedersachsen erläutern: Dieses unionsgeführte Land hat die Finanzierungsleistungen für die Studentenwerke erheblich gesteigert. So werden 2012 insgesamt 14,5 Millionen Euro an die fünf niedersächsischen Studentenwerke gezahlt. Dazu kommt noch eine Pauschale von 3 Millionen Euro für den Ausbau studentischer Infrastruktur, das heißt Beratung, Information und Serviceleistungen. Anlass hierfür ist zum einen der doppelte Abiturjahrgang, zum anderen das Aussetzen der Wehrpflicht. – Das ist verantwortungsvolle unionsgeführte Bildungspolitik. Kommen wir zu einer weiteren Ungereimtheit des SPD-Antrages: Der Bau von Studentenwohnheimen ist überhaupt keine Bildungsaufgabe. Stattdessen ist er Teil der Sozialfürsorge des Landes und der Daseinsvorsorge der Kommunen. Das ist eine verfassungsrechtliche Pflicht der Länder und Kommunen. Ich frage Sie daher, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion: Wo ist der Bezug zur sozialen Dimension des Bologna-Prozesses? Hier jedenfalls gibt es keinen. Die neue Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“, nach Art. 91 b Abs. 1 Nr. 3 GG, schreibt nur noch eine Beteiligung des Bundes für Forschungsbauten an Hochschulen vor. Wohnheime gehören nicht dazu. Was uns hier heute zur Abstimmung vorgelegt wird, ist somit schlichtweg verfassungswidrig. Im Gegensatz zu diesen völlig aus der Luft gegriffenen Vorschlägen haben Union und FDP ihren bildungspolitischen Pflichtenkatalog längst erfüllt: Die Bildungsausgaben des Bundes lagen im vergangenen Jahr bei bis zu 7 Milliarden Euro, also damit so hoch wie in keiner anderen Legislaturperiode bisher. In dem Antrag ist außerdem zu lesen, dass die „soziale Infrastruktur … in den Hochschulpakten bislang unberücksichtigt“ sei. Dazu kann man nur sagen: Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall. Unsere Bundesregierung hat bereits flankierende Programme zur sozialen Dimension des Bologna-Prozesses auf den Weg gebracht: – Mit dem Hochschulpakt 2020 haben Bund und Länder neue Studienmöglichkeiten eingerichtet. – In der ersten Programmphase 2007 bis 2010 hat der Bund insgesamt 565 Millionen Euro bereitgestellt. – Im Zeitraum 2011 bis 2015 stellt er weitere rund 4,7 bis 4,9 Milliarden Euro zur Verfügung. – Mit der größten BAföG-Erhöhung seit Einführung dieses Gesetzes ist die soziale Lage der Studierenden deutlich verbessert worden. – Der Bund ist mit 2 Milliarden Euro bis 2020 am Qualitätspakt Lehre beteiligt, um das Lehrangebot sowie die Betreuung und Beratung an den Universitäten zu verbessern. – Das Deutschlandstipendium und die Erhöhung des Büchergeldes sind weitere Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage der Studierenden. Das sind die Leistungen von Union und FDP in der bildungspolitischen Verantwortung des Bundes. Ihren Antrag lehnen wir deshalb ab. Denn dieser macht deutlich, dass die Antragsteller von der SPD die grundlegenden Ordnungsprinzipien der Bildungspolitik in unserem Land nicht kennen. Sie wollen die Versäumnisse und Fehlentscheidungen der Wissenschaftspolitik in den Bundesländern, in denen ihre Partei, die SPD, verantwortlich ist, auf die Bundesebene abwälzen. Wir sagen dazu eindeutig Nein. Ulla Burchardt (SPD): Letzte Woche hat das Bundeskabinett den aktuellen Bologna-Bericht verabschiedet und die Entwicklungen seit der Bologna-Reform gelobt. Natürlich ist es erfreulich, dass die Akzeptanz der Bachelor-Abschlüsse wächst, die Studierdauer kürzer wird, die Auslandsmobilität steigt. Aber Bologna ist mehr als das Vereinheitlichen des Hochschulraums – es gehört auch die soziale Dimension dazu. Bund und Länder tragen hierfür gemeinsam Verantwortung, indem sie zusätzliches Geld für Bildungsinvestitionen sowie für individuelle Bildungsförderung bereitstellen, um Chancengleichheit im Bildungsbereich herzustellen und soziale Hürden des Studiums zu senken. Zusammen mit Hochschulen müssen Bund und Länder Lehrpläne studierbar ausgestalten und Prüfungsbelastungen für Studierende handhabbar machen. Die Bildungsproteste 2010 mahnten hierbei entschlossenes Handeln an. Die soziale Dimension umfasst zusätzlich auch die soziale Infrastruktur der Hochschulen; das heißt, es geht neben der Frage der Studienfinanzierung um bezahlbaren Wohnraum, ausreichende Kapazitäten der Hochschulgastronomie, genügend Beratungs- und Kinderbetreuungsangebote und behindertengerechte Hochschulen. Die Studentenwerke in Deutschland leisten hierfür mit ihren über 16 000 Mitarbeitern hervorragende Arbeit. Sie bieten umfangreiche Beratung und Hilfe für Studierende. Aber die Studentenwerke stoßen nun bei über 500 000 Studienanfängern auch an die Grenzen des Machbaren. Ihre Leistungsfähigkeit muss dringend ausgebaut werden. Bereits 2007 haben CDU/CSU und SPD in einer Entschließung des Bundestags die Erwartung an die Länder formuliert, „die Leistungsfähigkeit der Studentenwerke zu erhöhen und auch die sozialen Voraussetzungen für eine deutlich höhere Zahl von Studienanfängern, zum Beispiel im Bereich der Wohnraumversorgung, rechtzeitig zu schaffen“. Fakt ist, dass der Länderanteil an den Gesamteinnahmen der Studentenwerke seit Anfang der 1990er-Jahre von circa 24 Prozent auf nur noch circa 10 Prozent abgesunken ist und die Studierenden mittlerweile mit circa 14 Prozent mehr zum Etat der Studentenwerke beisteuern als die Länder. Einige Länder, wie zum Beispiel Nord-rhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, haben dies erkannt und ändern dies. Und Hamburg macht Schritt für Schritt die Kürzungen der Vorgängerregierung rückgängig. Aber neben den Ländern trägt auch der Bund Verantwortung. Es reicht nicht, sich nur finanziell am Ausbau der Studienplatzkapazitäten zu beteiligen, sondern es sind seinerseits auch Investitionen in die soziale Infrastruktur nötig. Es ist unstrittig: Der Studierendenansturm ist erfreulich. Er deckt den Bedarf an Hochqualifizierten und beugt dem drohenden Fachkräftemangel vor. Doch er stellt auch eine Herausforderung dar: Schon jetzt steigt nach aktuellen Erhebungen der Bedarf unter anderem an bezahlbarem Wohnraum, Service- und Beratungsangeboten sowie Kinderbetreuung. Wenn aktuell die Wohnheimplätze der Studentenwerke für weniger als 10 Prozent der Studierenden reichen, besteht akuter Handlungsbedarf. Und die Nachfrage nach Wohnheimplätzen ist massiv: Beim Studentenwerk Frankfurt gab es zum Wintersemester 2011/12 rund 1 400 Bewerbungen auf einen Wohnheimplatz, ein Anstieg um 40 Prozent zum Vorjahr. Vielerorts führt der Mangel an Wohnheimplätzen zu skurrilen Lösungen: Statt eines Wohnheimplatzes wird in Hochschulfoyers gezeltet, in Achtbettzimmern in Hostels oder in notdürftig hergerichteten Kellerräumen übernachtet. Laut fzs gab es zwar im Jahr 2010 150 000 mehr Studierende, aber nur 800 neue Wohnheimplätze. Auch die Hochschulgastronomie platzt aus allen Nähten. 85 Prozent der Studierenden nutzen deren Einrichtungen. Zu Stoßzeiten finden aber viele Studierende in den Mensen keinen Platz. Mit dem Studierendenansturm wächst auch der Bedarf an Beratung. Besonders die jüngeren Studierenden, die infolge kürzerer Schulzeit und dem Aussetzen der Wehrpflicht an die Hochschulen drängen, brauchen dieses Angebot. 22 Prozent der Erstsemester benötigen Beratung zur Studienfinanzierung. Zudem explodiert förmlich der psychologische Beratungsbedarf: Seit 2007 ist die Zahl der psychologischen Beratungen infolge von Versagensängsten und des Gefühls der Überforderung um ein Viertel gestiegen. Bei sozialer Infrastruktur geht es nicht zuletzt auch um Vereinbarkeit von Studium und Elternschaft. 5 Prozent der Studierenden sind Eltern. Für diese Studierenden ist es wichtig, Kinderbetreuungsangebote vorzufinden, die campusnah liegen und Öffnungszeiten haben, die ihnen ein Studium ermöglichen. Da über die Hälfte der Kinder von Studierenden unter vier Jahren sind, werden zudem auch Kinderbetreuungsplätze für Kleinstkinder gebraucht. Die aktuell circa 7 300 Kitaplätze der Studentenwerke reichen hierfür nicht aus. Und auch im Bereich „Studieren mit Behinderung“ bleibt noch einiges zu tun, wenn es zum Beispiel um rollstuhlgerechte Räumlichkeiten und behindertengerechte Sanitäranlagen etc. geht. Zügiges und entschiedenes Handeln ist geboten, doch die soziale Dimension von Bologna hat die Bundesregierung noch immer nicht verstanden. Im jüngst vorgelegten Bericht gibt es noch nicht einmal eine Benennung der Probleme, schon gar keine Lösungsvorschläge. Wir brauchen einen Hochschulsozialpakt zwischen Bund und Ländern. Die SPD-Bundestagsfraktion formuliert mit ihrem Antrag konkrete Vorschläge: Ein Kernbestandteil dieses Pakts ist der Ausbau der Wohnheimplätze. 25 000 zusätzliche Wohnheimplätze, deren Finanzierung der Bund hälftig mitträgt, sind zwingend erforderlich. Ein zweiter Baustein beinhaltet einen Apell an die Länder, gemeinsam mit den Studentenwerken, Beratungsangebote den Bedarfen anzupassen und die Kapazitäten der Hochschulgastronomie zu steigern. Länder und Studentenwerke sollen zudem gemeinsam darauf hinarbeiten, Menschen mit Behinderung und Eltern ein Studium zu ermöglichen. Konkret müssen hierzu Hochschulen behindertengerecht gestaltet und Kinderbetreuungsangebote ausgebaut werden. Dies alles geht natürlich nicht zum Nulltarif. Zusätzliche Investitionen sind nötig. Es bedarf hierfür einer gemeinsamen Kraftanstrengung. Hierzu gehört beispielsweise auch, dass die Bundesregierung prüft, ob nichtabgerufene Gelder für diese sinnvollen und notwendigen Investitionen in soziale Infrastruktur verwendbar sind. Der Studierendenansturm an den Hochschulen ist da. Der Ausbau der sozialen Infrastruktur ist alternativlos. Die Zeit drängt. Lassen Sie uns gemeinsam, Bund und Länder, diese Herausforderung entschlossen angehen – jetzt! Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Mit dem jetzt vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion setzen die Sozialdemokraten eine bemerkenswerte Strategie fort, die sie in letzter Zeit in zahlreichen Anträgen gehäuft zum Ausdruck bringt. Sie ist deshalb bemerkenswert, weil die Antragsteller zunehmend die Realität im deutschen Wissenschaftssystem auf den Kopf zu stellen versuchen, indem sie die tatsächlichen Bedingungen – sei es nun rechtlicher oder tatsächlicher Natur – vollkommen wirklichkeitsfern darstellen. Sie zeichnen wiederholt ein Bild von der Situation der Studierenden in unserem Land, das ich so beim besten Willen nicht nachvollziehen kann. Sie fordern nicht zum ersten Mal, dass durch die steigenden Studierendenzahlen der Bund in der Verantwortung sei – neben dem Hochschulpakt zum Ausbau der Studienplatzkapazitäten – auch „für einen parallelen bedarfsgerechten Ausbau der sozialen Infrastruktur zu sorgen“. Immerhin merken Sie zwar nur beiläufig, aber dennoch richtigerweise an, dass der Bund dies gemeinsam mit den Ländern tun müsse. Aber wie erst gestern die grüne Wissenschaftsministerin Theresia Bauer aus Baden-Württemberg versuchen auch Sie, den Eindruck zu erwecken, der Bund würde nichts oder nicht ausreichend viel tun, um auf die erfreulicherweise steigenden Studierendenzahlen zu reagieren. Fakt ist jedoch: Der Bund unterstützt die Länder sehr großzügig bei ihrer grundgesetzlich verankerten Aufgabe, die Finanzierung der Hochschulen sicherzustellen. Für die ersten beiden Auswahlrunden der Exzellenzinitiative zum Beispiel hat der Bund bis heute bereits 1,9 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Für die Fortsetzung des Hochschulpakts für zusätzliche Studienplätze stellt der Bund in der zweiten Phase in den Jahren 2011 bis 2015 rund 5 Milliarden Euro zur Verfügung, und für den Qualitätspakt Lehre bis zum Jahr 2020 noch einmal zusätzliche 2 Milliarden Euro. Zudem hat der Bund deutlich gemacht, dass er sich auch nicht vor einer eventuell erforderlichen Nachsteuerung drücken wird, sollten die Studienanfängerzahlen noch weiter ansteigen. Doch was machen eigentlich die Länder? In Baden-Württemberg zum Beispiel – um die Äußerung von Ministerin Bauer in der „Zeit“ vom heutigen Tage unter der Überschrift „Uns fehlen Milliarden“ aufzugreifen, die vom Bund fordert, er solle sich nicht aus der Verantwortung stehlen – wurde ein großes rot-grünes Wahlversprechen eingelöst: Die Studiengebühren werden zum Sommersemester 2012 abgeschafft. Damit erhalten die Hochschulen im Land künftig nicht mehr jährlich 163 Millionen Euro aus Studiengebühren. Die Einnahmeausfälle sollen stattdessen aus allgemeinen Haushaltsmitteln kompensiert werden. Wie lange das seitens der Landesregierung tatsächlich durchgehalten wird, sei einmal dahingestellt. Baden-Württemberg ist zudem das Land mit den meisten örtlichen Zulassungsbeschränkungen, hält also ganz offensichtlich unzureichende Kapazitäten vor und ruft nach mehr Geld vom Bund. Aus der Verantwortung stiehlt sich also nur eine: die baden-württembergische Wissenschaftsministerin. Ähnlich verhielten sich die sozialdemokratischen Landesregierungen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, was vermuten lässt, dass dieses System Methode haben soll, ganz nach dem Motto: Bundesgeld soll Löcher stopfen, die zuvor durch populistische Maßnahmen verursacht wurden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Doch zurück zur sozialen Situation der Studierenden in unserem Land. Der jüngste BAföG-Bericht und auch der Bologna-Bericht, an welchem ja – das dürfte besonders die Sozialdemokraten freuen – unter anderem auch die Gewerkschaften und der Studierendenverband fzs als Autoren mitgewirkt haben, bescheinigen der Bundesregierung gute Arbeit. Die Unterstützungsleistungen für Studierende sind stärker gestiegen als die Lebenshaltungskosten, und die Zahl der BAföG-Bezieher befindet sich auf einem Allzeithoch. Gleichzeitig entscheiden sich immer mehr junge Menschen für ein Studium. Sie selbst haben ja auf die steigenden Zahlen hingewiesen, und ich habe da sogar das versteckte Lob aus Ihrer Richtung vernommen, dass die Rahmenbedingungen anscheinend ja so schlecht nicht sind, wenn die Studierneigung seit Jahren zunimmt. Deutsche Studierende stellen zudem laut OECD die größte Gruppe der europäisch und international mobilen Studierenden. Anscheinend sind auch hier die Rahmenbedingungen eher gut als schlecht. Unsere Hochschulabsolventen haben auch nach der Umstellung der Studiengangstruktur auf Bachelor und Master bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt wenig Probleme. Bewerber mit Bachelorabschluss werden gerne eingestellt; das belegen zahlreiche Untersuchungen. Zu Ihren einzelnen Forderungen aus dem vorliegenden Antrag bleibt Folgendes zu sagen: Sie wollen das Kooperationsverbot streichen, um die soziale Infrastruktur an den Hochschulen durch Bund und Länder gemeinsam zu sichern und weiterzuentwickeln. In der FDP-Bundestagsfraktion haben Sie einen von Beginn der Föderalismusreform an vehementen Kritiker des Kooperationsverbotes. Dass Sie endlich begriffen haben, dass das der falsche Weg in der Bildungspolitik war, ehrt Sie. Gleichwohl lässt Ihre nunmehr an jeder möglichen oder auch unmöglichen Stelle aufgemachte Forderung den Verdacht aufkommen, Ihnen geht es weniger darum, qualitative Verbesserungen in der Hochschulfinanzierung zu erreichen, als vielmehr darum, den Bund als Lückenbüßer und Sparschwein der SPD-regierten Länder zu missbrauchen, die nicht in der Lage oder willens sind, ausreichend eigene Anstrengungen zu unternehmen und die Prioritäten richtig zu setzen. Auch Ihre Forderung, die BAföG-Bedarfssätze und -Freibeträge zu erhöhen, ist zwar durchsichtig und in Ihrer bereits beschriebenen Methode konsequent, aber aus Bundessicht eben abzulehnen. Die Bundesregierung hat in ihrem aktuellen BAföG-Bericht bereits angekündigt, dass sie mit den Ländern ins Gespräch darüber kommen wird, um gemeinsam Vorschläge zu erarbeiten, wie das BAföG weiterzuentwickeln ist. Diese Gespräche bitten wir abzuwarten. Dabei ist aber darauf zu achten, dass es einen Finanzierungsschlüssel zwischen Bund und Ländern gibt, der auch für die Anhebung von Freibeträgen und Bedarfssätzen gilt. Mit Ihrer Forderung nach einem Hochschulsozialpakt wiederum entlarven Sie sich vollends selbst. Ich habe Ihnen bereits dargelegt, welch beispielgebendes Engagement seitens des Bundes im Bereich der Finanzierung des deutschen Hochschulsystems zu konstatieren ist. Dennoch kann und darf der Bund nicht die Länder aus ihrer Verantwortung für den Hochschulbereich vollends entlassen. Die Länder – und hier schaue ich ganz besonders auf die von SPD, Linken und Grünen regierten Länder – haben ihren Beitrag zu leisten. Gerade was die soziale Infrastruktur anbelangt, sind sie durch das Grundgesetz hierzu verpflichtet. Dann erwarten Sie vom Bund, dass er dafür Sorge trägt, das Angebot an bezahlbaren, campusnahen und barrierefreien Wohnheimplätzen weiter auszubauen und ein Bund-Länder-Programm für 25 000 zusätzliche Plätze aufzulegen. Das ist keine Aufgabe des Bundes und wird es auch aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion nicht werden, da die Förderung des sozialen Wohnungsbaus ausschließliche Aufgabe der Länder ist. Wir begrüßen, dass einige Länder – wie Bayern – hier ihrer Verantwortung bereits nachkommen, und erwarten aber auch, dass diesem Beispiel auch die anderen folgen. Schließlich sind auch Ihre Forderungen hinsichtlich der Studentenwerke abzulehnen, da die Länder eindeutig hierfür zuständig sind und dies auch bleiben sollen. Dort, wo der Bund unterstützen kann – hier sei die Kofinanzierung der Informations- und Beratungsstelle beim Deutschen Studentenwerk als zentrales bundesweites Kompetenzzentrum erwähnt –, tut er dies bereits seit 30 Jahren. Zuletzt muss ich in aller Schärfe Ihre zum wiederholten Male – und ich unterstelle auch wider besseres Wissen – geäußerten Vorwürfe hinsichtlich des angeblich unzureichenden Mittelabflusses aus dem Geschäftsbereich des BMBF zurückweisen. Bei einem Mittelabfluss von durchschnittlich 99,4 Prozent kann von „anhaltender ineffizienter Mittelverwendung“ doch beim besten Willen keine Rede sein! In diesem Zusammenhang ist Ihre Forderung zu sehen, anfallende Ausgabereste anzusparen und für andere Projekte zu verwenden. Da dies haushaltsrechtlich gesehen einfach nur Unsinn ist, zeigt dies einmal mehr, wie wenig Sie von Finanzen verstehen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Natürlich ist es Aufgabe der Opposition, sich mit dem Erreichten nicht zufriedenzugeben und weitere Anstrengungen der Regierung zu fordern. Wenn nun jedoch der Bund schon dazu aufgefordert wird, sich mit den gastronomischen Gegebenheiten vor Ort auseinanderzusetzen, dann zeigt dies, wie schwer es der SPD-Fraktion offenbar fällt, potenzielle Probleme auszumachen bzw. zu konstruieren. Die Sozialdemokraten sind in diesem Zusammenhang sogar dazu bereit, zu suggerieren, dass Hochschulen, Studentenwerk und Länder nicht selber in der Lage wären, ein gewisses Maß an Eigenverantwortung an den Tag zu legen, um einige der echten Herausforderungen zu lösen. Die FDP-Bundestagsfraktion jedenfalls kann nicht erkennen, an welcher Stelle diesem Antrag auch nur ansatzweise zuzustimmen sein könnte, und wird ihn daher ablehnen. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Im Jahre 2012 jährt sich die Einführung der zweistufigen und modularisierten Studiengänge zum 13. Mal. Sie war die größte Hochschulreform der Nachkriegsgeschichte. Versprochen wurden die Vereinheitlichung der Bildungsabschlüsse in Europa, die Verbesserung der Qualität der Studiengänge sowie eine erhöhte Mobilität der Studierenden in ganz Europa. Das alles klang sehr vielversprechend. So liest sich auch der kürzlich veröffentlichte Bologna-Bericht der Bundesregierung. Aber welche Situation finden wir heute konkret an den Hochschulen vor? Private Akkreditierungsagenturen sind damit beauftragt, die neuen Studiengänge zu begutachten und zu zertifizieren. Diese Agenturen sind zwar von einem staatlich eingerichteten Akkreditierungsrat zugelassen, es gibt aber weder eine klare gesetzliche Grundlage noch angemessene Einflussmöglichkeiten auf die Arbeit der Agenturen. Bis heute gibt es keine umfassenden Anforderungen an die Studierbarkeit der Studiengänge oder an einen demokratischen Ablauf des Akkreditierungsprozesses. Gravierende Qualitätsmängel und eine hohe Frustration bei allen, die sich in den vergangenen 13 Jahren für eine qualitative Studienreform eingesetzt haben, sind die Folge. Der Alltag der Studierenden – und wie hoch der Leidensdruck ist, haben die Bildungsproteste der Studierenden der letzten Jahre gezeigt – ist von Verschulung, Anwesenheitspflicht und ständigen Leistungsnachweisen geprägt. Den Studierenden wird per Studienordnung vorgeschrieben, wann sie welches Studienmodul absolvieren müssen; sie werden durch ständige Anwesenheitskontrollen angehalten, ein riesiges Pensum an Veranstaltungen zu besuchen, weil sie sonst ihren Leistungsnachweis nicht erhalten, und sie hetzen von einer Prüfung zur nächsten. Die Studierenden selbst nennen das Bulimie-Lernen: Auswendig lernen, in der Prüfung auskotzen – und dann wieder vergessen. Das ist die Realität ihrer vielgepriesenen neuen Studiengänge. Dass die Studierbarkeit des Bachelors eine wirkliche Zumutung ist, belegen auch die Zahlen des aktuellen Studierendensurveys: 42 Prozent der Studierenden müssen einen zu hohen Lernaufwand für Prüfungen aufbringen, und nur 16 Prozent sehen sich in der Lage ihre Semesteraufgaben zeitlich gut zu erfüllen. 61 Prozent der Bachelorstudierenden fühlen sich durch die Arbeitsintensität in ihrem Studium überfordert. Diese Realität sollte die Bundesregierung endlich einmal zur Kenntnis nehmen, und sich nicht selbst beweihräuchern, dass schon 85 Prozent der Studiengänge umgestellt sind. Ein neues Etikett allein ist doch kein politischer Erfolg. Wenn Sie mal einen Blick hinter die Fassade wagen würden, könnten sie sehen: Das Studium hat mit einer wirklich guten wissenschaftlichen Ausbildung für die Mehrheit der Studierenden oder einem selbstbestimmten Lernen kaum noch etwas zu tun. Anwendungsorientierung und Praxisorientierung sind doch längst der Auslieferung von Bildung an Konzerninteressen gewichen. Bildung und Wissenschaft sind aber mehr! Noch nicht einmal die Mobilität der Studierenden hat sich verbessert, auch wenn Sie uns das in Ihrem Bericht weismachen wollen. Laut einer Studie von DAAD und BMBF, die das DSW erst im Dezember 2011 zitiert hat, stagnieren die studienbezogenen Auslandsaufenthalte seit dem Jahr 2000. Aber das wundert einen ja auch nicht, wenn die Anerkennung von Studienleistungen, die an einer anderen Hochschule abgelegt wurden, nicht einmal innerhalb eines Bundeslandes vernünftig funktioniert. Alle Versprechen für eine bessere Mobilität und eine bessere Qualität sind gebrochen worden. Das, was übrigbleibt von Bologna, ist eine enorme Bildungskürzung; denn genau das bedeutet die neue Studienstruktur doch letztendlich: Die Masse der Studierenden soll mit kürzeren Studienzeiten durch die Hochschulen geschleust werden, und nur einer kleinen Elite wird der Zugang zum weiterführenden und zum wissenschaftlichen Studium ermöglicht. Und was bedeutet ein kürzeres Studium für die Hochschulabsolventinnen und absolventen? Für die, die eben nur den Bachelor machen dürfen? Sie werden dementsprechend schlechter bezahlt. Ich zitiere den Bologna-Bericht des Kabinetts: Bei allen Studienrichtungen beträgt die Einkommensdifferenz gegenüber den traditionellen Abschlüssen durchschnittlich 7,3 Prozent für Fachhochschulabsolventinnen und -absolventen bzw. 20,3 Prozent für Absolventinnen und Absolventen der Universitäten. Sie haben es also geschafft, einen Zwei-Klassen-Arbeitsmarkt für Akademikerinnen und Akademiker zu errichten. Das ist der eigentlich politische Skandal. So kann es nicht weitergehen, und da hilft uns leider auch der Antrag der SPD-Fraktion nicht wirklich weiter. Natürlich ist es richtig und wichtig, die soziale Dimension bei Bologna zu verbessern; diesen Forderungen aus ihrem Antrag ist auch zuzustimmen, aber das kann doch nur ein Teilaspekt einer Veränderung sein. Und da auch Ihr Antrag keinerlei konkrete Zahlen nennt, sehe ich für eine echte Verbesserung der Bedingungen für die Studierenden auch eher schwarz. Die Linke fordert eine grundlegende Reform und Neujustierung der Bologna-Reform. Wir möchten, dass an der Hochschule kritische Wissenschaft statt Employability gelehrt wird und dass Studierende ihre Studieninhalte selbst bestimmen können. Und: Wir brauchen endlich das Recht auf einen Masterzugang für alle Studierenden, damit jeder den Abschluss machen kann, den er oder sie machen möchte. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die öffentliche Diskussion um die Bologna-Reform scheint in eine neue Phase eingetreten zu sein. Statt Kampansagen wie „Humboldt ist tot!“ oder „Operation gelungen, Patient tot?“ ist die empirische Beobachtung in den Vordergrund getreten, wie das visionäre Ziel, einen europäischen Hochschulraum zu erreichen, umgesetzt wird. Nicht zuletzt die Studierendenproteste haben vor Augen geführt, dass Bologna mehr ist, als auf alte Studiengänge das neue Etikett „Bachelor“ oder „Master“ zu kleben. Aus dem eindimensionalen deutschen Umsetzungsansatz, vorrangig eine Umwandlung der Studienstrukturen vorzunehmen, wollen wir heraus und Bologna zu einer echten Qualitäts- und Mobilitätsreform innerhalb des europäischen Hochschulraums weiterentwickeln. Wir wollen, dass alle Reformziele endlich angepackt und möglichst schnell erreicht werden – insbesondere tatsächlich mehr und vereinfachte Mobilität der Studierenden, eine bessere Anerkennung andernorts erbrachter Studienleistungen, eine intensivere Betreuung und Beratung der Studierenden sowie die soziale Öffnung der Hochschulen. Zahlreiche Studien haben sich mit der deutschen Umsetzung und Erreichung der wesentlichen Reformziele beschäftigt. Die Bologna-Baustellen gehen daraus deutlich hervor: Erstens. Die Studierbarkeit muss erhöht, die Arbeitsbelastung gesenkt werden: Bachelorstudierende berichten häufiger über ungünstige Studienbedingungen und hohe Leistungsanforderungen als Studierende in den alten Magister- und Diplomstudiengängen. Als Konsequenz ist es notwendig, dass die Hochschulen ihre Studienprogramme überarbeiten, den Workload herunterschrauben und die Prüfungsdichte reduzieren. Zweitens. Die Auslandsmobilität im Bachelor ist keinesfalls zufriedenstellend und muss verbessert werden: Im Jahr 2009 absolvierten nur 26 Prozent der BA-Studierenden Auslandsaufenthalte, in den alten Studiengängen waren es dagegen 32 Prozent. Um den Stand der Auslandsmobilität deutscher Studierender zu halten, müssen die Bachelorstudierenden Auslandsaufenthalte auch realisieren können. Studienprogramme müssen darum flexibilisiert und Zeitfenster geschaffen werden. Wichtig ist auch, dass sich die reale Anerkennungspraxis von im Ausland erworbenen Studienleistungen weiter verbessert. Der im Jahr 2007 bestehende Wert von nur 41 Prozent war skandalös. Es ist gut, dass sich der Anteil der im Ausland erworbenen und hierzulande vollständig anerkannten Studienleistungen deutlich verbessert hat. Hier ist aber weiterhin Potenzial nach oben! Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit dürfen nicht verwechselt werden. Studierende brauchen eine Anerkennungsgarantie. Besonders große Baustellen und Defizite bestehen weiterhin bei der sozialen Dimension, die ausdrücklicher Bestandteil der Bologna-Reform-Kommuniqués ist. Von 100 Akademikerkindern studieren 71, von 100 Kindern aus Nichtakademikerfamilien studieren nur 24. Dieser Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Wir wollen mehr potenzielle Bildungsaufsteiger für ein Studium erreichen. Mehr Studierende aus Nichtakademiker-, Arbeiter- und Migrantenhaushalten wollen wir genauso gewinnen wie Studierende aus einkommensärmeren Elternhäusern. Alle Herkunftsgruppen, denen die Finanzierbarkeit ihres Studiums Schwierigkeiten bereitet, brauchen eine bessere Förderung und Studienfinanzierung. Bundesbildungsministerin Schavan muss daher – als Konsequenz aus dem neusten BAföG-Bericht der Bundesregierung – mit konkreten BAföG-Reformvorschlägen auf die Länder zugehen, anstatt taktische Spielchen anzuzetteln. Klugen Konzepten für eine bildungsgerechtere Studienfinanzierung werden sich die rot-grün und grün-rot regierten Bundesländer nicht verschließen. Wer die soziale Schieflage beim Hochschulzugang verringern will, braucht mittelfristig eine ambitionierte Studienfinanzierungsreform mit dem Zwei-Säulen-Modell. Zusammen mit den Ländern müssen darüber hinaus gezielte Investitionen in die soziale Infrastruktur an den Hochschulen vereinbart werden. Dazu gehört der weitere Ausbau von Studienberatung, Wohnheimplätzen sowie Kinderbetreuung und Betreuungsinfrastruktur. Der Bedarf daran wächst mit der Zunahme der Zahl der Studienberechtigten und Studienanfänger. Da es Anzeichen für höhere Prognosezahlen gibt, werden wir an anderer Stelle über eine Aufstockung des Hochschulpaktes zu reden haben, um dem Studierendenboom gerecht zu werden. Unsere oberste Leitlinie bei der Umsetzung der sozialen Dimension ist, gemeinsam mit den Ländern eine umfassende Öffnung der Hochschulen für bisher unterrepräsentierte Gruppen voranzutreiben und damit für mehr gesellschaftliche Vielfalt und Diversity auf dem Campus zu sorgen. Die Bundesregierung sollte sich diesen Herausforderungen ebenfalls stellen und mit eigenen Initiativen vorangehen. Dann könnte sie auf unsere Unterstützung bauen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und -pflanzen – Antrag: Keine Patente auf Leben (Tagesordnungspunkt 26 b und c) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Wir beraten heute abschließend den fraktionsübergreifenden Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und -pflanzen“ sowie den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Patente auf Leben“. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, bei dieser schwierigen Materie der Patentierbarkeit von Tieren und Pflanzen einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Über das Thema der Patentierung von biotechnologischen Erfindungen in der Landwirtschaft gibt es unter den antragstellenden Fraktionen einen erfreulichen und weitgehenden Konsens. Allen beteiligten Berichterstattern danke ich sehr herzlich für die gute, konstruktive und zielführende Zusammenarbeit. Das Ergebnis kann sich wahrlich sehen lassen. Im Kern geht es bei der Nutzung von Biotechnologie um zwei Aspekte: Zum einen um den Schutz des geistigen Eigentums, zum anderen um die allgemeine Verfügbarkeit der natürlichen genetischen Ressourcen. Wir bekennen uns mit dem Antrag ausdrücklich zum Schutz des geistigen Eigentums durch Patente. Sie bilden den rechtlichen Rahmen für Innovationen und Erfindungen, die für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft unerlässlich und von entscheidender Bedeutung sind. Wir dürfen deshalb berechtigte Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht ignorieren. Es darf nicht dazu kommen, dass die Früchte herausragender deutscher Forschungsleistungen in anderen Ländern geerntet werden. Dies kann aber nicht schrankenlos geschehen: In unserem Antrag stellen wir deshalb deutlich heraus, dass wir die Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen ablehnen. Technische Verfahren sollen patentierbar bleiben, konventionelle Züchtungsverfahren sowie die damit erzeugten Nutztiere und Nutzpflanzen dürfen nicht patentierbar sein. In Deutschland wird die Rechtslage inhaltlich durch die Vorgaben der Biopatentrichtlinie, nach der Pflanzensorten und Tierrassen nicht patentierbar sind, und durch das Patentgesetz bestimmt. Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat zudem in der wegweisenden Entscheidung aus dem Dezember 2010 zum sogenannten Brokkoli- und Tomatenpatent nun auch mehr Rechtsklarheit im Hinblick auf die Abgrenzung von „im Wesentlichen biologischen Verfahren“ geschaffen. Verfahren sind auch dann im Wesentlichen biologisch und somit nicht patentierbar, wenn bei ihnen technische Verfahrensschritte zur Durchführung von Verfahren der Kreuzung von Pflanzen und nachfolgender Selektion der geeigneten Pflanzen genutzt werden. In der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer wurde ein zentraler Streitpunkt dahin gehend entschieden, dass technische Hilfsmittel wie genetische Marker zwar an sich nach dem Europäischen Patentübereinkommen patentfähige Erfindungen darstellen können, ihre Verwendung in einem im Wesentlichen biologischen Züchtungsverfahren dieses aber nicht patentierbar macht. Konventionelle Züchtungsverfahren sind also von einem Patentschutz ausgenommen. Nicht klargestellt wurde allerdings, ob reine Erzeugnisansprüche auf Pflanzen mit spezifischen Eigenschaften trotz der Entscheidung zulässig sind. Hinsichtlich der sogenannten Product-by-Process-Patentansprüche gibt es bisher keine Rechtsklarheit. Problematisch sind diese Product-by-Process-Patentansprüche im Bereich der Tier- und Pfanzenzucht deshalb, weil sie geeignet sind, die Nichtpatentierbarkeit herkömmlicher Züchtungsverfahren zu unterlaufen. Mit dem Antrag sprechen wir uns deshalb klar dafür aus, sicherzustellen, die Schutzwirkung von Product-by-Process-Patenten auf die Verwendung des im Patent angegebenen Verfahrens zu beschränken, und fordern die Bundesregierung auf, sich für eine entsprechende Klarstellung der Biopatentrichtlinie und der weiteren einschlägigen Rechtsgrundlagen einzusetzen. Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob auch schon jetzt Änderungen im nationalen Patentgesetz – soweit dies die europäischen Vorgaben zulassen – möglich sind. Noch kurz eingehen möchte ich auf den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Patente auf Leben“. Der Antrag schießt weit über das Ziel hinaus. Beispielsweise würde mit einem generellen Verbot der Patentierung von Leben Forschung in Deutschland weit über Gebühr erschwert. Aus diesem Grund, aber auch aus weiteren Gründen ist der Antrag abzulehnen. Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Die politische Diskussion um die Patentierung von Nutztieren und Nutzpflanzen wird in der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Anfang nächster Woche wird das Europaparlament voraussichtlich über den Bericht zum Kommissionsvorschlag einer „Verordnung über die Umsetzung der verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes“ abstimmen. Unser Bestreben bei der Schaffung des einheitlichen europäischen Patents ist es, darauf zu dringen, dass die in der Biopatentrichtlinie gegebenen Möglichkeiten für eine nationale Ausgestaltung, wie beispielsweise beim Züchterprivileg, erhalten bleiben und auch für das europäische Patent gelten werden. Daher begrüße ich es außerordentlich, dass wir heute abschließend unseren interfraktionellen Antrag beraten können, der im Kern auf ein Verbot der Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen abzielt und der die Bundesregierung dabei bestärkt, auf europäischer Ebene die erforderlichen Rechtsänderungen zu erreichen. Für die wissenschaftliche Forschung ist das Patentrecht ein hohes Gut und für den Wirtschaftsstandort Deutschland unerlässlich. Es gewährleistet, dass Innovationen der Öffentlichkeit zugänglich sind. Im Bereich der Biotechnologie müssen wir dabei stets zwei Ziele im Auge behalten: Neben dem bereits erwähnten Schutz des geistigen Eigentums durch das Patentrecht spielt die allgemeine Verfügbarkeit genetischer Ressourcen eine zentrale Rolle. Wir müssen die Vielfalt unserer genetischen Ressourcen an landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen erhalten. Unseren Landwirten und Züchtern müssen sie auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Genetische Ressourcen sind für die biologische Vielfalt wesentlich und dürfen nicht nur durch wenige große Unternehmen nutzbar sein. Vor diesem Hintergrund wird die aktuelle Entwicklung bei Biopatenten seitens der Landwirte mit berechtigter Sorge betrachtet. Denn die Wirtschaftsbeteiligten versuchen, teilweise rechtliche Grauzonen zu ihren Gunsten auszunutzen. Die Rechtsprechung, insbesondere durch die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts, hat hier zwar inzwischen eine grundlegende Entscheidung in unserem Sinne gefällt: „Verfahren sind auch dann im Wesentlichen biologisch und somit nicht patentierbar, wenn bei ihnen technische Verfahrensschritte zur Durchführung von Verfahren der Kreuzung von Pflanzen und nachfolgender Selektion genutzt werden.“ Nicht abschließend geklärt ist jedoch, ob die durch diese Verfahren erzeugten Tiere oder Pflanzen patentiert werden können. Weitere rechtliche Spielräume ergeben sich aus der Nutzung von sogenannten Product-by-Process-Patentansprüchen. Daher sehen wir politischen Handlungsbedarf und haben im vorliegenden Antragstext unsere Forderungen klar dargelegt, nämlich dass es auf konventionelle Züchtungsverfahren – mit diesen Verfahren gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen – sowie deren Nachkommen und Produkte keine Patente geben soll. Dies soll für alle Arten von Patenten und sämtliche relevanten Rechtsvorschriften Gültigkeit besitzen, ergo für nationale Patente, für Patente, die nach dem Europäischen Patentübereinkommen erteilt werden, und auch für die neuen europäischen Patente. Genau an dieser Stelle der Abgrenzung zwischen konventionellen und technischen Züchtungsverfahren wird aus unserer Sicht eine ethische Grenze überschritten, die der Patentierung entgegensteht. Begleitend zu diesen Rechtsänderungen fordern wir ein staatliches Biopatent-Monitoring. Durch einen regelmäßigen Bericht über die Auswirkungen des Patentrechts bei Biopatenten und einen Dialog mit allen betroffenen gesellschaftlichen Gruppen können wir die Entwicklung sorgfältig beobachten und bei Bedarf nachsteuern. Außerdem ist es uns ein wichtiges Anliegen, dass die im Patentgesetz vorgesehenen Privilegien für Landwirte, Züchter und die Forschung auch im neuen europäischen Patentrecht gelten sollen. Abschließend möchte ich auf die wichtige Rolle des Sortenschutzes zu sprechen kommen. Dieser dient dem Schutz des geistigen Eigentums und hat sich dabei gut bewährt. Da es im Bereich der Tierzucht ein entsprechendes Recht nicht gibt, muss es unser Ansinnen sein, dass wir hier gemeinsam mit den Tierzüchtern eine Lösung finden. Denn es geht auch in diesem Fall um das Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz geistigen Eigentums und dem freien Zugang zu genetischen Ressourcen. Unser gemeinsamer Antrag ist ein richtiger und politisch wichtiger Schritt zur Abklärung der genannten gegensätzlichen Ziele in einem für die Nutzungschancen der Biotechnologie bedeutsamen Bereich. Dr. Matthias Miersch (SPD): Ich freue mich, dass wir schon heute und damit schneller als gedacht unseren gemeinsamen Antrag zu Biopatenten im Plenum beschließen. Wir geben damit der Bundesregierung einen klaren Auftrag. Wir Parlamentarier sind uns einig, dass Patente auf konventionell gezüchtete landwirtschaftliche Nutztiere und pflanzen nicht erteilt werden dürfen und es einer dringenden Änderung des nationalen Patentrechts und der Biopatentrichtlinie bedarf. Wie akut der Handlungsbedarf ist, zeigt das im Mai 2011 erteilte Melonenpatent. Hier wurde ein Patent auf eine konventionell gezüchtete Melone erteilt, die ursprünglich aus Indien stammt und eine natürliche Resistenz gegen ein pflanzenschädliches Virus aufweist. Am letzten Freitag hat Greenpeace zusammen mit der indischen alternativen Nobelpreisträgerin Vandana Shiva Einspruch gegen das Patent eingelegt. Trotz der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts zum Brokkolipatent, die Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen ausgeschlossen hat, werden immer noch Patente auf konventionell gezüchtete Pflanzen erteilt. Im Fall des Melonenpatents würde also die Firma Monsanto, die der Patentinhaber ist, über wichtige genetische Ressourcen verfügen, die der Konzern anderen Züchtern vorenthalten kann. Ich nenne das eine moderne Form der Biopiraterie. Wenn wir diese Patente nicht unterbinden, befindet sich bald der größte Teil der genetischen Ressourcen in den Händen weniger Monopolisten. Dass es nun wieder die NGOs sind, die Einspruch gegen Patente einlegen, die eine Gefahr für die Züchter, den Verbraucher und auch die Nahrungsmittelsicherheit sind, finde ich verantwortungslos. Hier hätte die Bundesregierung ein deutliches Signal setzen können, indem sie Einspruch erhoben hätte. Es kann nicht sein, dass wir als Gesetzgeber, der durchaus Möglichkeiten hat, die entsprechenden Gesetze oder Richtlinien zu ändern, hier die Hände in den Schoß legen und die Verantwortung auf Dritte abschieben. Ich hoffe, unser Antrag wird nun die Tatenlosigkeit, die bisher im Justizministerium geherrscht hat, beenden. Jetzt sollte uns das Ministerium einen Vorschlag zur Änderung der nationalen Patentgesetzgebung vorlegen und sich in Brüssel für eine Änderung der Biopatentrichtlinie starkmachen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch weiter an der Frage der Prozesskostenbeihilfe und der Überprüfung der Finanzierung des Europäischen Patentamtes dranbleiben. Diese zwei Punkte, die leider die Rechtspolitiker der Koalition nicht mittragen wollten, behalten wir weiter auf der Agenda. Einspruchsverfahren gegen Patente sind sehr kostspielig, und wir müssen ein Modell erarbeiten, das Interessenvertretungen und auch kleineren Verbänden die Möglichkeit gibt, öffentliche Belange wirkungsvoll vor den Patentämtern zu vertreten. Den zweiten Punkt, die Überprüfung der Finanzierung des Europäischen Patentamtes, hatte die SPD bereits in ihrem ersten Antrag – aus dem sich nun unser gemeinsamer Antrag entwickelt hat – gefordert. Ein Amt, das sich durch die Erteilung von Patenten finanziert, ist nicht unabhängig. Die Neigung, ein Patent nicht zu erteilen, wird auf dieser Basis besonders stark ausgeprägt sein. Hier muss schnellstmöglich reformiert werden. Wir sollten gemeinsam Initiativen und Vorschläge entwickeln, denen wir dann vielleicht auch wieder gemeinsam zustimmen können. Diese beiden gerade angesprochenen Punkte finden sich auch im Antrag der Linksfraktion wieder, der uns hier auch zur Abstimmung vorliegt. Ich finde es nach wie vor bedauerlich, dass wir unseren gemeinsamen Antrag nicht auch im Namen der Linksfraktion eingebracht haben. Der eigene Antrag der Linksfraktion „Keine Patente auf Leben“ greift Punkte auf, die in unserem ursprünglichen Antrag der Agrarberichterstatter Konsens waren, er fordert aber auch pauschale weltweite Verbote, die so nicht umsetzbar sein werden. Deshalb werden wir natürlich unserem gemeinsamen fraktionsübergreifenden Antrag zustimmen und uns bei dem Antrag der Linken enthalten. Stephan Thomae (FDP): Beim Thema Biopatente klingeln in der Bevölkerung schnell die Alarmglocken. Es ist eine Materie, die sehr emotional debattiert und von vielen sehr misstrauisch betrachtet wird. Aus diesem Grund ist es gut und wichtig, dass der Deutsche Bundestag sich des Themas annimmt. CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne haben hierzu einen Antrag vorgelegt. Ziel des Antrags ist es, klarzustellen, dass es keine Patente auf konventionelle Züchtungsverfahren, mit diesen gezüchtete Pflanzen und Nutztiere sowie deren Nachkommen geben soll. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass von Unternehmen immer wieder Versuche unternommen werden, Patente auf Pflanzen und Tiere zu bekommen. Zum Teil wurden entsprechende Patente auch erteilt. Dies stellt jedoch eine große Beeinträchtigung für Forschung und Züchtung dar. Der fraktionsübergreifende Antrag soll gewährleisten, dass sowohl die Forschungs- als auch die Züchtungsfreiheit erhalten bleiben. Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes hat in ihrer Entscheidung vom 9. Dezember 2010 in den Fällen Brokkoli und Tomate entschieden, dass eine Patentierung überwiegend konventionell gezüchteter Tiere und Pflanzen unzulässig ist. Die Entscheidung deckt aber nicht alle denkbaren Fallkonstellationen ab. Daher ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass Biopatente beantragt werden. Unser Antrag sieht daher vor, dass die Möglichkeiten für eine entsprechende Klarstellung im deutschen Recht geprüft werden sollen. Gleichzeitig wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auf EU-Ebene für eine entsprechende Änderung der Biopatentrichtlinie einzusetzen. An dieser Stelle möchte ich positiv hervorheben, dass wir hier einen überfraktionellen Antrag haben, der im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig angenommen wurde. Es ist ein starkes Signal für den Antrag, dass er von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag getragen wird. Die Linken beklagen in ihrem Antrag, dass der Antrag auf Bundestagsdrucksache 17/8344 zunächst mit ihnen erarbeitet wurde, dann aber ohne sie eingebracht wurde. Grundsätzlich halte ich es für erstrebenswert, möglichst breite Mehrheiten für ein Anliegen zu erzielen. In diesem Fall wäre dies aber wohl schwierig geworden. Die Linke beantragt nämlich, dass Patente auf Pflanzen und Tiere selbst dann nicht zugelassen werden sollen, wenn es sich um gentechnische Verfahren handelt. Hier liegt der entscheidende Unterschied. Der fraktionsübergreifende Antrag beschränkt sich in seinen Forderungen auf überwiegend konventionelle Züchtungsverfahren. Wir verteufeln nicht die Grüne Gentechnik, sondern sehen sie als Chance. Dass dabei gewisse Regeln eingehalten werden müssen, steht außer Frage. Die Linke entwirft in ihrem Antrag das Schreckensszenario, dass die Entwicklung der Patentierung auch vor dem Menschen nicht haltmachen könne. Dazu sei den Kollegen der Linken eines gesagt: Bereits jetzt sieht § 1 a Abs. 1 PatG vor, dass der menschliche Körper keine patentierbare Erfindung sein kann. Diese Sorge ist also unbegründet. Bei Licht betrachtet, liegen die hier vorliegenden Anträge nicht allzu weit auseinander. Mag es im Vorfeld für einige Beteiligte Gründe gegeben haben, einen Antrag aller Fraktionen zu verhindern, wäre es doch umso schöner, wenn der fraktionsübergreifende Antrag einstimmig angenommen würde. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Über eineinhalb Jahre hat eine interfraktionelle Gruppe zum Thema Biopatente gearbeitet. Dabei waren Abgeordnete der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Grünen und auch ich als Vertreterin der Linksfraktion. Uns einte ein Ziel: Wir wollten den ausufernden Patenterteilungen auf Pflanzen und Tiere einen wirksamen Riegel vorschieben. Das Ergebnis ist der Antrag auf der Bundestagsdrucksache 17/8344 „Keine Patentierung von konventionell gezüchteten landwirtschaftlichen Nutztieren und pflanzen“. Leider hat die Union in letzter Minute verhindert, dass der gemeinsame Antrag auch von allen fünf Fraktionen als Autoren des Antrags gemeinsam eingereicht werden konnte. In der CDU/CSU-Fraktion gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss, der verbietet, öffentlich erkennbar mit den Abgeordneten der Linksfraktion zusammenzuarbeiten. Das ist meiner Meinung nach des Hohen Hauses unwürdig. Aus direkten Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen weiß ich, dass sie diesen Umgang der CDU/CSU-Fraktion mit uns – und damit auch den Wählerinnen und Wählern der Linken – auch kritisch sehen. Selbst Unionspolitikern und politikerinnen ist das peinlich. Also: Lassen Sie doch endlich diese Sandkastenspiele, oder machen Sie diese einfach nicht mehr mit! Trotz unserer Ausgrenzung werden wir dem Antrag zustimmen – obwohl er wirklich nur der kleinste gemeinsame Nenner ist und jede Menge Aspekte unter den Tisch gefallen sind. Der Linken ist ein eindeutiges Zeichen des Bundestages wichtiger als die parteipolitische Revanche. Damit sagen wir den anderen Mitgliedstaaten einstimmig aus dem Bundestag: Wir wollen keine Patente auf landwirtschaftliche Nutzpflanzen und Tiere. Lasst uns die rechtlichen Grundlagen dafür ändern! Um zu dokumentieren, wie weit unsere Kompromissbereitschaft ging, stellen wir heute auch einen eigenen Biopatente-Antrag zur Sofortabstimmung. Im Antrag 17/8584 „Keine Patente auf Leben“ machen wir unsere weiter gehende Ablehnung von Biopatenten deutlich, und zwar nicht nur bei landwirtschaftlichen Nutztieren oder pflanzen und nicht nur bei konventioneller Züchtung, sondern bei allen Tieren, Pflanzen, Genen, Produkten etc. und selbstverständlich auch bei der Agro-Gentechnik. Gerade die Gentech-Konzerne nutzen regelmäßig das Patentrecht, um ihre Gewinne zu sichern. Die Linke im Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich für ein weltweites Verbot der Patentierung von Menschen, Pflanzen, Tieren und anderen Lebewesen sowie deren Nachkommen, Produkte, Organe, Gene, Gensequenzen einzusetzen. Um das zu erreichen, muss sich Deutschland für entsprechende Änderungen internationaler Abkommen, zum Beispiel des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum, TRIPS, und der EU-Patentgesetzgebung, einsetzen. Selbstverständlich sind diese Änderungen ebenfalls im deutschen Patentgesetz, PatG, vorzunehmen. Neben der Frage nach dem Biopatentverbot fordern wir eine unabhängige Finanzierung des Europäischen Patentamts, EPA, und eine Prozesskostenhilfe, die sichert, dass Betroffene unabhängig von ihrer eigenen finanziellen Situation Patentzulassungen rechtlich überprüfen lassen können. Beide Forderungen waren ursprünglich im interfraktionellen Antrag vorhanden, sind dann aber dem Rotstift der Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker der Koalition zum Opfer gefallen. Wir halten aber daran fest. Nachdem im Deutschen Bundestag monatelang nach einer gemeinsamen Position gesucht wurde, stellt sich nun die Frage: Wie weiter? Wir sollten den heutigen Beschluss den Parlamenten der anderen Mitgliedstaaten sowie dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission als unsere einstimmige Positionierung zur Berücksichtigung in der weiteren Debatte übergeben. Dieses klare Bekenntnis des Bundestages ist nur ein erster – wenn auch wichtiger – Schritt, dem noch weitere folgen müssen. Dabei wird sich auch die Linke weiter engagieren: Gegen Biopatente! Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die heutige Verabschiedung des interfraktionellen Biopatentantrags ist ein wichtiger Meilenstein in der Biopatentthematik. Denn mit der Verabschiedung legen wir den Grundstein für ein endgültiges Verbot der Patentierung konventioneller Züchtungsverfahren, das auch den Umweg der sogenannten Product-by-Process-Patente zur Erlangung von Patentansprüchen auf Agrarprodukte und Lebensmittel einschließt. Auch das staatliche Monitoring von Biopatenten ist wichtig und richtig, ebenso wie die Verpflichtung, mit den betroffenen gesellschaftlichen Gruppen in den Dialog zu treten. Letzteres ist mir als Baden-Württemberger natürlich besonders wichtig, wo die „Politik des Gehörtwerdens“ zentrales Anliegen der grün-roten Landesregierung ist. Als passionierter Volleyballer würde ich sagen: Das Parlament hat nach einer guten „Annahme“ sauber „gestellt“, jetzt muss die Bundesregierung „verwandeln“. Gerade auf der Ebene der nationalen Gesetzgebung, also im deutschen Patentgesetz, muss die Bundesregierung die notwendigen Korrekturen jetzt schnell umsetzen. Das dringend notwendige staatliche Monitoring der angemeldeten und erteilten Biopatente muss kommen. Und es muss institutionell dort angesiedelt werden, wo das erforderliche Wissen um die durch Biopatente möglicherweise ausgelösten Probleme für die Praxis vorhanden ist. Dies ist zweifelsohne im Geschäftsbereich des BMELV der Fall. Es ist aber auch absehbar, dass die Änderungen der EU-Biopatentrichtlinie, die wir in unserem Antrag ebenfalls einfordern, mit langwierigen und schwierigen Verhandlungen auf EU-Ebene verbunden sein werden. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages sind sich heute einig, was den grundlegenden Forderungskatalog angeht. Daraus ergibt sich für die Bundesregierung die Pflicht, die interfraktionelle Initiative aufzugreifen und sich in der EU mit aller nötigen Ausdauer und Energie für die Interessen der deutschen Landwirte, Züchter und letztlich auch der Verbraucher einzusetzen. Es ist äußerst bedauerlich, dass die Koalitionsfraktionen in der Schlussphase der Verhandlungen die Fraktion Die Linke aus dem interfraktionellen Prozess ausgeschlossen haben. Wenn die Linksfraktion deshalb heute einen eigenen Antrag vorlegt, ist das verständlich. Wir bedauern aber, dass es dazu kommen musste. Wir teilen viele der darin angesprochenen Punkte, wie beispielsweise die notwendige Reform der Finanzierung des Europäischen Patentamts, das sich bislang vorwiegend über die Gebühren für erteilte Patente finanziert. Auch die Erweiterung des Patentierungsverbotes auf gentechnisch veränderte Organismen, GVO, tragen wir selbstverständlich mit. Im Interesse der interfraktionellen Initiative haben wir uns dennoch entschlossen, uns zum Antrag der Linksfraktion zu enthalten. Unser interfraktioneller Antrag heute zielt wie schon erwähnt in weiten Teilen auf die EU-Rechtssetzung. Denn mit Sorge betrachten wir im Hinblick auf den EU-Rechtsrahmen zu Biopatenten die Entwicklungen bei der Einführung der neuen Verordnung über die Schaffung eines „europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung“. Warum? Die neue Verordnung wird sich in ihrer Reichweite sowohl auf die Biopatentrichtlinie als auch direkt auf das deutsche Patentgesetz auswirken – mit möglicherweise fatalen Folgen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind dabei die im deutschen Patentrecht verankerten Regelungen zum Züchter- und Landwirteprivileg in akuter Gefahr. Die Bundesregierung engagiert sich nach eigener Aussage für eine Klausel, mit der die deutschen Freiräume für Landwirte und Züchter gesichert werden sollen. Das ist gut so, reicht aber noch nicht. Die Verhandlungen sind schließlich noch nicht abgeschlossen, und es besteht aus unserer Sicht das Risiko, dass diese – laut Auskunft der Bundesregierung im Entwurf des Rats vorgesehene – „Unberührbarkeitsklausel“ am Ende doch noch einem Kompromiss zum Opfer fallen könnte. Die Konsequenzen wären verheerend: Alle Bestimmungen des deutschen Patentgesetzes, die über den Rahmen der Biopatentrichtlinie hinausgehen, wären automatisch hinfällig. Landwirte und Züchter, die mit patentgeschütztem Material arbeiten wollen, wären dann der Zustimmung des jeweiligen Patentinhabers unterworfen, außerdem wären Patentlizenzgebühren abzuführen. Selbst wenn es gelingen sollte, die Unberührbarkeitsklausel für Deutschland zu sichern, dürfen wir auch bei diesem Thema nicht nur an uns selber denken – es wäre höchst bedauerlich und langfristig vermutlich auch kaum haltbar, wenn nur in Deutschland Landwirte und Züchter von patentrechtlichen Einschränkungen befreit wären, ihre Kollegen in den anderen EU-Staaten jedoch nicht. Deshalb bevorzugen wir die auch vom Deutschen Bauernverband geforderte direkte Verankerung des Landwirte- und Züchterprivilegs im EU-Verordnungstext. Angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen, die eine Verabschiedung der Gemeinschaftspatentverordnung ohne die notwendigen Freiräume für die deutsche Land- und Lebensmittelwirtschaft hätte, muss die Bundesregierung in dieser Frage rasch, aktiv und entschlossen agieren. Die Verschiebung der abschließenden Abstimmung im Europaparlament vom 14. Februar auf März und eventuell sogar Juni ist für die Bundesregierung eine große Chance und auch Verpflichtung, in intensiven und umfassenden Verhandlungen mit den europäischen Nachbarn hier die erforderlichen Fortschritte im Sinne des heutigen Antrags zu erreichen. Daran werden wir Sie messen! Anlagen 1Anlage 2 2Anlage 4 3Anlage 5 4Anlage 6 5Anlage 8 6Anlage 7 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 18838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 158. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 158. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2012 18837 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 19020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 158. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 158. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2012 19019