Plenarprotokoll 17/165 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 165. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 I n h a l t : Wahl des Abgeordneten Stefan Liebich als ordentliches Mitglied in das Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Nachträgliche Ausschussüberweisung Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Geschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf (Drucksache 17/8879) b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichberechtigung in Entwicklungsländern voranbringen (Drucksache 17/8903) c) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Anerkennung und Wiedergutmachung des Leids der „Trostfrauen“ (Drucksache 17/8789) d) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frauen verdienen mehr – Entgeltdiskriminierung von Frauen verhindern (Drucksache 17/8897) e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erster Gleichstellungsbericht Neue Wege – Gleiche Chancen Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf (Drucksache 17/6240) f) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Geschlechtergerechte Besetzung von Führungspositionen der Wirtschaft (Drucksachen 17/4842, 17/8830) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ Dagmar Ziegler (SPD) Nicole Bracht-Bendt (FDP) Yvonne Ploetz (DIE LINKE) Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ingrid Fischbach (CDU/CSU) Christel Humme (SPD) Patrick Döring (FDP) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Cornelia Möhring (DIE LINKE) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dorothee Bär (CDU/CSU) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) Erika Steinbach (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS  90/DIE GRÜNEN: Ein Jahr Fukushima – Die Energiewende muss weitergehen (Drucksache 17/8898) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Michael Paul (CDU/CSU) Ute Vogt (SPD) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Dr. Matthias Miersch (SPD) Michael Kauch (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Jens Koeppen (CDU/CSU) Marco Bülow (SPD) Klaus Breil (FDP) Dorothée Menzner (DIE LINKE) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Josef Göppel (CDU/CSU) Michael Gerdes (SPD) Angelika Brunkhorst (FDP) Dieter Jasper (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 31: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Oktober 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indien über Soziale Sicherheit (Drucksache 17/8727) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eurojust-Gesetzes (Drucksache 17/8728) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Siebten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds (IWF) (Drucksache 17/8839) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 30. September 2011 des Übereinkommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Drucksache 17/8840) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. September 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (Drucksache 17/8841) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008 (Drucksache 17/8842) g) Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung der Bildungsforschung weiter vorantreiben (Drucksache 17/8604) h) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kein Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstaltungen (Drucksache 17/8609) i) Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz (Drucksache 17/8795) j) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz (Drucksache 17/8895) k) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schweinepest tierschonend bekämpfen – Notimpfung ersetzt grundloses Keulen (Drucksache 17/8893) l) Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbraucherschutz stärken – Finanzmarktwächter einführen (Drucksache 17/8894) m) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstützpunkten konsequent bekämpfen (Drucksache 17/8896) Tagesordnungspunkt 32: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts (Drucksachen 17/8427, 17/8803, 17/8900) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas Silberhorn, Monika Grütters, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken (Drucksachen 17/7357, 17/8858) c) – i) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 397, 398, 399, 400, 401, 402 und 403 zu Petitionen (Drucksachen 17/8779, 17/8780, 17/8781, 17/8782, 17/8783, 17/8784, 17/8785) Zusatztagesordnungspunkt 2: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes (Drucksache 17/8881) Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Zivilcourage gegen Nazis stärken Ingrid Remmers (DIE LINKE) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) Dr. Stefan Ruppert (FDP) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) Sönke Rix (SPD) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Ruprecht Polenz (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Eckhard Pols (CDU/CSU) Ingrid Remmers (DIE LINKE) (Erklärung nach § 32 GO) Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes (Drucksache 17/8801) Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Rolf Hempelmann (SPD) Thomas Bareiß (CDU/CSU) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Klaus Breil (FDP) Dirk Becker (SPD) Franz Obermeier (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 6: Große Anfrage der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Musikförderung durch den Bund (Drucksachen 17/4901, 17/7222) Siegmund Ehrmann (SPD) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) Reiner Deutschmann (FDP) Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Christoph Poland (CDU/CSU) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren (Drucksache 17/8882) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Dr. Carsten Sieling (SPD) Helmut Heiderich (CDU/CSU) Björn Sänger (FDP) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Peter Aumer (CDU/CSU) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss der Beschäftigten stärken (Drucksache 17/8880) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Gabriele Molitor (FDP) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gitta Connemann (CDU/CSU) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutsches Ressourceneffizienzprogramm – Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften (Drucksachen 17/8575, 17/8875) Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin BMU Gerd Bollmann (SPD) Horst Meierhofer (FDP) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steuerungsfehler bei der Hochschulzulassung untersuchen und Zulassungsreform besser unterstützen (Drucksache 17/8884) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Monika Grütters (CDU/CSU) Nicole Gohlke (DIE LINKE) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Florian Hahn (CDU/CSU) Klaus Hagemann (SPD) Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes (Drucksachen 17/8235, 17/8867) Antje Tillmann (CDU/CSU) Bernd Scheelen (SPD) Dr. Birgit Reinemund (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Fraktion der SPD: Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung (Drucksache 17/8760) b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einsetzung einer Expertenkommission zur Sicherungsverwahrung (Drucksache 17/7843) Burkhard Lischka (SPD) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Christian Ahrendt (FDP) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Norbert Geis (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (Drucksache 17/8799) Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen (Drucksache 17/8883) Tagesordnungspunkt 15: a) Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken (Drucksache 17/8788) b) Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS  90/DIE GRÜNEN: Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen – Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen (Drucksache 17/8493) Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der -Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS  90/DIE GRÜNEN: Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans (Drucksachen 17/7774, 17/8396) Dr. Rainer Stinner (FDP) Josip Juratovic (SPD) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Drucksachen 17/5096, 17/8870) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Frank Hofmann (Volkach) (SPD) Gisela Piltz (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 18: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem -Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Kuwait über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7601, 17/8820) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem -Abkommen vom 22. Februar 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7602, 17/8820) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kroatien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten und der schweren Kriminalität (Drucksachen 17/7603, 17/8820) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7604, 17/8820) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich (Drucksachen 17/7605, 17/8820) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. August 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der Ukraine über die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung (Drucksachen 17/7606, 17/8820) Clemens Binninger (CDU/CSU) Wolfgang Gunkel (SPD) Gisela Piltz (FDP) Ulla Jelpke (DIE LINKE) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Biobanken als Instrument von Wissenschaft und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz prüfen und Missbrauch genetischer Daten und Proben wirksam verhindern – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz von Patientinnen und Patienten bei der genetischen Forschung in einem Biobanken-Gesetz sicherstellen (Drucksachen 17/3868, 17/3790, 17/8873) Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Diplomatische Beziehungen zu Palästina aufwerten (Drucksache 17/8375) Joachim Hörster (CDU/CSU) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) Günter Gloser (SPD) Birgit Homburger (FDP) Heike Hänsel (DIE LINKE) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen (Drucksache 17/8902) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Tankred Schipanski (CDU/CSU) Swen Schulz (Spandau) (SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Heiner Kamp (FDP) Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des Ausweises (Drucksachen 17/6586, 17/8445) Maria Michalk (CDU/CSU) Ulrich Lange (CDU/CSU) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Gabriele Molitor (FDP) Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste (Drucksache 17/8797) Bernhard Kaster (CDU/CSU) Manfred Grund (CDU/CSU) Sonja Steffen (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermöglichung der privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexem-plare (Drucksache 17/8377) Ansgar Heveling (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Stephan Thomae (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Oliver Krischer, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sammlung und Recycling von Elektronikschrott verbessern (Drucksache 17/8899) Michael Brand (CDU/CSU) Gerd Bollmann (SPD) Horst Meierhofer (FDP) Dorothée Menzner (DIE LINKE) Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Berichtigung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Ingo Egloff (SPD) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen (Tagesordnungspunkt 14) Olav Gutting (CDU/CSU) Nicolette Kressl (SPD) Dr. Daniel Volk (FDP) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken – Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen – Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Anette Hübinger (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär BMBF Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans (Tagesordnungspunkt 16) Sevim Da?delen (DIE LINKE) Inhaltsverzeichnis 165. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle ganz besonders herzlich. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Alle?) – Alle, ausnahmslos, selbstverständlich. Wir können ja einmal sehen, ob es noch Anlässe für besonders ausgesuchte Begrüßungen gibt. Jedenfalls müssen wir vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Wahl durchführen, weil der Kollege Korte aus dem Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ ausscheidet. Auf Vorschlag der Fraktion Die Linke soll als neues ordentliches Mitglied der Kollege Stefan Liebich berufen werden. Stimmen Sie diesem Vorschlag zu? – Das ist der Fall. Dann ist der Kollege in das Kuratorium der Stiftung gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Tarifeinheit sicherstellen – Tarifzersplitterung vermeiden (siehe 164. Sitzung) ZP 2 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes – Drucksache 17/8881 – ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Zivilcourage gegen Nazis stärken Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich mache wie immer auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 1. März 2012 (162. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union – Drucksache 17/8682 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offensichtlich so. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a bis f: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Geschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf – Drucksache 17/8879 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleichberechtigung in Entwicklungsländern voranbringen – Drucksache 17/8903 – c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Wolfgang Gunkel, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Anerkennung und Wiedergutmachung des Leids der „Trostfrauen“ – Drucksache 17/8789 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen verdienen mehr – Entgeltdiskriminierung von Frauen verhindern – Drucksache 17/8897 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Gleichstellungsbericht Neue Wege – Gleiche Chancen Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf – Drucksache 17/6240 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Geschlechtergerechte Besetzung von Führungspositionen der Wirtschaft – Drucksachen 17/4842, 17/8830 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth Elisabeth Winkelmeier-Becker Dr. Eva Högl Marco Buschmann Jens Petermann Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vergangene Jahr war in mehrfacher Hinsicht ein wichtiges Jahr für Frauen. In Deutschland ging es dabei vor allen Dingen um die Frage, wie wir mehr Frauen Chancen auf Führungspositionen eröffnen können. Wir haben hart um den besten Weg gerungen, und wir werden auch weiterhin darum ringen. Ich denke, die unterschiedlichen Positionen dabei sind klar; da müssen und da werden wir auch nicht drum herumreden. Wir können heute wieder vor allen Dingen darüber reden, was alles nicht geht. Besser wäre es, in den Mittelpunkt zu stellen, was möglich ist. (Zuruf von der SPD: Na, dann man zu! – Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD]) Und da stellen wir fest: Allein durch die Debatten, die wir, auch in diesem Parlament, immer wieder geführt haben, ist in den Unternehmen eine Menge in Bewegung gekommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Oh Gott, wenn das eine Menge ist!) Wenn ich mit den Personalvorständen der DAX 30 spreche, dann sagen die mir etwa, dass ihr Wort heute innerhalb des Unternehmens ein ganz anderes Gewicht hat als noch vor wenigen Jahren. Vor kurzem wurden sie noch belächelt, wenn sie zum Thema Frauenförderung gesprochen haben. Heute werden die Personalvorstände um Strategien gebeten. Die Flexiquoten für alle Führungsebenen unter dem Vorstand, die durch die DAX 30 im Jahr 2011 eingeführt wurden, waren ein wichtiger Schritt in Richtung faire Chancen. Leider haben diesen Fortschritt nur wenige gewürdigt. Viele haben sich über die Zielmarken sogar lustig gemacht. Damit sind sie genau denjenigen in den Rücken gefallen, die in den Unternehmen den Wandel gestalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dabei ist es doch viel schwieriger, den Frauenanteil in allen Führungsebenen auf 25 Prozent zu erhöhen als zum Beispiel nur im Vorstand, der vielleicht nur vier Köpfe umfasst. 25 Prozent von 500 hilft mehr Frauen als 25 Prozent von 4. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb sage ich: Wir dürfen hier keine reine Elitendiskussion führen, sondern es geht um faire Chancen für alle Frauen in Führungspositionen. Meine Damen und Herren, ein wichtiges Jahr für Frauen war das vergangene Jahr aber auch außerhalb Deutschlands. Vor gut einem Jahr begann in Tunesien das, was wir heute arabischer Frühling nennen. Fast überall kämpfen Frauen in vorderster Reihe für Freiheit, Teilhabe und Demokratie. (Zurufe der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie weiterer Abgeordneter vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Lassen Sie doch einmal eine Frau ausreden!) – Wenn Sie das erheiternd finden, finde ich das interessant. – Sie riefen über Facebook und Twitter zu Demonstrationen auf. Sie prangerten in ihren Blogs gesellschaftliche Missstände an. Sie gingen genauso wie Männer für ihre Rechte auf die Straße. Sie ließen sich nicht einschüchtern von Gewalt und Terror. Sie spürten, dass es auf ihre Kraft ankommt im Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt. Ich war deshalb gestern anlässlich des Weltfrauentages gemeinsam mit Abgeordneten in Tunesien. Wir waren in Tunesien, um uns selbst ein Bild von den Entwicklungen zu machen; denn ich bin überzeugt: Wenn Frauen in der arabischen Welt es schaffen, ihre Rechte durchzusetzen, dann ist das ein Signal für Frauen in der ganzen Welt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Warum schaffen Sie das nicht?) Der letzte Friedensnobelpreis ging an drei Frauen, die in ihren Ländern die Gesellschaft verändert haben. Dasselbe Selbstbewusstsein, dieselbe Kraft habe ich gestern in Tunesien gespürt. Wir haben aber auch Skepsis und Ängste gespürt, das Gewonnene wieder zu verlieren oder sogar einen Rückschritt zu erleben. (Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Es spricht für sich, wie Sie darauf reagieren, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe mit Präsident Marzouki gesprochen, der wegen seines Engagements für Freiheitsrechte jahrelang im Exil lebte. Ich habe mit weiblichen Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlung gesprochen, die hart darum ringen, ob die Scharia tragender Teil der Verfassung wird. Ich habe mit Frauenrechtlerinnen gesprochen, die seit den 80er-Jahren fordern, dass Frauenrechte vorbehaltlos gelten. Und ich habe jungen Bloggerinnen zugehört. Diese jungen Frauen haben mit ihren Tastaturen eine Diktatur erschüttert und sturmreif geschrieben. Jetzt wollen diese Frauen ihr Land mit gleichen Rechten und guten Chancen in einer freien Demokratie aufbauen. Diese Frage stellt sich in vielen Ländern, gerade auch am Internationalen Frauentag. Deutschland steht hinter all den Frauen in der Welt, die sich in ihren Ländern für Gleichberechtigung, für Demokratie und für Menschenrechte einsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was macht Deutschland selbst? – Zurufe von der SPD) Auch in Deutschland ist Gleichberechtigung der Frauen noch nicht überall verwirklicht, obwohl sie seit über 60 Jahren im Grundgesetz steht. Doch ihre Verankerung im Grundgesetz hat es ermöglicht, über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich an ihrer Verwirklichung zu arbeiten. Ohne dieses permanente Ringen um Gleichberechtigung wäre es um Wohlstand, um Zusammenhalt, um Demokratie in unserer Gesellschaft sicherlich sehr viel schlechter bestellt. Ich denke, die Botschaft, die am heutigen Internationalen Frauentag von Deutschland ausgehen sollte, lautet: kein gesellschaftlicher Fortschritt ohne faire Chancen für Männer und Frauen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja peinlich! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das war alles? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Das ist doch nicht zu fassen! – Caren Marks [SPD]: Wo ist der Inhalt?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dagmar Ziegler (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war’s also von unserer Frauenministerin! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Nicht-Frauenministerin! – Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wo ist denn der Fraktionsvorsitzende?) – Unser Fraktionsvorsitzender ist hier im Raum. (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Ich meinte Sie gar nicht, ich meinte so mehr links!) Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir Gleichstellungspolitikerinnen hier im Deutschen Bundestag ebenfalls über dieses Thema, nämlich den Internationalen Frauentag, diskutiert. Damals war es der 100. Frauentag, den wir hier im Plenum gewürdigt haben – über alle Fraktionsgrenzen hinweg. Wir alle waren uns einig: Wir müssen Frauenrechte auch heute noch erkämpfen – also im Gegensatz zur Ministerin, die das nicht tut –, weil sie uns nicht in den Schoß fallen. Was hat sich denn in dem einen Jahr getan? Nichts! Die Bundesregierung hat das wichtige Feld der Gleichstellungspolitik völlig brachliegen lassen. Wir sind von einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer die gleichen Verwirklichungschancen haben, ebenso weit entfernt wie 2011. Die Probleme kennen wir alle. Der Gleichstellungsbericht, auf den sich die Ministerin eigenartigerweise überhaupt nicht bezogen hat, der aber Grundlage der heutigen aktuellen Debatte ist, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Peinlich, peinlich, Frau Ministerin!) führt uns diese Defizite kompakt und schmerzlich vor Augen. Die Rahmenbedingungen für Frauen stimmen nicht, und das gilt für alle Bereiche. „Menschen müssen essen, aber Frauen deshalb nicht kochen“, hat einmal eine feministische Journalistin gesagt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das lässt sich beliebig fortsetzen: Familien müssen besser finanziell unterstützt werden, aber Frauen deshalb nicht von Erwerbsarbeit ferngehalten werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Männer müssen gerechten Lohn bekommen, aber Frauen deshalb nicht mit Niedriglöhnen und Minijobs abgespeist werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unternehmen müssen rentabel arbeiten, aber Frauen deshalb nicht systematisch von Führungsfunktionen abgehalten werden. (Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, im Gegenteil!) Frauen sind in Deutschland strukturell benachteiligt. Das Unbehagen darüber wächst aber – unter uns Abgeordneten hier im Bundestag, aber auch in weiten Teilen der Gesellschaft. Es vergeht mittlerweile kaum eine Woche, in der nicht ein gleichstellungspolitisches Thema die Schlagzeilen bestimmt: Am 26. Februar hatten 250 Journalistinnen ihre meist männlichen Chefs mit der Forderung nach einer Frauenquote für Führungsfunktionen in Verlagen und Redaktionen konfrontiert. Am 1. März hat das Gremium, das die Bundeskanzlerin in Sachen Forschung und Innovation berät, die Abschaffung des Ehegattensplittings und den Verzicht auf das Betreuungsgeld angemahnt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Am 5. März hat die EU-Kommissarin Viviane Reding eine EU-weite Frauenquote in Aussicht gestellt, weil Freiwilligkeit nichts oder so gut wie nichts gebracht hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die einen sehen den Innovationsstandort Deutschland in Gefahr, wenn Fachkräfte fehlen. Sie wollen deshalb den Schatz heben, den die vielen Millionen Frauen darstellen, die trotz vielfach guter Ausbildung nicht oder nicht in vollem Umfang erwerbstätig sind. Die anderen wollen endlich das Versprechen unserer Demokratie auf gleiche Lebenschancen unabhängig vom Geschlecht einlösen. Die Motive mögen also unterschiedlich sein; einig sind sich aber fast alle über den Weg: Wir brauchen eine aktive staatliche Gleichstellungspolitik. Wir brauchen gesetzliche Lösungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nur die Bundesregierung sieht das nicht. Es ist wie im Märchen von Frau Holle: Gesetzliche Regelungen hängen wie eine überreife Frucht am Baum und rufen unserer Ministerin Schröder zu: „Ach, schüttel mich, ach, schüttel mich, wir sind lange überfällig!“ Doch unsere Ministerin verschließt Augen und Ohren und geht beleidigt am Baum vorbei. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die schüttelt nicht! Das ist die Pechmarie!) Schlimm ist, dass Sie diesen Realitätsverlust mit fatalen politischen Fehlentscheidungen kombinieren. Sie lassen nicht vom Betreuungsgeld, obwohl alle Stimmen vehement vor diesem Instrument warnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Statt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, will Ministerin von der Leyen den Irrweg Minijobs sogar noch ausweiten. (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) Die Bundeskanzlerin schaut dem Treiben desinteressiert zu. Sie lässt sich viel lieber in Europa hofieren, als zu Hause die Kärrnerarbeit zu machen. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Fraktion hat die Kärrnerarbeit gemacht. Wir haben überzeugende und umsetzbare Konzepte entwickelt. Wir haben Antworten, um beim Kitaausbau Tempo zu machen. Wir stehen für einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro. Wir haben Instrumente entwickelt, mit denen in Betrieben gleiche Löhne von Frauen und Männern verwirklicht werden können – gesetzlich und verbindlich. Und morgen werden wir hier einen Gesetzentwurf für eine 40-Prozent-Quote in Aufsichtsräten und Vorständen debattieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich könnte Ihnen, Frau Ministerin, jetzt zurufen: Greifen Sie doch unsere Konzepte einfach auf und setzen Sie sie um! (Beifall bei der SPD) Wir alle wissen: Das werden Sie nicht tun. Ihnen, Frau Ministerin, könnte ich auch zurufen: Machen Sie doch endlich Ihre Hausaufgaben! – Aber auch das werden Sie nicht tun. Ich glaube, selbst die Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition erwarten nicht wirklich, dass Sie sich noch in eine feurige Frauenrechtlerin und patente Politikerin verwandeln könnten. Ich will aber Ihnen, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, etwas zurufen: Lassen Sie uns über Fraktionsgrenzen hinweg das Gemeinsame betonen! Einig sind wir uns doch darin, dass wir eine gesetzliche Quote für Frauen in Führungspositionen brauchen – und eben noch in diesem Jahr; denn im Jahr 2013 werden viele Aufsichtsräte neu gewählt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Parlamentarierinnen haben doch schon in der Vergangenheit die eine oder andere gesetzliche Regelung, die für Frauen einen Fortschritt gebracht hat, gemeinsam und solidarisch erzielt. Und daran waren jeweils auch viele Männer beteiligt. Das war bei den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Jahr 1992 und dem Verbot von Vergewaltigungen in der Ehe, das seit 1997 gilt, der Fall. Lassen Sie uns solche Beispiele zum Vorbild nehmen! Lassen Sie uns für eine gesetzliche Quote gemeinsam Mehrheiten im Deutschen Bundestag gewinnen! Lassen Sie uns gemeinsam ein weiteres Frauenrecht erkämpfen! Die Zeit läuft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin Bracht-Bendt das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nicole Bracht-Bendt (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Mittelpunkt unseres Antrages heute zum Internationalen Frauentag steht Geschlechtergerechtigkeit im Lebensverlauf. (Elke Ferner [SPD]: Nichts steht da drin!) Das klingt etwas sperrig. Der Begriff spiegelt aber genau das wider, wo es in der Lebenswirklichkeit heute hakt. Deshalb legt die christlich-liberale Koalition mit dem vorliegenden Antrag bewusst den Finger in die Wunde. (Christel Humme [SPD]: Da steht doch gar nichts drin!) Gleichstellungspolitik ist für uns Lebensverlaufspolitik, das heißt, dass wir als Koalition auf die Veränderungen wesentlicher institutioneller und soziokultureller Rahmenbedingungen mit klaren Konzepten reagieren wollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Wo sind denn die Konzepte?) – Frau Humme, Sie haben vielleicht auch noch die Möglichkeit, etwas zu sagen. Die Zeiten der Einverdienerfamilie, in denen der Mann das Geld verdient und die Frau Hausfrau und Mutter ist, sind bekanntlich vorbei. Ob Bankkauffrau, Journalistin oder Wissenschaftlerin: Nur noch selten hängen Frauen heute ihren Beruf an den Nagel, um sich ausschließlich um Familie und Haushalt zu kümmern. Dabei geht es keineswegs immer um den Wunsch nach beruflicher Karriere und Selbstverwirklichung. Häufig reicht ein einziges Gehalt gar nicht aus, um über die Runden zu kommen. Moderne Gleichstellungspolitik muss heute eine Antwort geben auf die vielfältigen Lebensverläufe von Frauen und Männern. Phasen des Lebens in einer Partnerschaft, des Alleinerziehens oder der Arbeitslosigkeit können sich abwechseln. Frauen entscheiden sich in der Familienphase häufig dafür, Teilzeit zu arbeiten. Kurzfristig ist das die Chance, um den Spagat zwischen Familie mit kleinen Kindern und Beruf hinzubekommen. Jungen Frauen muss aber klar sein, dass dies keine Dauerlösung sein sollte, um später nicht in Altersarmut abzurutschen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der oder die Einzelne nicht unbedingt immer freiwillig die Weichen für einen anderen Lebensverlauf neu stellt. Der Verlust des Arbeitsplatzes und die berufliche Neuorientierung können das Leben ziemlich durcheinanderbringen – oder wenn der Ehepartner krank wird und zu Hause gepflegt werden muss oder die an Demenz erkrankte Mutter. Was die Situation von pflegenden Angehörigen betrifft, hat die Koalition mit dem neuen Familienpflegezeitgesetz ja schon einen wichtigen Meilenstein gesetzt. Sie können nun im Beruf kürzer treten, um für kranke Angehörige da zu sein, ohne ganz ohne Einkommen dazustehen und ohne später in Altersarmut abzurutschen. Dieses Gesetz ist ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu Geschlechtergerechtigkeit. Unser Wunsch ist, dass nicht mehr vor allem Frauen, sondern auch mehr Männer als bisher Verantwortung in der Pflege übernehmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber es gibt noch mehr zu tun. Deshalb bin ich froh über die aufschlussreichen Erkenntnisse des Ersten Gleichstellungsberichtes, der die Grundlage für unseren Antrag bildet. Darin heißt es (Zurufe der Abg. Caren Marks [SPD] und Elke Ferner [SPD]) – hören Sie bitte mal zu –: Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, müssen zunächst die Ursachen, die für die Schieflagen verantwortlich sind, gezielt benannt werden. Dazu gehört, dass Kinder kein Karrierehindernis sein dürfen. Es ist kein Geheimnis: Immer noch verzichten gut ausgebildete Frauen auf ihre Karriere, weil es keine zuverlässige und vor allem keine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Kinderbetreuung gibt. (Zuruf von der LINKEN: Und keine bezahlbare!) Die Bundesregierung hat mit dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige einen wichtigen Beitrag geleistet. Jetzt sind die Länder und die Kommunen in der Pflicht, ebenso die Unternehmen. Berufstätige Eltern wünschen sich in ihrem Beruf mehr Freiräume und flexiblere Arbeitszeiten – mehr Zeitsouveränität, wie wir das im Antrag nennen. (Christel Humme [SPD]: Wo ist denn die Wahl überhaupt für Frauen und Männer?) Ich bin sicher, dass deutlich mehr Frauen leitende Positionen wahrnehmen könnten und würden, wenn sich Väter mehr Zeit für die Familie nehmen würden. Laut den Aussagen von jungen Männern wollen sie das auch. Eine Veränderung ist also festzustellen. Es hakt aber noch an einigen Stellen. Zwar ist es ein gutes Signal, dass 25 Prozent der Väter Elternzeit in Anspruch nehmen, aber es besteht weiterhin Nachholbedarf, an der Akzeptanz in Beruf und Gesellschaft zu arbeiten. Darüber sind wir uns ja einig. Dass Väter mehr Zeit zu Hause bei der Familie haben, scheitert aber teilweise daran, dass sich eine Familie das schlicht nicht leisten kann, weil das Gehalt der Mutter nicht ausreicht, um über die Runden zu kommen. Deshalb besteht Handlungsbedarf bei der Entgeltgleichheit. Dabei setzen wir auf Transparenz und Eigeninitiative, und nicht wie Sie von der Opposition auf staatliche Bevormundung. (Beifall bei der FDP) Noch ein Stichwort: Präsenzkultur. Unsere skandinavischen Nachbarn machen es uns vor. In Norwegen und Schweden ist es nichts Besonderes, wenn der leitende Mitarbeiter am Nachmittag seine Kinder von der Kita abholt. Ziel liberaler Politik ist die Chancengesellschaft mit Wahlfreiheit. Hören Sie gut zu! Der Gleichstellungsbericht bestätigt einmal mehr, dass Chancen und Risiken immer noch ungleich auf die Geschlechter verteilt sind. Berufliche Verwirklichungschancen nehmen immer noch in erster Linie Männer wahr, während Pflegeaufgaben weiterhin meistens von Frauen geleistet werden. Hier liegt in unserer Gesellschaft noch einiges im Argen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Und wo ist die Wahlfreiheit?) Denn eine Chancengesellschaft – und die streben wir an – basiert auf Respekt und Anerkennung für die Leistung in der Familie, und nicht nur für Erfolge im Beruf. Meine Damen und Herren, der Gleichstellungsbericht thematisiert, wie Frauen und Männer in eine nachteilige Situation geraten, und zeigt Wege, wie sie wieder -herauskommen. Das unterstützen wir. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Ursachen der Entgeltunterschiede zwischen Männern und Frauen. Gehaltsunterschiede bei gleicher Qualifikation aufgrund des Geschlechts sind aus liberaler Sicht in keiner Weise hinnehmbar. (Beifall bei der FDP) Gleichstellung heißt für mich aber auch, Jungen und Mädchen zu motivieren, bei der Berufswahl neue Wege zu gehen. Wenn es uns gelingt, mehr Mädchen für technische Berufe zu begeistern und mehr Jungen für soziale Berufe wie zum Beispiel Erzieher, dann kommen wir dem Ziel einer geschlechtergerechten Gesellschaft entschieden näher. Ganz herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Yvonne Ploetz erhält nun das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Den Internationalen Frauentag, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, feiern wir heute zum 101. Mal. In meiner Fraktion sind heute nur Frauen anwesend. Wir sind die erste reine Frauenfraktion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Männer machen frei? – Zuruf von der Regierungsbank: Wo sind die Männer?) Damit wollen wir heute ein starkes Zeichen dafür setzen, dass wir Frauen die Männerdomänen – nicht nur in der Politik – ganz problemlos meistern. (Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn bei Ihnen der Fraktionsvorstand?) Die Männer der Linksfraktion machen heute ein Tagespraktikum, und zwar in einem sogenannten typischen Frauenberuf. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie ja selber lachen!) Sie werden das würdigen, was Frauen in Deutschland Tag für Tag leisten. (Beifall bei der LINKEN) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sorgt für Tumult. Ich will Ihnen aber sagen: Bei der Emanzipation müssen alle mit, Frauen wie Männer. (Beifall bei der LINKEN) Leider ist das noch nicht bei allen angekommen. Sicherlich kennen auch Sie sehr wenige Kfz-Mechanikerinnen oder Lufthansa-Managerinnen. Dafür gibt es viele schlechte Gründe, zum Beispiel altbackene Unternehmenskulturen oder die traditionellen Geschlechter- und Berufsbilder. Sie aufzubrechen, genau darum muss es uns gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) Damit sind wir auch bei der Debatte, die derzeit die Frauenpolitik bestimmt, nämlich die mittlerweile durchaus salonfähig gewordene Forderung nach einer Frauenquote in Führungsetagen. Da wurde Berlin in dieser Woche von Brüssel überholt: EU-Justizkommissarin Reding hat angekündigt, dass es eine EU-weite Regelung zu einer verbindlichen Frauenquote geben soll. Sie hat genau zur richtigen Zeit ein Signal gesendet, nämlich einen Tag nachdem die FDP in einem Zwergenaufstand (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt dann aber „Zwerginnenaufstand“!) Familienministerin Schröder umgepustet hat und die Flexiquote in Ablage P wie Phrasen abgelegt wurde. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich peinlicher finden soll: diese bisslose Flexiquote oder das kampflose Einknicken der Frauenministerin in Frauenfragen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, 2012 ist es an der Zeit, dass Old-Boys-Networks und Businessmachos nicht mehr einen Notausknopf in den Fahrstühlen drücken können, in denen Frauen in die Führungsetagen fahren; (Beifall bei der LINKEN) ihr Aufstieg muss eine Selbstverständlichkeit sein. Solange das nicht so ist, lassen wir uns in unserer Forderung nach einer 50-Prozent-Quote nicht beirren. (Beifall bei der LINKEN) Für viele Frauen ist Aufstieg aber wirklich noch eine reine Utopie. Sie haben ganz andere, viel existenziellere Probleme. Da ist zum Beispiel Katharina L. aus München. Sie ist Altenpflegerin, und das seit Jahren. Sie trägt eine enorme Verantwortung für die Menschen, die sie pflegt, und leistet körperliche Schwerstarbeit. Trotzdem ist die Wertschätzung für ihre Arbeit nicht sonderlich hoch. Sie hat keinerlei Aufstiegschancen, und sie verdient rund 1 000 Euro weniger als zum Beispiel ein Maschinenbauer. Mir kann wirklich niemand erklären, woher dieser Lohnunterschied kommen soll. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb fordern wir, die Linke, wie es so schön in Köln heißt: Mehr Cash in de Frauentäsch! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir fordern, dass Frauen wie Katharina endlich in den Fokus der frauenpolitischen Debatte in Deutschland kommen. (Beifall bei der LINKEN) Genau deshalb lenken unsere Männer heute die Aufmerksamkeit gezielt dahin. Gregor Gysi ist beispielsweise in einer Kita, Uli Maurer beim Friseur, (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rita Pawelski [CDU/CSU]: Beim Friseur arbeitet der? Welcher hat sich denn dazu bereit erklärt?) und Steffen Bockhahn putzt in Rostock. (Beifall bei der LINKEN) Ich wette, sie werden dort enorm gute Arbeit leisten und erfahren, mit welchen Problemen die Friseurin, die Reinigungsfrau, die Erzieherin und viele andere zu kämpfen haben. Es ist doch so: Frauen regeln den Haushalt, erziehen die Kinder, unterstützen den Partner und versorgen die Eltern. Sie leiten das berühmte kleine Familienunternehmen. Sie geben richtig viel und bekommen richtig wenig zurück. Ich glaube, damit muss heute endlich Schluss sein. (Beifall bei der LINKEN) Da halte ich es mit einer ganz mutigen Feministin aus dem Saarland, Marlies Krämer, die für die Frauen den Männern sagt: Wir wollen die Hälfte der bezahlten Arbeit und Macht Wir geben dafür die Hälfte der unbezahlten Hausarbeit (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ein völlig altes Frauenbild!) Wie sieht es denn auf dem Arbeitsmarkt aus? Die Erwerbsquote von Frauen ist gestiegen, aber hauptsächlich durch die Zunahme von Teilzeitarbeit, und das, obwohl ein Großteil der Teilzeitarbeitnehmerinnen viel lieber Vollzeit arbeiten würde. Die Aussage des Geschäftsführers des Handelsverbands Deutschland am letzten Frauentag, die Frauen wollten solche prekären Beschäftigungen, finde ich überhaupt nicht nachvollziehbar. (Beifall bei der LINKEN) Es ist doch erwiesen: Junge Frauen machen die besseren Abschlüsse, leisten aber den Löwenanteil an den richtig schlecht bezahlten Minijobs. Akademikerinnen scheint es im Sonderangebot zu geben. Alleinerziehende stehen oftmals wirklich ganz allein da und haben richtig Angst vor Armut und Prekarität, und zwar für Mutter und Kind. Um hier zu helfen, wäre doch eines ganz wichtig: eine gut ausgebaute Infrastruktur in der Kinderbetreuung. In Dänemark werden 64 Prozent der unter dreijährigen Kinder ganztags betreut. Nur so geht doch die Gleichung von Beruf und Familie wirklich für jeden und jede auf. (Beifall bei der LINKEN) Will man das gesamte Knäuel, das es an Problemen gibt, entwirren, dann gibt es dafür sogar einen Leitfaden. Das ist das Sachverständigengutachten für den Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Darin sind die Herausforderungen Punkt für Punkt aufgelistet. Um nur einige Beispiele zu nennen: Sie müssen dafür sorgen, dass Pflege- oder Erziehungszeiten anerkannt werden, dass Niedriglohnfallen endlich beseitigt werden, dass der Mindestlohn eingeführt wird, dass das Ehegattensplitting abgeschafft wird und dass mit einem Entgeltgleichheitsgesetz mit dem katastrophalen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen endlich Schluss gemacht wird. Sie müssen doch nur Ihr eigenes Gutachten lesen und umsetzen. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Yvonne Ploetz (DIE LINKE): Ich komme zum Schluss. – Für all das möchten wir heute als Fraktion ein Zeichen setzen. Liebe Kolleginnen, liebe Frauen, nach 101 Jahren ist viel erreicht. Doch es gibt noch viel zu tun. Deshalb frei nach Astrid Lindgren: Lasst euch nicht unterkriegen! Seid frech und wild und wunderbar! Vielen Dank. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Die Abgeordneten der LINKEN erheben sich – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Oh nein, jetzt stehen die auch noch auf! Das ist ja peinlich!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Renate Künast ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst hatte ich gedacht, ich könnte sofort zu der doch bemerkenswert schlechten Rede der Ministerin Stellung nehmen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ha! Ha!) Aber nun muss ich mich vorher noch mit einigen Worten an Sie wenden, Frau Ploetz. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das war eine sehr gute Rede von Frau Ploetz!) Ihre Rede empfinde ich als Frau – das empfinden sogar die Männer; das gilt zumindest für die in unserer Fraktion – als eine ganz tolle Vorführung zum 101. Frauentag. Jetzt wissen wir, dass Ulrich Maurer heute endlich dazu kommt, zum Friseur zu gehen. Das ist auch logisch, weil es bei Gysi keinen Sinn machen würde. Aber was hat das mit dem Frauentag zu tun? Ich verstehe es nicht. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Wir haben ein Schaltjahr. Das hat 366 Tage. Vielleicht könnten die Jungs ihr Praktikum an irgendeinem anderen der 365 Tage machen – notfalls auch am Wochenende; da haben wir nämlich keine Sitzung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sehr gut!) Nun zur Rede der Ministerin. Wenn ich so richtig gemein wäre, würde ich aus meinem Herzen keine Mördergrube machen, Frau Schröder, und sagen: Die Rede war so beachtenswert, dass sie unbedingt ins Archiv von Alice Schwarzer, in den FrauenMediaTurm, gehört. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dieses Archiv wird aber nur von wenigen Besucherinnen pro Jahr aufgesucht, sodass es schade wäre. Es sollten doch mehr Frauen und auch mehr Männer, die sich für Gleichstellung interessieren, von dieser Rede wissen. Sie haben hier in aller Ruhe vorgetragen, welches die Sorgen der Frauen auf dem Globus sind und welchen Freiheitskampf sie führen. Wir wissen das. Ich habe zum Beispiel zuletzt Frau Tawakkul Karmann aus dem -Jemen, eine der drei – nicht zwei – Nobelpreisträgerinnen, getroffen. Wissen Sie, was sie sagte? Sie sagte: Wir brauchen eure ganz konkrete Unterstützung. Frau Schröder, ich habe kein einziges Wort von konkreter Unterstützung für diese Kämpferin gehört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christel Humme [SPD]: Sie bloggt!) Sie haben geschrieben, dass Sie den tunesischen Präsidenten, vor dem auch ich Respekt habe, getroffen haben. Aber wo war das Programm? Man könnte viel dazu sagen, wie viel Unterstützung diese Frauen brauchen. Es gibt Arbeitssklavinnen. Es gibt Genitalverstümmelung. Es gibt Frauen, die deswegen Unterstützung brauchen, weil nach einer Revolution und Umwälzungen letztendlich doch wieder nur die Männer die entsprechenden Positionen übernehmen. Kein Wort zu irgendeinem Programm! Deshalb war die Rede dürftig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Im Übrigen gibt es Arbeitssklavinnen auch hier in Deutschland und in Europa. Sie gab es sogar in Botschaften in Berlin. Es gibt auch hier in Deutschland -Genitalverstümmelung. Kein Wort von Ihnen dazu! Deshalb war das nicht die Rede, die die Frauen dieses Landes erwartet und verdient haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist der 101. Frauentag – es ist das Jahr 2012, wir sind im 21. Jahrhundert –, und wir reden immer noch -darüber, dass Frauen, die erwerbstätig sein wollen und müssen, keine Kindergartenplätze finden. Wir reden -immer noch über die Frage, wie Frauen in Führungsetagen kommen; denn das ist unser gutes Recht. Wir reden immer noch darüber, dass Frauen für gleiche Arbeit -weniger Gehalt bekommen. Wenn wir in diesem Land unterwegs sind, begegnen uns in allen Gehaltsgruppen beeindruckende Frauen, die trotz schlechter Infrastruktur ihre Frau stehen und ihren Alltag meistern. Denen können und müssen wir heute angesichts der Lage in Deutschland unseren Respekt aussprechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Auch in der Wissenschaft arbeiten viele Frauen. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Juniorprofessorinnen bekommen teilweise nur befristete Verträge, sie werden schlecht bezahlt, und es gibt kein ausreichendes Betreuungsangebot für ihre Kinder, obwohl sie sich in einer Lebensphase befinden, in der sie Kinder haben, die betreut werden müssen. Auch bei alleinerziehenden Lehrerinnen mit einer halben Stelle reicht das Gehalt nicht. Hinzu kommt, dass das Angebot der Kindergärten sehr schlecht ist. Sie haben große Schwierigkeiten, ihren Alltag zeitlich zu organisieren, und müssen durch die -Gegend hetzen. Es gibt Friseurinnen, die sagen: Ich würde den Job ja gerne machen, aber von 5 Euro die Stunde kann ich nicht leben. Selbst Frauen in Spitzenpositionen in der Wirtschaft müssen sich in unserem Land, wenn sie sich für einen Aufstieg bewerben, immer wieder die Frage anhören: Können Sie das überhaupt? – Im Jahr 2012 ist das ein unhaltbarer Zustand in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Deshalb freue ich mich, dass Frauen auch aus diesem Haus parteiübergreifend die Berliner Erklärung formuliert haben. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Frauen und auch Männer diese Erklärung unterschreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe mich, ehrlich gesagt, sogar mehr gefreut, als ich erfahren habe, dass es die Aktion „Pro Quote“ gibt, die von jungen Journalistinnen und Journalisten ins -Leben gerufen wurde. Wir wissen doch: In den Zeitungen wird zwar über die Situation der Frauen berichtet, aber in den Chefetagen der Verlage sitzen trotzdem immer noch nur Männer. Auch in diesem Bereich könnte sich etwas ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Als Aktivität in den nächsten 365 Tagen wünsche ich mir, dass wir uns endlich der Umsetzung der Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widmen und den in Deutschland herrschenden Lohnunterschied beseitigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU] und Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]) Die OECD hat festgestellt: In keinem europäischen Land ist der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern so groß wie in Deutschland, er beträgt nämlich 21,6 Prozent. Das ist beschämend. Was sagt Frau von der Leyen dazu? Sie gibt zwar viele Interviews, aber dazu habe ich von ihr nichts gehört. Von der FDP wage ich gar nicht erst zu sprechen. Dabei war sie früher eine Zeit lang Bürgerrechtspartei; sie hätte sich also für gleiche Löhne einsetzen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir bringen einen Antrag zur Entgeltgleichheit ein. Das ist der Anfang. Wir müssen uns auch bewusst -machen, wie viel Lohn in den sogenannten Frauenberufen gezahlt wird. Erzieherinnen, Hebammen, Pflegerinnen und Verkäuferinnen leisten zentrale Beiträge für -unsere Gesellschaft. Bei Schlecker stehen derzeit über 10 000 Frauen vor der Kündigung. Wo ist denn da Frau von der Leyen? Viele Frauen arbeiten in schlecht bezahlten, prekären Verhältnissen. Frau von der Leyen, wo ist eigentlich die Qualifizierungsgesellschaft, die Sie diesen Frauen anbieten? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Mein letzter Punkt: die Quote. Sie hat uns alle lange Zeit beschäftigt, und sie wird uns auch noch eine Zeit lang beschäftigen. Ich finde es ernüchternd, dass es an dieser Stelle nicht weitergeht, aber wir bleiben dran. Ich habe alle Vorstände der DAX-30-Unternehmen angeschrieben. Von einem der vier großen Energieversorger bekam ich einen Brief, der einen Satz enthielt, den ich einmal vorlesen möchte: Das Schlimmste, was den Frauen passieren kann, ist, dass Damen in Positionen -gesetzt werden, die sie möglicherweise nicht ausfüllen können. (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) In großer Übereinstimmung mit wahrscheinlich allen Frauen aus den Fraktionen sage ich: Die Frauen unseres Landes sind bereit. Gerade nach der Bankenkrise 2008, nach der Euro-Krise und allen Krisen danach sind wir bereit, die Debatte aufzunehmen, ob wir die Aufgaben ausfüllen können oder nicht. Wir sind bereit, uns einem Wettbewerb mit den Männern zu stellen; denn schlechter kann es gar nicht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Mein letzter Gedanke, Herr Präsident. – Dieses Parlament hat einen Auftrag. Es kann nicht sein, dass es in unserem Land so viele Frauen mit exzellenten Schulabschlüssen, Berufsabschlüssen und Hochschulabschlüssen gibt, und am Ende trotzdem immer die Männer eingestellt werden. Ich schlage vor: Widmen wir uns einmal den Themen Quote und Personalfindung; denn wenn Frauen in den Schulen und in der Ausbildung besser sind, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns endlich um die Bestenauslese kümmern. Es kann nicht sein, dass die Auslese darin besteht, einfach immer nur Männer einzustellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Wir tragen in diesem Haus eine Verantwortung. Dieses Haus hat 620 Abgeordnete. Im Jahr 2012 haben die Frauen dieses Landes eine Erwartung. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie erwarten, dass dieses Haus den Mut hat, notfalls fraktionsübergreifend eine Initiative zu ergreifen – ich verweise in diesem Zusammenhang auf frühere Initiativen: Organspende, Stammzellforschung, Patientenverfügung und Abtreibung, also § 218 StGB –, die den Frauen zu mehr Rechten verhilft, und zwar noch in diesem Jahr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ingrid Fischbach erhält jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nicht umhin, kurz auf meine Vorrednerinnen einzugehen. Frau Ziegler, Sie haben viele positive Beispiele aus dem Bereich der Gleichstellungspolitik und der Frauenpolitik genannt. Sie haben erwähnt, was vom Parlament umgesetzt wurde. Sie -haben nur vergessen, zu sagen, dass wir daran immer -beteiligt waren. (Dagmar Ziegler [SPD]: Ja!) Wir haben immer mitgemacht. Alles, was umgesetzt wurde, ist mithilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion umgesetzt worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Nein, nicht mit allen! Mit einigen aus Ihrer Fraktion!) – Die großen Maßnahmen sind mit uns umgesetzt worden. – Das zeigt, und das ist wichtig: Wir können unsere Vorhaben nur gemeinsam umsetzen. Über einige der Kritikpunkte, die Sie in Ihrer Rede genannt haben, kann man reden. Frau Ziegler, man muss aber auch feststellen, dass der Erste Gleichstellungs-bericht nicht unter Rot-Grün erstellt worden ist. Da -haben Sie etwas verpasst. Er liegt heute auf dem Tisch. Diesen Bericht hat die Familien- und Frauenministerin auf den Weg gebracht. Das muss man der Fairness halber sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Daran war auch die SPD beteiligt!) – Frau Humme, Sie sind immer beteiligt; das weiß ich ja. Aber Sie dürfen manchmal auch Vorreiter sein. In der Opposition sind Sie immer sehr schnell mit dem Wort. Aber wenn Sie in Regierungsverantwortung standen, -haben Sie sich immer schnell von starken Worten des Kanzlers – Stichwort „Gedöns“ – zurückhalten lassen. Da waren Sie dann nicht so durchschlagskräftig, wie Sie es eigentlich sein sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Seien wir doch ehrlich: Wir haben verschiedene Pro-bleme zu lösen. Sie hatten diese Probleme, und wir haben diese Probleme. Wir müssen sehen und erkennen – da-rauf möchte ich zu Beginn meiner Rede hinweisen –, dass wir es nur gemeinsam schaffen können. An dieser Stelle muss ich feststellen, dass Sie, meine Kolleginnen von der Linken, ein ganz falsches Beispiel gesetzt haben. Gleichstellungspolitik ist keine Frauenpolitik, und sie ist ohne Männer überhaupt nicht zu machen. Sie haben heute ein vollkommen falsches Signal gesetzt. Das geht überhaupt nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Künast, ich habe gemerkt, dass Sie die Sache mit dem Archiv von Alice Schwarzer in NRW getroffen hat. Sonst hätten Sie keinen Satz darüber verloren. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir über das Problem des Wiedereinstiegs von Frauen in den Beruf reden, wenn wir über Entgeltungleichheit reden – ich richte mich damit an die Grünen und die SPD –, dann müssen wir auch über die damit verbundenen Probleme sprechen. Ein solches Problem ist die mangelhafte Kinderbetreuung. Sie mahnen zu Recht an, dass der Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige nicht schnell genug vorangeht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel haben Sie jetzt alle Möglichkeiten der Welt, die Sache voranzubringen. Ich bitte Sie im Sinne eines gemeinsamen Handelns: Tun Sie das! Sehen Sie zu, dass die Zahlen besser werden! Das wäre ein großes Ding für die Frauen. So können Sie die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit wirklich vo-ranbringen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es nicht hinnehmbar, dass Frauen in Deutschland – das ist wirklich ein großes Manko – heute im Durchschnitt immer noch weit über 20 Prozent weniger verdienen als Männer. (Elke Ferner [SPD]: Wo bleibt Ihr Gesetz?) Auch diesbezüglich brauchen wir CDU/CSU-Frauen uns nicht zu verstecken, Frau Ferner. Wenn ich darüber nachdenke, welche Initiativen auf den Weg gebracht wurden, fällt mir auf, dass dies in der Zeit der Großen Koalition und in dieser Legislaturperiode der Fall war. Wir wollen Transparenz in der Lohngestaltung. (Elke Ferner [SPD]: Auf freiwilliger Basis! Da können Sie auch mit Gänsen über Weihnachten diskutieren!) – Das können Sie ja machen. Aber das machen wir nicht. Wir bieten Logib-D und den eg-check. Wir wollen, dass transparent ist, was Unternehmen den beschäftigten Frauen und Männern zahlen. Es gibt entsprechende rechtliche Vorgaben. (Elke Ferner [SPD]: Also alles in Ordnung!) Es dürfte also gar nicht passieren, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Es passiert aber trotz der rechtlichen Vorgaben. Das heißt, wir müssen die Schlupflöcher ausfindig machen, sie klar benennen und schließen. Wenn es sein muss, wenn es gar nicht anders geht, müssen wir auch mit einer gesetzlichen Initiative dagegen vorgehen; das ist überhaupt keine Frage. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen dafür sorgen, dass die Gründe, die zu diesen Entgeltungleichheiten führen, beseitigt werden. Ich habe gerade schon gesagt, dass ein Grund die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit von Frauen ist. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir mit den Erwerbsunterbrechungen umgehen, und dafür sorgen, dass sie kürzer werden und dass Frauen schneller und ohne Einkommensverlust in den Beruf zurückkehren können. Das wird unser Ziel sein. Das heißt, wir müssen die Frauen beim Wiedereinstieg stärker unterstützen. Auch da brauchen wir uns überhaupt nicht zu verstecken. Die „Perspektive Wiedereinstieg“ ist unter der Familienministerin auf den Weg gebracht worden. Wir sagen: Es ist wichtig, dass Frauen Unterstützung erhalten. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang – darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen – sind die haushaltsnahen Dienstleistungen. Diese müssen wir stärker ausbauen, damit Frauen und Männer, die zurück in den Beruf wollen, sie in Anspruch nehmen können. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass diejenigen, die diese Dienstleistungen ausüben, einen vernünftigen und fairen Lohn erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich komme zum letzten Punkt; meine Redezeit neigt sich dem Ende zu. Wie gehen wir mit der Bewertung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten um? Unserer Fraktion ist ganz wichtig, dass wir den Frauen, die große Erwerbsunterbrechungen hatten und in einem Alter sind, in dem sie nicht mehr viel eigene Vorsorge treffen können, das Signal geben, dass wir ihre Situation im Blick haben. Wir müssen zum Beispiel die Anerkennung der Kindererziehungszeiten in der Rente verbessern, vor allen Dingen für die Kinder, die vor 1992 geboren sind. (Christel Humme [SPD]: Alles Reparaturbetrieb, Frau Fischbach!) Wir müssen deutlich machen, dass Kindererziehung und Pflege gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, Frau Humme. Deswegen müssen wir im Bundestag darüber sprechen. Wir müssen Antworten auf diese Fragen finden und den Frauen, die diese Arbeit leisten, Anerkennung zollen. Das ist wichtig und, ich denke, unser aller Ziel. Ich habe mit der Aussage, dass Gleichstellungspolitik sowohl Männer als auch Frauen angeht, begonnen. Frauenfragen sind immer, egal wie wir es drehen, auch Männerfragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir brauchen die Männer, um die Probleme zu lösen und Mehrheiten für entsprechende Maßnahmen zu finden. Eines ist uns dabei klar: Gleichberechtigung hat immer mit Rechten, aber auch mit Pflichten zu tun; diese betreffen Männer und Frauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Christel Humme (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! 230 Seiten dick ist das Sachverständigengutachten zum Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Auf diesen 230 Seiten wird dargelegt, was in Deutschland im Bereich der Gleichstellungspolitik fehlt und was wir unbedingt tun müssen. Die Stellungnahme der Bundesregierung dazu ist sehr dünn. (Caren Marks [SPD]: Die Rede war noch dünner!) Weniger Interesse am Thema Gleichstellung kann die Bundesregierung eigentlich nicht zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie wissen doch, dass Quantität nicht gleich Qualität ist!) Frau Fischbach, ich dachte, dass Sie dieses Gutachten einmal zur Hand nehmen und einen Antrag dazu schreiben werden. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Wir haben einen Antrag geschrieben! Einen guten!) – Es ist richtig, Sie haben einen Antrag geschrieben, aber Sie haben nicht eine einzige Forderung dieses Gutachtens aufgegriffen, (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dann haben Sie unseren Antrag nicht gelesen!) obwohl Ihnen dieses Gutachten Handlungsempfehlungen auf dem Silbertablett präsentiert, die Sie einfach nur hätten übernehmen müssen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen haben uns sehr über das Gutachten gefreut; denn es bestätigt, dass unser Kurs zur Gleichstellung der richtige ist. Unser Kurs hat die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern – in diesem Punkt gebe ich Ihnen vollkommen recht – im Erwerbs- und Familienleben zum Ziel. Was ist die Kernforderung dieses Gutachtens? Es fordert von uns Politikerinnen und Politikern eine konsistente Gleichstellungspolitik, die den gesamten Lebensverlauf in den Blick nimmt. Erstens fordern die Sachverständigen eine Abkehr von starren Rollenbildern. Frauen wollen nicht mehr nur Zuverdienerinnen sein und Männer nicht immer nur die Haupternährer. Sie fordern zweitens eine Abkehr von alten Strukturen. Denn sie sind es, die die Frauen in Deutschland nach wie vor benachteiligen, und nicht, wie Sie, Frau Schröder, aber auch die Kanzlerin häufig unterstellen, die Frauen selbst, weil sie nicht mutig genug sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Last, not least fordern sie von uns, dass wir die richtigen politischen Weichen stellen, und zwar von Anfang an und ohne Zickzackkurs. Wir müssen vermeiden, dass wir heute Vorteile gewähren, die später, zum Beispiel bei der Rente, zu Nachteilen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, wie lauten Ihre Antworten darauf? In Ihrem Antrag jedenfalls finde ich dazu nichts; (Elke Ferner [SPD]: Gar nichts!) denn dann müssten Sie sich klar vom Modell der Zuverdienerin verabschieden. Aber ich glaube, dazu fehlt Ihnen der Mut. Das war in der Vergangenheit so und ist auch jetzt so. (Beifall bei der SPD – Caren Marks [SPD]: Schade eigentlich!) Im letzten Jahr fand eine Veranstaltung zu diesem Gutachten statt, an der auch die Vorsitzende der Sachverständigenkommission, Frau Professor Klammer, teilgenommen hat. Sie ist gefragt worden, welche Themen die Politikerinnen und Politiker ihrer Meinung nach zuerst angehen sollten, wenn sie den gesamten Forderungskatalog des Gutachtens abarbeiten wollten. Sie hat gesagt: Minijobs und Ehegattensplitting. – Ich denke, das ist richtig so. Denn wir wissen: Minijobs sind weiblich, verfestigen die Zuverdienerrolle und führen unausweichlich in die Armut; das haben wir heute schon mehrfach gehört. Die überwiegende Mehrheit der erwerbstätigen Frauen arbeitet in schlecht bezahlter Teilzeit oder in noch schlechter bezahlten Minijobs. Für immer mehr Frauen ist der Minijob die einzige Erwerbsquelle; das kommt fatalerweise hinzu. Dabei wollen die Frauen mehr arbeiten. Sie wollen Vollzeit arbeiten und vor allen Dingen finanziell auf eigenen Füßen stehen. Was tun Sie? Statt sich um diese Frauen und ihre Wünsche zu kümmern, wollen Sie die Minijobs sogar ausweiten. Das ist meiner Ansicht nach ein fataler Irrweg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, zu Recht erhebt die Kommission auch die Forderung, das Ehegattensplitting zu reformieren. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen das genauso. Denn zusammen mit der Steuerklasse V signalisiert das Ehegattensplitting: Frauen, bleibt doch zu Hause! Denn dann hat euer Ehemann als Alleinverdiener einen großen Steuervorteil. Selbst die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission „Forschung und Innovation“ hat das Ehegattensplitting in ihrem Bericht zum Fachkräftemangel, den sie in der letzten Woche vorgelegt hat, als schädlich bezeichnet und gegeißelt. Sie machte deutlich, dass es vornehmlich für Frauen Anreize schafft, keiner oder nur einer geringen Beschäftigung nachzugehen. Genau diese Kritikpunkte aufzugreifen, wäre der richtige Ansatz. Sie sollten darüber nachdenken und auch im Steuerrecht etwas tun. Sie sollten das Ehegattensplitting reformieren und eine Reform der Minijobs durchführen. Aber beides packen Sie nicht an. Sie lassen die Frauen mit ihrem lebenslangen Armutsrisiko allein. Mehr noch: Sie verschärfen das Problem und schütten Öl ins Feuer; denn Sie wollen gleichzeitig das Betreuungsgeld einführen. Ich denke, alles zusammen – eine Ausweitung der Minijobs, das Betreuungsgeld und keine Änderungen im Steuerrecht – wird dazu führen, dass Sie alte Rollenbilder und alte Strukturen zementieren und – das ist wichtig, festzuhalten – schon jetzt die falschen Weichen stellen. Frau Bracht-Bendt, ich bin der festen Überzeugung: An dieser Stelle betreiben Sie staatliche Bevormundung; (Beifall bei der SPD) denn Sie tun genau das Gegenteil von dem, was im Gutachten vorgeschlagen wird. Liebe Frau Ministerin, in Ihrem Buch werden wir lesen können – das haben Sie angekündigt –, dass Ihnen eine Gesellschaft vorschwebt, in der Frauen und Männer endlich frei entscheiden können, wie sie leben wollen. (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das wollen wir auch!) Wenn das Ihr politischer Kompass ist, (Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Ja! Das ist übrigens gar nicht so neu bei uns!) dann frage ich mich, warum Sie alles dafür tun, die herkömmliche Rollenverteilung von Frauen und Männern beizubehalten. Hören Sie doch auf, den Menschen Wahlfreiheit vorzugaukeln, aber eine anders ausgerichtete Politik zu machen! Ich appelliere an Sie: Lesen Sie den Gleichstellungsbericht sehr sorgfältig und aufmerksam! Nehmen Sie die beschriebenen Handlungsoptionen ernst! Wir brauchen keinen Rahmenplan – er liegt uns jetzt eigentlich vor –, sondern einen konkreten Aktionsplan für Gleichstellung, und zwar so schnell wie möglich, damit Sie in Ihrer Politik nicht schon jetzt die falschen Weichen stellen und die Risiken in den Lebensläufen der Frauen erhöhen. Weiten Sie die Minijobs nicht aus, und stoppen Sie das Betreuungsgeld! Investieren Sie in Betreuungsplätze! Schaffen Sie für die Frauen mit einer verbindlichen Quote einen Zugang zu den Chefetagen! Verabschieden Sie ein Entgeltgleichheitsgesetz, wie wir es bereits gefordert haben und wie es die Grünen heute fordern! Führen Sie einen Mindestlohn ein, der den vielen Frauen im Niedriglohnsektor hilft! Machen Sie endlich eine konsistente Gleichstellungspolitik! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält der Kollege Patrick Döring das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Der Quotenmann! Diese Quote gefällt mir, Herr Präsident!) Patrick Döring (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der und die Einzelne sind Grund und Grenze liberaler Politik. In einer offenen Gesellschaft ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Selbstverständlichkeit. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht man an der Zusammensetzung Ihrer Fraktion!) In einer offenen Demokratie müssen alle, die in der politischen Realität Verantwortung tragen, sich diesem Ziel verpflichtet fühlen. Wir tun das. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in der Frage, wie man dieses Ziel erreicht, sind wir uns aber nicht immer einig. Es ist natürlich nur konsequent, geschätzte Kollegin Humme, dass Sie ein Entgeltgleichheitsgesetz fordern. Ich rufe der Kollegin Künast zu: Ihre Rede haben Sie, was den Inhalt anbelangt, am falschen Ort gehalten. Wir müssen mit den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie mit den Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertretern sprechen, damit es nicht zu einer ungerechten Entlohnung in den Unternehmen kommt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Döring, darf Ihnen der Kollege Beck eine Zwischenfrage stellen? Patrick Döring (FDP): Unbedingt. Präsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön, Herr Beck. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sprachen davon, dass die Geschlechtergerechtigkeit und die Gleichstellung von Mann und Frau eine liberale Selbstverständlichkeit sei. Da diese Punkte für Sie so selbstverständlich sind, möchte ich Sie fragen – ich weiß es nämlich nicht –: Wie hoch ist eigentlich der Frauenanteil in Ihrer Fraktion? (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Zahlen auf den Tisch! Fakten!) Patrick Döring (FDP): Geschätzter Kollege Beck, das wissen Sie ganz genau, weil Sie es vorhin noch im Handbuch nachgeschaut haben. Ich gebe aber offen zu, dass wir noch daran arbeiten müssen, mehr Frauen in Parlamenten zu haben. (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Geschätzter Herr Kollege, 25 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind weiblich. Wir sehen aber auch in einigen Landesverbänden wie zum Beispiel in meinem Landesverband, im Landesverband Niedersachsen, dass man auch ohne Quote fast eine 50-50-Situation herstellen kann. Viele Kolleginnen und Kollegen bewerben sich um Mandate, geschätzter Kollege Beck. In einer Demokratie ist es aber nun einmal so, dass das Wahlverhalten nicht so steuerbar ist, wie das vielleicht in Ihrer Partei der Fall ist. (Beifall bei der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich persönlich glaube, dass Sie den jungen, gut ausgebildeten und engagierten Frauen in Deutschland zu wenig zutrauen. Sie trauen – bei allem Respekt – einer neuen Generation von Verantwortungsträgern in Unternehmen und Wissenschaft zu wenig zu. Ich jedenfalls nehme wahr, dass es heute in den Unternehmen – egal ob groß oder klein – eine Selbstverständlichkeit ist, nicht mehr in den antiquierten Rollenbildern zu denken, die Sie hier zum Teil vorgetragen haben. (Dagmar Ziegler [SPD]: Träume!) Junge Frauen und junge Männer wissen, dass sie gemeinsam Unternehmen gestalten können. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen verbessern, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu gehört in ganz besonderer Weise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Deshalb ist es besonders -bedauerlich, dass heute kein Vertreter der Länder anwesend ist. Ich selbst habe mich in meiner unternehmerischen Verantwortung sehr intensiv darum bemüht, Kinderbetreuungsplätze im Unternehmen zu schaffen. Für ein mittelständisches Unternehmen ist es aber schlicht unmöglich, die Standards einzuhalten, die in manchen Ländern gelten. Dies gilt zum Beispiel für abgehängte Waschbecken und abgehängte Klos, die kleine Kinder zu Hause auch nicht haben. Diese muss man aber in einem Unternehmenskindergarten vorhalten. Wir müssen weg von dieser Vorstellung, wenn wir wollen, dass Unternehmen Betreuungsplätze schaffen, die der Arbeitsrealität der Frauen entsprechen, also nicht auf einen Zeitraum von 9 bis 12 Uhr beschränkt sind. (Beifall bei der FDP) Frau Kollegin Humme, ich habe mich über Ihre Argumentation sehr gewundert. Als der Gesetzentwurf, in dem das Recht auf Teilzeit festgeschrieben wurde, in diesem Hause von Rot-Grün eingebracht und verabschiedet wurde, ist das von den Vertretern der damaligen Koalition als herausragender gleichstellungspolitischer Fortschritt verkauft worden. Ich bin der festen Überzeugung, dass flexible Arbeitszeiten – Teilzeit heißt nicht nur halbtags, sondern auch Dreiviertelstellen oder 90Prozent-Stellen – den Unternehmen und auch den Frauen in den Unternehmen guttun. Deshalb habe ich Ihre Argumentation überhaupt nicht verstanden. Übrigens nutzen auch zunehmend mehr Männer diese Möglichkeit in den Unternehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nein, gesetzliche Regelungen sind nicht alles. Deshalb ein letztes Wort: (Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!) Wir setzen auf Verantwortung, Initiative und Selbst--bestimmung. (Lachen der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Wer die Zusammensetzung der Vorstände und Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften verändern will, der sollte schon morgen von den DAX-30-Unternehmen jeweils eine einzelne Aktie erwerben und auf deren Hauptversammlungen die Reden halten, die Sie hier gehalten -haben; denn dort wird entschieden, und zwar immer besser, geschätzte Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das tun wir schon längst, Herr Döring! So peinlich! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Meinen Sie, das können wir nicht?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Cornelia Möhring (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute tatsächlich das erste Mal, dass ein Gleichstellungsbericht der Bundesregierung im Deutschen Bundestag diskutiert wird, und es ist überhaupt das erste Mal, dass es so einen Gleichstellungsbericht gibt. Nun könnte Hoffnung aufkeimen, dass es zukünftig um die Gleichstellung von Frauen und Männern besser bestellt sein wird. Aber dazu kann ich an dieser Stelle nur sagen: „Pustekuchen“, obwohl vor einem Jahr, als das Sachverständigengutachten vorgestellt wurde, auch das Lob aus der Bundesregierung groß war. Es wurde als Meilenstein gefeiert, und aus dem gesamten Ministerium war zu hören, wie wunderbar es doch sei, dass die Lebensverläufe von Frauen und Männern nun systematisch verglichen würden. Tatsächlich haben das Sachverständigengutachten und die darin enthaltenen Handlungsempfehlungen große Begeisterung hervorgerufen, nämlich bei Frauenverbänden, bei Gleichstellungsbeauftragten, bei Gewerkschaften und auch bei vielen von uns hier. Ich -betone aber: Dies bezog sich auf das Gutachten der Sachverständigenkommission und deren Handlungsempfehlungen und nicht auf das, was die Bundesregierung daraus schlussfolgert, oder die Maßnahmen, die sie eventuell angeschoben hat. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Seitdem tragen Sie die Methode, die Lebensverlaufsperspektive zu betrachten, wie eine Monstranz vor sich her. Natürlich ist es richtig, dass man, wenn man sich die Lebensverläufe von Männern und Frauen anguckt, zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommt, als wenn man nur einen bestimmten Teil ihres Lebens herausgreift. Sie handeln aber in keiner Weise nach den Erkenntnissen, sondern sogar völlig entgegengesetzt. Sie kommen aus Untersuchungen, aus Prüfungen und aus Erhebungen überhaupt nicht mehr heraus. (Beifall bei der LINKEN) Dafür will ich Ihnen auch einige Beispiele nennen. Alle Experten sind sich darüber einig, dass die Alters--armut – besonders auch die von Frauen – zunehmen wird. Welchen Impuls gibt unsere Ministerin? Es soll eine Untersuchung darüber in Auftrag gegeben werden, wie sich unterschiedliche Lebenswege auf die Alters--sicherung auswirken. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Das Geld können Sie sich sparen bzw. sollten Sie in soziale Projekte stecken. (Beifall bei der LINKEN) Das Ergebnis lautet nämlich: Wer in seinem Leben zwischen seinen Erwerbszeiten immer wieder arbeitslos ist, wer wegen der Betreuung von Kindern und Angehörigen längere Zeiten nicht erwerbstätig sein kann oder wer in Teilzeit oder zu Niedriglöhnen arbeiten muss, der wird im Alter von Armut bedroht sein. Das ist so sicher, wie zwei mal zwei vier ist, und es ist sicher, dass davon überwiegend Frauen betroffen sind. (Beifall bei der LINKEN) Ein weiteres Beispiel, das hier auch schon angeklungen ist: Alte Rollenbilder von dem, wie eine gute Frau und wie ein guter Mann sein soll, behindern die Gleichstellung. Eine gute Möglichkeit, solche alten Rollen--bilder aufzubrechen, ist – das wird auch im Gutachten empfohlen –, wenn sich junge Väter mehr um ihre Kinder und um die Sorgearbeit kümmern können. Viele Männer wollen das auch. Anstatt aber das Elterngeld auszubauen, mehr Vätermonate zu ermöglichen und neue Anreize zu schaffen, tun unsere Regierungsparteien was? Sie treiben neue Varianten der Herdprämie voran, zuletzt in Form des Betreuungsgeldes. Das verfestigt aber alte Rollenbilder und ist eher eine Reanimation der Hausfrauenrolle und alles andere als Gleichstellungs--politik oder emanzipatorisch. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine zentrale Handlungsempfehlung der Sachverständigen dreht sich um das Thema „Arbeit in Minijobs“. Jede fünfte erwerbstätige Frau und jeder zehnte erwerbstätige Mann arbeiten inzwischen ausschließlich in Minijobs. Das „Mini“ bezieht sich dabei nicht auf die eingesetzte Arbeitszeit; die ist bei Minijobberinnen manchmal nämlich sehr ausufernd. Das „Mini“ bezieht sich noch immer auf die Bezahlung und auf die Rente im Alter, die nämlich zwangsläufig auch sehr mini ausfällt. Im Gutachten – das wurde schon betont – wird darauf hingewiesen, dass dann, wenn man es mit der Reduzierung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten im Beschäftigungssystem ernst meint, die Abschaffung von Minijobs ein zentrales Element einer entsprechenden -Politik sein muss. Was tut die Bundesregierung? Sie -ignoriert diese Empfehlung und beschließt die Ausweitung der Minijobs und die Anhebung der Zuverdienstgrenze. Würde man den Gleichstellungsbericht wirklich ernst nehmen und wesentliche Schritte in der Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer wollen, dann bräuchten wir keine weiteren Untersuchungen, sondern müssten -lediglich die Handlungsempfehlungen der Sachverständigen in Gesetze umwandeln, (Beifall bei der LINKEN) zum Beispiel in ein Gesetz für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, in ein Gesetz zur Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige -Arbeit oder in ein Gesetz für eine solidarische Rentenversicherung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundes--regierung hat gleichstellungspolitisch schon lange das Handtuch geworfen. Es wird Zeit für eine andere. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Bevor die Kollegen von SPD und Grünen jetzt frohlocken: Das schaffen auch Sie nicht ohne die Linke. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Stellen Sie sich vor, eine Frau geht einkaufen, beim Bezahlen nimmt die Kassiererin die Zeitschrift und reißt erst einmal ein paar Seiten heraus. Dann behält sie eine von vier Bananen, und vom Kuchen bekommt die Frau auch nur drei Viertel. Der Mann -hinter ihr an der Kasse bekommt hingegen den ganzen Kuchen. Das hört sich absurd an; doch dieses Bild ist nicht meiner Fantasie entsprungen. Es ist aus einem kurzen Video der EU-Kommission, das auf unkonventionelle Weise darstellt, was bei uns traurige Realität ist. Denn Frauen verdienen in Deutschland noch immer weniger als Männer. Es ist also an der Zeit, dass wir gemeinsam diese Entgeltdiskriminierung beenden; denn Frauen verdienen mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Entgeltdiskriminierung funktioniert oft unmittelbar und direkt, beispielsweise wenn eine Abteilungsleiterin als Nachfolgerin eines Mannes mit gleicher Qualifizierung und derselben Berufserfahrung 300 Euro weniger verdient. Hier wird der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ missachtet. Das ist ungerecht und nicht akzeptabel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schwieriger aufzudecken ist die mittelbare Entgeltdiskriminierung, wenn es also um den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit geht. Sie verbirgt sich in Regelungen, die nicht zwischen Männern und Frauen unterscheiden und dennoch auf Männer und Frauen unterschiedlich wirken. Besonders diskriminierungsanfällig sind dabei die Kriterien, mit denen Arbeit bewertet wird. Wenn ein Mann beispielsweise auf dem Bau Steine schleppen muss, dann wird diese Kraftanstrengung selbstverständlich bezahlt, das Heben und Umbetten als körperliche Belastung bei Frauen in der Pflege hingegen nicht. Auch die emotionalen Belastungen in Frauenberufen werden häufig nicht bewertet und somit auch nicht bezahlt. Entgeltdiskriminierung ist also Realität, obwohl im Grundgesetz, im AGG und im Europarecht die Gleichstellung und das Verbot der Entgeltdiskriminierung verankert sind. Im 21. Jahrhundert muss damit endlich Schluss sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Selbstverpflichtungen und Freiwilligkeit haben zu nichts geführt. Die Entgeltlücke ist sogar noch größer geworden. Deshalb fordern wir Grünen mit unserem -Antrag ein eigenständiges Gesetz gegen Entgeltdiskriminierung. In einem ersten Schritt sollen die Tarifpartner und Betriebe verbindlich überprüfen und nachweisen, dass tarifliche und nichttarifliche Entgeltregelungen -diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Das reicht aber nicht aus. Die Betriebe und der öffentliche Dienst müssen auch die Umsetzungspraxis überprüfen. Denn die Anwendung darf vor Ort nicht wieder zu neuen Diskriminierungen führen. Bei der Überprüfung setzen wir – anders als die Bundesministerin – auf analytische Arbeitsbewertungsverfahren. Entscheidend ist, dass die Kriterien transparent und nachvollziehbar sind, die Tätigkeiten ihrem Wesen nach beurteilt werden und die Kriterien somit diskriminierungsfrei gewählt sind, also endlich für Frauen und Männer gleichermaßen gelten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei Überprüfungen allein wollen wir es aber nicht belassen: Selbstverständlich müssen entdeckte Diskriminierungen auch beseitigt werden. Deshalb soll die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine Kontrollbefugnis erhalten. Wir brauchen auch Sanktionen und insbesondere ein Verbandsklagerecht. Denn wir brauchen ein wirksames Gesetz und keinen zahnlosen Tiger. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, im Gleichstellungsbericht „Neue Wege – Gleiche Chancen“ steht die Überprüfung mit Arbeitsbewertungsverfahren im -Fazit. Wir Grüne haben mit unserem Antrag die Vorschläge konkretisiert. Wir nehmen also die Autorinnen ernst. Dies erwarten wir jetzt auch von der Bundesregierung; denn Frauen verdienen mehr. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD] und Inge Höger [DIE LINKE]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dorothee Bär (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder ein Weltfrauentag, wieder ein Jahr vorbei. Wie in jedem Jahr ziehen wir in unserem Parlament frauenpolitische -Bilanz. Der Brennpunkt unserer Gleichstellungsdebatte liegt in diesem Jahr beim Thema „Frauen in Führungspositionen“. Nach dem letzten Jahr, als wir – das wurde schon erwähnt – 100 Jahre Weltfrauentag gefeiert haben, ist hier trotz zahlreicher Beteuerungen und guter Vorsätze leider zu konstatieren, dass sich sehr wenig getan hat. So ist der Anteil von Frauen in Toppositionen lediglich um 2 Prozentpunkte gestiegen. Das Thema ist sehr frustrierend. Die Strukturen sind stark verkrustet, und der Widerstand in der Wirtschaft ist noch immer sehr heftig. So ist es ein bemerkenswert negatives Signal, dass im Januar auf der Siemens-Hauptversammlung eine 30-Prozent-Frauenquote mit 93 Prozent der Stimmen -abgeschmettert wurde. 93 Prozent der Stimmen, so viel Einigkeit würde ich mir bei manch anderen Themen wünschen. Wir stellen jedes Jahr erneut fest, dass Frauen die besseren Abschlüsse machen und mittlerweile die sogenannten richtigen Fächer studieren. Zudem hatten die Unternehmen seit der Vereinbarung von 2001 elf Jahre Zeit – also länger als die von uns geforderten zehn Jahre –, weibliche Nachwuchskräfte zu fördern und einen entsprechenden Pool aufzubauen. Vor diesem Hintergrund freue ich mich – wenn auch noch viel Wasser den Main hinunterfließen wird, wie es bei uns heißt – auf Unterstützung aus Brüssel. Frau Reding sagt, sie möge zwar die Quote nicht, brauche sie aber für Ergebnisse. Ich denke, ganz genau darauf kommt es an. Enttäuscht bin ich daher über die Aussage, die Diskussion müsse vertagt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, wir haben die Diskussion schon zu lange vertagt. Früher wurde in Deutschland – das ist an die SPD-Fraktion gerichtet – Basta-Politik betrieben. Diese haben wir mittlerweile überwunden. Wir müssen uns daher mit den Themen gut auseinandersetzen. Es ist wichtig, den Druck aufrechtzuerhalten und gemeinsam für eine gleichberechtigte Teilhabe zu kämpfen. Selbstverständlich arbeiten wir auch an anderen Themen der Gleichstellungspolitik. Ich bin über den Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung sehr froh; den hat die Union in Auftrag gegeben, und auf den -bezieht sich unser heutiger Antrag. Dieser Bericht ist ein Meilenstein der Frauenpolitik. (Elke Ferner [SPD]: Die Bundesregierung hat den in Auftrag gegeben!) – Aber Sie müssen zugeben, dass die CDU/CSU zum Großteil die Bundesregierung stellt. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man leider nicht leugnen!) Wenn Sie sich unseren Antrag genau durchlesen – hören Sie zu; das ist wichtig; ich bin sicher, dass darüber Konsens im ganzen Haus besteht –, dann stellen Sie fest, dass wir unter anderem fordern, den Gleichstellungs--bericht zu institutionalisieren. Ich denke, dieser Forderung kann sich jeder anschließen. Der Gleichstellungsbericht zeigt, dass es in allen Etappen des Lebensverlaufs noch viel zu tun gibt. Frauen unterbrechen ihr Berufsleben noch immer – auch im Jahr 2012 – häufiger und länger als Männer, um sich um die gemeinsamen Kinder oder um pflegebedürftige Angehörige zu kümmern, und zwar nicht immer nur um die eigenen Eltern, sondern oft auch – wie es für Frauen typisch ist – um die Schwiegereltern. Frauen ermöglichen Männern oftmals gerade durch dieses Engagement den beruflichen Aufstieg und nehmen dabei Einkommenseinbußen für sich selbst in Kauf. Die Kollegin Fischbach hat es bereits angesprochen: Ein besonderes Problem stellt daher die Alterssicherung dar. Wir müssen aber auch über Minijobs reden. Frauen haben häufig Minijobs und – das ist ein menschliches Phänomen – berücksichtigen oft nur die aktuelle Situation. Sie sagen sich: Wenn ich beispielsweise im März, April oder Mai 2012 einen Minijob habe, dann habe ich erst einmal keine Abzüge. Das scheint wunderbar zu sein. Aber das ist wenig vorausschauend. Denn was passiert im Alter? Ein Minijob ist oft nur eine vorübergehende Lösung. Die aus dem Moment heraus betrachteten Vorteile sind nämlich langfristig mit großen Nachteilen verbunden. Deswegen ist es jetzt an uns – das tun unsere beiden Fraktionen auch –, uns zu überlegen, wie wir die Forderungen aus dem Gleichstellungsbericht gezielt umsetzen. (Christel Humme [SPD]: 450 Euro für Minijobs in Zukunft, ist das die Lösung? – Weiterer Zuruf von der SPD: Wovon träumen Sie denn nachts?) – Wir werden es tun. Wir werden uns mit diesem Gleichstellungsbericht auseinandersetzen. Natürlich dürfen wir im Rahmen einer ehrlichen Bestandsaufnahme – Sie haben ja gemerkt, dass ich auch mit Kritik nicht spare – nicht übersehen, dass wir in anderen Bereichen schon sehr viel erreicht haben. Der Ausbau der Kinderbetreuung läuft auf Hochtouren. Da ist mein eigenes Bundesland, Bayern, federführend mit dabei. (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD] und Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man bei null startet, hat man enorme Zuwachsraten! Das stimmt!) Es gibt das Elterngeld, das nach wie vor ein ganz großes Erfolgsmodell ist und auf das wir wahnsinnig stolz sind, und wir machen Programme für den Wiedereinstieg. Bevor Herr Trittin noch einmal so genussvoll lacht: Schauen Sie sich einmal die rot-grüne Regierung in NRW an. Dort läuft es nämlich mit Abstand am schlechtesten in ganz Deutschland, was den Ausbau der Kinderbetreuung betrifft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie müssen Ihren zuständigen Damen, die dort an der Regierung sind, vielleicht noch einmal ein bisschen Anschub geben; denn es kann nicht sein, dass NRW das Geld, das wir als Bund zur Verfügung stellen, überhaupt nicht abruft, sodass die Kinder in Nordrhein-Westfalen, die es in vielen Bereichen nötig haben, nicht die Chance haben, eine adäquate, gute und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung zu bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zurück zu dem, was wir schon erreicht haben: Wir haben gute Programme zum Wiedereinstieg, dazu, wirklich wieder gut in den Beruf hineinzukommen; auch das ist ein Topthema. Ich würde mir auch wünschen, dass die Unternehmen noch wesentlich mehr beispielsweise auf neue Medien setzten, um eine Abkoppelung, die gerade in der Schwangerschaft bzw. im Mutterschutz entstehen kann, gar nicht erst zuzulassen. Diese Möglichkeiten werden noch zu wenig genutzt. Mit unserem Hilfetelefon, das wir für Frauen in Notsituationen eingerichtet haben, haben wir ebenfalls wirklich Gutes auf den Weg gebracht. Sie sehen also, wir haben an einigen Stellen schon sehr viel getan. Selbstverständlich gibt es noch sehr viel mehr zu tun. Ich bin mir aber sicher, dass keine junge Frau und selbstverständlich auch kein junger Mann noch Lust hat, sich im Zusammenhang mit der Gleichstellung noch einmal um 10 oder 20 Jahre vertrösten zu lassen. Von meiner Seite aus kann ich Ihnen nur sagen: Wir wollen das anpacken. Ich möchte diese Rede 2013 nicht mehr halten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Karin Roth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Karin Roth (Esslingen) (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, dass wir in diesem Parlament dazu in der Lage sind, am heutigen Internationalen Frauentag mit dem Blick nach außen eine gemeinsame Strategie und gemeinsame Forderungen festzulegen. Ich danke deshalb meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen sehr dafür, dass sie gemeinsam mit dem Bündnis 90/Die Grünen und der SPD heute einen Antrag zur Gleichberechtigung der Frauen in den Entwicklungsländern vorlegen. In diesem Antrag wird zu Recht darauf hingewiesen, dass 70 Prozent der Armut in den Entwicklungsländern weiblich ist. Das heißt, dass das, was wir heute auch für unser Land konstatieren – wir beklagen immer noch, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ nicht gilt und dass der Zugang von Frauen zu höheren Positionen in unserem Land nicht möglich ist –, in verschärftem Maße natürlich gerade auch für Frauen in Entwicklungsländern und insbesondere für Frauen in Schwellenländern gilt. Da reicht eine Reise nach Tunesien nicht aus, um zu sagen, dass man unter Berücksichtigung der Scharia ja ein bisschen weitergekommen ist. Ich glaube, das ist ein bisschen zu wenig für die Gleichstellungspolitik, die wir hier wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen die Gleichstellung von Frauen überall: politisch, sozial und wirtschaftlich. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir in diesem Antrag deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass der Zugang der Frauen in die Politik, in die Verwaltung und in die Justiz Vorrang haben muss und dass wir vor allem besondere Regelungen brauchen. Ich weiß, dass sich einige Männer in den Koalitionsfraktionen schwergetan haben, weil das Thema Quote natürlich ein Reizthema ist – keine liberale Selbstverständlichkeit, versteht sich. Daher haben wir uns darauf geeinigt, das so zu formulieren. Ich bin dankbar dafür, dass man anerkennt, dass es ohne eine Frauenquote nicht geht; das gilt sowohl für die Wirtschaft wie für die Politik. Für uns, die Sozialdemokraten, steht natürlich fest, dass die Frauenquote notwendig ist, um die gläserne Decke zu durchbrechen. Anders geht es nicht, meine Damen und Herren, vor allen Dingen liebe Kolleginnen und Kollegen; das wissen wir. Es geht um Macht, es geht um Einfluss. Jawohl, wir Frauen wollen Einfluss, wir Frauen wollen Macht, auch in diesem Parlament. Ich freue mich, dass wir uns auch darüber verständigt haben, Gewalt gegen Frauen in den Entwicklungsländern nicht nur nicht zu akzeptieren, sondern sie auch anzuprangern und durch Programme zu bekämpfen. Wenn man sich unseren Antrag anschaut, sieht man, was wir wollen: zum Beispiel vonseiten des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen Gender-Aktionsplan, der mit der Europäischen Union abgestimmt ist, damit wir die Frauen in den Entwicklungsländern in allen Bereichen, in der Wirtschaft, in der Politik, gemeinsam voranbringen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Offensichtlich hat dieses Thema, Gender, eine besonders aggressiv machende Wirkung, insbesondere bei Männern der Koalition. Herr Brüderle, dass Sie sich überhaupt hierherwagen, ist eine unglaubliche Geschichte. (Rainer Brüderle [FDP]: Steinmeier ist ja auch da!) Ich habe mir sagen lassen, dass Herr Kauder und Sie nicht bereit waren, eine Gender-Strategie mitzutragen, weil Gender etwas ist, was man eigentlich nicht versteht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Roth, wenn es so wäre, würde das aber sein Recht des Zutritts zum Plenarsaal nicht aushebeln. (Heiterkeit) Karin Roth (Esslingen) (SPD): Herr Präsident, ich schlage vor: Denken Sie über ein solches Verbot nach. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Frau Bär, Sie haben gesagt, Sie wollten in 2013 nicht noch einmal eine Rede halten müssen, in der Sie Gleiches beklagen müssten. Ich gebe Ihnen recht. Ich bin sicher, dass die Kolleginnen in den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP in den nächsten zwölf Monaten noch viel Überzeugungsarbeit leisten werden, um die Herren ihrer Fraktionen und ihrer Parteien davon zu überzeugen, dass Gender bedeutet, dass Frauen überall den gleichen Zugang zu allen Positionen, zu allen Möglichkeiten in Schule, Beruf und Ausbildung usw. haben. Wenn sie das nicht wollen, dann kann man ihnen nicht helfen. Aber dann müssen sie wirklich darüber nachdenken, ob sie eigentlich noch auf der Höhe der Zeit sind. Ich würde sagen: Das sind sie nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt zum guten Schluss. Wir haben im Bereich der Entwicklungspolitik gemeinsam sehr viel vor. Ich muss sagen: Eines hat mich ein bisschen gestört, nachdem ich den Antrag 17/8903 heute Morgen auf meinen Schreibtisch bekommen hatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, ich danke Frau Pfeiffer und Frau Wöhrl und ich danke Frau Dr. Christiane Ratjen-Damerau dafür, dass sie diesen Antrag unterschrieben haben. Normalerweise müssten Sie, Herr Brüderle, Herr Kauder und Frau Hasselfeldt es sein, die einen solchen Antrag unterschreiben; aber sie haben es nicht getan. Das ist schade; das ist zu bedauern. Wir lassen uns aber nicht auseinanderdividieren. Dieser Antrag ist so gut, dass er umgesetzt werden muss. Ich gehe davon aus, dass uns dieses Parlament in dieser Frage unterstützt, damit wir in der Entwicklungspolitik einen Schritt weiterkommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält die Kollegin Ratjen-Damerau für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Roth, ich greife nur kurz auf, was Sie gesagt haben, und möchte mich bei Herrn Brüderle bedanken, dass er heute gekommen ist und sich meine Rede zu dem von mir unterzeichneten Antrag anhört. Herzlichen Dank, Herr Brüderle! (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Beifall bei der FDP) Die Bundesministerin hat es schon erwähnt: Ich war gestern mit einigen Kollegen in Tunesien. (Rainer Brüderle [FDP]: Steinmeier geht!) – Herr Brüderle, jetzt wollen wir uns auf diesen Antrag konzentrieren. (Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Das geht alles zulasten meiner Redezeit, Herr Brüderle. (Caren Marks [SPD]: Die Frage ist, ob er das auch versteht!) Kollegen und ich waren gestern mit der Bundesministerin in Tunesien. Wir sprachen dort mit Frauen, ohne die die Revolution in Tunesien nicht möglich gewesen wäre. Diese Frauen haben mutig und stark in das revolutionäre Geschehen eingegriffen. Sie sind bei Diskussionen vertreten und schreiben Manifeste. Sie haben auch jetzt noch eine starke Stimme und setzen sich für die Rechte der Menschen, insbesondere für die Chancengleichheit der Frauen, ein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD]) Ich muss sagen: Ich war sehr beeindruckt von den jungen Frauen, die gut ausgebildet und mutig sind und über das Internet ihre Meinungen und ihre Freiheitsgedanken verbreiten. Faire Chancen für Frauen sind die Voraussetzung für Frieden, Sicherheit und Wohlstand in einer Gesellschaft und in der gesamten Welt. Frauen sind der Schlüssel der Entwicklung von Gesellschaften. Dort, wo Frauen weitgehend gleichberechtigt leben können, entwickeln sich Gesellschaften schneller. Das Wirtschaftswachstum nimmt zu, und die Armut wird verringert. Die Weltbank hat nachgewiesen, dass Länder, in denen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Erziehung, Beschäftigung und Eigentumsrechten gering sind, weniger Probleme mit Unterernährung und Kindersterblichkeit haben. Die Wirtschaft dieser Entwicklungsländer wächst schneller, und sie werden verantwortungsvoller regiert. Verbesserte Bildungs- und Lebenschancen für Frauen tragen außerdem zu einer bewussten Familienplanung und zu einer Verminderung des Bevölkerungswachstums bei. Außerdem ist bewiesen, dass von Frauen erarbeitetes Geld zu einem größeren Teil der Familie zugutekommt als das von den Männern erarbeitete Geld. Doch Frauenrechte sind nicht nur ein volkswirtschaftlicher Faktor oder eine Frage des Wirtschaftswachstums. Die Forderungen und Ansprüche der Frauen sind ein unverzichtbares und völkerrechtlich verankertes Menschenrecht. Es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen in Entwicklungsländern dieselben Rechte – im Familienrecht, im Landrecht, im Scheidungsrecht oder im Erbrecht – besitzen. Es müsste selbstverständlich sein, dass ihre körperliche Gesundheit und Unversehrtheit genauso wertvoll sind wie die der Männer. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD]) Und es müsste selbstverständlich sein, dass Frauen die gleichen Möglichkeiten und Chancen haben wie Männer. Doch 70 Prozent der extrem armen Menschen sind Frauen, und zwei Drittel dieser Personen sind Analphabeten. Die Gesundheit und die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen in vielen Teilen der Welt werden wenig geachtet. Jede Minute stirbt eine Frau an den Folgen einer zum Teil ungewollten Schwangerschaft oder Geburt. Frauen besitzen in den Entwicklungsländern nur 2 Prozent der Landfläche, und sie besetzen weltweit nur 17 Prozent der Parlamentssitze. Diese Beispiele zeigen, dass wir zwar einen weltweiten Konsens über die Bedeutung der Frauen haben, dieser aber noch nicht zu einem umfassenden Wandel bei den Rechten und Möglichkeiten geführt hat. Daher fordern wir, die Entwicklungspolitikerinnen der FDP, der CDU/CSU, der SPD und der Grünen, in unserem interfraktionellen Antrag, dass die Bundesregierung die Weltgemeinschaft noch stärker als bisher bei der Umsetzung der Ziele auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Mann und Frau unterstützt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und dass sie bei der Auswahl ihrer Instrumente in der Entwicklungspolitik darauf achtet, dass diese auf Gleichberechtigung hinwirken und die Belange der Frauen und Mädchen eine angemessene Berücksichtigung finden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD]) Wir fordern außerdem unsere Partnerländer auf, dass sie Verantwortung übernehmen, ihrer Verantwortung gerecht werden und insbesondere den weiblichen Teil ihrer Bevölkerung vor Gewalt und Ungerechtigkeit schützen. Uns allen ist gerade am Weltfrauentag schmerzlich bewusst, dass viele Frauen und Mädchen noch immer an Unterdrückung und Diskriminierung leiden. Für mich ist es daher besonders wichtig, dass wir diesen Antrag nicht als Regierungskoalition, sondern als Entwicklungspolitikerinnen über die Fraktionsgrenzen hinaus stellen, dass wir uns mit den Frauen in den Entwicklungsländern solidarisch zeigen und dass wir zusammenarbeiten, wenn es darum geht, uns für alle Mädchen und Frauen in der Welt einzusetzen. An dieser Stelle danke ich ganz besonders meinen Kolleginnen Sabine Weiss, Ute Koczy und Frau Roth für die tolle, sehr kollegiale und nette Zusammenarbeit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Nadine Schön das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bild der tunesischen Revolution ist das Bild einer jungen Frau auf den Schultern eines jungen Mannes inmitten der protestierenden Menschenmenge, in ihren Händen ein Transparent. Das Bild der tunesischen Revolution ist weiblich. Das haben uns gestern die Aktivistinnen in Tunis deutlich gemacht. Der Stolz und die Überzeugung der tunesischen Frauen, für die richtige Sache gekämpft zu haben, waren bei unseren Gesprächen gestern deutlich zu spüren. Was aber auch zu spüren und wirklich mit Händen zu greifen war, war Angst: Angst vor der Gefahr des Rückschritts, gerade jetzt in der Phase der Transformation in Tunesien, Angst davor, dass im neuen tunesischen Rechts- und Verfassungssystem die Scharia gelten könnte und Frauenrechte hintangestellt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr bewusst wurde mir bei diesen Gesprächen am Vortag des Weltfrauentags: In keinem Land der Welt ist Gleichberechtigung -erreicht. Auch im Jahr 2012 kämpfen überall auf der Welt Frauen um Gleichberechtigung und Partizipation. Nirgends ist das Erreichte sicher. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb finde ich es gut, dass wir heute neben der -nationalen Perspektive auch einen Antrag mit der globalen Perspektive beraten. Liebe Kollegen, auch wenn Sie sich eben darüber lustig gemacht und das bagatellisiert haben: Uns ist es nicht egal, wie es den Frauen in der Welt ergeht, und deshalb reden wir heute sowohl über das Nationale als auch über das Globale. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Da haben wir von Ihnen den wenigsten Nachholbedarf, Frau Schön!) Deutschland spielt eine wichtige Rolle in der globalen Gleichstellungspolitik. Wir sind ein anerkannter und re-spektierter Partner für viele Länder bei Projekten, zum Beispiel auch bei der neuen Organisation UN Women. Deshalb bekennen wir uns mit diesem Antrag gerade auch zu unserer Verpflichtung gegenüber dieser Organisation, sowohl finanziell als auch organisatorisch. Das ist am heutigen Tag ein starkes Zeichen. Wir sind international auch Vorbild: Vorbild mit unserer modernen Methode, mit unserem modernen Ansatz in der Gleichstellungspolitik, nämlich der Gleichstellungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive. (Elke Ferner [SPD]: Welche Gleichstellungspolitik denn?) Lebensverlaufsperspektive heißt: Wir richten unsere Gleichstellungspolitik nicht an Momentaufnahmen aus und schon gar nicht nach einem einzigen Praktikumstag in einem Frauenberuf. Wir betrachten die langfristigen Folgen von Lebensentscheidungen von Frauen und Männern. Allzu oft – das zeigt auch der Gleichstellungsbericht – haben von Frauen und Männern gemeinsam -getroffene Entscheidungen im Lebensverlauf einseitig negative Auswirkungen auf Frauen, so etwa beim Thema Entgeltungleichheit oder auch bei der Rente. Deshalb ist das gezielte Betrachten der konkreten -Lebensverlaufsperspektive wichtig, wenn es darum geht, die richtigen Maßnahmen zu treffen. (Elke Ferner [SPD]: Welche denn?) Bisher können wir bei den Themen Entgeltgleichheit und Rentensituation nicht zufrieden sein. (Caren Marks [SPD]: Vom Beschreiben ändert sich nichts!) Wir können auch mit der politischen Partizipation auf -allen Ebenen nicht zufrieden sein. „Wer nervt mehr als Claudia?“ ist eine wirklich gute Aktion der Grünen. Wir können auch mit dem Anteil von Frauen in Führungsetagen der Wirtschaft nicht zufrieden sein – ein Thema, das gerade in den letzten Tagen wieder intensiv diskutiert wird. Wir müssen uns zusammen mit der Wirtschaft doch ehrlich fragen, ob wir wirklich die Europäische Union brauchen, um in Deutschland zu mehr Frauen in Führungspositionen zu kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen uns zusammen mit der Wirtschaft fragen, wie attraktiv wir eigentlich für ausländische weibliche Fachkräfte sind, wenn sie in den Führungsetagen der deutschen DAX-Unternehmen nur geschlossene Systeme, nahezu ohne Frauen, vorfinden. Wie attraktiv sind eigentlich technische Berufe, wenn es keine weiblichen Vorbilder gibt? Welche Signale senden wir an Frauen meiner Generation, die motiviert ins Berufsleben starten? Ich will nicht, dass meine Generation die nächste ist, die an der gläsernen Decke hängen bleibt. Ich will, dass Politik und Wirtschaft das Thema Frauen in Führungspositionen noch heute angehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles das sind Punkte, bei denen wir wirklich unzufrieden sind, was wir am heutigen Weltfrauentag auch artikulieren sollten. Was wir aber nicht machen sollten und was uns wirklich keinen Schritt weiterbringt, ist, gegenseitige Beschimpfungen, Diffamierungen und die Unterstellung auszusprechen, es würde uns nicht um die Rechte der Frauen gehen, wie wir das heute wieder in vielen Reden erlebt haben. Um den richtigen Weg in der Sache kann man streiten, aber gegenseitige Diffamierungen sind garantiert der falsche Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der zweite Fehler, den wir nicht machen sollten, ist, das Erreichte als selbstverständlich zu nehmen. Wir -haben in den vergangenen Jahren viel erreicht, etwa bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch beim Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt und – ganz -aktuell im letzten Jahr – vor Zwangsheirat. Wir haben weitere Verbesserungen erarbeitet, etwa das Chancengleichheitsgesetz, das bundesweite Hilfs-telefon – ein ganz wichtiges Thema für Frauen in Not – und auch Partizipationsmöglichkeiten in allen Bereichen geschaffen. Wir sind an vielen Punkten dran, und auch das sollte am heutigen Tag erwähnt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) An einem Tag wie dem Weltfrauentag sollten wir die Punkte nennen, bei denen wir unzufrieden sind; wir sollten aber auch die Erfolge benennen, und wir sollten die Erfolge nie für selbstverständlich halten, sei es hier in Deutschland, in Tunesien oder weltweit. Das ist mein Anliegen am heutigen Weltfrauentag. Deshalb danke ich an dieser Stelle allen, die sich beruflich, ehrenamtlich oder einfach tagtäglich im Alltag dafür einsetzen, dass es mehr Gleichberechtigung in Deutschland gibt. Herzlichen Dank an Sie alle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialdemokratie war immer auch international aufgestellt. Eines der wichtigsten Ziele der politischen Arbeit von August Bebel war, gegen Vorurteile zu kämpfen, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entgegengestanden haben. Er hatte vor 133 Jahren recht, und er hat es heute leider immer noch. Das zeigen uns die jährlichen Debatten um den Internationalen Frauentag. Von der Ministerin habe ich diesbezüglich leider wenig gehört. Ich frage mich: Wie will sie Gleichstellung -umsetzen? Welche Rezepte bietet sie an? Das hätte sie uns heute sagen müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elke Ferner [SPD]: Das weiß sie doch selber nicht!) Die Internationalen Frauentage haben regelmäßig zwei Schwerpunkte: auf der einen Seite der Kampf -gegen die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben und im gesellschaftlichen Leben und auf der anderen Seite die Situation von Frauen, die Opfer von Gewalt -geworden sind. Zum ersten Themenbereich ist schon viel gesagt worden. Ich kann meinen Vorrednerinnen, die sich gegen strukturelle Benachteiligung ausgesprochen haben, die dagegen kämpfen und sich zum Beispiel für ein generelles Gleichstellungsgebot in der Privatwirtschaft einsetzen, für ihre Aussagen, die über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen werden sollten, auch aus menschenrechtlicher Sicht nur gratulieren und sie darin bestärken. Chancengleichheit durch Bildung und der Anspruch auf gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit sind weltweit Fundamente, auf die sich das Selbstbewusstsein von Frauen gründet. Dieses Selbstbewusstsein und die Stärke brauchen Frauen auf der ganzen Welt, um -einen Platz im Leben zu finden und ihn zu verteidigen. Besonders perfide ist es, dieses Selbstbewusstsein zu brechen. Da bin ich beim Thema Gewalt gegen Frauen. Hier bin ich bei vielen anderen Bereichen, die in diesem Zusammenhang mit der schlechten Situation von Frauen angesprochen werden müssen. Eine Bemerkung zu der Reise nach Tunis: Man hätte, denke ich, wie wir es im Menschenrechtsausschuss -immer getan haben, die Gespräche vor der Revolution führen müssen und nicht erst danach. (Beifall bei der SPD – Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU]: Wären Sie mal mitgefahren!) Gewalttätiges Vergehen an Frauen ist zum Beispiel seit Urzeiten ein brutales Mittel, den Kriegsgegner zu demütigen. Diese Art der Kriegsführung gab es in den Weltkriegen – dokumentiert zum Beispiel in der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ – und auch in den Bürgerkriegen der letzten Jahrzehnte. Ich möchte die Debatte zum Anlass nehmen, auf eine Gruppe von Frauen aufmerksam zu machen, die bis heute um ihre Anerkennung und ihre Ehre kämpft, nämlich die sogenannten Trostfrauen. Sie sind heute über 80 Jahre alt. Im Zweiten Weltkrieg waren sie junge Mädchen, die jüngsten waren elf, zwölf Jahre alt. Die Japaner, Verbündete Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, -haben sie aus einer Reihe von asiatischen Ländern verschleppt. Sie mussten in Militärbordellen japanischen Soldaten dienen. Zu dem körperlichen Leid kam die Scham. Erst im Jahre 1992 haben diese Frauen es -gewagt, an die Öffentlichkeit zu treten. Seit 20 Jahren bemühen sie sich um Anerkennung, Wiedergutmachung und eine offizielle Entschuldigung. Ich denke, der Mut ist bewundernswert. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, auf die japanische Regierung einzuwirken – 67 Jahre nach dem Ende des Krieges –, allen überlebenden Frauen Entschädigungen zu zahlen und die staatlichen Archive für eine transparente, öffentliche Aufarbeitung zu öffnen. Ich bin sicher, auch die UN-Sonderberichterstatterin für sexuelle -Gewalt gegen Frauen in Konflikten wäre Ihnen, liebe Bundesregierung, für eine solche Initiative sehr dankbar. (Beifall bei der SPD) Noch eine Anmerkung an Herrn Döring – er hat uns schon verlassen, vielleicht können Sie ihm das ausrichten –: Die Frauenquote der FDP-Fraktion beträgt 24,7 Prozent – für den Fall, dass die Frage noch einmal gestellt wird und er sie nicht beantworten kann. Vielen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sabine Weiss hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Lassen Sie uns Frauen das Gemeinsame suchen“; Kollegin Ziegler, das haben Sie gegen Ende Ihres Beitrags heute gesagt. Dies geht aber nicht – das hat auch meine Vorrednerin, Frau Schön, betont – mit gegenseitigen und zum Teil unhaltbaren Vorwürfen. Wenn Sie in diesem Zusammenhang unsere Bundeskanzlerin erwähnen, möchte ich hier einmal deutlich und klar sagen: Wir können doch froh und stolz sein, dass wir mit ihr eine Frau an unserer Spitze haben, die sich für unser Land gerade gegen die Männer in dieser Welt durchsetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Sie tut aber nichts für die Frauen! – Caren Marks [SPD]: Was macht sie für die Gleichstellung? Nichts!) An die Kolleginnen der Linken auch von mir eine kleine Anmerkung: Wenn Sie heute Ihre Männer von der Debatte ausschließen oder zum Friseur schicken, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die kriegen hinterher das Protokoll! Da können Sie sicher sein!) dann hat das nichts mit Gleichstellung zu tun. Das ist nicht unser Ansatz. Das wollen wir nicht, und schon gar nicht uniformiert, ob mit lila Schal oder anderswie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heute haben wir den Internationalen Frauentag; und als Entwicklungspolitikerin möchte ich im Rahmen dieser Debatte einen Blick auf die armen Länder dieser Erde werfen. Frauen in vielen Teilen dieser Welt können von dem, was wir hier mittlerweile erreicht haben, nur träumen. Armut, Bildungs- und Chancenlosigkeit sowie Krankheit haben in vielen Teilen der Welt ein überwiegend weibliches Gesicht. Welche Chancen ein dort geborener Säugling bekommen wird, entscheidet sich viel zu häufig dadurch, welche Gene er hat: xx oder xy, also Mädchen oder Junge. Besonders dramatisch ist die Si-tuation von behinderten Frauen, denen wir deutlich mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, und ohne die Beteiligung von Frauen ist nirgendwo ein Staat zu -machen. Die Benachteiligung von Frauen wird oft ausschließlich mit Kultur und Tradition begründet. Ich möchte hier und heute auf einen Aspekt eingehen, der mir besonders am Herzen liegt – eine Menschenrechtsverletzung, die so grausam ist, dass ich nie müde werde, sie überall und immer wieder anzuprangern: die weibliche Genitalverstümmelung. 150 Millionen Frauen weltweit sind genitalverstümmelt. Unter der Entfernung der äußeren Geschlechtsorgane leiden die Frauen ein -Leben lang, körperlich und seelisch, wenn sie überhaupt überleben. Die Genitalverstümmelung ist in etlichen Entwicklungsländern nicht unter Strafe gestellt; in anderen steht sie offiziell unter Strafe, wird jedoch nicht verfolgt. Die Tradition ist alt, und nach wie vor herrscht in etlichen Ländern die Einstellung, dass nur eine beschnittene Frau eine gute Frau ist. Ich kann und will mich nicht damit abfinden, dass weiterhin 3 Millionen Mädchen pro Jahr diese Tortur erleiden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen weitere Maßnahmen gegen diese unsägliche Praxis vorantreiben. Dazu gehört es zum Beispiel auch, Beschneiderinnen dabei zu unterstützen, ein anderes Auskommen zu finden und unsere Partnerländer in der Implementierung einer Ächtung der Genitalverstümmelung zu beraten. Wir senden mit unserem Handeln in Deutschland Si-gnale an die Frauen in den Entwicklungsländern aus. Wenn man in Deutschland beispielsweise die Genitalverstümmelung mit einem eigenen Straftatbestand unter Strafe stellen würde, wäre das meines Erachtens ein wichtiges gesellschaftspolitisches Zeichen und auch ein Signal für die Entwicklungsländer, in denen Genitalverstümmelung eben nicht unter Strafe steht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich freue mich, dass wir heute am Weltfrauentag -einen überfraktionellen Antrag zum Thema „Gleich-berechtigung in Entwicklungsländern voranbringen“ präsentieren können; denn dies zeigt, wie wichtig dieses Thema für uns alle ist, und auch, wie sehr uns die Situation der Frauen und Mädchen am Herzen liegt. Gleichstellung – oder wie immer man es auch nennen mag – ist immer ein Schlüsselthema, hier bei uns und in aller Welt. Ohne Frauen gibt es keine Entwicklung, nicht hier und auch sonst nirgendwo auf dieser Welt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich kann für mich, für viele Frauen, aber auch für viele Männer sagen: Was immer auch nötig ist, um die Lebensbedingungen von Frauen in Entwicklungsländern ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken – wir sind dabei. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Erika Steinbach ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Weltfrauentag ist natürlich auch immer Anlass, auf das spezifische Leid von Frauen hinzuweisen. Frau Kollegin Graf hat vorhin zu Recht darauf hingewiesen, dass es japanische Bordelle gegeben hat, in denen 100 000 bis 200 000 Frauen zur Prostitution gezwungen worden sind. Der größte Teil der Opfer waren Koreanerinnen. Sie stammten aber auch aus anderen Ländern, aus China, Taiwan, den Philippinen, Indonesien, aber auch aus Japan selbst. Das Leid dieser Frauen ist wirklich unermesslich. Viele starben an den Folgen von Krankheit, Folter und Hunger oder durch Erschöpfung. Die Frauen, die diese Hölle der Zwangsbordelle überlebt haben, überstanden häufig das Nachfolgende nicht: Sie fühlten sich voller Scham und Schande und nahmen sich selbst das Leben. Die Angehörigen der Toten wie die Überlebenden brauchen unser Mitgefühl. Aber, Frau Kollegin Graf, eines dürfen wir nicht übersehen – wir dürfen die Augen davor nicht verschließen –: Weltweit wurde und wird leider auch heute noch das Mittel der Vergewaltigung als Kriegsmittel eingesetzt. Die sexuelle Gewalt gegen Frauen nahm in den Kriegen des 20. Jahrhunderts erschreckende Ausmaße an. Es ist nicht nötig, nach Asien zu schauen: Stalins Rote Armee (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) hat weit mehr als 2 Millionen Frauen, Mädchen und Kinder vergewaltigt, Baltinnen, Polinnen, Deutsche, Ungarinnen, Ukrainerinnen, russische Zwangsarbeiterinnen. Allein in Budapest sollen nach Einmarsch der Roten Armee Schätzungen zufolge 100 000 Frauen vergewaltigt worden sein. Man schätzt die Zahl der deutschen vergewaltigten Frauen auf etwa 1,9 Millionen. Nur sind die Zahlen gar nicht exakt zu benennen, weil sehr viele Frauen nicht darüber reden können. Es gelingt ihnen nicht, dieses Trauma abzuschütteln. In den 90er-Jahren mussten wir auf dem Balkan fassungslos beobachten, dass diese Pest der Kriegsführung immer noch vorhanden ist. Afrika ist heute ein beredtes Beispiel dafür, was sich auf diesem Felde abspielt. Die Opfer werden traumatisiert. Damit trifft man die Menschen, aber auch die Seele eines jeden Volkes. Die Menschenrechtsverletzungen an den „Trostfrauen“ – so werden die japanischen Opfer genannt – sind mit Entschädigungszahlungen alleine in keiner Weise zu heilen. Die Aufarbeitung, die in Japan inzwischen beginnt, muss innerhalb der japanischen Gesellschaft erfolgen. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ausgerechnet zum ersten Jahrestag der japanischen Erdbebenkatastrophe mit dem nachfolgenden Tsunami und 15 000 Toten bringen Sie einen Antrag ins Plenum ein, der dieses schwer geschlagene Land wegen eines Vergehens aus der Mitte des 20. Jahrhunderts an den Pranger stellt. Ich finde das absolut in-stinktlos, weil es dabei um ein generelles Thema geht; es ist kein spezifisch japanisches Thema. Suchen Sie sich einen anderen Zeitpunkt aus! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Eines müssen wir auch sehen: Die Mahnungen an Japan sind wohlfeil, solange man die Augen davor verschließt, in welchen unvorstellbaren Dimensionen auf unserem europäischen Kontinent Massenvergewaltigungen als Mittel der Politik und der Kriegsführung eingesetzt worden sind. Nichts davon ist aufgearbeitet. Meine liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, fordern Sie doch Ihren Exbundeskanzler Gerhard Schröder auf, zu seinem Lupenreinen-Demokraten-Freund Putin zu gehen und ihn zu bitten, die Gräuel der Roten Armee an Frauen, Mädchen und Kindern aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen. Dann tun Sie ein gutes Werk. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich biete Ihnen aber gerne an, dass wir unter den Fraktionen einen gemeinsamen Antrag zu dieser Gesamtthematik machen. Das alleine auf Japan zu fokussieren, finde ich zu diesem Zeitpunkt schlichtweg unanständig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8879, 17/8789, 17/8897 und 17/6240 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/8903 mit dem Titel „Gleichberechtigung in Entwicklungsländern voranbringen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Antrag ist mit breiter Mehrheit angenommen. Unter dem Tagesordnungspunkt 3 f geht es um die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Geschlechtergerechte Besetzung von Führungspositionen der Wirtschaft“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/8830, diesen Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein Jahr Fukushima – Die Energiewende muss weitergehen – Drucksache 17/8898 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Auch hier ist interfraktionell eine Debattenzeit von 90 Minuten vorgesehen. – Offenkundig gibt es darüber Einvernehmen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Sonntag jährt sich eine dreifache Katastrophe. Ein Erdbeben und ein Tsunami zerstörten weite Teile der Küste Japans. 20 000 Menschen kamen ums Leben. Mehrere Tausend Menschen sind bis heute vermisst. Unsere Gedanken sind an diesem Tag bei den Opfern und ihren Angehörigen. Das Erdbeben und der Tsunami haben nicht nur Schiffe an Land gespült, sondern auch sechs Reaktoren bei Fukushima so beschädigt, dass man sie nicht mehr unter Kontrolle bekam. In mindestens drei dieser Reaktoren kam es zur Kernschmelze. Wir haben es mit einem dreifachen Super-GAU zu tun. Das Undenkbare, das Unvorstellbare trat ein. Ein Jahr nach dieser Katastrophe leben heute noch 320 000 Menschen in Notunterkünften. Nur der allerkleinste Teil von 23 Millionen Tonnen Schutt konnte bisher geräumt werden. Viele Kommunen weigern sich, den Schutt auf ihre Deponien zu nehmen, weil sie fürchten, er sei radioaktiv verseucht. Die dreifache Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Super-GAUs brachte unendliches Elend und Leid. Sie brachte aber nicht nur Leid, sondern war auch eine ökonomische Katastrophe. Die Münchener Rück beziffert die Schäden auf 210 Milliarden Euro und spricht von der größten Naturkatastrophe überhaupt. Fukushima war auch eine ökologische Katastrophe. Das Norwegian Institute for Air Research hat errechnet, dass die in Fukushima freigesetzte Menge an Radioaktivität die größte zivile Freisetzungsmenge in der Geschichte der Menschheit war. Und was war die Reaktion? Die Betreiberfirma Tepco und die japanische Regierung reagierten so wie immer, wenn es um Atomkraft geht, und von einem solchen Verhalten in Deutschland konnten wir erst heute Morgen leider wieder bezüglich der verrosteten Atommüllfässer in Brunsbüttel lesen. Es wird verschwiegen und abgewiegelt. Die Folge in Japan war: Es wurde zu spät und viel zu zögerlich evakuiert. Bis heute sind weite Teile des Landes radioaktiv verseucht. Das gilt nicht nur für die unmittelbare Nachbarschaft, auch in der Millionenstadt Tokio haben wir Werte, die eine Belastung aufzeigen. Das Verschweigen und Beschönigen geht bis heute weiter. Menschen wird versprochen, sie könnten zurückkehren, dabei ist derzeit gerade mal ein Reaktor notdürftig mit einem Zelt abgedeckt. Nach wie vor tritt Radioaktivität aus. Die Katastrophe ist einfach nicht vorbei. Überall noch werden Lebensmittel verkauft, die selbst die nach oben manipulierten Grenzwerte überschreiten. Wann und wie mit dem Rückbau begonnen wird, ist ungewiss. Sie müssen sich klarmachen: Mit dem Rückbau des Reaktors Three Miles Island in den USA konnte erst 30 Jahre nach der Katastrophe überhaupt begonnen werden. Von einer baldigen Rückkehr der Menschen kann also leider nicht die Rede sein. Fukushima hat die Einstellung der Menschen zur Atomkraft weltweit verändert. Italien lehnte in einem Volksentscheid den Einstieg in die Atomenergie ab, in der Schweiz wurde ein Neubauverbot beschlossen, und selbst in Frankreich gibt es in Umfragen Mehrheiten gegen den Neubau von Atomkraftwerken. In Japan liefern gerade einmal zwei der 54 Atomkraftwerke Strom; der Rest wurde vom Netz genommen, weil sich niemand traut, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Die Katastrophe traf in Deutschland eine Regierung im atompolitischen Blindflug. Sie hatte gerade beschlossen, die Laufzeiten über 2040 hinaus zu verlängern. Durch Fukushima wurde die Bundesregierung von der Anti-AKW-Bewegung, von Grünen, von Sozialdemokraten und von Linken gezwungen, eine Halse in der Atomenergiepolitik hinzulegen; sie musste in voller Fahrt die Richtung wechseln. Sie haben vor knapp einem Jahr die acht ältesten Kraftwerke stillgelegt. Sie wollen bis 2022 aussteigen. Das rot-grüne Ausstiegsgesetz wurde reaktiviert. In Deutschland gibt es jetzt einen Konsens über den Ausstieg. Ich sage sehr deutlich: Das ist gut so, und wir begrüßen das. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Aber wir haben in Deutschland noch keine Energiewende; vielmehr sind wir an manchen Stellen Zeuge einer schwarz-gelben Konterrevolution gegen die Energiewende. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wer die Energiewende wirklich will, der muss für den Ausbau erneuerbarer Energien, für mehr Energieeffizienz und für Energieeinsparung sorgen. Aber was tun Sie? Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien durch Ihre EEG-Novelle abwürgen. (Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP]) Sie blockieren seit einem Jahr ein verbindliches Energieeffizienzziel der EU von 20 Prozent, obwohl Ihre eigene Kanzlerin dieses Ziel in der EU durchgesetzt hat. Sie sind dagegen, dass das, was die Bundeskanzlerin durchsetzt, in Europa verbindlich wird. Sie verweigern ein europäisches, ambitioniertes Klimaschutzziel von 30 Prozent bis 2020. Die Folge sind billige CO2-Zertifikate und ein Wiederanstieg des Ausstoßes von CO2 aus Braunkohlekraftwerken. Das nenne ich eine energiepolitische Bankrotterklärung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie zerstören Investitionssicherheit. Erst treiben Sie den Strompreis nach oben, indem Sie die Energieverschwendung in Großbetrieben durch Haushalte und kleine Handwerksbetriebe subventionieren lassen. Als Sie dann feststellen müssen, dass die Preise sehr stark gestiegen sind, behaupten Sie, dass Sie das EEG novellieren müssen. Die Wahrheit ist: Ohne diese Beschlüsse wäre die EEG-Umlage gesunken und nicht gestiegen. Der Preistreiber im Erneuerbare-Energien-Gesetz ist nicht der Bereich der erneuerbaren Energien, er heißt schlicht und ergreifend Rösler. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Lieber Kollege Kauch, Sie behaupten, es ginge Ihnen um den Preis bzw. die Kostendämpfung. Wenn das so ist, dann frage ich mich: Warum senken Sie besonders den Anteil der preiswertesten Form der Energieerzeugung durch Photovoltaik auf Freiflächen ab? Nein, es geht Ihnen nicht um den Preis. Sie wollen am Ende den Einspeisevorrang für erneuerbare Energien -abschaffen. Deswegen gibt es nicht mehr 100 Prozent Einspeisung. Sie wollen schlicht und ergreifend mehr Strom von RWE und Eon. Sie wollen mehr Strom aus Kohlekraftwerken statt mehr Strom aus Wind und Sonne im Netz haben. Das ist Ihr Plan. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Mit dem Atomausstieg hat Deutschland den richtigen Weg eingeschlagen. Die Welt schaut auf dieses Land. Wir müssen hier zeigen, dass wir in der Lage sind, die Energieerzeugung eines großen, wichtigen Industrielandes auf eine erneuerbare, effiziente und sparsame Basis zu stellen. Dafür brauchen wir mehr als den Ausstieg. Dafür brauchen wir die Energiewende. Sie gefährden diese Energiewende durch das Desinteresse des Umweltministers, durch die aktiven Bemühungen des froschfressenden Teils Ihrer Koalition. (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Schon wieder ein Joke!) Die Energiewende ist machbar: mit einem konsequenten Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien, mit Investitionen in Speicher und Netze, mit Energieein--sparung und mit verbindlichen Energieeffizienzzielen. Diese Lehre aber haben Sie aus Fukushima noch zu -ziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 11. März des letzten Jahres, 14.46 Uhr Ortszeit, gab es vor der Küste Japans, 130 Kilometer vor Sendai, ein Erdbeben mit der Stärke 9,0 auf der Richterskala. Das war eines der stärksten Erdbeben, das jemals gemessen wurde. Circa eine Stunde später traf eine Tsunamiflutwelle auf das Festland, zwischen 7 und 15 Meter hoch. Über 15 800 Menschen starben, 3200 werden noch heute vermisst. Über 6000 Menschen wurden infolge des -Erdbebens und des Tsunamis verletzt. Über 350 000 Menschen verloren ihr Heim, davon 80 000 im Umkreis des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi. Große Flächen sind immer noch kontaminiert, radioaktiv belastet. Das sind die schrecklichen Folgen des 11. März 2011 in -Japan. Im Namen meiner Fraktion spreche ich dem japanischen Volk unser tief empfundenes Mitgefühl für das erlittene, unendliche Leid aus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vor dem Hintergrund dieser Zahlen halte ich es auch heute, ein Jahr später, für unangemessen, die Ereignisse in Japan allein auf den Reaktorunfall in Fukushima und den Kernenergieausstieg hierzulande zu reduzieren. Heute, ein Jahr später, wissen wir: Im Kernkraftwerk -Fukushima lagen Meerwasserpumpen zur Kühlung der Reaktorblöcke samt elektrischem Antrieb nur 5 Meter über dem Meeresspiegel. Auch die Dieselgeneratoren für den Notstrom für alle Blöcke der Anlage Fukushima lagen im selben Raum nebeneinander, ebenfalls nur 5 Meter über der Wasserlinie. Die Türen des Reaktor--gebäudes waren nicht gegen eindringendes Wasser gesichert, sodass die Pumpen und Generatoren ausfielen, als sie überflutet wurden, was letztlich dazu führte, dass es zur Kernschmelze in drei Blöcken des Kraftwerkes kam. Heute wissen wir: Es gab in den letzten 510 Jahren allein 16 Tsunamis mit über 10 Meter Wellenhöhe. Das heißt, statistisch tritt ein solcher Tsunami mit einer solchen Wellenhöhe in Japan etwa alle 30 Jahre auf. Die Schutzmauer der Anlage in Fukushima war so konstruiert, dass sie einer Flutwelle von maximal nur 5,70 Meter standhalten konnte. Es sind also massive Fehler bei der Auslegung der Anlage gemacht worden. Um es ganz klar zu sagen: Diese Anlage hätte so niemals an dieser Stelle errichtet werden dürfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Anders als unmittelbar nach dem Beben wissen wir heute: Hier wurden die Regeln für die erforderliche Schadensvorsorge grob nicht eingehalten. Das hat nichts damit zu tun, dass sich das sogenannte Restrisiko verwirklicht hat; denn „Restrisiko“ – das sagt auch das -Verfassungsgericht – heißt, dass eine der Technik innewohnende Gefahr verwirklicht wird, die vom mensch--lichen Erkenntnisvermögen nicht erfasst ist. Dass ein Kernkraftwerk an der Küste des Pazifiks einem Tsunami, mit dem in dieser Gegend der Welt etwa alle 30 Jahre zu rechnen ist, standhalten muss, erschließt sich jedem; dies geht sicher nicht über das menschliche -Erkenntnisvermögen hinaus. Mit Restrisiko hat das also nichts zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vor diesem Hintergrund können wir alle froh sein, dass dort – über die fürchterlichen Folgen des Erdbebens und des Tsunamis hinaus – radiologisch, also durch -radioaktive Strahlung bedingt, nicht mehr passiert ist. In der letzten Woche war der langjährige Vorsitzende der Strahlenschutzkommission, Professor Michel, bei uns im Umweltausschuss. Auch er hat festgestellt: Durch radioaktive Strahlung gab es in Japan keine Toten und keine Verletzten. (Marco Bülow [SPD]: Er hat auch gesagt, dass die Strahlung erst in Jahren wirkt! Sie lernen nicht dazu!) Auch in Zukunft, Herr Bülow, wird es weder bei der Bevölkerung noch bei den Arbeitern im Kraftwerk gesundheitliche Auswirkungen durch radioaktive Strahlung geben, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! – Weiterer Zuruf des Abg. Marco Bülow [SPD]) vorausgesetzt die von der japanischen Regierung ergriffenen Maßnahmen werden fortgesetzt. (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar nichts gelernt!) Dass Sie von der SPD und von den Grünen ausgerechnet das, was der langjährige Vorsitzende der Strahlenschutzkommission sagt, in Zweifel ziehen – er wurde von Jürgen Trittin in die Kommission geholt und von Sigmar Gabriel zum Vorsitzenden befördert –, das spricht Bände. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Frank Schwabe [SPD]: Was wollen Sie damit sagen?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, es gibt eine Zwischenfrage der Kollegin Vogt. Möchten Sie diese zulassen? Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Ja, gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Ute Vogt (SPD): Herr Kollege Paul, wenn das alles unproblematisch ist und kaum dramatische Folgen hat – so beschreiben Sie es –, könnten Sie uns dann bitte erklären, wieso die Bundesregierung den Atomausstieg in der Form beschlossen hat, wie sie ihn beschlossen hat? Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Frau Vogt, das kann ich gerne tun. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war ja dagegen!) Wir haben die Situation in Japan zu einem Innehalten genutzt und uns mit der Frage beschäftigt, ob unsere Energiepolitik so, wie wir sie angelegt haben, unter anderem im Energiekonzept von 2010, fortführbar ist. Im Bundestag, im Bundesrat und auch in der Bevölkerung war eine große Mehrheit der Auffassung – in diesem Punkt war man sich einig –, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Waren auch Sie der Auffassung?) dass es keine Verlängerung der Laufzeiten – diese hatten wir ursprünglich beschlossen – geben soll. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da waren die sich vor Fukushima schon einig!) Spätestens im Jahre 2022 wird die Nutzung der Kernenergie zur elektrischen Energieerzeugung in Deutschland beendet sein. Die zwei Arbeiter, deren Bilder wir vor einem Jahr im Fernsehen gesehen haben, die Verbrühungen durch radioaktiv belastetes Kühlwasser erlitten haben, konnten nach wenigen Wochen der Beobachtung aus dem Krankenhaus entlassen werden, da sie Gott sei Dank keine Schäden durch radioaktive Strahlung davongetragen -haben. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt -machen Sie schon wieder so weiter! Das ist unglaublich!) – Sie müssen die Fakten zur Kenntnis nehmen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir nehmen vor allen Dingen Ihre Rede zur Kenntnis! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Welche Fakten denn?) Dass der Tsunami und das Erdbeben schreckliche Folgen hatten, ist unbestritten. Dass wir radiologisch gesehen unheimliches Glück hatten, steht auch außer Frage. Das hat unter anderem damit zu tun, dass – anders als in Tschernobyl – ein Sicherheitsbehälter vorhanden war, der verhindert hat, dass noch mehr Strahlung ausgetreten ist. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Machen Sie jetzt Urlaub in Fukushima, Herr Paul?) Wir haben in Deutschland die richtigen Schritte eingeleitet. Die Reaktor-Sicherheitskommission wurde -beauftragt, unverzüglich alle deutschen Kernkraftwerke auf den Prüfstand zu stellen, gerade auch unter dem -Gesichtspunkt, ob unwahrscheinliche Ereignisse – auch in einer Kombination miteinander – gefährlich werden können. Das Ergebnis war eindeutig: Die Sicherheits--reserven deutscher Anlagen sind deutlich größer. Das haben mittlerweile auch die Stresstests auf europäischer Ebene bestätigt. Nicht nur Naturkatastrophen wie Erd-beben und Hochwasser wurden dabei betrachtet, sondern auch menschlich beeinflusste Ereignisse wie Flugzeugabsturz und Terrorangriff. Es kann also nicht davon die Rede sein, wie jetzt im Antrag der Grünen zu lesen ist, dass die Bundesregierung zur Sicherheit laufender Anlagen nichts geliefert hätte. Aber Sicherheit – auch das gilt es festzuhalten – hört nicht an den Grenzen auf. Allein in Europa sind über 150 Kernkraftwerke in Betrieb, weltweit sind es über 430. An dieser Stelle sind wir uns mit den Kollegen der Grünen einig: Das Risiko eines nuklearen Unfalls wird nicht dadurch minimiert, dass wir Deutschland zur kernkraftfreien Zone erklären. Auch in unseren Nachbarländern in Europa werden weiter Kernkraftwerke -betrieben und neue gebaut. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aha!) Daher begrüße ich außerordentlich, dass die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene durchgesetzt hat – ich bedanke mich dafür bei ihr –, dass für alle Anlagen in Europa die Durchführung von Stresstests veranlasst wurde. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, Sie müssen auch zu einem Stresstest!) Die Ergebnisse dieser Stresstests müssen auch in unseren Nachbarländern umgesetzt werden, und vorgeschlagene Maßnahmen müssen durchgeführt werden. Das -erhöht nicht nur die Sicherheit bei unseren Nachbarn – Radioaktivität kennt keine Grenzen –, sondern auch die Sicherheit bei uns. Auch weltweit wird die Kernenergie in Zukunft eine Rolle spielen – ob wir das gut finden oder nicht –, schon allein deshalb, weil energiehungrige Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien und Südkorea nicht auf diesen Energieträger verzichten wollen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Brasilien“ ist ein gutes Stichwort!) Weil dies so ist und weil wir den Bau neuer Anlagen dort nicht verhindern können, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn „nicht verhindern“? Sie fördern das! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aha! Und deswegen helfen wir dabei, ja? Das ist ja nicht zu fassen!) halte ich es im Interesse unserer eigenen Sicherheit für vollkommen richtig, dazu beizutragen, dass dort deutsche Technologie mit ihren anerkannten, hohen und durch Forschung ständig weiterentwickelten Sicherheitsstandards zum Einsatz kommt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie argumentieren Sie da eigentlich?) Die beschlossene Energiewende hat eine Reihe von Herausforderungen mit sich gebracht. Schon vorher waren unsere Ziele weltweit einmalig ehrgeizig. Wir verfolgen unter anderem das Ziel, den CO2-Ausstoß bis Mitte des Jahrhunderts um 85 Prozent zu reduzieren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege? Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Ja, bitte? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gäbe noch eine zweite Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Bulling-Schröter. Möchten Sie auch diese Zwischenfrage zulassen? Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Gern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herzlichen Dank, Herr Dr. Paul. – Ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt. Wir sind uns einig, dass AKW – wenn wir sie schon nicht verhindern können – nicht dort gebaut werden dürfen, wo es zu Erdbeben kommt. Bald steht ja die Entscheidung der Bundesregierung zu Angra 3, einem AKW, das in einem Erdbebengebiet in Brasilien gebaut werden soll, an. Sie haben gesagt: Wir haben wenig Einfluss darauf, ob im Ausland AKW gebaut werden oder nicht. Wir können lediglich deutsche Technik zur Verfügung stellen. – Bald geht es aber auch um das notwendige Geld. Eine Hermesbürgschaft steht an. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob die Bundesregierung Ihrer Meinung nach bereit ist, zu -sagen: Wir finanzieren kein AKW, das in einem Erdbebengebiet gebaut werden soll und unsicher ist. – Die entsprechenden Studien haben sicher auch Sie in dieser Woche erhalten. Meine Frage: Wie stehen Sie dazu? Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Meines Wissens hat die Bundesregierung zu diesem Zweck Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis der Gutachten liegt, soviel ich weiß, noch nicht vor. Die Regierung wird im Lichte der Ergebnisse der Gutachten auch über die Hermesbürgschaften entscheiden. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ein Jahr nach Fukushima ist festzustellen: Was die nuklearen Folgen angeht, sind wir Gott sei Dank mit einem blauen Auge davongekommen. Es hätte angesichts der Fehler, die beim Bau der Anlage gemacht worden sind, viel schlimmer kommen können. Der beschleunigte Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie, den die große Mehrheit dieses Hauses und des Bundesrates beschlossen hat, hat die Herausforderungen noch größer gemacht, als sie ohnehin schon waren. Um unser Ziel, eine sichere, bezahlbare und umweltfreundliche Energieversorgung zu gewährleisten, zu erreichen, haben wir noch viel Arbeit vor uns. Die Energiewende ist kein Selbstläufer. Die Koalition nimmt diese Herausforderung entschlossen an. (Frank Schwabe [SPD]: Das merkt man!) Deutschland muss auch in Zukunft auf höhere Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke in Europa und weltweit drängen, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Nicht nur in Deutschland!) im Interesse der Sicherheit vor Ort, aber auch im Interesse unserer eigenen Sicherheit. Ich bedanke mich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Matthias Miersch hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Matthias Miersch (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Paul, ich bin Ihnen für Ihre Worte, die Sie als erster Redner von der Koalition in dieser Debatte gewählt -haben, ausgesprochen dankbar. (Frank Schwabe [SPD]: Selbstentlarvend! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön entlarvend! – Marco Bülow [SPD]: Das war wie ein Wahlwerbespot!) Denn diese Worte zeigen, dass wir mitnichten über den Berg sind und dass das, was vor einem Jahr auch mit Ihren Stimmen beschlossen wurde, für viele nur Taktik war und nichts mit Überzeugung und Bewusstsein zu tun hatte. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was wollten Sie uns sagen? Sie haben gesagt, es gab Baumängel und unglückliche Umstände. Das ist doch eigentlich eine Rechtfertigung für die Auffassung „Atomtechnologie ist gar nicht schlimm, Atomtechnologie darf halt nur nicht mit -unglücklichen Umständen verkettet werden.“ gewesen. – Herr Paul, Sie sind auf dem völlig falschen Dampfer. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Bundesumweltminister, Sie haben in den Reihen der Abgeordneten Platz genommen. Sie haben vorhin viel mit Ihrem Kollegen diskutiert. Ich hoffe, es ging um diese Rede. Ich frage Sie an dieser Stelle: Was ist das für ein Zeichen, wenn, ein Jahr nachdem wir diese Katastrophe erlebt haben, hier eine Rechtfertigungsrede für all diejenigen gehalten wird, die sagen: Wartet einmal ab, wenn wir es weiter verschlafen, werden sie irgendwann wieder auf uns zukommen, dann werden wir den Machtkampf gewinnen. – Denn nichts anderes steht dahinter, ein großer Machtkampf der vier großen Energieversorger gegen dezentrale Einheiten, gegen Genossenschaften vor Ort, gegen Bürgerinnen und Bürger, die sehr viel weiter sind als Sie, Herr Paul. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können die Rede immer wieder nachlesen, die Sie gerade gehalten haben. Wir können jetzt nachempfinden, was in Ihren Reihen und in dieser Regierung los sein muss, wenn es darum geht, etwas zugunsten von -erneuerbaren Energien zu beschließen, wenn es darum geht, ein bisschen in Richtung Effizienz zu gehen. All das bedeutet für Sie eine innere tiefe Auseinandersetzung. Ich merke heute Morgen, dass Sie noch lange nicht beim neuen Denken angekommen sind. Sie sind noch im alten Denken verhaftet, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wann begreifen wir endlich, was dort geschehen ist? Ein Tipp von mir: Gestern Abend lief eine hervorragende ZDF-Dokumentation im Fernsehen mit dem Titel „Die Fukushima-Lüge“. Diese zeigt, dass die größten Herausforderungen und die größten Gefahren in Fukushima noch vor uns liegen, weil es latente Gefahren gibt, die zu einem Desaster führen könnten. Herr Paul, schauen Sie sich solche Sendungen an! -Reden Sie dann mit uns darüber, was das tatsächlich für die Menschen vor Ort bedeutet! Ich finde, die abstrakte Diskussion ist das eine, das Beschäftigen mit den Schicksalen vor Ort ist ein anderes. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Vor einigen Monaten hatte ich die große Ehre, die Schirmherrschaft für einen Parlamentarischen Abend von Greenpeace zu übernehmen. An dieser Veranstaltung nahmen Menschen aus Fukushima teil, die beschrieben haben, wie es ihnen augenblicklich geht, dass sie Existenzen aufgeben mussten und nicht mehr in ihre Häuser und ihre Kinder nicht mehr in die Schulen zurückkehren konnten. Diese Menschen erleben tagtäglich, was diese Katastrophe für sie bedeutet. Ich sage Ihnen auch: Wir haben noch mehrere Zeitzeugen. Wir haben seit Jahrzehnten eine katastrophale Situation in Tschernobyl. Wir können jeden Tag Kontakt mit den Initiativen aufnehmen, um zu erfahren, was die Menschen in Weißrussland heute noch, Jahrzehnte nach der Katastrophe, spüren. Herr Paul, ich fordere Sie auf: Diskutieren Sie mit diesen Menschen! Versuchen Sie, zu verstehen, was eine solche Katastrophe bedeutet, aber nicht nur für uns, sondern auch für die Menschen vor Ort! Ich bin mir sicher, dann würden Sie diese Rede nie wieder halten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Das haben wir doch gemeinsam getan!) Wann begreifen wir endlich, wie teuer die Energiewende ist? Wann begreifen wir in diesem Parlament endlich, welche volkswirtschaftlichen Folgekosten durch eine einzige derartige Katastrophe entstehen? Wann begreifen wir endlich, dass die Energiewende Geld kostet, aber das Warten auf diese Energiewende für nachfolgende Generationen um ein Vielfaches teurer werden wird, liebe Kolleginnen und Kollegen? Tun wir doch nicht so, als ob das, was in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland passiert ist, billig gewesen ist. Wir haben fossile Energie und Atomtechnologie mit Milliarden-beträgen subventioniert. Nur deswegen ging das mit der Wirtschaft und den Verbraucherinnen und Verbrauchern. (Zuruf des Abg. Michael Kauch [FDP]) – Ja, Herr Kauch, dazu bekenne ich mich auch. Wir -bekennen uns aber auch zum Umstieg; denn das ist die Zukunft, aber nicht die fossilen Energieträger und nicht die Atomtechnologie, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie werden von einem Sozialdemokraten von diesem Pult aus nicht hören, dass wir von dem, was wir 2001 -begonnen haben, abrücken. Denn das war die eigentliche Energiewende, an der Sie im Übrigen heute noch partizipieren. Die Leute haben sich von Ihrem Schlingerkurs zum Glück größtenteils nicht beeindrucken lassen, sondern investieren weiter. Damit rühmen Sie sich heute. Das sind aber die Erfolge von Rot-Grün aufgrund des EEGs und aufgrund des Ausstiegsbeschlusses. Da kommen Sie überhaupt nicht mit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie werden von einem Sozialdemokraten an diesem Pult nicht hören, dass uns die Wirtschaft, die Industrie etc. egal sind. Deswegen müssen wir das Ganze auch -adäquat steuern. Das Schlimmste, was Sie für die Wirtschaft gemacht haben, ist doch, dass Sie den Schlingerkurs eingeschlagen und Investitionsunsicherheit und nicht Investitionssicherheit geschaffen haben. Jeder kleine Handwerker leidet augenblicklich zum Beispiel unter Ihrer Debatte über die Solar- und Photovoltaikförderung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir versuchen wollen, die Interessen von Wirtschaft und Verbrauchern in Einklang zu bringen, dann müssen wir überlegen, wie wir das hinbekommen können. Das erreichen wir nicht dadurch, dass wir einfach nur die Großindustrie entlasten. Dafür sind wir zwar auch, aber es kann nicht sein, dass der einfache Mittelständler und der Verbraucher diese Kosten tragen müssen, sondern wir brauchen hier andere Systeme. Tun Sie nicht so, als ob die erneuerbaren Energien den Strompreis im Augenblick in die Höhe treiben. Das ist mitnichten der Fall, sondern die Preise resultieren auch aus den Freistellungen von Netzentgelten oder beispielsweise auch von der EEG-Umlage, die Sie für die Wirtschaft und die Unternehmen durchgesetzt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Lutz Knopek [FDP]: Also doch wirtschaftsfeindlich!) – Nein, eben nicht, sondern das, was Sie hier machen, ist wirtschaftsfeindlich. 340 000 neue Arbeitsplätze im Mittelstand: Das ist die Wirtschaft der Zukunft, das ist die rot-grüne Politik, wie sie hier seit 2001 betrieben wird und die Sie durch Ihren Kurs gefährdet haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich abschließend noch einen weiteren Part ansprechen; denn er hängt natürlich ganz eng mit der Energiewende zusammen. Es geht um die Frage, wie wir Effizienzprogramme, zum Beispiel zur Gebäude-sanierung etc., eigentlich finanzieren. Sie haben hier vor einiger Zeit die Innovation des -Lebens ausgerufen, indem Sie den Klima- und Energiefonds ins Leben gerufen haben. Heute stellen wir fest: Die Hälfte der Einnahmen, die Sie eingeplant hatten, konnten Sie nicht realisieren. Damit stehen ganz viele Programme, die für die Energiewende sehr wichtig -wären, zur Disposition. Auch das zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem Sie augenblicklich wandern. Wenn man die Rede des Kollegen Paul hinzunimmt, dann weiß man: Sie wollen die Energiewende eigentlich nicht; Sie haben noch das alte Denken. Insofern müssen wir alle gemeinsam aufpassen, dass Sie es endlich verstehen und dass sich spätestens 2013 tatsächlich etwas bewegt – für die Wirtschaft, für die Verbraucher und für die Umwelt in Deutschland. Ich danke Ihnen ganz herzlich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege -Michael Kauch. (Beifall bei der FDP) Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Trittin hat sich, glaube ich, in fünf seiner sieben Minuten Redezeit mit der Vergangenheit beschäftigt. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So heißt auch der Antrag!) Den Rest der Zeit hat er die Regierung beschimpft. Die Grünen haben keinen einzigen konstruktiven Vorschlag zur Lösung der Probleme gebracht, vor denen wir bei der Energiewende stehen. Das zeigt, welches Niveau Ihre Politik inzwischen hat. (Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Niveau kann noch unterboten werden, Herr Kauch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie unseren Antrag!) Die Energiewende ist auf einem guten Weg. Die SPD kann hier noch so oft eine Büttenrede zum Weltfrauentag halten. Dafür ist heute der falsche Tag; das muss man -eigentlich am Rosenmontag machen. Diese Energiewende ist politisch unumkehrbar, und dazu steht diese Koalition geschlossen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Aber Sie haben auch für die Verlängerung gestanden!) Die Union und die FDP haben einen schnellen Ausstieg aus der Kernkraft durchgesetzt. (Frank Schwabe [SPD]: Was!) Er war übrigens schneller, als es das Gesetz von Rot-Grün vorsah. Nach dem Trittin-Gesetz von 2001 wären einige der Reaktoren, die wir abgeschaltet haben, noch immer am Netz. So viel zur Modernität Ihrer Politik! (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Anders als Sie vor zehn Jahren sorgen wir eben nicht nur für den Ausstieg, sondern wir sorgen auch für den Einstieg in ein neues Zeitalter der Energieversorgung. Das ist diese Koalition! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erste Erfolge zeigen sich. Nie zuvor war der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung so hoch wie in 2011, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotz Schwarz-Gelb!) und zwar nicht wegen der Politik von Rot-Grün, wie Herr Miersch eben gesagt hat, sondern weil wir die Ausbauziele erhöht und die entsprechenden Anreize gesetzt haben. (Lachen bei der SPD) Die Zielmarken für die Photovoltaik sind unter dieser Regierung doppelt so hoch wie unter SPD-Umwelt-minister Gabriel. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nie zuvor war der Energieverbrauch nach der Wiedervereinigung so niedrig wie 2011. Auch das ist die Wahrheit, wenn es um Energieeffizienz in Deutschland geht. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das -sagen Sie, Herr Kauch!) Die Stabilität des Stromnetzes konnte trotz der Abschaltung von acht Kernkraftwerken mit erheblichen Anstrengungen gesichert werden. Das zeigt: Die marktwirtschaftliche Ordnung ist ausgezeichnet in der Lage, auf Veränderungen der Rahmenbedingungen zu reagieren. Man stelle sich vor, was dabei herausgekommen wäre, wenn wir das Modell der Linken hätten, nämlich sozusagen ein VEB Netz: eine staatliche Netzgesellschaft. Ich möchte mir nicht ausmalen, welche Blackouts wir mit einer solchen Verwaltungsgesellschaft in diesem Jahr gehabt hätten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb ist es für meine Fraktion – ich denke, ich spreche auch für die Koalition – ein Anlass, all denen zu danken, auf deren Leistungen wir bei der Energiewende nicht verzichten können. Es sind die vielen Ingenieure und Techniker, die dafür sorgen, das System stabil zu halten. Es sind die Menschen, die in neue Energie investieren. Es sind die Stromhändler, die Angebot und Nachfrage zusammenbringen. Es sind die Planer, die die dringend notwendigen Stromtrassen auf den Weg bringen. Es sind auch all die Menschen in den Naturschutzverbänden, die, anders als die Grünen, die unvermeidlichen Konflikte zwischen erneuerbaren Energien und Naturschutz konstruktiv lösen wollen. All diesen Menschen ganz herzlichen Dank! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bla, bla, bla!) Die FDP will eine Energieversorgung, die sicher, verlässlich und umweltverträglich ist und für die Menschen bezahlbar bleibt. Das ist auch eine soziale Frage. Wir kümmern uns darum, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Dabei geht es nicht um Konzerninteressen, sondern um die Arbeitsplätze von vielen tausend Menschen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Kauch, denken Sie daran, dass Sie an Ihrer Rede gemessen werden können!) – Ich denke auch daran, dass Sie als SPD daran gemessen werden könnten, was die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen jeden Tag als Forderung an die Bundesregierung stellt, nämlich die industriellen Kerne in Deutschland zu erhalten. Wir erhalten die industriellen Kerne in Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Das sieht man bei der Solarwirtschaft!) Wenn die SPD sagt, wir würden die Großkonzerne entlasten, und dafür würden die armen Verbraucher -bezahlen, halte ich ihr entgegen: Die energieintensiven Großkonzerne sind unter SPD-Umweltminister Gabriel immer entlastet gewesen. Was wir geändert haben, ist, dass auch der energieintensive industrielle Mittelstand entlastet wird. Wir schaffen nämlich Wettbewerbsgleichheit. Sie sind die Partei der Konzerne. Wir sind die Partei für den Mittelstand. Das zeigt sich wieder eindeutig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das glaubt Ihnen nur keiner mehr in Deutschland!) Bisher ist der Strompreisanstieg moderat ausgefallen. Das soll so bleiben. Deshalb kürzen wir die Solarförderung, und zwar nicht deshalb, weil wir die Photovoltaik kaputtmachen wollen, sondern weil die immer weiter sinkenden Anlagepreise endlich an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden müssen. Die Stromkunden sind nämlich diejenigen, die letzten Endes von den erneuerbaren Energien profitieren sollen. Dafür sorgen wir. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Wir dürfen aber nicht nur auf den Stromsektor schauen. Die Energiewende entscheidet sich nicht -zuletzt im Wärmesektor. Wir brauchen mehr Wärmedämmung für Gebäude und mehr Ökoheizungen. Dabei gilt für uns: Wir wollen Anreize statt Zwang. Wir haben als Koalition am Sonntag noch einmal -bekräftigt, dass das Programmvolumen von 1,5 Milliarden Euro für die Gebäudesanierung steht. Wir wollen auch die steuerliche Förderung der energetischen Sanierung. Die hat diese Koalition im Bundestag beschlossen, und es sind SPD und Grüne, die im Bundesrat blockieren. Wo Sie wie im Bundesrat Verantwortung tragen, torpedieren Sie die Energiewende. Auch das ist ein Teil der Wahrheit in der Energiepolitik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Wahrheit kann da nicht die Rede sein!) Wir werden als FDP darauf drängen, dass wir auch im Bereich erneuerbare Wärme Fortschritte erzielen. Auch hier gilt der Grundsatz „Anreize statt Zwang“. Wir wollen kein Ordnungsrecht, sondern ein haushaltsunabhängiges Förderinstrument. Dazu haben wir bereits in unserem Wahlprogramm ein Modell vorgelegt, das zeigt, wie man eine Mindestmenge erneuerbarer Wärme für alle Großhändler vorschreiben kann, die Öl und Gas verkaufen. Wir sind offen für Vorschläge. Aber wir glauben, dass dieses Thema endlich angegangen und dieses Problem endlich gelöst werden muss. Das ist ein weiterer wichtiger Baustein unserer Energiewende. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der Linksfraktion möchte ich zu Beginn meiner Rede aller Opfer der drei Katastrophen in Japan gedenken. – Erst das Leid Tausender Menschen im vergangenen Jahr hat dazu geführt, dass in Deutschland das Fortschreiten auf dem Pfad der unverantwortlichen Nutzung der Atomkraft beendet wurde. Eigentlich ist das beschämend. Richtigerweise wurden acht Atomkraftwerke sofort abgeschaltet. Der endgültige Ausstieg wurde – wenn auch zu spät, aber immerhin – bis 2022 beschlossen. Die Notwendigkeit der Energiewende ist klar. Die Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft, der Weg hin zur Wärme- und Stromerzeugung zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen, ist unumgänglich. (Beifall bei der LINKEN – Zustimmung des Abg. Frank Schwabe [SPD]) Dies erfordert aber von uns allen ein tatsächliches Umdenken. Es erfordert neue Ansätze für dezentrale, kommunale, kleinteilige Lösungen. Es erfordert Durchsetzungskraft und auch finanzielle Mittel für eine zielgerichtete Forschung, für eine zielgerichtete Förderung und für einen sozialen Ausgleich insbesondere für Menschen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen – aber diese bitten Sie jetzt wieder zur Kasse, um die energieintensiven Unternehmen zu entlasten –, es erfordert Geld für den Ausbau von Netzen und Speicherkapazitäten. Die Regierungsbilanz dazu ist beschämend. Im Januar dieses Jahres nahm der Bundeswirtschaftsminister am Empfang der IHK, des Unternehmerverbandes und der Handwerkskammer in Leipzig teil. Er wurde mit einem Heft und einem Koffer beschenkt, auf denen das Wort „Energiewende“ zu lesen war. Der Koffer wurde geöffnet. Er war allerdings leer. Genauso sieht Ihre Regierungspolitik aus: Sie haben bisher nichts dazu beigetragen, die Energiewende wesentlich voranzutreiben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Das Einzige, was Herr Rösler in den Koffer packen könnte, wären Sunblocker. Er könnte auch das Schild „Energiewende“ überstreichen; denn er betreibt nicht wirklich eine Energiewende. Aufgrund Ihrer Fehlkon-struktion der Finanzierungsbasis – Sie haben die Einnahmen des Energie- und Klimafonds an die Handelspreise der CO2-Zertifikate gebunden – droht selbst das wenige Geld, das Sie zur Verfügung stellen wollten, zur Hälfte wegzubrechen. Es droht eine Kürzung von 780 Millionen auf 452 Millionen Euro. Damit wird es Bundesminister Röttgen unter anderem nicht mehr möglich sein, überhaupt noch Effizienzforschung zu betreiben. Das ist eine Katastrophe. Als Letztes möchte ich Sie eindringlich bitten: Wenn Sie eine Lehre aus Fukushima, also aus der Gefährdung von Atomkraftwerken durch Erdbeben, ziehen wollen, dann seien Sie konsequent und geben keine Hermesbürgschaft für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in Brasilien; denn dieses Kraftwerk soll in einem Erdbebengebiet errichtet werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jens Koeppen hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jens Koeppen (CDU/CSU): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am Sonntag jährt sich zum ersten Mal der Tag, an dem zuerst ein Erdbeben der Stärke 9 und danach ein Tsunami mit einer 15 Meter hohen Welle Leid, Elend, Tod, Verwüstung und Obdachlosigkeit nach Japan gebracht haben. Allein diese Naturkatastrophe hat die Welt zum Erstarren gebracht. Aber damit war es noch nicht genug. Als Folge der Naturkatastrophen ereignete sich durch menschliches und technisches Versagen, geparrt mit technologischer Arroganz, der größte anzunehmende Unfall in einigen Kernreaktoren. Menschen verloren ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Heimat, weil Lehren und Wissen über Naturkatastrophen in Verbindung mit Kernenergieproduktion vehement missachtet wurden. Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir ein Jahr danach an dieser Stelle in der Kernzeit im Deutschen Bundestag an diese schrecklichen Ereignisse erinnern und an die Menschen denken, die an diesem Tag zu Schaden gekommen sind. Noch am 11. März 2011 hat die japanische Regierung den nuklearen Notstand ausgerufen. Wenige Tage später haben wir in Deutschland ein Moratorium bei der Kernenergieproduktion in Deutschland beschlossen. Sie kennen alle die weitere Entwicklung. Im Konsens haben wir gemeinsam die Energiewende beschlossen, eine Energiewende hin zu regenerativen Energien. Und wir haben beschlossen, dass die Kernenergieproduktion in Deutschland früher als geplant eingestellt wird. Natürlich ist eine Kausalität klar erkennbar. Dennoch halte ich den Antrag so, wie Sie ihn gestellt haben, für falsch. Ich halte ihn auch für reaktiv; denn er macht den Eindruck, dass er das Ereignis sehr stark instrumentalisiert. Zumindest auf mich macht er auch den Eindruck, dass daraus politisches Kapital geschlagen werden soll. Das ist aus meiner Sicht trivial und durchsichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So etwas hat bei Ihnen aber Methode. Das ist ähnlich wie bei dem prognostizierten Klimawandel; denn an solchen Ereignissen richtet sich Ihre ganze Argumenta-tionskette in der Energiepolitik aus. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf das Ereignis des Klimawandels!) Das ist unzureichend. Es ist auch einfallslos. Wir müssen nämlich viel mehr agieren, statt nur zu reagieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Darauf sind wir jetzt gespannt!) Denn stellen Sie sich doch einfach einmal vor, es hätte keine Naturkatastrophen wie in Fukushima, wie in Harrisburg vor 30 Jahren oder wie in Tschernobyl gegeben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn da reagiert? – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stellen Sie sich das einfach einmal vor! Stellen Sie sich auch vor, Herr Beck, statt hier herumzuschreien, es gäbe keinen Klimawandel, der ja prognostiziert wird. Auch und gerade dann müssen wir mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung gestellt sind, schonend umgehen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist aber gut, dass Sie uns das sagen!) und haben wir die Pflicht, die Energieträger zu nutzen, die nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben auch die Pflicht, danach zu suchen, dazu zu forschen und diese zu entwickeln. Das ist unsere Aufgabe – nicht mehr und nicht weniger. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!) Meine Damen und Herren, als ich geboren wurde, lebten 3 Milliarden Menschen auf der Erde. Jetzt sind es ungefähr 7 Milliarden. In wenigen Jahrzehnten, vielleicht in wenigen Jahren, werden es 9 Milliarden Menschen sein. Die Frage ist doch: Hält dieser Planet das aus? Werden die Menschen alle satt werden? Werden sie genügend Energie haben? Das ist die Frage, vor der wir stehen. Deshalb ist der Umbau der Energieversorgung notwendig – nicht wegen Three-Eleven in Japan und nicht wegen des vom IPCC vorausgesagten Klimawandels, sondern aufgrund einer Vernunftentscheidung, die wir gemeinsam getroffen haben. Dann stehen Sie doch endlich einmal dazu! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland soll eine der energieeffizientesten und umweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt sein – bei wettbewerbsfähigen Energiepreisen und bei hohem Wohlstand. Natürlich müssen wir sehen, wie wir das hinbekommen: weniger fossile Energieträger, effizienter Umgang mit den Ressourcen, weniger Emissionen und natürlich die Maßgabe, die oben ansteht, dass Energie kein Luxusgut werden darf. Nur die moderne Zeit und der technologische Fortschritt ermöglichen diese Entscheidung. Es gilt darum, diese solide umzusetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vor allen Dingen müssen wir – das ist ganz wichtig – auch bei der Energiewende und bei den Gesetzesnovellen auf Akzeptanz für die moderne Energiepolitik achten; denn das Ganze ist weiß Gott kein Selbstläufer. Ich komme aus einer Gegend, in der sehr viel erneuerbare Energien produziert werden. Auch dort gilt sehr oft: Not in my backyard; überall könnt ihr Windräder aufstellen, überall könnt ihr Solarfelder aufbauen, überall könnt ihr Netze verlegen, aber nicht bei mir vor der Haustür. Meine Damen und Herren, viele in diesem Hause, aber auch in der Gesellschaft wissen ganz genau, was sie alles nicht wollen. Aber wenn es um Alternativen und neue Ideen geht, sind die Bedenken da, und alles wird beklagt. Diesem Missstand müssen wir vehement entgegentreten: mit weniger Ideologie, weniger partikularem Egoismus und mehr Offenheit. Sonst stockt die Energiewende – und das gilt es zu verhindern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, die EEG-Novelle ist notwendig. Mich erstaunen schon Ihre massiven Angriffe. Mich erstaunen auch die Kurzsichtigkeit und das Ausblenden der Fakten. Ich bin fest davon überzeugt, dass die geplante Novelle die Akzeptanz sichert und dass eine Preisentwicklung, wie sie durch den unbegrenzten Zubau von Solaranlagen eingetreten ist, diese Zustimmung erschwert. Dazu nur eine Zahl: Im Jahr 2011 haben die Verbraucherinnen und Verbraucher 7 Milliarden Euro für die Photovoltaikvergütung ausgegeben – 7 Milliarden Euro! Dagegen betrugen die gesamten Mittel für das Elterngeld im Jahr 2011  4,7 Milliarden Euro. Hier besteht also ein krasses Missverhältnis, und das müssen wir einfach angehen. Das ist eine ganz einfache Rechenaufgabe. Mit der EEG-Novelle wollen wir dafür sorgen, dass die Netzstabilität gewährleistet wird, dass Anreize zum Eigenverbrauch geschaffen werden, dass die ersten Schritte zur Dezentralisierung vollzogen werden. Außerdem wollen wir dafür sorgen – es wurde schon angesprochen –, dass die mittlerweile entstandenen Kostensenkungen bei der PV-Vergütung an die Verbraucher zurückgegeben werden. Das ist unsere Aufgabe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dazu brauchen wir innovative Produkte statt billiger Produkte. Wir brauchen, gerade bei den Anlagen, höhere Wirkungsgrade statt hoher Renditen; denn nur 15 Prozent der Module, die in Deutschland durch die PV-Vergütung an den Markt gebracht werden, stammen aus -unserer Produktion. Auch das ist ein krasses Missverhältnis. Wir werden den Wettbewerb mit den chinesischen Modulen nicht dadurch gewinnen, dass wir die Preise um 10 oder um 20 Cent senken; diesen Wettbewerb können wir nur mit Innovationen gewinnen. Mein Resümee: Der Umbau unseres Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist unabdingbar. Es ist Zeit für einen radikalen Systemwechsel im EEG. Wir müssen das EEG zu einem Technologiegesetz umbauen. Sie selbst haben die Bundesregierung in Ihrem Antrag aufgefordert, bis zum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien auf dem Strommarkt auf über 45 Prozent auszubauen. Wie soll ein Produkt, das annähernd 50 Prozent Marktanteil hat, noch 20 Jahre lang gefördert werden? Das geht volkswirtschaftlich einfach nicht. Das kann man niemandem erklären. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, wir müssen dazu kommen, dass wir smart einspeisen und nicht blind. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Energieversorgung machen und nicht Renditeversorgung. Wir müssen endlich dazu kommen, dass wir verfügbare Energien haben und nicht flüchtige Energien. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass wir technisches Know-how belohnen und nicht kaufmännische Cleverness. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Marco Bülow bekommt jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Marco Bülow (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Miersch hat gerade darauf hingewiesen: Gestern gab es eine beeindruckende ZDF-Doku – ZDFzoom –, die noch einmal deutlich gemacht hat, wie das Geflecht von Politik, Atomlobby und Medien die Energiepolitik in Japan dominiert hat. Dieses Geflecht hat auch dafür gesorgt, dass so etwas wie das möglich geworden ist, was wir vor einem Jahr in Fukushima erlebt haben. Dazu gab es gestern keine Aussagen von Umweltpolitikern oder von Umweltschützern, sondern vom ehemaligen Präsidenten, von Gouverneuren, die deutlich gemacht haben, dass in der dortigen Politik eigentlich immer nur verheimlicht, verschwiegen, gelogen und getäuscht worden ist und dass das auch nach Fukushima immer noch der Fall ist: Es werden falsche Informationen herausgegeben; man kann immer noch nicht glauben, was dort veröffentlicht wird. Wir erleben hier leider immer wieder ähnliche Szenarien: Auch hier gibt es weiterhin Märchenstunden. Herr Paul hat sie vorhin fortgeführt, nach dem Motto: Ist ja alles gar nicht so schlimm. Wir brauchen vielleicht doch kein Umdenken. Womöglich war das Umdenken zu schnell. Von all dem, was dort passiert ist, werden die Menschen nicht betroffen sein. (Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Was hat denn nicht gestimmt, Herr Bülow? Wo ist denn der Fehler? Fakten, Fakten, Fakten!) Ich denke, mit den Märchenstunden sollten wir endlich aufhören, und wir sollten endlich Tacheles reden. Wenn wir den Ausstieg machen, dann sollten wir ihn auch ernst nehmen und nicht hinterher wieder zerreden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bestätigt hat Fukushima vor allen Dingen, dass Mensch und Technik versagen können – eine menschliche Eigenschaft, die gar nicht verwerflich ist, die aber ausschließt, dass wir Technologien nutzen, die einen solchen Schaden anrichten können. Bestätigt hat Fukushima auch, dass es eine Illusion war, dass es Sicherheit gibt, egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen man trifft, egal welche Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden und egal wie achtsam die Menschen sind. Klar ist auch geworden, dass man in Japan sehr viel Glück gehabt hat, weil es nur 12 Kilometer von Fukushima entfernt ein Atomkraftwerk gab, in dem es auch fast eine Kernschmelze gegeben hätte. Man hat auch deswegen Glück gehabt, weil der Blow-out genau zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, als der Wind nicht in Richtung Tokio wehte. Der ehemalige Ministerpräsident von Japan hat gesagt, es sei nahe daran gewesen, dass die Tepco-Mitarbeiter abgezogen worden wären. Das hätte bedeutet, dass man Tokio hätte evakuieren müssen. Vor diesem Hintergrund kann man heute nicht davon sprechen, dass alles doch gar nicht so schlimm war. Genau diese Fakten sollten wir uns in Deutschland einmal vornehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber auch hier werden die Lügen- und Märchengebilde fortgesetzt. Sie haben uns nach dem Atomausstieg Deutschlands erzählt, dies würde bedeuten, dass hier die Lichter ausgehen würden – spätestens im Winter hätten wir einen Energienotstand –, dass wir Atomstrom vor allen Dingen aus Frankreich importierten müssten und dass der Strompreis steigen würde. Diese Märchen hat man auch noch nach Fukushima erzählt, um uns vom Atomausstieg abzuhalten. Was ist passiert? Erstens. Der Strompreis an der Börse ist erst leicht gestiegen; mittlerweile ist er wieder auf dem Stand, wie er vorher war. Zweitens. Frankreich hat im Winter Strom aus Deutschland importieren müssen. Ansonsten wären nämlich im Atomland Frankreich die Lichter ausgegangen, nicht in Deutschland. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört!) Drittens. Wir haben festgestellt, dass wir auch weiterhin in der Lage sind, den Atomausstieg zu kompensieren, und dass wir gerade durch den Ausbau der Erneuerbaren die Energiewende wirklich schaffen können. Das sind die Fakten, die im Zuge der Diskussion und der Bilanz ein Jahr nach Fukushima sowie der Frage, wie wir weiter mit dem Atomausstieg umgehen, auf den Tisch müssen. Wir müssen vor allen Dingen auch darüber diskutieren, wie es insgesamt, auch international, weitergeht; denn viele sagen jetzt: Wir steigen doch in Deutschland aus. Es ist doch alles gut. – Das ist es eben nicht. Es gibt weiterhin eine Reihe von Problemen. Wir haben in Deutschland noch über zehn Jahre Atomkraftwerke am Netz. Wir brauchen weitere Jahrzehnte – auch das müssen wir den Menschen sagen –, um diese Atomkraftwerke abzubauen und die Materialien einzulagern. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass es 18 Milliarden Euro kosten wird. Wir werden in Deutschland weiterhin eine Diskussion über die Endlager führen; das Trauerspiel von Asse und Gorleben haben wir ja häufig schon an anderer Stelle erörtert. Zudem werden wir damit leben müssen, dass die folgenden Generationen die Lasten der Atomenergie jahrzehnte-, jahrhundertelang tragen müssen, ohne jemals irgendeinen Vorteil davon gehabt zu haben. Auch das, so denke ich, muss immer wieder erwähnt werden. Wenn man es ernst meinte – ich zweifle heute nach den Reden von Herrn Paul und anderen noch stärker daran, dass es die Union wirklich ernst meint –, dann müssten wir auch international dafür sorgen, dass es einen Atomausstieg gibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Denn viele Länder setzen weiterhin auf Atom. Es gibt benachbarte Länder, die an den deutschen Grenzen Atomkraftwerke haben, die auch zu den Pannenreaktoren gehören. Wir haben in Europa lächerliche Stresstests durchgeführt, die viele Kriterien eben nicht berücksichtigen, wie zum Beispiel einen Flugzeugabsturz. Wenn die Union und die Regierung es ernst meinten, dann würden sie darauf hinarbeiten, in Europa ebenfalls zu einem Atomausstieg zu kommen, und würden nicht Euratom weiter fördern; denn bei Euratom ist ganz klar festgelegt, dass der Ausbau der Atomenergie das Ziel ist. So ein Machwerk von früher muss beendet werden. Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass Euratom in ein Förderinstrument für erneuerbare Energien umgewidmet wird. Das muss doch die Zielrichtung sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch müssen wir darauf hinwirken, dass die Forschungsmittel anders eingesetzt werden. Es kann doch nicht sein, dass wir die Förderung für ein anderes Projekt in Europa, ITER – es war einmal eine Förderung in Höhe von 5,5 Milliarden Euro angesetzt –, mittlerweile auf 13 Milliarden Euro hochschrauben, immer mit der Aussage: Die Kernfusion wird in 40 Jahren einen Beitrag zur Energieversorgung leisten. – Das hat man schon vor 20 Jahren gesagt. Ich sage heute voraus: Auch in 20 Jahren wird man noch von 40 Jahren sprechen. Diese Gelder könnte man viel sinnvoller bei erneuerbaren Energien und Effizienztechnologien einsetzen. Aber auch dazu hört man von der Union kein Wort; es gibt keine Initiative. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der größte Skandal ist, dass wir in Deutschland wieder Hermesbürgschaften für Atomkraftwerke geben wollen, die in aller Welt gebaut werden, beispielsweise Angra 3. 1,3 Milliarden Euro gibt die Bundesregierung an Bürgschaften für Angra 3. Das ist ein Atomkraftwerk in Brasilien, das in Deutschland nach den neuesten Kriterien überhaupt nicht mehr gebaut werden dürfte. (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es darf auch in Brasilien nicht gebaut werden!) Es soll in einer Küstenregion gebaut werden. Dahinter ist ein Hang, an dem Erdrutschgefahr besteht. Ein Gutachten besagt deutlich: Wenn dieses Atomkraftwerk gebaut wird, besteht die große Gefahr, dass es Fukushima II wird. – Das heißt, wir steigen in Deutschland aus, fördern aber mit deutschem Geld Atomkraftwerke, bei denen die gleichen Gefahren bestehen wie in Fukushima. Das ist ein Riesenwiderspruch, und diesen Widerspruch müssen Sie auflösen, wenn Sie es ernst meinen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rot-Grün hat mit den Hermesbürgschaften Schluss gemacht. Ich sage: Wenn die SPD wieder in Verantwortung kommt, wird es keinen Cent für Atomkraftwerke international geben, sondern wir werden auch international dafür sorgen, dass es eine Energiewende mit Erneuerbaren und Effizienztechnologien gibt, dass nicht weiter auf Atomkraft gesetzt wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn die Union es ernst meint, sollte sie genau dort anfangen. Wir haben auf der einen Seite schöne Reden – heute allerdings weniger, und wahrscheinlich wird es auch Herrn Röttgen schwerfallen, die Aussagen von Herrn Paul schönzureden bzw. zurechtzubiegen –, auf der anderen Seite aber Einschnitte bei den Erneuerbaren, einen Klimafonds, der nicht greift, weil er zu wenig Geld hat, Effizienz, die nicht vorankommt, international Doppelzusagen, obwohl die Mittel nur einmal ausgeteilt werden können, und weiterhin international ein Festhalten an der Atompolitik. Zum Schluss ein Satz, der vielleicht noch einmal einiges deutlich macht. Herr Rösler hat neulich Herrn Klaus Töpfer als konservativen Weltverbesserer beschimpft. Herr Rösler zeigt damit, denke ich, wes Geistes Kind er ist. Mir sind Wertkonservative jedenfalls viel lieber als neoliberale Yuppies, die Politik als reines Machtgeschäft betrachten. Ich hoffe, dass in der Union ein Umdenken stattfindet. Ich weiß, dass es in der Union Leute gibt, die es ernst meinen. Ich hoffe, sie überzeugen die Mehrheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Kauch [FDP]: Das war ein Angebot! Ihr spielt wieder mit uns! Das war die Botschaft!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Klaus Breil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Klaus Breil (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Fukushima hat uns klar vor Augen geführt: Menschliches Handeln hat deutliche Grenzen. Mein tiefstes Mitgefühl gilt den Opfern und deren Angehörigen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Bundesregierung und die Koalition haben damals umgehend reagiert. Die Entscheidungen wurden parteiübergreifend mitgetragen. Herr Kollege Bülow, kann man etwas eigentlich noch ernster angehen, als wir es mit unseren gemeinsamen Entscheidungen getan haben? Ein bisschen weniger -Polemik wäre angemessen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Marco Bülow [SPD]: Hermesbürgschaften für Atomkraftwerke abschaffen, zum Beispiel!) Parteiübergreifende Entscheidungen würde ich mir weiterhin wünschen. Wenn ich den vorliegenden Antrag sehe, hege ich allerdings Zweifel, dass es dazu kommt. Deutschland hat seit Jahren einen rückläufigen Energieverbrauch bei einem beachtlichen wirtschaftlichen Wachstum. 2011 lag der Energieverbrauch gut 5 Prozent unter dem Referenzwert von 2008. Diese Entkopplung von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum haben nur wenige andere EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen geschafft. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Wir bekennen uns zu dem Ziel, die Energieeffizienz in der EU bis 2020 um 20 Prozent zu steigern. Wir wollen eine verbindliche Zielfestlegung mit hoher Flexibilität bei der Umsetzung. Die bereits erfolgten Effizienzmaßnahmen vieler Unternehmen müssen dabei aber anerkannt werden. Die EU-Mitgliedstaaten sollen wählen können zwischen einer Steigerung der Energieeffizienz um 6,3 Prozent oder einer Senkung des Energieverbrauchs um 4,5 Prozent innerhalb von drei Jahren. Sie hingegen reden im Antrag von einer deutschen Blockadehaltung bei der Energieeffizienz in der EU. Beim Netzausbau die gleiche Unvernunft und Ignoranz in Ihrem Antrag! Bereits einen Monat nach dem Unglück in Fukushima hat das Wirtschaftsministerium die ständige Plattform „Zukunftsfähige Energienetze“ ins Leben gerufen. Eine Ihrer grünen Kolleginnen sitzt übrigens dort im Beirat. Hier sorgen Netzbetreiber, Bundes- und Länderinstitutionen sowie Verbraucher- und Umweltverbände für Lösungsvorschläge zum Netzausbau. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind: gesellschaftliche Akzeptanz, Planungs- und Genehmigungsverfahren, regulatorische Rahmenbedingungen für Investitionen, die Netzanbindung von Offshorewindparks und vieles mehr. All dies sind laufende Aktivitäten, die Sie in Ihrem Antrag immer noch einfordern. Sie ignorieren also Fakten wider besseres Wissen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Umbau der Energiemärkte ist mit erheblichen Kosten verbunden. Deshalb darf die Energiepolitik nicht nur rein mengenmäßige Zielgrößen im Auge haben. Energiepreise müssen wettbewerbsfähig sein, damit die deutsche Industrie im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Auch die privaten Haushalte sind auf bezahlbare Energiepreise angewiesen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wurde auch in Japan immer wieder argumentiert!) Der energetische Umbau wird noch schneller und reibungsloser funktionieren, wenn Sie als Opposition die Realität anerkennen. Sie aber unterlaufen den Umbau, wenn Sie mit unehrlichen Anträgen weiterhin Unsicherheit vor Ort schüren. Sie sollten sich lieber Ihrer Verantwortung bewusst werden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dorothée Menzner hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dorothée Menzner (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Erfolge, die kleinen Erfolge, die im letzten Jahr erzielt wurden, nicht kleinreden. Ich möchte aber deutlich sagen: Wir sind genau an der Stelle, an der wir ohne den Ausstieg aus dem Ausstieg, wie er nach 2009 erfolgt ist, heute auch wären. Als Lehre aus Fukushima sage ich: Das ist deutlich zu wenig. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Bis vor wenigen Tagen war ich 14 Tage in Japan unterwegs, quer durch das Land, habe mit vielen Menschen, mit Politikern, mit Wissenschaftlern, mit Bürgerinnen und Bürgern, gesprochen und habe viele Präfekturen besucht. Wie ist die Situation in Japan heute, knapp ein Jahr nach dem Desaster? Erstens. Rund 80 Prozent der Japanerinnen und Japaner sind für einen schnellstmöglichen Atomausstieg. Es finden große Demonstrationen statt. Inzwischen haben sie auch Unterstützung von berühmten Leuten. Ich nenne nur zwei Namen, die auch in Deutschland einen gewissen Bekanntheitsgrad haben: zum einen den Schauspieler Taro Yamamoto und zum anderen den Nobelpreisträger Kenzaburo Oe. Ich habe mit beiden gesprochen. Beide haben mir erzählt, sie bezahlen ihr Engagement mit öffentlicher Ächtung, mit weniger Aufträgen, mit finanziellen Einbußen und mit Anfeindungen. Ich denke, das wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Gesellschaft. Zweitens. Wenn man Japanerinnen und Japaner auf ihre Regierung und ihre Verantwortungsträger anspricht und sie fragt, ob sie glauben, dass das Richtige passiert ist und das Richtige getan wird, dann erntet man von allen ein verächtliches Lachen. Regierung und Verantwortliche haben jegliches Vertrauen verspielt. Drittens. Es sind noch zwei von insgesamt 54 Atomkraftwerken am Netz. Egal wo ich unterwegs war, ich habe nirgends Energieengpässe feststellen können. Es gab keine Stromausfälle. Wenn man durch Japan fährt, stellt man fest: Es gibt, auch ganz kurzfristig, ein riesiges Energieeinsparpotenzial. Viertens. Die Stadt Fukushima ist eine Stadt mit ursprünglich 2 Millionen Menschen. Es ist ein industrielles Zentrum, landschaftlich wunderbar gelegen. Die Stadt gehört nicht zum Evakuierungsgebiet. Die Strahlenwerte sind aber höher als die, die ich im 20-Kilometer-Gürtel im Süden gemessen habe. Es ist eine sterbende Stadt. Alle Menschen, die es sich ökonomisch halbwegs leisten können, ziehen weg, weil sie wissen, dass die Strahlung, der sie ausgesetzt sind, auf Dauer schädlich ist. Viele können sich aber ökonomisch den Wegzug nicht leisten, weil sie es nur auf eigene Kosten tun können, da die Stadt nicht zum Evakuierungsgebiet gehört. Angesichts dieser und weiterer Beobachtungen habe ich hinterfragt: Was sind die Ursachen? Wie kommt es dazu? Es gab interessante und sehr erschreckende Antworten. Ich habe mich lange mit dem Kernphysiker Professor Hiroaki Koide von der Universität Kioto unterhalten. Er hat mir zwei Dinge deutlich gemacht. Erstens. Japan hat in den letzten Jahren zu keinem Zeitpunkt Atomstrom gebraucht, um sich mit Energie versorgen zu können. Sie hatten immer genug andere Möglichkeiten, Strom zu produzieren. Genau das wird deutlich, wenn es jetzt keine Engpässe gibt. Man kann darüber diskutieren, ob die Öl- und Kohlekraftwerke das Gelbe vom Ei und zukunftsweisend sind. Aber das Risiko der Atomtechnik für die Stromversorgung der Menschen und der Industrie einzugehen, war nicht notwendig. Zweitens. Die Situation ist beileibe nicht im Griff. Bis heute kann kein Wissenschaftler sagen, was in den drei Blöcken los ist, weil die Strahlung schlicht und ergreifend zu hoch ist und kein Mensch genauer hineinschauen kann. Die größte Gefahr, die häufig gar nicht in unserem Blickfeld liegt, geht von Block 4 aus – er war am 11. März abgeschaltet –, in dessen Obergeschoss sich ein Abklingbecken mit 1 500 Brennelementen befindet. Die Tragkonstruktion des Gebäudes ist dermaßen angeknackst, dass man sie abstützen musste. Fachleute gehen davon aus, dass ein mittleres Erdbeben ausreichen könnte, um die gesamte Konstruktion zum Kollabieren zu bringen. Selbst Regierungsvertreter geben zu, dass in einem solchen Fall die Evakuierung Tokios, eines Großraums mit 30 Millionen Menschen, notwendig würde. Drittens. Wir stellen fest: Japan hat bislang keine -Abkehr von der Atomtechnik beschlossen. Angesichts dessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das deutlich fordert, fragt man sich: Was steckt dahinter? Es ist -bereits angesprochen worden – ich konnte die Dokumentation nicht sehen –: Die Macht der Atomkonzerne in -Japan ist enorm. Sie haben einen Rieseneinfluss auf die Medien, aber auch auf politische Entscheidungsträger. Das ist sicherlich ein Grund. Einen zweiten Grund, den mir Historiker von der Universität in Hiroshima erläutert haben, möchte ich nicht verschweigen. Gerade in der Zeit, als ich in Japan war, haben Regierungsvertreter diesen zweiten Grund deutlich artikuliert; bei uns ist er in den Medien nicht aufgetaucht. Der zweite Grund lautet: Man möchte sich die Option auf eine Atombombe erhalten. Die zivile Nutzung der Atomkraft gehört nämlich unteilbar immer auch zur militärischen. Mein Fazit daraus – dieses Fazit sollten wir gemeinsam ziehen und nicht aus den Augen verlieren –: Die -Situation ist auch nach einem Jahr hochbrisant, und man hat sie noch längst nicht im Griff. Insgesamt möchte ich festhalten: Einige Konzerne -haben, ähnlich wie in anderen Ländern, enorme -Gewinne mit der Atomenergie gemacht. Die Menschen jedoch zahlen, und zwar dreifach: Zum Ersten zahlen sie durch den Verlust von Heimat und von sozialen Zusammenhängen. Sie verlieren ihr Zuhause, weil es verstrahlt ist oder evakuiert werden musste. Zum Teil sind sie aus freien Stücken gegangen, weil sie ihren Kindern und -ihrer Familie ein Leben dort nicht weiter zumuten wollten. Zweitens zahlen sie mit der Gefahr des Verlustes -ihrer Gesundheit. Es gibt zwar relativ wenige akut Strahlenkranke; aber auf lange Sicht ist diese Strahlung hochgefährlich, was Ihnen jeder Mediziner gerne bestätigen wird. Drittens zahlen sie, indem sie die Kosten des Ganzen tragen. Sie tragen die Kosten privat, weil sie ein Haus haben, das sie nicht mehr vermieten oder nicht mehr selbst bewohnen können, für das sie aber weiterhin die Hypotheken zahlen müssen. Sie zahlen es auch über Steuern und Abgaben sowie aufgrund der ökonomischen Probleme, die dieses Land zwangsläufig hat und noch lange Zeit haben wird. Das wäre in keinem Land der Welt anders; das wäre auch in Deutschland im Falle eines Falles nicht anders. Im Laufe der Jahre haben einige Wenige die Profite -gemacht, aber die normale Bevölkerung zahlt die Zeche. Ich meine, nach Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima ist es an der Zeit, dass wir daraus lernen. Das, was hierzu bislang beschlossen wurde, ist jedoch deutlich zu wenig. Ein Atomausstieg, und zwar ein unumkehrbarer, muss schnellstmöglich erfolgen. Ein solcher Ausstieg ist deutlich schneller als erst 2022 möglich; hierzu haben wir entsprechende Unterlagen vorgelegt, und Wissenschaftler belegen das. (Beifall bei der LINKEN) Des Weiteren ist es notwendig, dass wir, die wir für -einen Ausstieg kämpfen, uns international vernetzen: auf der parlamentarischen Ebene, aber auch in den gesellschaftlichen Bewegungen. Die japanischen Kolleginnen und Kollegen haben das erkannt und kämpfen darum. Immerhin haben wir es mit globalen Konzernen zu tun, die sich dagegenstellen. Es ist zudem notwendig – auch wenn wir nur einen lockeren Ausstiegsbeschluss haben –, uns dafür einzusetzen, dass unsere Technik nicht in -anderen Ländern importiert wird und wir kein Geld für die Entwicklung von Atomkraftwerken in andere Länder geben. Natürlich gehört auch dazu, dass wir bei uns vor Ort einmal sehr genau hinschauen. Auch hier gibt es durchaus Sicherheitsmängel und Probleme. Ich erinnere nur an die verrosteten Fässer in Brunsbüttel, über die gestern Berichte durch die Medien gingen. Deswegen: Ich habe heute gelernt, dass diese Regierung weiterhin Druck braucht; das ist noch nicht gegessen. Ich glaube, die Menschen haben das auch kapiert und werden sich zahlreich an den fünf Demos und an der Lichterkette am Sonntag beteiligen – zum Gedenken der Opfer in Japan und für einen schnellstmöglichen Atomausstieg. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sylvia Kotting-Uhl hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie sehen: Die Opposition reist, um sich die Dinge vor Ort anzuschauen. Ich war seit Mai letzten Jahres dreimal in Japan, um Gespräche zu führen. Ich werde morgen wieder dorthin reisen, um bei den großen Demonstrationen in Fukushima und Tokio zu reden. (Zuruf von der FDP: Super CO2-Bilanz!) Ich bin dort nicht als Grüne unterwegs, die gegen die Bundesregierung zu Felde zieht, sondern als Botschafterin Deutschlands. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Menschen dort bewundern das Beispiel Deutschlands und brauchen es auch. Ich glaube, Sie unterschätzen die Verantwortung, die wir mit dem Bekenntnis zum Atomausstieg und zur Energiewende in Deutschland weltweit übernommen haben. Das ist nicht nur eine deutsche Geschichte; das ist eine weltweite Aufgabe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich habe bei meiner ersten Reise nach Japan in den Gesprächen gelernt, dass die Desinformation durch die japanischen Behörden, die Regierung und Tepco, über die dort viel geklagt wird, kein Problem Japans ist, sondern ein Problem der Atomkraft. Jedes Land wäre mit den Auswirkungen eines GAUs total überfordert. Das ist die Botschaft, die ich aus Japan mitgenommen habe. Japan braucht den Umstieg auf erneuerbare Energien und mehr Energieeffizienz. Wie denn sonst, Kolleginnen und Kollegen, soll Japan seinen Energiebedarf selbst bei Einsparungen stillen? Dieses erdbebengefährdete Gebiet muss weg von der Atomkraft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Für diesen Umstieg braucht Japan ein Beispiel. Japan ist ein hochindustrialisiertes Land. Die gleichen Argumentationen, die wir heute Morgen wieder gehört haben – die Wirtschaft braucht bezahlbare Energiepreise, sonst drohe der Untergang Deutschlands –, sind auch heute noch in Japan zu hören. Es gibt eine große Furcht davor, dass die Wirtschaft geschädigt wird, wenn man von der Atomkraft Abstand nimmt. Japan braucht aber den Atomausstieg zum Überleben; das hat uns doch dieses Ereignis in Fukushima gezeigt. Deshalb braucht Japan ein Beispiel; Japan braucht Unterstützung. Hier vermisse ich ein Wort der Unterstützung von unserer Bundeskanzlerin; ich vermisse diesbezüglich überhaupt Worte dieser Bundesregierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was heißt es denn, den Atomausstieg ernst zu nehmen? Das heißt, die Energiewende hier voranzubringen und sie eben nicht, wie wir es erleben, an die Wand zu fahren. Das heißt, die Ausrichtung der Forschung an die neuen Ziele anzupassen, und es heißt, weltweit, vor -allem in dem getroffenen Land Japan, für eine neue Ausrichtung der Energiepolitik zu werben und zu zeigen, dass und wie es geht. Das ist unsere Aufgabe. Es wäre die Aufgabe dieser Bundesregierung, mit dieser Botschaft dorthin zu gehen und vor Ort davon zu überzeugen, dass es anders geht, dass man die Atomkraft nicht braucht. Darauf warten wir. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Josef Göppel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Josef Göppel (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende ist die historische Konsequenz aus dem Unfall von -Fukushima. Die würdigste Art, der Opfer zu gedenken, ist, den Weg in eine neue Energiepolitik einzuschlagen, die solche Opfer in der Zukunft unmöglich macht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE]) Das ist der Weg der deutschen Energiewende. Ich finde es schon bemerkenswert, und es freut mich, wenn eine Grüne hier sagt, sie gehe als Botschafterin Deutschlands nach Japan und Deutschland werde in der Welt bewundert. In der Tat: Das deutsche Experiment wird in der Welt skeptisch und hoffnungsvoll beobachtet. Das ist auch kein Wunder; denn kein anderes Land hat eine solche Konsequenz aus diesem Unfall gezogen. Frau Kotting-Uhl, ich meine, Sie sollten sich in dem Punkt korrigieren: Sie müssen nicht auf Worte von Frau Merkel warten, weil Frau Merkel mit der Tat geantwortet hat. Die deutsche Energiewende ist vollzogen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss allerdings sagen, dass das nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht die deutsche Bevölkerung über Jahrzehnte diese Grundstimmung aufgebaut hätte. Nur diese Grundstimmung hat es ermöglicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Diese Grundstimmung darf uns veranlassen, in diesem Zusammenhang zu sagen: Wir sind stolz auf unser Land und unsere Bevölkerung; denn dem Weg, mit dem die Deutschen Zukunftsgerichtetheit ausdrücken, möchten viele andere Länder folgen. Das erleben alle, die international unterwegs sind. Darüber hinaus muss man feststellen: Ein Jahr nach diesem Ereignis haben uns die Alltagsprobleme ein-geholt. Für mich lautet der wichtigste Satz aus dem -Beschluss des Koalitionsausschusses vom vergangenen Sonntag: Wir müssen sicherstellen, dass wieder eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Klimafonds hergestellt wird. – Das heißt nichts anderes, als dass wir auf europäischer Ebene eine Heraufsetzung des Klimaziels von 20 auf 30 Prozent brauchen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) und dass die vagabundierenden, überschüssigen Zertifikate eingesammelt werden. Auch an dieser Stelle freut mich der Beifall der Opposition; denn Deutschland hat erklärt, dass auf nationaler Ebene eine CO2-Minderung von 40 Prozent beschlossen wurde und dass Deutschland diese Ankündigung auch in den Brüsseler Verhandlungen aufrechterhält. Wir wissen, dass es im Moment drei osteuropäische Länder gibt, nämlich Polen, Bulgarien und Rumänien, die sich mit -ihrem Veto gegen diese Maßnahmen stemmen. Für uns ist das existenziell, weil Deutschland 100 Prozent seiner Einnahmen aus dem Emissionshandel in den Klimafonds steckt, während der Durchschnitt auf europäischer Ebene bei nur 50 Prozent liegt. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir hier einen Durchbruch erzielen; das muss an dem einjährigen Gedenktag der Energiewende deutlich gemacht werden. Die Berliner Bühne ist dafür nur begrenzt ausschlaggebend; maßgeblich ist hier die europäische Ebene. Was sich hier abspielt, ist im Kern eine technologische Wende, die die Politik nur nachvollzogen hat; denn die Fortschritte in der Mikroelektronik sind es, die eine kleinteilige Energieversorgung möglich machen. Der Weg führt von den zentralen Großkraftwerken zur kleinteiligen Energieversorgung. Der Weg führt auch von den anonymen Aktienpaketen zum breiten Volkseinkommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Es ist doch völlig klar, dass es da Widerstände gibt; denn das führt zu Verschiebungen in der Wertschöpfungskette. Ich sitze für eine Partei im Deutschen Bundestag, für die CSU, die für ein breit gestreutes Einkommen, für den Mittelstand und für das Handwerk eintritt. All das wird mit der Energiewende erreicht. Wir erleben eine echte Volksbewegung in der Gründung von Energiegenossenschaften. Wir erleben auch, dass die Marktdurchdringung die Preise sinken lässt. Es ist eine Tatsache, dass im Jahr 2011 der durchschnitt-liche Großhandelsstrompreis an der Leipziger Börse von 6,0 auf 5,5 Cent je Kilowattstunde gefallen ist, weil die Erneuerbaren die Mittagsspitzen brechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Auch das muss im Zusammenhang mit der Diskussion um eine EEG-Umlage in Höhe von 3,5 Cent je Kilowattstunde gesagt werden; denn dies ist immer nur ein Differenzbetrag. Natürlich muss man auch über die Befreiungen diskutieren. Ich bin für die Befreiung unserer energieinten-siven Betriebe, damit sie wettbewerbsfähig bleiben. Aber man darf über diese 3,5 Cent nicht ohne Berücksichtigung der preissenkenden Wirkung der erneuer--baren Energien und der kostenerhöhenden Wirkung der Befreiungen diskutieren. Das muss auch einmal gesagt werden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Insbesondere die Entwicklung im Bereich der Solarenergie ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn wir die -Novelle, die morgen in erster Beratung im Parlament -behandelt wird, beschließen, dann beträgt die durchschnittliche Vergütung für eine Kilowattstunde Solarstrom 17 Cent; sie ist damit 1 Cent billiger als eine Kilowattstunde Windstrom von der See. Das ist eine technologische Erfolgsgeschichte, die langfristig anhalten wird. Warum? Im Bereich der erneuerbaren Energien gibt es ein besonderes Charakteristikum. Man hat eine hohe Anfangsinvestition, aber im weiteren Verlauf sind die Betriebskosten niedrig; denn der „Brennstoff“ für Wind und für Solar kostet nichts. Das bedeutet: Wenn erst einmal investiert wurde und die anfallenden Kosten abgeschrieben sind, dann kommt es tendenziell zu sinkenden Strompreisen. Das ist eine positive Aussicht für die Verbraucher. Deswegen ist der eingeschlagene Weg richtig, und es ist gut, dass er entschlossen gegangen wird. (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich möchte noch einmal auf die Energiegenossenschaften zu sprechen kommen, die sich im ganzen Land bilden. Das ist nicht nur etwas für die ländlichen Räume. Wir sollten auch entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, damit sich Mieter in den Großstädten zum -Beispiel an Solaranlagen auf den Dächern beteiligen können, die die Häuser dann unmittelbar mit Strom versorgen. Die Zukunft liegt in der zellenartigen Struktur, in der kleinteiligen Stromversorgung, die die Belastung der großräumigen Netze verringert und auf diese Art und Weise Wertschöpfung und Einkommen vor Ort schafft. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei -Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Gerdes (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die dreifache Katastrophe von Fukushima steht für tiefe menschliche und politische Einschnitte: Erdbeben, Tsunami, Atomunfall – für die Betroffenen in Japan bedeutet diese schlimme Kettenreaktion großes persönliches Leid. Viele Familien haben ihre Angehörigen und ihre Heimat verloren. Nach wie vor ist die Strahlenbelastung in der Region um Fukushima kaum einschätzbar, und weitere Risiken sind nicht abzuschätzen. Unser Mitgefühl gilt den Opfern von Fukushima. Die vielen Mahnwachen und Großdemos, die es in Deutschland gab, haben gezeigt, wie groß die Angst vor den Gefahren der Kernenergie ist. Bei Naturkatastrophen sind wir weitgehend machtlos, bei der Wahl der Energieerzeugung allerdings nicht. Politisch gesehen stellt -Fukushima eine Zäsur dar, weil erstmals ein technisch hochgerüstetes Land die Kontrolle über die Atomkraft verloren hat, und zwar trotz höchster Sicherheitsstandards und trotz gut ausgebildeter Ingenieure. Sind wir wirklich besser? Nur scheinbar haben auch Union und FDP begriffen, wie wenig sicher diese Form der Energieerzeugung ist. Hinzu kommt die immer noch ungelöste Endlagerfrage. Die Kehrtwende der Kanzlerin war ohne Frage beachtlich, wenngleich wir an der Motivation für den Atomausstieg zweifeln. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie wollte die Baden-Württemberg-Wahl retten! Das ist ihr nicht gelungen!) Passend dazu schrieb die Süddeutsche Zeitung vorgestern: Angela Merkel und die Atomkraft – das ist die Geschichte einer langen Beziehung, aus der sie am Ende schnell ausstieg. Weil sie ihr politisch keine Energie mehr brachte. Wenn ich sehe, wie viel Geld das Bundesministerium für Bildung und Forschung in die Atomforschung steckt und dass es zudem auf das Exportpotenzial deutscher Atomtechnologie verweist, bezweifle ich, dass Schwarz-Gelb tatsächlich von der Kernkraft abgekehrt ist. Die Ausführungen des Kollegen Paul haben das heute gezeigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wo ist er eigentlich geblieben, der Herr Paul?) Die SPD-Fraktion steht ohne Wenn und Aber zum Ausstieg aus der Atomkraft. Allein mit dem Abschalten der Atomkraftwerke ist die gewünschte Energiewende aber noch lange nicht vollzogen. Vielmehr ist es jetzt notwendig, den eingeleiteten Umbau unseres Energiesystems hin zu einem nachhaltigen, sicheren und sozial gerechten System fortzusetzen, und zwar mit Volldampf. Wenn ich mir das Regierungshandeln der letzten Monate anschaue, dann stelle ich fest, dass dieser Dampf fehlt. Wir brauchen dringend mehr politische Anstrengungen beim Netzausbau, bei der Speicherung von Strom und Wärme, bei den modernen Kraftwerkstechnologien und vor allem im Bereich der Energieeffizienz. Ich lese viele Schlagworte und Überschriften, aber es fehlt die Strategie. Vor allem fehlt die stringente und transparente Koordinierung der Energiepolitik. Wer ist denn überhaupt verantwortlich für die Energiewende? (Michael Brand [CDU/CSU]: Wir alle!) Frau Merkel selbst, der Wirtschaftsminister oder vielleicht Herr Röttgen? Oder schaltet am Ende sowieso Herr Schäuble das Licht aus, weil das Geld fehlt und der Energie- und Klimafonds auf Sand gebaut ist? – An -dieser Stelle hat die Koalition nicht geklatscht, Herr Kollege Göppel. In der Zwischenbilanz zur Energiewende, die seitens der Bundesregierung am 23. Februar 2012 vorgelegt wurde, steht geschrieben, dass die Bundesregierung einen Steuerungskreis zur Umsetzung der Energiewende einsetzen will, und zwar auf Ebene der Staatssekretäre. Wenn ich weiterlese, stelle ich aber fest, dass dieser Kreis halbjährlich zusammenkommen soll. Das kann doch nicht wahr sein. Deutschland will einen Systemwechsel, der komplexer und ehrgeiziger nicht sein könnte, und die Staatssekretäre treffen sich zwei Mal im Jahr. Das ist definitiv zu wenig. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Trotz aller Kritik bleibt festzuhalten, dass es viele gute Ansätze und Projekte auf dem Weg zur Energiewende gibt. Wir müssen sie allerdings besser fördern und darauf drängen, dass gute Beispiele schnell und -flächendeckend Schule machen. Ich will ein Beispiel nennen: Meine Heimatstadt Bottrop in Nordrhein-Westfalen steht wie keine andere Stadt für das, was ich unter Energiewende verstehe. Wir wandeln uns von der Bergbaustadt zur Modellstadt für Klimaschutz und Energie-effizienz. Jahrzehntelang haben wir mit der Förderung von Steinkohle für Energie gesorgt, und wir tun es immer noch. Dass die Kohleförderung trotz modernster Technologien und bestausgebildeter Bergleute vorbei sein soll, bedauere ich persönlich. Dennoch gehen wir unter und über Tage neue Wege. In den Schächten könnten Pumpspeicherkraftwerke entstehen, um zur Verstetigung volatiler Energien beizutragen. Grubenbaue könnten in Zukunft als Energiespeicher dienen. Schon heute kann die Wärme des Grubenwassers zur Gebäudeversorgung genutzt werden, und über Tage entsteht die Innovation City Ruhr. Herzstück des Modellprojektes ist die energetische Sanierung eines kompletten Stadtteils. Wenn es gelingt, die bestehenden Gebäude in einer Größenordnung von 14 400 klimafreundlich zu sanieren und den CO2-Ausstoß bis 2020 um die Hälfte zu reduzieren, wird dies ein Vorbild für weitere Projekte in ganz Deutschland sein. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Jede Kilowattstunde, die eingespart wird, braucht nicht erzeugt zu werden, braucht nicht transportiert zu werden und verursacht keine Emissionen. Das ist die Wende, die wir brauchen. Herzlichen Dank. Glück auf! (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Angelika Brunkhorst hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]) Angelika Brunkhorst (FDP): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen nehmen den Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Fukushima zum Anlass für einen Rundumschlag gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie und fordern den absoluten, den weltweiten Atomausstieg. Ich halte diese Forderung für anmaßend; denn das ist nach dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. – Ich denke, dass alle Staaten souverän sind und selbst über ihre Energieversorgung entscheiden -wollen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Marco Bülow [SPD]: Dann dürfen wir nicht über Menschenrechte reden und über alles andere auch nicht!) Im Umweltausschuss haben wir mehrfach über Fukushima diskutiert. Zuletzt hat die Strahlenschutzkommission am 29. Februar 2012 darüber berichtet. Aufgrund des Erdbebens brach die öffentliche Stromversorgung zusammen, aber die Reaktoren blieben -zunächst unbeschädigt. Auch die Schnellabschaltung erfolgte noch. Erst durch den folgenden Tsunami, durch die hohe Welle, wurden die Notstromversorgung und die Notkühlsysteme außer Kraft gesetzt. So konnte die Nachzerfallswärme nicht mehr abgeführt werden, und es kam zur Katastrophe. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Herr Rebmann würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen? Angelika Brunkhorst (FDP): Nein, das möchte ich nicht. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!) Der Vollständigkeit halber muss man an dieser Stelle sagen, dass der Reaktorunfall von Fukushima auch eine andere, grundlegende Ursache hat, nämlich die Fehlauslegung der Anlage an sich. Die Anlage ist nur für Erd-beben bis zur Stärke 8 der Richterskala ausgelegt und vor Tsunamis bis zu einer Wellenhöhe von 5,70 Meter geschützt. Man hätte bei der Konstruktion der Anlage also eine entsprechend höhere Eindeichung vorhalten müssen. Tatsächlich waren die Notstromdieselaggregate und die Notkühlpumpen vor der Überflutung infolge des Tsunamis nicht ausreichend geschützt. In Deutschland sind keine vergleichbaren Erdbeben und auch keine Tsunamis zu erwarten; die Seite des -Erdballs, auf der wir leben, ist davon kaum betroffen. Mehrfachkatastrophen in dieser Dimension sind in Deutschland nicht zu befürchten. Alle deutschen Kernkraftwerke verfügen über mehrfach hintereinander gestaffelte Sicherheitsbarrieren; diese sind technisch unterschiedlich wirksam. Durch diese Grundsätze der Redundanz und Diversität wird in Deutschland ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet. Dies ist weltweit anerkannt. (Marco Bülow [SPD]: Ja, so wie in Japan! Das war auch weltweit anerkannt!) Alle deutschen Kernkraftwerke an Standorten mit entsprechender Gefährdung wurden bei ihrer Errichtung -gegen Hochwasser und Erdbeben ausgelegt. Bei der Auslegung der Kernkraftwerke beispielsweise gegen Erdbeben wird im kerntechnischen Regelwerk das stärkste anzunehmende Erdbeben in einem Umkreis von 200 Kilometern zugrunde gelegt. Es war richtig, dass nach den Erfahrungen mit Fukushima zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Kon-trollen deutscher Kernkraftwerke diese gesonderte Risikoanalyse stattgefunden hat. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es wäre schön, wenn auch die Grünen die positiven Ergebnisse dieser Sicherheitsanalyse erwähnen würden. Ich glaube, dass unsere Kernkraftwerke über ein hohes Sicherheitsniveau verfügen. Dies wird durch die sehr strenge atomrechtliche Aufsicht der zuständigen Behörden in den Ländern gewährleistet. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Hennenhöfer! Genau!) – Er arbeitet nicht in einer Landesbehörde. Nein danke, Herr Trittin. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein danke, Herr Hennenhöfer, würde ich sagen!) Deutschland wird Japan gerne helfen, zum einen -moralisch – Japan hat natürlich unser Mitgefühl –; zum anderen werden wir Japan mit unseren Erfahrungen, mit unserem technischen Wissen und Know-how unterstützen, wenn die Japaner das möchten. (Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP]) Die Katastrophe in Japan führte auch in Deutschland zu einer Neubewertung der Risiken; dies war richtig. Die Kanzlerin hat gehandelt. Ich möchte hier noch einmal sagen, dass die Koalition im Sommer 2011 – abweichend vom Energiekonzept aus 2010, in dem wir bereits das Ziel bekräftigt hatten, perspektivisch auf die Kernenergie zu verzichten – eine Neuausrichtung der -Nutzung der Kernenergie vorgenommen hat. Wir werden beschleunigt aus der Nutzung der Kernenergie aussteigen und einen beschleunigten, ambitionierteren, vernunftorientierten und gangbaren Weg in das Zeitalter der regenerativen Energien aufzeigen. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dieter Jasper hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dieter Jasper (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr, am 11. März 2011, hielt die Welt den Atem an. An diesem Tag bebte vor der japanischen Ostküste die Erde. Das Epizentrum des Bebens lag rund 150 Kilometer nordöstlich des Kraftwerkes Fukushima. Nach wenigen Sekunden erreichten die Primärwellen das Kraftwerk. Das Beben dauerte ungefähr zwei Minuten und hatte eine Stärke von 9,0. Eine knappe Stunde später -trafen die ersten der bis zu 15 Meter hohen Wellen in -Fukushima ein. Das Kernkraftwerk besteht aus sechs Reaktorblöcken. Neben jedem Reaktor befindet sich ein Abklingbecken zur Zwischenlagerung verbrauchter und neuer Brenn-elemente. Reaktoren und Abklingbecken müssen permanent gekühlt werden. Die eintreffenden Primärwellen des Bebens bewirkten eine Schnellabschaltung der drei in Betrieb befindlichen Reaktoren. Gleichzeitig fiel die externe Stromversorgung aus, sodass die Kühlung durch Notstromaggregate sichergestellt werden musste. Bis -dahin war die Situation noch überschaubar und beherrschbar. Dann erreichten die Tsunamiwellen das Kraftwerk. Die Reaktorblöcke wurden vollkommen überschwemmt. Die in den Gebäuden befindlichen Generatoren fielen aus und somit die gesamte Kühlung. Trotz verzweifelter Rettungsmaßnahmen kam es zu einer Überhitzung der Reaktoren und der Abklingbecken und in der Konsequenz zu Kernschmelzen in den drei Reaktoren. Explo-sionen führten zu schweren Verwüstungen des Kraftwerks und des Kraftwerksgeländes. Die Strahlenbelastung auf dem Gelände wuchs stark an. Vier von sechs Reaktorblöcken wurden vollständig zerstört. Die Entsorgungsarbeiten werden mehrere Jahrzehnte dauern. Die verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt sind nicht abzuschätzen. Jeder von uns hat die furchtbaren Bilder vor Augen, die alle Sender seinerzeit weltweit live übermittelten. Diese schlimmen Tage werden uns immer in Erinnerung bleiben. Wir fühlen mit den japanischen Bürgerinnen und Bürgern, die durch diese Katastrophe unmittelbar bedroht wurden und es heute noch werden. Und doch war da auch dieses Gefühl der Fassungslosigkeit: Wie konnte es sein, dass eine technisch so hoch stehende Nation wie Japan scheinbar so hilflos bei der Bewältigung dieser Katastrophe war? Natürlich stellte sich auch die Frage: Ist so etwas auch bei uns in Deutschland denkbar und möglich? Rein technisch betrachtet hatte sich durch den Unfall in Fukushima die Sicherheitslage der Reaktoren in Deutschland nicht geändert. Aber das Erdbeben in Japan hatte nicht nur das Kraftwerk Fukushima erschüttert und zerstört. Erschüttert und zerstört wurde auch das bis dahin vorherrschende Vertrauen, dass die Risiken der Kernkraft beherrschbar seien. (Beifall der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es fand auf politischer Ebene eine Neubewertung der Risiken statt. Auch das bis dahin Unvorstellbare wurde jetzt als Möglichkeit akzeptiert. Das geltende Energiekonzept sah zwar einen Ausstieg aus der Kernkraft vor, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt. Jetzt fand eine grundlegende Korrektur statt. Die Energiewende wurde vollzogen. Acht Kraftwerke wurden vom Netz genommen; die restlichen folgen bis zum Jahr 2022. Deutschland stand und steht somit vor einer seiner größten Herausforderungen seit der deutschen Einheit. Doch wie kann eine der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt seine Energieversorgung binnen zehn Jahren auch ohne Kernkraftwerke sicherstellen? Kernelement der Energiewende ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Das sind in erster Linie Wind, Sonne und Biomasse. Bei der Stromerzeugung haben diese Energieformen sprunghaft zugelegt. Es wurde zwischenzeitlich ein Anteil von über 20 Prozent erreicht. Dazu haben vor allen Dingen die stärkere Nutzung von Windenergie und Biogas sowie der kräftig gestiegene Solarstromanteil beigetragen. Diesem dynamischen Ausbau der Regenerativen stehen erhebliche Probleme gegenüber. Da ist zunächst die Infrastruktur zu nennen. Die Deutsche Energie-Agentur schätzt den Bedarf an zusätzlichen Hochspannungsleitungen auf bis zu 4 500 Kilometer. Doch der notwendige Ausbau insbesondere der Trassen von Nord- nach Süddeutschland stößt in Teilen der Bevölkerung auf erhebliche Widerstände. Oft sind es leider die Vertreter der Parteien, die sich hier im Bundestag als Gralshüter ökologischer Energiepolitik aufführen, die vor Ort in der ersten Reihe der Protestierer stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier wären mehr Standvermögen und weniger Populismus hilfreich, um die notwendigen Maßnahmen durchführen zu können. Zweites Thema: Netzsicherheit. Zu den größten Problemen der regenerativen Energien gehören deren hohe Volatilität und die fehlenden Speichermöglichkeiten. Dies gilt insbesondere für Energie aus Wind und Sonne. Eine der wenigen bisher vorhandenen Möglichkeiten der Speicherung bieten Pumpspeicherwerke. Doch hier gilt das Gleiche wie beim Netzausbau: Es reicht nicht aus, in Berlin Forderungen zu stellen. Man muss diese auch vor Ort vertreten und darf sich nicht wegducken, wenn es schwierig wird. So machen derzeit beispielsweise im Schwarzwald die örtlichen Bündnisgrünen Front gegen ihren eigenen Ministerpräsidenten, der dort den Bau eines Pumpspeicherwerks plant. Bei allem Verständnis für die Bedenken der Menschen vor Ort sollte es gerade für die Grünen eine Selbstverständlichkeit sein, hier aufklärend und vermittelnd zu wirken. Einfach nur dagegen zu sein, hilft nicht wirklich weiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aufgrund der hohen Volatilität der regenerativen Energien brauchen wir zukünftig weiterhin grundlastfähige Gas- und Kohlekraftwerke. Wir haben in Nordrhein-Westfalen und speziell in meinem Wahlkreis einen funktionierenden Steinkohlebergbau. Die Steinkohle ist eine unserer letzten nationalen Energiereserven. Vor dem Hintergrund der bestehenden großen Unsicherheiten würde eine weitere Förderung der heimischen Steinkohle ein Mehr an Sicherheit und ein Mehr an Zuverlässigkeit bewirken. Deshalb trete ich in der Konsequenz für den Bau neuer hocheffizienter Kohlekraftwerke mit verbessertem Wirkungsgrad ein. Die Realität bei uns in Nordrhein-Westfalen ist leider eine andere. Bereits gebaute hochmoderne Kohlekraftwerke wie das in Datteln werden aufgrund des Widerstands des grünen Umweltministers verhindert und nicht in Betrieb genommen. Eine Investitionsruine von über 1 Milliarde Euro droht. Dies ist sowohl unter Klimaschutzgesichtspunkten als auch unter dem Aspekt einer sicheren Energieversorgung nicht zu verstehen. Lieber Kollege Gerdes von der SPD, ich hätte mir von Ihnen eine klare Aussage zugunsten des Bergbaus bei uns in Deutschland gewünscht. Ich glaube aber, dass wir uns da auf der gleichen Linie bewegen. (Michael Gerdes [SPD]: Ja, auf einer Linie!) Dritter und letzter Punkt: die Kosten; dieser Aspekt ist für mich als Wirtschaftspolitiker besonders wichtig. Die Menschen in Deutschland wollen mit großer Mehrheit den Ausstieg aus der Kernenergie. Dies hat vielfältige Konsequenzen, natürlich auch monetäre. Eine der Konsequenzen wird sein, dass die Kosten für die Energieversorgung steigen. Aktuell erhalten Ökostromproduzenten von den Verbrauchern einen Betrag von 3,59 Cent pro Kilowattstunde. Das sind bereits etwa 14 Prozent des gesamten Strompreises. Die Bürger und die Unternehmen dürfen aber nicht überfordert werden. Der Strom muss nicht nur sicher und sauber, er muss auch bezahlbar bleiben. Das ist nicht nur eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Frage der Akzeptanz der Energiewende in der deutschen Bevölkerung. Ich will dies am Beispiel der Photovoltaik deutlich machen, zu der wir morgen noch eine ausführliche -Debatte führen werden. Gegenüber 2009 wurde die -Einspeisevergütung für Solarstrom nahezu halbiert. Dennoch wurden in den beiden letzten Jahren jeweils 7 500 Megawatt neu installiert. Vor dem Hintergrund rapide gefallener Weltmarktpreise für PV-Module ist die aktuelle Anpassung der Vergütungssätze konsequent und folgerichtig. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, dass die Photovoltaik schon in einigen Jahren Marktreife erlangt und ohne Förderung auskommt. Die von unserem Umweltminister Norbert Röttgen und dem Wirtschaftsminister gemeinsam getroffene Entscheidung, im Bereich der PV einen klaren Einschnitt vorzunehmen, ist richtig, nachvollziehbar und findet meine volle Unterstützung. Photovoltaik wird in Deutschland weiterhin erfolgreich sein. Die deutsche PV-Industrie zählt zu den internationalen Technologieführern. Gleichzeitig besteht die Herausforderung darin, die mit dem inländischen Zubau verbundenen Kosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher wirkungsvoll zu steuern und in überschaubaren Grenzen zu halten. Fazit: Den regenerativen Energien gehört die Zukunft. Der Weg dorthin ist schwierig, bietet aber gerade für unsere Unternehmen in Deutschland vielfältige Chancen. Die weitere Umsetzung des Energiekonzepts muss zügig und konsequent erfolgen. Wir brauchen wettbewerbsfähige Energiepreise auf Basis einer effizienten und umweltschonenden Energieerzeugung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu den wichtigsten zukünftigen Aufgaben zählen der zügige Ausbau leistungsfähiger Netze, die Steigerung der Energieeffizienz, der Zubau effizienter und flexibler Gas- und Kohlekraftwerke, mehr Markt und mehr Marktintegration sowie eine permanente Kostenkon-trolle, um eine Fehlallokation der Fördermittel zu vermeiden und die Kosten der Energiewende zu begrenzen. Unser Bundesumweltminister Norbert Röttgen macht hier einen ganz hervorragenden Job. Es geht bei der Energiewende nicht um kurzfristigen Beifall, den sich Vertreter von Rot und Grün gerne auf interessegeleiteten Veranstaltungen abholen. Wenn die Energiewende erfolgreich gelingen soll, dann müssen ökologische Notwendigkeiten und ökonomische Erfordernisse abgewogen und mit-einander verknüpft werden. Die Bundesregierung und Norbert Röttgen sind hier auf einem guten Weg. Die Neuausrichtung der Energieversorgung in Deutschland ist jedoch eine Gemeinschaftsaufgabe und kann – so die Ethikkommission – nur mit einer gemeinsamen Anstrengung auf allen Ebenen der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft gelingen. Herzlichen Dank und Glück auf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8898 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis m auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Oktober 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indien über Soziale Sicherheit – Drucksache 17/8727 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eurojust-Gesetzes – Drucksache 17/8728 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Siebten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds (IWF) – Drucksache 17/8839 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 30. September 2011 des Übereinkommens vom 29. Mai 1990 zur Errichtung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung – Drucksache 17/8840 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. September 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen – Drucksache 17/8841 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen-tralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts – zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffentlichen Rechts –, zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008 – Drucksache 17/8842 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung der Bildungsforschung weiter vorantreiben – Drucksache 17/8604 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kein Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Kriegswaffen bei Bundeswehr-Veranstaltungen – Drucksache 17/8609 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – Drucksache 17/8795 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss j) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – Drucksache 17/8895 – Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss k) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schweinepest tierschonend bekämpfen – Not-impfung ersetzt grundloses Keulen – Drucksache 17/8893 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbraucherschutz stärken – Finanzmarktwächter einführen – Drucksache 17/8894 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Doping an Olympiastützpunkten, Bundesleistungszentren und Bundesstützpunkten konsequent bekämpfen – Drucksache 17/8896 – Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 32 a bis i. Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkte 32 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Energieverbrauchskennzeichnungsrechts – Drucksachen 17/8427, 17/8803 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 17/8900 – Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Lötzer Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8900, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/8427 und 17/8803 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion. Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Die Linke hat sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen wollen, erheben sich bitte. – Die Gegner stehen bitte jetzt auf. – Wer sich enthalten möchte, steht bitte jetzt auf. – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor. Tagesordnungspunkt 32 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas Silberhorn, Monika Grütters, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP UNESCO-Welterbestätten in Deutschland stärken – Drucksachen 17/7357, 17/8858 – Berichterstattung: Abgeordnete Monika Grütters Ulla Schmidt (Aachen) Reiner Deutschmann Dr. Lukrezia Jochimsen Claudia Roth (Augsburg) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8858, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalition angenommen. Die Opposition hat abgelehnt. Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 32 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 397 zu Petitionen – Drucksache 17/8779 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 32 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 398 zu Petitionen – Drucksache 17/8780 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch die Koalition und die SPD angenommen. Dagegen hat die Linke gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 32 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 399 zu Petitionen – Drucksache 17/8781 – Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 32 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 400 zu Petitionen – Drucksache 17/8782 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmen durch die Linke angenommen. Alle anderen waren dafür. Tagesordnungspunkt 32 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 401 zu Petitionen – Drucksache 17/8783 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch die Koalition und die SPD angenommen. Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 32 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 402 zu Petitionen – Drucksache 17/8784 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktionen und die Linke, dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und SPD gestimmt. Die Sammelübersicht ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 403 zu Petitionen – Drucksache 17/8785 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch die Koalition und Gegenstimmen durch die Opposition angenommen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf: Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl der vom Deutschen Bundestag zu benennenden Mitglieder des Deutschen Ethikrats gemäß den §§ 4 und 5 des Ethikratgesetzes – Drucksache 17/8881 – Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen daher gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlag auf Drucksache 17/8881? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Zivilcourage gegen Nazis stärken Das Wort für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Ingrid Remmers. (Beifall bei der LINKEN) Ingrid Remmers (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland ein Problem mit Rechtsextremismus. Einigen ist diese Erkenntnis früher, anderen später gekommen. Spätestens seit der Aufdeckung des NSU-Terrors kann aber wohl niemand mehr leugnen, dass alle friedliebenden Menschen gemeinsam gegen Nazis vorgehen müssen. Rechtsextremismus gefährdet das friedliche Zusammenleben; er gefährdet die Meinungsfreiheit, die Sicherheit des Einzelnen und nicht zuletzt unser Bild im Ausland. (Beifall bei der LINKEN) Erst in den vergangenen Tagen sind wieder Waffenlager von Neonazis in verschiedenen Bundesländern entdeckt worden. Mein Wahlkreisbüro in Ahlen wurde in nicht einmal zwei Jahren bereits dreimal von Rechtsex-tremen angegriffen; ähnlich geht es vielen anderen linken Abgeordneten. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das erlebe ich in Göttingen auch!) Aber nicht nur deswegen bin ich immer wieder froh, zu sehen – ob in Dresden, Münster oder anderswo –, dass viele Bürgerinnen und Bürger friedlich, humorvoll und effektiv gegen Nazis demonstrieren und ihre Aufmärsche zum Desaster machen. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Umso schockierender ist es, wie auf den friedlichen Protest vonseiten der Behörden und auch von Teilen der Regierungen in Bund und Ländern immer wieder reagiert wird. Das beginnt mit der illegalen Sammlung von Handy-daten in Dresden, geht weiter mit der unerklärlichen -Tatenlosigkeit der Verfassungsschützer bei den NSU-Morden und endet beim Verhalten vieler Polizeieinheiten gegenüber friedlichen Gegendemonstranten bei -Naziaufmärschen. Ja, ich weiß, dass auch Rechtsextreme in einem Rechtsstaat Versammlungsfreiheit genießen. Ich weiß aber auch, dass die Polizei nicht unter allen Umständen gezwungen ist, einer Nazidemo den Weg freizuprügeln. Hier muss doch die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. (Beifall bei der LINKEN) Ich bin weiterhin der Meinung, dass friedliche Sitzblockaden der Demoroute keine Straftat darstellen. -Darin wird mir sicherlich auch Herr Thierse zustimmen, gegen den schon einmal ein Verfahren wegen Nötigung eingeleitet wurde, weil er in Berlin friedlich sitzend den Nazis den Weg versperrt hatte. Dieses Verfahren wurde letztlich wegen geringer Schuld eingestellt. Anders als bei meinen Parteikollegen Janine Wissler, Willi van -Ooyen, André Hahn und Bodo Ramelow wäre wahrscheinlich auch niemand auf die Idee gekommen, Herrn Thierse deswegen die Immunität abzuerkennen. Meine Immunität als Abgeordnete wurde am letzten Samstag von in Münster eingesetzten Polizeikräften massiv beschädigt. Trotz meiner Kenntlichmachung als parlamentarische Beobachterin wurde ich von einer Polizeibeamtin tätlich angegriffen und anschließend festgenommen, nachdem ich darum gebeten hatte, in einem Konflikt deeskalierend wirken zu dürfen. Aber mein Beispiel steht nur exemplarisch für die vielen Menschen, die dem Aufruf, auch der Politik, folgen und tatsächlich Zivilcourage zeigen (Beifall bei der LINKEN) und die zum Dank zunehmend in ihrer Bewegungsfreiheit und, wie auch in Münster, in einer Vielzahl ihrer Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden. Das darf in einem Rechtsstaat nicht passieren. (Beifall bei der LINKEN) Es ist doch paradox, dass heutzutage in Deutschland den Nazis ihre grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit gewährt wird und sie so mit ihrer menschenverachtenden Ideologie durch die Städte ziehen dürfen, während gleichzeitig der berechtigte und auch so notwendige Protest der Couragierten auf abgeschiedene Kundgebungsplätze ausgelagert wird, wo ihn niemand sieht oder hört. Es ist doch paradox, dass sich wegen der Nazis Menschen mit Zivilcourage in ihrer eigenen Stadt nicht mehr frei bewegen dürfen und dass die Wasserwerfer der Polizei auf Demokratinnen und Demokraten statt auf Nazis zielen. Ein Blick ins Internet zeigt: Die Nazis -lachen sich darüber kaputt. Es ist auch paradox, dass -Anwohnerinnen und Anwohner vorab von der Polizei aufgefordert werden, keine Protestplakate und Trans-parente aufzuhängen, weil die Nazis gefährlich sind. (Zurufe von der LINKEN: Unglaublich! Unerhört!) Die im Vorfeld in Münster getroffenen Absprachen der Polizei mit den Menschen in den Wohnvierteln wurden so desaströs nicht umgesetzt oder gar ins Gegenteil verkehrt, dass die Anwohnerinnen und Anwohner nun einen offenen Brief an den Polizeipräsidenten und die Öffentlichkeit gerichtet haben. Dazu ein kleiner Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Egal wie groß möglicherweise Ihre Vorurteile gegenüber den meist jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten sind, zeigt das Ganze einmal mehr, dass dieses Problem längst die Mitte der Gesellschaft erreicht hat und deshalb auch Sie ansprechen sollte. (Beifall bei der LINKEN) Nicht erst seit dem letzten Samstag, der mich per-sönlich sehr verstört hat, wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche und politische Debatte darüber, wie wir künftig damit umgehen wollen, dass zugunsten der Grundrechte von Nazis die Grundrechte von Demokratinnen und Demokraten eingeschränkt werden. Ja, wir müssen gemeinsam dahin kommen, das Grundgesetz zu achten, aber für alle Menschen, allen voran die sogenannten Aufrechten. Dazu gehört unter anderem die Kenntlichmachung der Polizeibeamtinnen und -beamten und der Abzug der V-Leute aus der NPD. Dazu gehört auch, dass die gesamte bisherige Vorgehensweise auf den Prüfstand gestellt wird und neue Wege gesucht werden. Lassen Sie uns zusammen diese inzwischen verkehrte Welt wieder zurechtrücken. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zuerst möchte ich denjenigen danken, die am vergangenen Samstag in Münster gegen den Neonazi-Aufmarsch demonstriert haben. Ich danke auch Ihnen, Frau Remmers, dass Sie die Situation so, wie sie ist, angesprochen haben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich brauche dazu keine Ausführungen zu machen. Es ist gut, wenn die Situation und die Sorgen, die wir mit dem Neonazi-Aufmarsch und allem, was drumherum passiert ist, haben, deutlich angesprochen werden. Schlimm ist aus meiner Sicht, dass es noch immer 300 Neonazis gab, die den Weg nach Münster gefunden haben und ihre -unsäglichen Parolen in die Öffentlichkeit haben tragen können. Wir haben keine Toleranz gegenüber diesen Neonazis, weder inhaltlich noch personell. (Beifall im ganzen Hause) Positiv ist aber, dass 5 000 Männer und Frauen ein Zeichen gegen diese dummen Menschen gesetzt haben (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und dass auch Abgeordnete aus Bund und Land darunter waren. Wichtig ist dabei, dass die weit überwiegende Mehrheit der Demonstrantinnen und Demonstranten friedlich ein Zeichen gesetzt hat, so wie es das Demon-strationsrecht gebietet, ein Recht, um das uns andere -Gesellschaften beneiden. Sie haben damit auch gezeigt, dass Rassismus, Zerstörung und Gewalt nicht toleriert werden und dass eine zivile Gesellschaft anders miteinander umgeht. Sie haben das beste Vorbild gegeben, wie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit zu nutzen ist. Die Versammlungen müssen friedlich abgehalten werden. Es verbieten sich aggressive Ausschreitungen, das Vorgehen gegen Personen, Sachbeschädigungen einschließlich Schottern, also das Beschädigen von Gleisen, genauso wie Nötigungen; Sie haben das bereits angesprochen. Ich glaube allerdings, dass auch das Anketten an Schienen oder andere Gegenstände den Straftat-bestand der Nötigung erfüllt. Wer meint, gewalttätig -demonstrieren zu müssen, (Zuruf von der LINKEN: Worüber reden Sie eigentlich?) genießt die Versammlungsfreiheit nicht und – passen Sie bitte auf – spielt den braunen Rattenfängern in die Hände. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Einmal zum Thema kommen!) Daher sollten Sie gewalttätige Demonstrationen nicht -tolerieren. (Zuruf von der LINKEN) – Das ist kein Unsinn. Ich erkläre es Ihnen. Genau das wollen Rechtsradikale, Rechtsextreme bzw. rechte Terroristen doch. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sie bringen -einiges durcheinander!) Sie wollen, dass ihre Aktionen medial immer wieder in den Fokus gerückt werden. Deswegen bitte ich Sie: -Unterstützen Sie gewaltfreie Demonstrationen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das könnte die CDU auch mal machen!) Das, was Sie, meine Damen und Herren von der Linken, heute machen, ist falsch. Ich wünsche mir, dass wir in Respekt vor der Sache etwas gemäßigter miteinander debattieren. Sie wollen politischen Nutzen aus dem -Engagement gegen rechts ziehen. (Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Unverschämtheit! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir engagieren uns seit Jahrzehnten, im -Gegensatz zu Ihnen!) Ich weiß, dass gerade die Polizei in Münster allen -Abgeordneten die Teilnahme an der Demonstration eingeräumt hat und dass es Leitlinien der Einsatzleiter gab, wonach Abgeordnete betreut und an alle Orte gefahren werden sollten, zu denen sie möchten. Dazu musste man sich natürlich bei der Polizei anmelden und seinen Abgeordnetenausweis mitbringen, so wie es der CDU-Kollege Josef Rickfelder und zwei Kolleginnen von den Grünen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag getan haben. Diese Abgeordneten hatten sich angemeldet und sind mit der Polizei zu den jeweiligen Orten gefahren. Die Polizei ist hier kooperativ. Man muss dieses Angebot aber auch wahrnehmen. Frau Remmers, Sie haben das nicht gemacht. Sie -haben sich weder angemeldet noch ihren Abgeordnetenausweis dabei gehabt. (Zuruf von der LINKEN: Wie kommen Sie denn dazu?) – Das ist so. Frau Remmers hat das in einem Interview selbst gesagt. Da müssen Sie Ihre Kollegin schon fragen. Die Polizei ist des Weiteren bemüht, dann, wenn -jemand behauptet, Abgeordneter zu sein, das aufzuklären. Nur muss der Betreffende mitwirken. Der Polizeipräsident Hubert Wimber hat aber auch gesagt, er hätte sich eine optimalere Verhaltensweise seiner Polizei -gewünscht. (Zuruf von der LINKEN: Er soll sich entschuldigen!) Juristisch gesehen war der Einsatz jedenfalls nicht rechtswidrig; er war einwandfrei. Frau Kollegin, Sie sind im Rahmen einer polizeilichen Aktion in eine körper-liche Auseinandersetzung geraten. (Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Sie waren doch nicht da!) Sie konnten sich nicht ausweisen und sind dem Platzverweis der Polizisten nicht nachgekommen. (Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Sie waren doch nicht dabei!) Daher war es richtig, dass eine Personenidentifizierung stattgefunden hat; denn jeder kann sagen, er sei Abgeordneter, Staatsanwalt oder Polizist. Dann muss man sich entsprechend ausweisen können. Das konnten Sie aber nicht. (Frank Schwabe [SPD]: Sind Sie der Staatsanwalt?) Als Sie zur Dienststelle verbracht wurden, war es richtig, dass Sie durchsucht wurden, und zwar zu Ihrem Schutz, zum Schutz der Polizisten und zum Schutz weiterer -Beteiligter. Dies ist ein völlig rechtmäßiges Verhalten. Ich frage mich, wie in solchen Situationen eine gelbe Weste mit der Aufschrift „Parlamentarischer Beobachter“ helfen soll. Eine solche Funktion gibt es gar nicht. Zwischen wem wollten Sie eigentlich schlichten, Frau Kollegin Remmers? Wollten Sie zwischen rechte und linke Gewalttäter gehen? Wollten Sie dort dazwischengehen, wo die Polizei ihren Kopf hinhalten muss? (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist dummes Zeug, was Sie sagen!) Oder wollten Sie nicht eher zwischen linke Demonstranten und die Polizei gehen, um Aktionismus zu zeigen und Ihre Klientel zu bedienen? Ich halte das alles für nicht sehr glücklich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, dass Sie fast nie auf Demos sind! Keine Ahnung!) Ich würde mir wünschen – das ist mein letzter Satz –, dass Zivilcourage sich dadurch zeigt, dass wir gemeinsam für eine zivile Demonstration ohne Gewalt einstehen – da bin ich gerne mit Ihnen gemeinsam bei der nächsten Demonstration dabei, Frau Remmers –, aber dann, wenn Gewalttaten stattfinden, die staatlichen -Organe unterstützen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass es in einer Aktuellen Stunde keine Kurzinterventionen gibt, auch wenn jemand persönlich angesprochen worden ist. – Jetzt gebe ich Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sensburg, Sie haben wirklich gut angefangen und auch Applaus bekommen. Das, was danach kam, wurde aber immer unterirdischer. Dazu komme ich gleich auch noch. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich für mich persönlich kurz zusammenfassen sollte, was das beste Rezept gegen Nazis und gegen menschenverachtende Ideologie ist, würde ich zwei Punkte nennen. Erstens: niemals Räume lassen; die Räume für Nazis und für rechtsextreme Ideologie dichtmachen. Zweitens: Solidarität der gesamten Bevölkerung mit den Betroffenen erklären. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „Keine Räume lassen“ meine ich in vielfältiger Hinsicht. Wir dürfen keine Jugendklubs und keine Vereine den Nazis überlassen. Wir dürfen Szeneläden nicht -akzeptieren, wie das gerade in Chemnitz passiert ist. Dort ist ein neuer Thor-Steinar-Laden eröffnet worden – zunächst unter dem Namen „Brevik“. Da fehlt nur das I zu dem Namen des Massenmörders, der in Norwegen zahllose sozialdemokratische Jugendliche niedergemetzelt hat; ein wirklich widerwärtiger Vorgang. Es war der Widerstand der Chemnitzerinnen und Chemnitzer, der zumindest in einem ersten Erfolg zur Umbenennung dieses Ladens geführt hat. Ich spreche hier bewusst von -einem ersten Schritt. Wir dürfen solche Szeneläden in unserem Land generell nicht akzeptieren. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „Keine Räume“ bedeutet auch, Nazis nicht in Parlamente zu lassen, also Wahlkampf zu machen. Das heißt, Räume über den Stammtischen nicht preiszugeben – eine der schwersten Aufgaben, glaube ich. Es heißt aber auch, dieser Ideologie und den Nazis auf der Straße keine Räume zu lassen; weder den Kameradschaften, die ganze Ortschaften drangsalieren – da ist sicherlich vor allen Dingen die Polizei gefragt –, noch bei Demonstrationen. Dafür ist neben staatlichen Institutionen und der Polizei auch eine starke Zivilgesellschaft besonders wichtig. Zumindest verbal hat die Bundesregierung das auch anerkannt. Ich habe die Merkel-Rede bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des NSU sehr wohl gehört. Ehrlich gesagt, bin ich während ihrer Rede aber ganz unruhig auf meinem Stuhl hin und her gerutscht; denn das, was sie da erzählt hat, passt leider mit der Realität und der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht -zusammen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieses Jahr bin ich wieder Erstunterzeichnerin des Aufrufs des Bündnisses Dresden-Nazifrei gewesen, weil ich das gemeinschaftliche friedliche Entgegentreten -gegenüber Nazis legitim finde. Und mehr noch: Ich glaube sogar, dass Menschen, die das tun, unser aller -Solidarität brauchen. Herr Sensburg, ich gebe die Aufforderung gerne an Sie zurück. Unterstützen auch Sie als CDU friedliche Demonstrationen gegen Rechtsextremismus. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU] – Zuruf von der FDP: Friedliche, ja!) Da haben Sie noch Luft nach oben, und zwar jede Menge. Ich rate uns allen dazu, das Vorgehen gegen die Kollegin Remmers sachlich und ruhig zu klären. Es ist in unser aller Interesse und im Interesse unserer Demokratie, dass hier ein vernünftiger Umgang gefunden wird und auch Entschuldigungen ausgesprochen werden. Ich habe gegenüber der Bundesregierung aber auch noch an anderen Stellen ein mulmiges Gefühl, wenn ich mir anschaue, mit welchem Misstrauen sie der Zivil-gesellschaft gegenübertritt. Als erstes Stichwort nenne ich die Extremismusklausel der Ministerin Schröder. Sie ist absurd, sie ist schändlich, und sie behindert die Zivilgesellschaft da, wo diese notwendig ist. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu nennen ist aber auch ihr Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus. Das ist aus meiner Sicht eine Verstaatlichung von Aufgaben, die die Zivilgesellschaft in der Vergangenheit schon ganz gut hinbekommen hat (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Verstaat-lichung? So ein Quatsch!) und auch in Zukunft sicherlich sehr gut hinbekommen würde, wenn man sie denn ließe. Stattdessen steht jetzt das Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus im Raum. Über den Sachstand informiert man sich aus meiner Sicht am besten in der letzten Ausgabe der heute-show. Bisher ist da nämlich überhaupt nichts geklärt. Das dürfen wir uns nicht leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich muss ganz generell sagen: Ihre Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus kommt im Moment ohne viel Sachverstand aus. (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Wie Ihre Rede!) Ich lese in Ihren Texten immer häufiger davon, dass Sie pädagogisch-präventive Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen vorantreiben wollen. Das Ganze kulminiert aus meiner Sicht in der absurden Förderung des Projektes „Dortmund den Dortmundern“, in dem normale Jugendliche mit Autonomen Nationalisten zusammenarbeiten sollen. Werte Kolleginnen und Kollegen, ich stand mit 20 Jahren das erste Mal vor einer Schulklasse und habe antirassistische Bildungsarbeit gemacht. Ich kann Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung sagen: Mit einem rechtsextremen Jugendlichen in einer Schulklasse kommt man klar; da kann man etwas bewirken. Aber wenn Sie glauben, man könne mit einer ganzen Gruppe von rechtsextrem orientierten Jugendlichen arbeiten, dann muss ich sagen: Sie haben von politischer Bildung wirklich keine Ahnung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist absurd, das ist Geldverschwendung, und das ist naiv. Wenn Naivität und Rechtsextremismus zusammenkommen, dann wird es gefährlich. Ich kann Ihnen nur raten, sich auf den Hosenboden zu setzen, sich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammenzusetzen, zuzuhören, nachzudenken (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: „Nachdenken“ ist das richtige Stichwort!) und die Zivilgesellschaft einzubinden, statt sie verächtlich zu machen. Derzeit jedenfalls muss ich sagen: Diese Bundesregierung ist im Bereich Prävention gegen Rechtsextremismus extrem versetzungsgefährdet. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich den Titel der heutigen Aktuellen Stunde las, habe ich mich gefreut. Es geht darum, dass die Linke das Thema auf die Tagesordnung bringt, wie man Rechtsextremismus in Deutschland bekämpft. Das tut man am besten, indem man mit Zivilcourage die Zivilgesellschaft Gesicht zeigen lässt, indem man demonstriert, indem man immer wieder dagegen eintritt, wenn Intoleranz und ein feindliches, unchristliches Menschenbild die Diskussion beherrschen. (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Richtig!) Gegen Rechtsextremismus kämpft man nicht allein mit repressiven Mitteln. Natürlich müssen Straftäter verfolgt werden, natürlich müssen Menschen, die Verfassungsfeinde sind, beobachtet werden, und natürlich müssen wir dafür sorgen, dass Prävention auch im Bereich Strafrecht Platz greift. Aber wir werden den Kampf gegen rechts nicht gewinnen, wenn wir nicht alle die Bindungskräfte unserer Parteien, der FDP, der CDU, der CSU, der SPD, der Grünen und auch der Linken, nutzen, um den Kampf gegen die Überzeugungen der Rechts-extremen zu gewinnen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, dass ein Ansatz, der allein auf Verbote setzt, etwa darauf, die NPD oder bestimmte Vereine zu verbieten – so sinnvoll das im Einzelfall sein mag –, zu eindimensional ist. Er wird deswegen nicht tragen. Das war der erste Punkt. Mein zweiter Punkt. Ich war allerdings betrübt, dass wir anlässlich eines Einzelfalls ein solch wichtiges Thema diskutieren. Es handelt sich um einen Einzelfall, den keiner von uns abschließend beurteilen kann. Herr Sensburg hat dazu viele richtige Worte gefunden. Ich glaube, dieses Thema ist zu ernst, als dass wir eine einzelne Demonstration und einen einzelnen Vorfall für eine Aktuelle Stunde missbrauchen und ins Zentrum der Debatte rücken sollten. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ist leider kein Einzelfall!) Wir müssen uns darüber einig werden, dass wir alle gemeinsam gegen rechts vorgehen, statt solche Einzelfälle zu diskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zur Aufklärung solcher Fälle gibt es Behörden in diesem Staat, etwa Strafverfolgungsbehörden. Man kann Rechtsmittel einlegen, wenn man unrecht behandelt worden sein sollte, was sich mir bei Ihnen, Frau Remmers, noch nicht erschließt. Aber es ist nicht die Aufgabe des Parlaments, eine Art Ersatzstrafverfolgungsbehörde oder Demonstrationsfreiheitssicherungsbehörde zu werden; vielmehr müssen wir Parlamentarier uns über das politische Vorgehen gegen Rechtsextremismus verständigen. Ein dritter Punkt. Ich glaube, wir müssen unseren Extremismusbegriff schärfen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Frau Lazar, ich hoffe, Sie klatschen gleich immer noch. – Wir haben einerseits, wie im Antisemitismusbericht der Bundesregierung sehr überzeugend dargelegt, linksextremistische Tendenzen in unserer Gesellschaft, die diesen Staat bedrohen, wir haben religiös motivierten Extremismus in Deutschland, und – das ist das gravierendste Problem – wir haben Rechtsextremismus in Deutschland. Immer dann, wenn wir in diese Links-rechts-Debatten verfallen, (Zuruf von der LINKEN: Was?) wenn wir nicht sagen: „Jede Form des Extremismus muss verfolgt und bekämpft werden“, dann tun wir der Sache keinen Gefallen. (Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Wir müssen stattdessen dafür sorgen, dass in Deutschland jede Form von Extremismus bekämpft wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich persönlich verstehe auch nicht, warum Sie sich damit so schwertun, weil ich Sie alle als gute Demokraten kennen und schätzen gelernt habe. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Alle?) – Fast alle, Herr Kauder. – Deswegen müsste es Ihnen doch ein Leichtes sein, sich von solchen Tendenzen abzugrenzen. Ein vierter Punkt. Natürlich können wir den Extremismus in Deutschland nicht überall mit den gleichen Mitteln bekämpfen. Es ist eben nicht sinnvoll, die gleichen präventiven Maßnahmen gegen rechts wie gegen links einzusetzen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) es ist nicht sinnvoll, religiös motivierten Extremismus genau so anzugehen wie den Rechtsextremismus. Wie erinnern uns vielleicht an die 90er-Jahre, als in Deutschland viele Menschen entsetzt über das waren, was beispielsweise in Rostock geschehen ist. Wir erinnern uns auch an die Präventionsprogramme, die damals aufgelegt wurden. Aus heutiger Sicht wirken sie fast hilflos. Warum? Sie waren gut gemeint, aber es gab keine klare Vorstellung davon, wo der politische Extremismus in Deutschland sitzt, welche Strukturen er hat und wie man ihn angehen muss. Insofern sind wir heute deutlich weiter. Unsere Erkenntnisse sollten wir auf die Bekämpfung auch des Linksextremismus und des religiösen Extremismus übertragen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Schlussendlich freue ich mich über den Ansatz der Linken: Zivilcourage, Aufstehen, Gesicht zeigen, im persönlichen Umfeld für Toleranz kämpfen, auch für Toleranz unter uns allen als Demokraten – das ist, glaube ich, ein besserer Ansatz als ein rein repressives System. Nur wenn wir die Mitte der Gesellschaft stärken, werden wir diesen Kampf gewinnen. Dazu fordere ich alle auf. Ich freue mich, wenn wir das gemeinsam tun können. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So wie der Anfang der Rede des Kollegen Sensburg gut war, war der Schluss der Rede vom Kollegen Ruppert gut. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Es werden Noten vergeben! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Oberlehrerin!) Ich denke, wir sind uns wirklich im gesamten Hause einig, dass Zivilcourage wichtig ist. Ich erinnere daran, dass in Münster das gesamte demokratische Spektrum zur Demonstration aufgerufen hat, also auch CDU und FDP. Das ist sehr gut und ist bei dem Thema auch sehr wichtig. Wir sollten uns dabei so wenig wie möglich auseinanderdividieren lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Allerdings ist es so, dass sich bei Demonstrationen die Abgeordneten nicht bei der Polizei anmelden müssen. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen unseren Abgeordnetenausweis dabeihaben, damit wir ihn der Polizei vorzeigen können, aber wir müssen uns nicht anmelden. Das ist in diesem Zusammenhang wichtig. (Iris Gleicke [SPD]: Das wäre ja noch schöner! Da würde ich mich herzlich bedanken, wenn ich mich irgendwo anmelden müsste!) Die Polizei muss natürlich eine Demonstration schützen, egal welche; denn das Versammlungsrecht ist ein Grundrecht und ist deshalb sehr hoch angesiedelt. Allerdings ist es nicht hinnehmbar, wenn die Polizei unverhältnismäßig reagiert. In diesem Sinne müssen die Vorkehrungen, die in Münster getroffen worden sind, untersucht und ausgewertet werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Demonstrationen und auch Blockaden können wichtig und notwendig sein. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht das Gleiche!) Ich möchte einige Beispiele der letzten Wochen aus Sachsen erzählen. Sachsen ist meistens berühmt für seine negativen Beispiele, aber in den letzten Wochen hatten wir auch Positives zu berichten. Am letzten Montag gab es eine sehr große Antinazidemo in Chemnitz, wo die Rechtsextremen wieder einmal ihren sogenannten Trauermarsch durchziehen wollten. Dort ist es der Polizei gelungen, deeskalierend zu wirken und dafür zu sorgen, dass Demonstrationen in Hör- und Sichtweite möglich waren. Das ist gut so, und das ist wichtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Genauso gut hat es in diesem Jahr in Dresden geklappt. Am 13. Februar, als die Nazis in Dresden den Tag der Bombardierung ausnutzen wollten, gab es friedliche Blockaden, die wichtig waren, weil die Strecken freigehalten wurden. Es ist friedlich geblieben. Auch hier hat die Polizei deeskalierend eingewirkt. Die Nazis mussten ihre Route verkürzen. Sie sind einmal kurz um den Block gelaufen und haben sich darüber wahrscheinlich nicht sehr gefreut. Am 18. Februar haben wir dann noch einmal eine gut besuchte, bunte Demo in Dresden gehabt. Seit vielen Jahren gibt es eine gute Arbeit vor Ort in Dresden. Es ist das dritte Jahr in Folge, dass die Demonstration so erfolgreich war. Ich möchte von hier aus allen Demons-trantinnen und Demonstranten von nah und fern danken, dass sie uns bundesweit unterstützt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern ist es, bei Demonstrationen unterstützend, beobachtend und deeskalierend tätig zu sein. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Was? Wo steht das?) Allerdings ist es auch Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Initiativen zu schaffen, das heißt für uns, die passenden präventiven Programme für die Bürgerinnen und Bürger aufzulegen, die sich in ihrer Region gegen alte und neue Nazis engagieren. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wir haben Gewaltenteilung!) Man muss leider konstatieren, dass die Regierung hier in den letzten Jahren nichts dazugelernt hat. Die Ministerin legt lieber Programme gegen sogenannten Linksextremismus auf. In der letzten Woche war in den Medien zu lesen, dass das Deutsche Jugendinstitut, das eine Evaluation dieses Programms durchgeführt hat, diesem Programm ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt hat. Es wurde kritisiert, dass der Begriff „Linksextremismus“ wissenschaftlich völlig unzureichend ist. Man kann nicht die richtigen Programme auflegen, weil man gar nicht weiß, was da der Ansatz ist. Deshalb rufe ich die Ministerin auf, die 2,5 Millionen Euro endlich den Programmen gegen Rechtsextremismus zur Verfügung zu stellen; denn dort ist das Geld immer noch sehr nötig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Kollegin Kolbe hat die Extremismusklausel angesprochen. Nach den aktuellen Vorfällen kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, dass Sie immer noch daran festhalten und ausgerechnet von denen, die sich tagtäglich, auch in schwierigen Regionen, für unsere Demokratie engagieren, eine Unterschrift abverlangen. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wo ist das Problem?) Das ist wirklich kontraproduktiv. Von daher – auch wenn Sie es nicht mehr hören können; wir machen so lange weiter, bis wir es geschafft haben –: Die Extremismusklausel muss wirklich endlich weg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wo ist das Problem?) Positiv zu erwähnen ist, dass wir im November nach den Erkenntnissen zum NSU wirklich einmal einen gemeinsamen Antrag hinbekommen haben. Damit ist jetzt im gesamten Spektrum hier im Bundestag klar: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Allerdings: Was kam danach? Aktionismus! Ministerin Schröder stellt das nun doch nicht gekürzte Budget der Bundesprogramme nicht den Initiativen zur Verfügung, sondern schafft ein Informations- und Kompetenzzentrum. Ich kann nur noch einmal wiederholen: Es gibt genügend Know-how und Vernetzung. Was fehlt, ist die nachhaltige Förderung. Das ist die Hauptaufgabe. Es geht nicht darum, noch zusätzliche Strukturen zu schaffen, die den Leuten vor Ort überhaupt nicht zugutekommen. Ganz zum Schluss möchte ich sagen, dass wir die richtigen Lehren aus all den Ereignissen ziehen müssen, egal ob wir auf Demonstrationen, auf der Straße oder hier im Plenum sind. Wir müssen mehr in unsere Demokratie investieren. Wir müssen die engagierten Initiativen und Projekte unterstützen und dürfen sie nicht, wie es die Koalition immer noch tut, behindern. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist schauderlich und erschreckend, dass in unserem Land fast kein Wochenende mehr vergeht, an dem sich nicht in irgendeiner Stadt, in irgendeiner Gemeinde rechtsradikale Fratzen zeigen und ihre widerwärtigen und menschenverachtenden Parolen kundtun. Ich möchte gerade deshalb wirklich an dieser Stelle all denjenigen ganz herzlich danken, die jedes Wochenende Gesicht zeigen und deutlich machen, dass Rechtsradikale, dass Neonazis in Deutschland nichts zu suchen haben, dass sie nicht willkommen sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hunderte von Menschen zeigen jedes Wochenende in Deutschland Gesicht. Sie zeigen damit Zivilcourage. Auch in meinem Wahlkreis, der sehr ländlich strukturiert ist, gab es in der jüngsten Vergangenheit zwei schreckliche Vorfälle. Zweimal fanden Aufmärsche von Neonazis statt; einmal ist ein Gasthof okkupiert worden. Ich bin froh, dass es beide Male möglich war, in einem breiten gesellschaftlichen Konsens alle politisch und gesellschaftlich relevanten Gruppierungen dazu zu bringen, Gesicht zu zeigen. Die Gegendemonstrationen verliefen durchweg friedlich, ohne Waffen, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Waffen? – Gegenruf des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Grundgesetz!) und so soll es auch sein. Art. 8 Grundgesetz schützt die Versammlungsfreiheit in Deutschland. Das ist mit Sicherheit eines der wichtigsten und vornehmsten Grundrechte. Er schützt das Recht aller Deutschen, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Leider sind die Demonstrationen am vergangenen Samstag in Münster-Rumphorst diesem Kriterium nicht gerecht geworden. Es gab neun Gegendemonstrationen – an einer davon haben Sie, Frau Kollegen Remmers, teilgenommen –, die nicht friedlich waren. Ich möchte nur einmal aus der Berichterstattung der örtlichen Presse zitieren: Es gab mehrere Antifa-Demonstranten, die -extra zur Gegendemonstration anreisten, Waffen und Feuerwerkskörper bei sich führten und diese nicht der Polizei übergeben wollten, als sie dazu aufgefordert wurden. Sie wurden daraufhin festgenommen, und ihr Zug musste vollständig geräumt werden. Friedlicher Protest sieht anders aus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mehrmals haben bis zu 300 Menschen, teilweise vermummte Gegendemonstranten, versucht, Absperrungen zu durchbrechen, was ihnen an mindestens zwei Stellen auch gelang. Friedlicher Protest sieht anders aus. Polizisten sind mit Steinen und Wasserflaschen durch Gegendemonstranten mehrmals beworfen worden. Friedlicher Protest sieht auch hier anders aus. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt sind am vergangenen Samstag in Münster sechs Menschen verletzt worden, darunter vier Polizeibeamte. Es sind insgesamt 24 Personen festgenommen worden, überwiegend wegen des Vorwurfs, Körperverletzungen begangen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben. (Zuruf von der LINKEN: Ja, durch Friendly Fire! – Gegenruf des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist menschenverachtend, was Sie da machen von der Linken!) 32 Personen wurden in Gewahrsam genommen, 62 Personen wurden Platzverweise erteilt. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, wie die Vorgeschichte dieser Gegendemonstration aussah. So hatten sich am 1. März die Vertreter des Aktionsbündnisses „Keinen Meter den Nazis“ zu einer Strategiebesprechung versammelt, bei der die Gegendemonstrationen vorbereitet werden sollten. Vor 150 Teilnehmern wurden Hilfestellungen und Anleitungen gegeben, wie man am effektivsten Polizeiabsperrungen umgeht. Zusätzlich wurden die Teilnehmer darüber „informiert“, dass bei Massendelikten dieser Art die Strafverfolgung an ihre Grenzen stößt oder teilweise gänzlich unmöglich gemacht wird. Dann verwundert es nicht, wenn sich zwei Tage später mehrere Hundert Menschen bewusst gegen die Anordnungen der Einsatzkräfte stellen und somit -gegen das Versammlungsrecht verstoßen. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ja, wie die Kollegin auch!) Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen deutlich gemacht, dass Art. 8 des Grundgesetzes -politisch neutral ist. Er schützt sowohl Meinungen und Äußerungen von Rechten als auch von Linken. Als gute Demokraten müssen wir aushalten, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) dass wir uns mit Äußerungen und Meinungen konfrontiert sehen, die uns nicht lieb sind. Es ist aber nicht -hinnehmbar, dass unter dem Mantel der Versammlungsfreiheit Straftaten begangen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies war in eklatanter Form am vergangenen Samstag in Münster der Fall. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sie waren ja gar nicht dabei!) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, ich halte es für einen Treppenwitz, dass ausgerechnet Sie sich zum Gralshüter der -freiheitlich-demokratischen Grundordnung und unserer sozialen Marktwirtschaft machen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie trifft man bei solchen Demos ja nicht!) Ausgerechnet Sie, die offenkundig verfassungswidrige Tendenzen aufweisen, über eine kommunistische Plattform verfügen, die 1 500 Mitglieder hat, (Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) die Ergebenheitsadressen an einen Fidel Castro zu dessen 85. Geburtstag schreiben, die immer noch Probleme mit dem Existenzrecht Israels haben, gerieren sich hier als großer Gralshüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Kollege Mayer, das ist wirklich peinlich!) Das ist wirklich schauderlich. Das ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. (Iris Gleicke [SPD]: Das ist schauderlich, was Sie hier reden!) Ich kann hier nur sagen: Versammlungsrecht ist wichtig. Art. 8 ist ein wichtiges Grundrecht. Es gilt, dies zu achten und die Regeln einzuhalten, wenn man Gegendemonstrationen vornimmt. In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und Herren: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Zuruf von der LINKEN: Peinlich!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sönke Rix (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu einem Satz, den Sie, Herr Kollege, gerade geäußert -haben, möchte ich vor allem Stellung beziehen. Sie -haben gesagt: Wir müssen es aushalten, wenn es linke Demonstrationen gibt und wenn es rechte Demonstrationen gibt. – Nein, wir müssen rechte Demonstrationen nicht aushalten. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dies passt auch in Ihrer Rede nicht zusammen: In Ihrem ersten Satz haben Sie erst denjenigen gedankt, die auf die Straße gehen, um gegen Rechtsextremismus und -gegen die Demonstration zu demonstrieren, und dann anschließend gesagt, wir müssten sie aushalten. Das passt nicht zusammen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Da haben Sie etwas verwechselt!) Nein, wir brauchen allen zivilgesellschaftlichen Mut dazu, dagegen anzugehen, allen friedlichen Mut dazu, dagegen anzugehen. Den sollten wir auch nutzen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich danken wir allen gemeinsam, die auf die Straße gehen, wenn irgendwo Nazis aufmarschieren wollen, und gegen Rechtsextremismus demonstrieren. Genau dann ist es richtig und wichtig, sich zu zeigen, statt sich zu verstecken. Wir alle kennen die Diskussionen in einigen Orten und Kreisen, wo es dann heißt: Ach komm, wenn die da sind, lasst die doch einfach marschieren. Schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit; das -haben sie doch alles gar nicht verdient. – Nein, wir müssen aufmerksam sein; denn wenn wir sie nicht wahrnehmen und nicht beobachten, dann begehen sie noch viel mehr schlimme Taten. Deshalb brauchen wir sichtbare Gegendemonstrationen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Der Anstand der Anständigen und der Zuständigen schließt uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich auch mit ein. (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) Wir sind Vorbilder für die Zivilgesellschaft, wir sind hoffentlich auch alle Teil dieser Zivilgesellschaft. Deshalb sollten wir nicht nur dann zu Demonstrationen gehen, wenn es vielleicht gerade en vogue ist; vielmehr sollten wir auch dann demonstrieren und gegen Nazis auf die Straße gehen, wenn es gerade nicht en vogue oder vielleicht schwierig ist, auf der Straße zu stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hier fehlt es manchmal am ganz breiten Bündnis. Die Gewerkschaften und die Kirchen sind immer mit dabei; meistens auch die Sozialdemokraten, die Linken und die Grünen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Und die Autonomen?) Aber das Schmieden großer Bündnisse scheitert häufig daran, dass vonseiten der CDU, CSU oder FDP niemand teilnehmen will. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wenn Sie die Autonomen mit drauf -haben!) Jeder Protest gegen Nazis muss unterstützt werden. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht jeder! Nein, nein, nein!) – Jeder friedliche Protest muss unterstützt werden. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ja!) Wenn es dabei nach Ihrer Ansicht Menschen gibt, die sich mit einreihen und die nicht friedlich sind, dann müssen Sie zeigen, dass Sie als friedliche Gruppe größer sind. Also reihen Sie sich mit ein und zeigen Sie damit, dass Sie die Unfriedlichen nicht tolerieren! (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sortieren Sie mal Ihre Leute da aus!) Bei der Frage, wie wir mit den Nazis umgehen, geht es um unsere eigene Grundeinstellung zu diesem Thema und darum, was wir ihnen zur Verfügung stellen. Ich habe den Reden genau zugehört und finde es in Ordnung, dass gesagt wird, dass wir uns allgemein mit dem Thema Extremismus beschäftigen müssen. Egal auf -welcher politischen Seite oder in welche Richtung er passiert, wir haben ihn nicht zu dulden. In Debatten aber, in denen es um Zivilcourage gegen den Rechtsextremismus geht, müssen wir uns mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen. Denn im Kampf gegen Nazis und gegen Rechtsextremismus bedarf es einer anderen Zivilcourage und einer anderen Herangehensweise als gegen andere politische Extremisten. Diese Gleichmacherei von Links- und Rechtsextremismus führt leider auch dazu, dass wir die eine Art von Extremismus herabspielen. Nachdem im Zusammenhang mit der Entdeckung der Morde durch die Nazis deutlich geworden war, welche dramatischen Fakten sich dahinter verbergen, darf es nicht sein, dass gleichzeitig die Familienministerin sagt: Aber es gibt auch schlimmen Extremismus auf der linken Seite. – Das ist eine Verhöhnung der Opfer und vor allen Dingen der Angehörigen der Opfer. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kurz nachdem aufgedeckt wurde, dass die Morde von Nazis begangen wurden, haben wir hier gemeinsam -beschlossen, dass wir Hindernisse und Hemmnisse abbauen wollen, um zivilgesellschaftliche Aktivitäten -gegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Bis jetzt ist nichts passiert. Kein einziges Hemmnis ist abgebaut worden. Ein Zeichen können Sie setzen – Herr Kues, bestellen Sie Frau Schröder einen schönen Gruß –: Sie soll endlich die Extremismusklausel wieder abschaffen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme gerade aus dem Untersuchungsausschuss, der die Nazimorde aufarbeiten soll. Wir haben uns als Beweismaterial die Sequenzen aus diesem schrecklichen Film mit dem rosaroten Panther angeschaut, der auch in den Medien eine Rolle spielte. Ich will noch einen -Appell loswerden: Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Nazis unsere Symbole, unsere Plätze und unseren Raum aneignen. Hier müssen wir fortwährend Widerstand leisten und sagen: Nein, all das gehört uns; die Räume, Symbole und Plätze gehören uns. Wir sind die Demokraten, und wir sind in der Mehrheit. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Am 1. Mai gehört die Stadt aber auch nicht den Vermummten, sondern uns!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Patrick Kurth. (Beifall bei der FDP) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein entschiedenes Vorgehen gegen Rechtsextremismus ist Konsens in diesem Hause. Alle demokratischen Kräfte gehen gemeinsam gegen Rechtsextremismus und rechte Gewalt vor. Rechtsextremismus schädigt unsere Gesellschaft, schädigt unsere Demokratie. Insbesondere Deutschland hat eine historische Verantwortung und Sensibilität; wir haben eine wehrhafte Demokratie. Aber es gibt Schwierigkeiten im Umgang mit Rechtsextremismus. Ich will darauf eingehen. In den letzten Jahren, vor allen Dingen in den letzten Monaten – bedingt durch die schrecklichen Taten, die offenkundig wurden und dazu führten, dass über dieses Thema geredet wird –, kamen zu all den berechtigten Diskussionen Phänomene hinzu, gegen die wir uns entschieden gewehrt haben: Es wurde davon geredet, dass es rechts-extreme Hochburgen gäbe, dass ganze Regionen in Deutschland rechtsextrem wären, dass es No-go-Areas gäbe. Da wurde die Situation nicht nur nicht richtig -dargestellt, sondern die Darstellung schlug sogar ins Gegenteil um: Plötzlich spielten Städte in Thüringen wie Jena eine Rolle; ein Parlamentarischer Geschäftsführer forderte hier in einer Debatte, dass die Bundeswehr dort einmarschieren sollte oder Ähnliches. Ich muss sagen: Hier wird die Realität falsch wahrgenommen. Am 20. April 2000, also vor zwölf Jahren, an einem bewussten Datum, gab es in Erfurt, zum ersten Mal in meinem Heimatland, einen Anschlag auf eine Synagoge. Einen Tag später kamen 50 Leute zu Mahnwachen. Einen weiteren Tag später kamen 6 000 Leute zu Demon-strationen und Mahnwachen. Wenn wir diese schreck-lichen Taten in der Öffentlichkeit benennen, dann benennen wir bitte auch im gleichen Atemzuge, dass die Deutschen, in dem Fall die Thüringer, aufstehen und gegen Rechtsextremismus demonstrieren. Die Mehrheit haben die Rechten in keiner einzigen Region in Deutschland, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das zweite Problem in der Debatte, die wir hier führen, ist der Umgang mit dem Begriff „Rechtsextremismus“. Wir Politiker tun immer so, als wäre die Definition von Rechtsextremismus klar, als gäbe es eine eindeutige Begrifflichkeit. Wir dürfen und können es nicht kritisieren, dass das in Überschriften und Aufrufen vereinfacht wird. Aber hier in diesem Raum, in dem wir Gesetze und Maßnahmen beschließen, sollten wir nicht so über Rechtsextremismus reden, als ob jedem klar wäre, worum es geht. Das wird der tatsächlichen wissenschaftlichen, rechtlichen und politischen Debatte nicht gerecht. Sie von der Linken reden in diesem Hause sehr oft von Faschismus, Antifaschismus usw. Diese Begriffe sind aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung völlig raus. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was?) Die Begriffe „Faschismus“ und „Antifaschismus“ können nicht das Phänomen des modernen Rechtsextremismus erklären. Sie befleißigen sich, sie als politische Kampfbegriffe zu verwenden. Das gilt auch für Rot und Grün, die ein Mischmasch der Begriffe „Extremismus“ und „Faschismus“ verwenden und die Ansätze entsprechend vermengen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch! – Zuruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Wir, die bürgerliche Mitte in diesem Hause, gehen von einer Positivierung aus. Wir fragen: „Wofür stehen wir ein?“, und nicht: „Wogegen definieren wir uns?“ Wir stehen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wir wehren uns gegen diejenigen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen, egal ob sie links, rechts, oben, unten, hinten oder vorne sind. Wir bekämpfen diejenigen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir lehnen es deshalb auch ab, Extremisten mithilfe von Extremisten zu bekämpfen; das schließt sich aus. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird ja immer peinlicher!) Wir lehnen es ab, Extremisten mit den Mitteln der Extremisten zu bekämpfen. Das geht nicht. Alle hier sind gegen Rechtsextremismus. Viele haben ein Problem damit, als Antifaschisten bezeichnet zu werden, weil sie dann mit Autonomen, Anarchisten und Fundamentalisten in einer Reihe stehen, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!) die hier nicht hingehören und die unsere Freiheit und Demokratie genauso bekämpfen. Deswegen ist der Begriff „antifaschistisch“ völlig falsch und daneben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, auch das muss gesagt werden: Zu den Mitteln der Extremisten gehört zum Teil auch, Pflastersteine auf Polizisten zu werfen, Versammlungen zu sprengen, Blockaden zu errichten, Polizeisperren mit Gewalt zu durchbrechen. Das hat mit demokratischen Umgangsformen nichts zu tun. Es hat auch nichts mit bürgerlichem Engagement gegen Nazis zu tun. Wir lehnen das entschieden ab. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Am Ende möchte ich sagen: Das Leben ist immer konkret. Wir können hier im Bundestag viele Reden -halten; aber die Probleme müssen vor Ort angepackt werden. (Zuruf von der LINKEN: Genau das machen wir!) – Das machen Sie von der Linken in ganz hervorragender Weise: Es gibt in Sachsen-Anhalt einen Ort, in dem ein hoher Funktionär der NPD in der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr tätig ist. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann gehen Sie doch zu Ihrem FDP-Kollegen! Der wirkt da auch mit!) Die Bürgermeisterin dieses Ortes ist von den Linken. Angesprochen von der FDP, ob man möglicherweise mit der Aufnahme des Passus „Unsere Mitglieder bekennen sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ in die Satzung, wie bei vielen Vereinen in Sachsen-Anhalt oder Thüringen geschehen, dafür sorgen könne, dass der NPD-Funktionär nicht mehr in der Jugendfeuerwehr -tätig ist, sagte diese linke Bürgermeisterin: Nein, den kenne ich persönlich. Ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen. (Zuruf von der LINKEN) Meine Damen und Herren, das Leben entscheidet sich vor Ort. Vor Ort müssen Sie aktiv werden. Daher kann ich Sie nur auffordern: Halten Sie hier keine Schaufensterreden. Seien Sie vor Ort aktiv. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Gehen Sie mit der Demokratie und mit den Antidemokraten richtig um. Setzen Sie sich auch damit auseinander, wie Antifaschisten in diesem Land die Demokratie bedrohen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP – Zurufe von der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Das ist ja peinlich!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die rechte Seite des Hauses hier heute wieder bietet, zeigt, wie Sie Rechtsextremismus weiterhin verharmlosen. Sie versuchen, Opfer zu Tätern umzudefinieren, indem Sie sagen, dass sie entweder etwas mit Gewalttätern zu tun hätten oder dass sie Extremisten seien. Darin sind Sie schon recht geübt. Das haben wir bei den NSU-Morden gesehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Unerträglich! Das ist eine Schweinerei jetzt!) Es ist wirklich ein Skandal, wie Sie hier auftreten. (Beifall bei der LINKEN) Es ist üblich in diesem Haus, dass wir hier insbesondere an Gedenktagen Reden gegen den Rechtsextremismus hören. Am 27. Januar hat der Bundestagspräsident sehr richtige Worte gefunden, als er sagte: Es gibt viele Menschen – beispielsweise Menschen, die in Vereinen organisiert sind –, die den Rechtsextremen, die durch ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten. Es sind Menschen, die Zivilcourage beweisen, nicht wegsehen und Diskriminierung nicht unwidersprochen stehen lassen. Es sind Menschen, die ein Beispiel geben und Mut machen. (Beifall bei der LINKEN) Auch ich, meine Damen und Herren, habe es am letzten Wochenende in Münster sehr ermutigend gefunden, dass Tausende von Münsteraner Bürgerinnen und Bürgern gegen die Nazis auf die Straße gegangen sind und dass vor allem die Anwohner den Nazis, die durch ihre Straßen gingen, mit Transparenten deutlich gemacht haben: Nazis raus! Ihr habt in unserem Land nichts zu suchen! (Beifall bei der LINKEN) Doch der staatliche Umgang mit Zivilcourage gegen rechts ist leider ein ganz anderer als der, der oft in Festtagsreden beschworen wird. Die Polizeiwillkür, die unsere Kollegin Ingrid Remmers in Münster am eigenen Leib erfahren musste, ist leider nur die Spitze des Eisberges. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Warum war das denn Willkür?) Viele junge Menschen, die auf die Straße gehen, müssen diese Polizeiwillkür erleben und werden nicht selten angegriffen. Daher muss man diese Vorkommnisse ernst nehmen, darf sie nicht verharmlosen und darf nicht sagen, das sei alles nicht so schlimm. (Beifall bei der LINKEN) Hier muss man vielleicht auch noch einmal deutlich sagen: Sie sollten von dem Polizeipräsidenten in Münster lernen. Immerhin hat er sich dafür entschuldigt, was seine Polizisten dort veranstaltet haben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, damit es ganz klar ist: Schuld sind keineswegs nur die übereifrigen Polizisten. Die Bundesregierung selbst – das haben wir heute hier gehört – stellt den Antifaschismus unter extremistischen Generalverdacht. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jetzt bin ich die Bundesregierung!) Der Fisch stinkt, wie wir wissen, vom Kopfe her. So heißt es beispielsweise auf der Webseite des Verfassungsschutzes – Zitat –: Der „Antifaschismus“ zielt nur vordergründig auf die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das stimmt doch in weiten Bereichen!) Vielmehr bekämpfen Linksextremisten … die freiheitliche demokratische Grundordnung als „kapitalistisches System“, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das steht auch auf den Antifa-Seiten!) um deren angeblich immanente Wurzeln des „Faschismus“ zu beseitigen. Mit anderen Worten: Wer gegen Nazis auf die Straße geht, der steht in den Augen der Bundesregierung offenbar schon mit einem Fuß außerhalb des Grundgesetzes. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist doch ein Unsinn, Frau Jelpke!) Nach dieser Maxime knebelt übrigens die Familienministerin, die bei dieser Debatte nicht anwesend ist, die zahlreichen bürgerschaftlichen Projekte gegen Rechtsextremismus mit der Extremismusklausel. Es ist heute schon mehrfach gesagt worden, dass diese Klausel weg muss. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nach dieser Maxime prügeln auch Polizisten in Münster und andernorts Nazis den Weg frei. Das muss man ganz klar so sagen. Das ist staatlicher Anti-Antifaschismus in Reinform. (Beifall bei der LINKEN) Ich fordere Sie auf: Lesen Sie, was die Nazis auf ihren Homepages schreiben, dann stellen Sie nämlich fest, dass sich die Nazis eins ins Fäustchen lachen. Tausende Antifaschisten waren in den letzten Jahren aktiv, sie haben sich zum Beispiel im Februar in Dresden dem größten Naziaufmarsch seit Jahren entgegengestellt. Was war die Antwort der staatlichen Seite? Knüppel, Tränengas und ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) und zwar nicht gegen Nazis, sondern gegen Antifaschisten. Millionen von Handydaten von unbescholtenen -Bürgern wurden gespeichert. Die Immunität mehrerer Landtagsabgeordneter wurde aufgehoben, weil sie zur Blockade des Naziaufmarsches aufriefen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sendungsbewusstsein, oder was?) Das ist die traurige Realität, wenn Bürger gegen Nazis aktiv werden. Daran wird sich auch nichts ändern, solange kein Umdenken bei der Regierung und auf der rechten Seite des Hauses stattfindet, solange Sie in Ihrer ideologischen Verbohrtheit (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Antifaschismus für eine Einstiegsdroge zur Revolution halten (Beifall bei der LINKEN) und solange Sie weiterhin beide Augen vor dem alltäglichen Terror der Nazibanden verschließen. Leider ist es Realität, dass Sie jahrelang vor dem Problem des rechten Terrors beide Augen verschlossen haben. (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selbst nicht! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, also bitte!) Seit 1990 haben wir über 160 Tote zu beklagen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja, Sie sind am Ende!) Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. – In diesem Jahr verzichten die Nazis übrigens erstmals darauf, in Dresden zu marschieren. Das ist einzig und allein der Erfolg der Blockaden gewesen. (Beifall bei der LINKEN) Ich kann Sie daher nur aufrufen: Beteiligen Sie sich an den Blockaden gegen die Nazis! (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Aufruf zur Straftat!) Das ist die Sprache, die diese nicht gerne hören. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Ruprecht Polenz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir nicht so sicher, ob der bisherige Verlauf dieser Aktuellen Stunde die Menschen in Deutschland tatsächlich ermutigt, Zivilcourage gegen Nazis zu zeigen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dann tun Sie jetzt Ihren Teil dazu!) Ich befürchte, dass der unbefangene Zuhörer von dieser Aktuellen Stunde den Eindruck vermittelt bekommt: Wir streiten untereinander und verlieren aus dem Blick, worum es eigentlich geht. (Beifall der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Warum ist es wichtig, Zivilcourage gegen Nazis zu zeigen? Es ist wichtig, weil sie unsere Werte nicht teilen, weil sie gegen die gleiche Würde aller Menschen sind und dumpfe Ressentiments vor allen Dingen gegenüber Ausländern schüren, weil sie gewalttätig sind und antisemitisches Gedankengut verbreiten. Es ist allerdings auch zu beobachten, dass manche sich sozusagen zur Tarnung zu 150-prozentigen Freunden Israels gerieren, weil sie dann per definitionem keine Rechtsradikalen mehr sein können und umso ungehinderter ihre Hetze gegen Muslime vom Stapel lassen können. Darum geht es. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man muss diesem Hass und dieser Fremdenfeindlichkeit – vor allen Dingen dem Hass, der sich gegen die Muslime und gegen den Islam richtet und der nichts mehr mit Religionskritik zu tun hat – entgegentreten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich darf Ihnen vor dem Hintergrund der heutigen Debatte eine E-Mail vorlesen, die im Augenblick ziemlich viele Menschen bekommen, die aufgrund ihres Namens als Menschen mit Migrationshintergrund erkennbar sind. Ich zitiere: Wir möchten Sie mit diesem unserem persönlichen Anschreiben dazu veranlassen, in Ihrem eigenen Sinne unser Land freiwillig, friedlich und gewaltfrei zu verlassen, da ansonsten für Ihre und Ihrer Familie Gesundheit und Leben nicht garantiert werden kann. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Unglaublich!) Weiter heißt es: Verstehen Sie den Ernst der Lage und handeln Sie danach, bevor es für Sie und Ihre Familie zu spät ist. (Iris Gleicke [SPD]: Warum lesen Sie diesen Dreck hier vor?) Sollte diese Aufforderung zum Verlassen unseres Landes ignoriert, missachtet oder dieser nur spärlich nachgekommen werden, gehen Sie davon aus, dass wir diese Ausweisung zur Not mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen werden, (Stefan Rebmann [SPD]: Diesen Schwachsinn kann man doch hier nicht verlesen!) um dieses Problem für uns zu lösen, was wir mit diesem Schreiben jedoch doch gerne verhindern wollen. Als Verfasser bezeichnet sich eine sogenannte Reichsbewegung. Sie fragen, warum ich das hier vorlese. Weil ich glaube, dass bekannt sein muss, was Menschen per EMail an Drohadressen bekommen. Nur so können wir bei der Mehrheit der Bevölkerung Empathie wecken und die Menschen dazu bringen, sich mit dieser Bevölkerungsgruppe solidarisch zu zeigen. Hier hilft nur Transparenz. Deshalb habe ich das mit Abscheu hier vorgelesen: damit man sich dagegen wendet und Solidarität zeigt. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Deshalb war es, als die Nazidemonstration in Münster angekündigt wurde, auch richtig, nicht zu schweigen, nicht wegzuschauen und sich nicht wegzuducken. Es gab eine einstimmige Resolution der sieben Fraktionen bzw. Gruppierungen im Rat, die zu friedlichen Gegendemonstrationen aufgerufen haben. Wir vier Bundestagsabgeordnete aus Münster, Frau Klein-Schmeink, Herr Strässer, Herr Bahr und ich, haben ebenfalls gemeinsam dazu aufgerufen, friedlich gegen die Demonstration der Nazis aufzutreten. Das war erfolgreich. Über 5 000 Menschen haben demonstriert. Auf der größten Kundgebung haben der Oberbürgermeister, Vertreter des DGB und der Kirchen sowie der Vorsitzende des Integrationsrates gesprochen. Das war ein starkes Signal gegen die Nazis. Jetzt zu dem Punkt, dem in dieser Debatte viel zu viel Raum gegeben wurde, nämlich zur Frage, wie das mit Gewaltausschreitungen am Rande der Kundgebung war. Wenn wir unsere Werte verteidigen, dann müssen wir uns auch selber danach richten. Zu unseren Werten gehören auch unsere Rechtsordnung, Recht und Gesetz. Die Versammlungsfreiheit schützt auch das Demonstrationsrecht – hören Sie jetzt gut zu – von verfassungsfeindlichen Organisationen, solange sie nicht verboten sind. Das ist das Konzept unserer wehrhaften Demokratie. Auf diese Weise soll politische Auseinandersetzung stattfinden. Es ist Aufgabe der Polizei, das sicherzustellen. Wenn man die Polizei dafür denunziert und sagt, sie mache sich mit den Nazis gemein, dann denunziert man unseren Rechtsstaat, meine Damen und Herren von der Linken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die offenen Fragen, die angesprochen worden sind, werden untersucht. Frau Kollegin, Sie haben nicht erzählt, dass sich der Polizeipräsident inzwischen schriftlich bei Ihnen entschuldigt hat. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Doch! Das ist gesagt worden!) Das wird geklärt. Ich denke, das sollte nicht im Mittelpunkt stehen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Es ist eben kein Einzelfall! Das ist das Problem!) Der Spiegel hat die Ereignisse des vergangenen Wochenendes in einem Bericht so zusammengefasst – ich darf zitieren –: Neue Bühne, alte Parolen: Erstmals sind Hunderte Neonazis durch das zutiefst bürgerliche Münster marschiert. Die Stadt reagiert ebenso vorbildlich wie entschieden: Mit Transparenten, Sprechchören und Trillerpfeifenkonzerten protestieren Tausende gegen die Extremisten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort die Kollegin Sonja Steffen für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Sonja Steffen (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Rechtsextremismus ist ein nationales Problem, das in diesem Jahr durch die Aufdeckung der Morde des NSU einen sehr traurigen Höhepunkt erlebte. Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern haben 22,7 Prozent der Wähler in Usedom-Stadt die NPD gewählt. In Kamminke, einem Ort ganz in der Nähe der Grenze zu Polen, waren es 23,9 Prozent und in Bansin-Dorf 24,9 Prozent, und das, obwohl Usedom eine lebendige Insel ist. Usedom hat nichts mit den Dörfern gemein, die sich von der Welt aufgegeben fühlen. In dieser Debatte geht es um Zivilcourage gegen rechts und um die Stärkung derselben. Sie verlangt Mut, die Zuversicht der Menschen, dass ihnen nichts passiert, wenn sie sich den Nazis entgegenstellen, und sie verlangt Entschiedenheit. Usedomer Bürgerinnen und Bürger stellen sich mutig mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Rechtsextremismus. Es gibt zum Beispiel einen Bürgermeister auf Usedom, der die Satzung geändert hat, als die NPD eine neue Sporthalle nutzen wollte, um dort ihre Aufmärsche zu üben. Er ging dabei das Risiko ein, dass diese Satzung einer rechtlichen Überprüfung vielleicht nicht standhalten würde. (Sönke Rix [SPD]: Aber er hat es gemacht!) In Heringsdorf ist es seit zwei Jahren verboten, dass Parteien ihre Plakate an Laternenmasten anbringen. In meinem Wahlkreis und in ganz Mecklenburg-Vorpommern zeigen die Menschen Flagge, indem sie Nazi-Aufmärschen mutig mit Storch-Heinar-T-Shirts entgegentreten, obwohl NPD-Anhänger dabeistehen und sie provokant fotografieren, um Angst zu schüren. Im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist die NPD leider noch mit fünf Abgeordneten vertreten. Die demokratischen Fraktionen dort haben sich darauf verständigt, dass auf jeden Antrag der NPD nur ein Abgeordneter im Namen aller demokratischen Fraktionen mit einem Redebeitrag antwortet. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gegen die Nazis sprechen die demokratischen Parteien im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mit einer Stimme. Wahrscheinlich haben viele von uns schon Aktionen gegen rechts organisiert und begleitet. Wir haben uns geärgert – mein Kollege Sönke Rix hat vorhin schon darauf hingewiesen –, wenn Widerstand und Zivilcourage an technokratischen Bedenken scheiterten. Viele von uns haben schon das Argument gehört, man dürfe nicht so viel über die NPD reden, damit sie nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt. Leider ist es auch in meinem Wahlkreis in Stralsund so, dass das Aktionsbündnis gegen rechts nicht von den kommunalpolitischen CDU-Abgeordneten begleitet wird, obwohl darin Kirchen, Gewerkschaften und eine Reihe von Vereinen vertreten sind. Nein, wir müssen die rechtsextremen Aktionen nicht aushalten. Es ist richtig und wichtig, dass sich die Menschen dem braunen Haufen mutig entgegenstellen. Wir als Parlamentarier haben das Recht und die Pflicht, diese Zivilcourage zu begleiten und zu unterstützen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was Ihnen in Münster passiert ist, Frau Remmers, finde ich persönlich schlimm und entwürdigend. Ich hoffe, dass es für Sie keine Nachwirkungen geben wird. Gleichzeitig hoffe ich, dass es für die handelnden Polizeibeamten hingegen Nachwirkungen geben wird, dass dort ermittelt und der Sachverhalt aufgeklärt wird. Aber ich frage: Darf und muss die Zivilcourage so weit gehen, dass uns Bundestagsabgeordneten ein Sonderstatus eingeräumt wird? (Sönke Rix [SPD]: Eben nicht!) Sollten wir, wenn es um Rechtsextremismus geht, von der Möglichkeit der Immunität Gebrauch machen dürfen, um uns vor Aktionen der Staatsanwaltschaft und der Polizei zu schützen? Die verfassungsrechtlich verankerte Immunität ist ein hohes Gut, aber kein Freifahrtsschein für Abgeordnete. Das ist gut und richtig so. Sie alle kennen die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten genauso gut wie ich. Sie wissen, dass der Immunitätsausschuss nie in eine Beweiswürdigung eintritt und keine Feststellungen über Recht oder Unrecht, Schuld oder Nichtschuld trifft. Ob Sitzblockaden eine Nötigung darstellen, dürfen wir im Immunitätsausschuss nicht prüfen und bewerten. Für den einzelnen Abgeordneten ergeben sich hier keine Sonderrechte. Er hat nur den Anspruch, dass sich der Bundestag bei der Entscheidung über eine Aufhebung der Immunität nicht von sachfremden Motiven leiten lässt. Deshalb darf der Immunitätsausschuss auch bei Ermittlungsverfahren gegen Abgeordnete, die im Zusammenhang mit Aktionen der Zivilcourage gegen rechts eingeleitet werden, keine Beweiswürdigung oder politische Wertung vornehmen; denn dann würde die Arbeit des Immunitätsausschusses willkürlich. Das gilt für alle Abgeordneten, für Herrn Thierse genauso wie für Sie, Frau Remmers. Er ist nicht anders behandelt worden als andere Abgeordnete, die sich im Wege der Zivilcourage gegen die Rechten gestellt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es gibt andere Mittel, die uns zur Verfügung stehen bzw. die wir schaffen und stärken müssen. Viele sind hier schon genannt worden. Ich will mich deshalb auf zwei beschränken. Ein Mittel ist, den Menschen, vor allem den Menschen in Ostdeutschland, eine bessere Perspektive zu bieten, um dem rechtsextremistischen Gedankengut den Boden zu entziehen. Schließlich gehört auch ein Verbot der NPD dazu, damit sie unsere schönen Städte und Landschaften zukünftig nicht mehr mit ihren widerlichen Plakaten verschandeln kann und damit wir ihre Äußerungen in den Parlamenten nicht länger ertragen müssen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Eckhard Pols (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zivilcourage bedeutet sozialverantwortliches Handeln und geschieht beispielsweise in Situationen, in denen zentrale Wertüberzeugungen und soziale Normen wie Menschenwürde, Menschenrechte oder Gerechtigkeit verletzt werden. Zivilcouragiert handelt eine Person, wenn sie bereit ist, trotz drohender Nachteile für die eigene Person als Einzelner für die Wahrung humaner und demokratischer Werte einzutreten. In Deutschland haben wir starke demokratische Strukturen, aber auch funktionierende Sicherheitsstrukturen. Für mich hört Zivilcourage dort auf, wo das Demonstrationsrecht von Gegendemonstranten gebrochen wird. Diese Schlussfolgerung ziehe aus den aktuellen Demonstrationen der Neonazis in Münster. Eines der wesentlichen Merkmale unserer Demokratie ist, dass wir auch Meinungen zulassen und tolerieren, die nicht unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Grundprinzipien und Wertvorstellungen widerspiegeln, wie es der Kollege Polenz vorhin schon sagte. In Art. 5 und Art. 8 des Grundgesetzes sind die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit ausdrücklich garantiert. Die Ausübung des grundgesetzlich garantierten Versammlungsrechts ist jedoch dann eindeutig verletzt, wenn, wie in Münster geschehen, Gegendemonstranten versuchen, Polizeiabsperrungen zu überwinden. Dies hat für mich nun wirklich nichts mehr mit Versammlungsfreiheit und Zivilcourage zu tun. (Sönke Rix [SPD]: Das haben aber nicht alle Demonstranten gemacht!) Den erheblichen Zuwachs im neonazistischen Spek-trum und die steigende Gewaltbereitschaft innerhalb der Neonazi-Szene betrachte auch ich mit größter Sorge. Wir müssen verhindern, dass rechtsextremistische Ideologien zu Mord und Terror führen. Deswegen setzen wir im familienpolitischen Bereich auf Prävention bei Kindern und Jugendlichen. Für die Prävention gegen Rechtsextremismus geben wir so viel Geld aus wie keine andere Bundesregierung zuvor. Mit verschiedenen Aktions- und Bundesprogrammen hat die Bundesregierung erfolgreich pädagogische Bildungsprojekte und Beratungsangebote gegen Rechtsextremismus unterstützt. Hauptzielgruppe waren Kinder und Jugendliche, deren Eltern, Erziehungsberechtigte, Lehrer, Erzieher und seit 2007 auch explizite Meinungsträger im Umfeld der Jugendlichen. Insbesondere mit dem Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ wollen wir die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durch präventiv-pädagogische Arbeit stärken. Kinder und Jugendliche müssen gegen rechtsextremistisches Gedankengut immun werden. Der beste Impfstoff ist, dass wir unsere Kraft darauf verwenden, sie für unsere Werte wie Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit zu gewinnen. Für das Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ stehen jährlich 24 Millionen Euro zur Verfügung. Da die Verwaltung intern durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben wahrgenommen wird, haben wir Einsparungen in Höhe von 2 Millionen Euro erzielt. Unser Ziel war nicht, bei der überaus erfolgreichen Projektarbeit zu sparen. Im Gegenteil: Wir haben die Bekämpfung des Rechtsextremismus verstärkt, indem wir die Gelder weiter aufgestockt haben. Auf Antrag meiner Fraktion wurde der bestehende Haushaltstitel „Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ im Haushaltsjahr 2012 um 2 Millionen Euro erhöht. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Die Kürzung haben Sie zurückgenommen! Das ist ein Unterschied!) Auch wenn wir den Rechtsextremismus mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, so müssen wir doch stets auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bleiben. Dazu, liebe Kollegen von der Opposition, gehört auch die Extremismusklausel. Diese hat sich bewährt und bleibt bestehen. Wir können Extremismus nicht mit Extremismus bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für mich gilt eine absolute Nulltoleranz gegenüber denjenigen, die nichts anderes im Sinn haben, als sich gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu stellen. In den vergangenen Jahren haben wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus durch die Erprobung unterschiedlicher Ansätze viel Wissen und Kompetenz gewonnen. Dieses Wissen wollen wir zukünftig auch für die Gesellschaft nutzbar machen. Zu diesem Zweck ist bis Ende dieses Jahres die Einrichtung eines bundesweiten Informations- und Kompetenzzentrums geplant. Dabei handelt es sich um eine Plattform zum Wissenstransfer: von zivilgesellschaftlichen Organisationen an Multiplikatoren im Bildungssystem und an die Zivilgesellschaft. Zum Schluss, meine Damen und Herren, ein Appell an Sie alle: Nur wenn wir uns alle aktiv für Toleranz und für die Werte und Errungenschaften unserer Demokratie einsetzen, können wir den Rechtsextremismus erfolgreich aus unserer Gesellschaft verbannen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Aktuelle Stunde ist beendet. Zu einer Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach § 32 unserer Geschäftsordnung erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Remmers von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ingrid Remmers (DIE LINKE): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie werden mir nachsehen, dass ich spätestens nach dem Beitrag des Kollegen Sensburg das dringende Bedürfnis habe, einige Punkte klarzustellen. Der Kollege Sensburg hat behauptet, ich hätte mich am letzten Samstag nicht ausweisen können. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Abgeordnetenausweis!) Ich möchte klarstellen, dass ich meine Abgeordnetentätigkeit bzw. mein Mandat zu jedem Zeitpunkt innerhalb von einer Minute hätte nachweisen können. Darüber hinaus möchte ich feststellen, dass während des gesamten Samstags an keiner Stelle meine Identität infrage gestellt wurde. Meine Identität ist erst im Nachhinein infrage gestellt worden, als klar war, was man sich hier geleistet hat. (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Hatten Sie einen Abgeordnetenausweis dabei oder nicht?) An dieser Stelle möchte ich auch darauf eingehen, dass der Kollege Polenz von gewaltbereitem Protest gesprochen hat. Ich möchte Ihnen die Situation einmal veranschaulichen. Es war eine angemeldete und genehmigte Kundgebung, die ausgelagert war zwischen zwei Siedlungen auf einem Feld und einem Feldweg, wo niemand, aber auch gar niemand diesen Protest wahrnehmen oder hören konnte. Dass junge Menschen, die zu diesen Demonstrationen gereist sind, um ihre Meinung im Kampf gegen rechts kundzutun, diesen Kundgebungsplatz irgendwann auch verlassen möchten, weil sie mit ihrem Protest nirgendwo wahrgenommen werden, muss man anders sehen, als es hier dargestellt wird. Es war keine Gewaltbereitschaft, sondern der Wunsch, zeigen zu können, wo man steht, und dagegen angehen zu können. Was am Samstag auf diesem Kundgebungsplatz passiert ist, ist einzig und allein, dass sich junge Leute vom Kundgebungsplatz in Richtung einer nicht abgesperrten Siedlung abgesetzt haben. Die Absperrung wurde erst viel später errichtet. Dieses Verlassen hat zu einem massiven Polizeieinsatz geführt. Ich habe versucht, zu intervenieren, als ein junger Mann, der etwas abseits gelaufen ist, um weiter in Richtung Demoroute zu kommen, zu Boden geworfen worden ist. Ein Polizist hat sich auf ihn gekniet – sein Knie war im Nacken des Mannes – und hat seinen Arm nach hinten gedrückt. Der Polizist ist in dieser Position geblieben, obwohl der junge Mann überhaupt keinen Widerstand geleistet hat. Diese Situation war für mich Anlass, hinzugehen. Als ich von einer Polizistin aufgehalten worden bin, habe ich sofort gesagt, wer ich bin. Ich war jederzeit als Abgeordnete identifizierbar. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Woran denn? – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Am Ausweis wahrscheinlich!) – Wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich hatte selbstverständlich meinen Personalausweis in der Tasche. Zwei Meter hinter mir stand mein Mitarbeiter mit seinem Mitarbeiterausweis, auf dem auch mein Name steht. Das hat aber niemand wissen wollen. Niemand hat infrage gestellt, dass ich Abgeordnete bin. Deswegen spielt der Punkt, ob ich den richtigen Ausweis in der Tasche hatte, überhaupt keine Rolle; denn das war jederzeit feststellbar. (Beifall bei der LINKEN) Aber auch der junge Mann, um den es eigentlich ging, ist nicht gewalttätig gewesen, sondern er hat versucht, den Kundgebungsplatz zu verlassen. Er ist massiv angegriffen und niedergedrückt worden, und ich wollte vermittelnd eingreifen. Ich bitte Sie, das zu respektieren. Sie sind nicht dort gewesen und konnten die Situation also nicht beobachten, genauso wie die Koalitionsfraktionen ohnehin bei keinem Kampf gegen rechts irgendwo auftauchen und in dieser Frage eher ein Totalausfall sind. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes – Drucksache 17/8801 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Otto das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Energiewende stellen wir unsere Energieversorgung auf eine neue Grundlage. Für diesen Umbau brauchen wir neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien, neuer Netze und Speichertechnologien auch Investitionen in neue hochmoderne Kraftwerke sowie eine signifikante Steigerung der Effizienz. Mit dem Entwurf einer Novelle des KWKG schlagen wir jetzt ein Bündel von Maßnahmen vor, durch das die Kraft-Wärme-Kopplung deutlich vorangebracht werden kann und gleichzeitig auch Anreize für Investitionen in neue Erzeugungsanlagen gesetzt werden. Die Bundesregierung steht zur Kraft-Wärme-Kopplung als Effizienztechnologie. Durch Nutzung der bei der Stromerzeugung anfallenden Abwärme für Heizzwecke können Wirkungsgrade von bis zu 90 Prozent erreicht werden, wenn ein entsprechender Wärmebedarf besteht. Unbestrittenes Ziel ist es, bis zum Jahre 2020 den Anteil der Stromerzeugung aus KWK-Anlagen auf 25 Prozent zu steigern. Sie wissen es sicherlich: Momentan beträgt dieser Anteil 15 Prozent. Der Ihnen jetzt vorliegende und heute zu debattierende Gesetzentwurf enthält insbesondere eine Ausweitung der Förderung von Wärmenetzen. Ein intensivierter Ausbau der Netze erschließt neue Wärmesenken und ist somit ein Schlüssel zur Steigerung des Anteils von KWK. Weiterhin soll die Förderung von Modernisierungsmaßnahmen deutlich erleichtert und eine neue Möglichkeit zur Unterstützung der Nachrüstungen mit KWK geschaffen werden. Hierdurch kann die Effizienz bestehender Anlagen deutlich gesteigert werden. Neu aufgenommen wurde auch eine Möglichkeit zur Förderung von Wärmespeichern. Wärmespeicher bieten eine Möglichkeit zur Entkopplung der Stromerzeugung von der Nutzung der Wärme. Hierdurch können KWK-Anlagen flexibler eingesetzt werden und besser zum Ausgleich der zwangsläufig fluktuierenden Einspeisung erneuerbarer Energien beitragen. Der Regierungsentwurf enthält schließlich für emis-sionshandelspflichtige Anlagen eine Anhebung der Zuschläge um 0,3 Cent pro Kilowattstunde. Der Vorschlag zielt auf den Ausgleich der ab dem Jahre 2013 schrittweise beginnenden Einbeziehung der Wärmeerzeugung in den Emissionshandel. Er soll also trotz dieser beginnenden Zusatzbelastung Anreize für Neuinvestitionen setzen. Einige Verbände und auch der Bundesrat haben diesen Teil des Gesetzentwurfes kritisiert. Sie fordern eine Anhebung der Zuschläge auf breiterer Front. Die Bundesregierung hat zugesagt – sie wird das auch tun –, die Vorschläge gerade im Hinblick auf eine Anreizwirkung für notwendige Investitionen in flexible neue Kraftwerke zu prüfen und gegebenenfalls im Laufe des Beratungsverfahrens einen konkreten Vorschlag hierzu vorzulegen. Zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass das KWKG, anders als andere umlagefinanzierte Förderinstrumente, eine feste Begrenzung der Kosten der von den Verbrauchern zu tragenden Umlagen auf 750 Millionen Euro pro Jahr enthält. Durch diesen festen Deckel bleibt auch die maximale Belastung der Verbraucher kalkulierbar. Selbst im Falle einer vollen Ausschöpfung des Betrages würde sich der Strompreis für Endkunden nur um circa 0,3 Cent pro Kilowattstunde erhöhen. Ich will aber klarmachen: Im vergangenen Jahr, 2011, betrugen die Zusatzkosten (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 0,03 Cent!) für die Verbraucher gerade einmal 0,03 Cent pro Kilowattstunde. – Herr Kollege Krischer, ich freue mich, dass wir wenigstens in diesem einen Punkt über dieselben Informationen und über Einigkeit verfügen. Meine Damen und Herren, ich denke, dass dieser -Deckel und damit die Kalkulierbarkeit der Kosten für die Verbraucher ein weiteres wirtschaftliches Argument für die Effizienztechnologie Kraft-Wärme-Kopplung ist. Ich freue mich auf eine konstruktive Debatte heute hier im Plenum des Bundestages und anschließend natürlich auch in den zuständigen Ausschüssen. Ich bedanke mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Rolf Hempelmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir hatten in der letzten Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde zum Thema Energieeffizienz. Es gab berechtigte Kritik vonseiten der Opposition an dem Handeln – oder sagen wir vielleicht besser: Nichthandeln – der Bundesregierung. (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Jetzt tun wir etwas!) Heute liegt ein Gesetzentwurf zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung vor. Kraft-Wärme-Kopplung ist anerkanntermaßen ein wesentlicher Pfeiler in jeder Effi-zienzstrategie. Wir möchten uns bedanken, Herr Staatssekretär, dass Sie etwas vorgelegt haben, das als Grundlage für die -Beratungen im Deutschen Bundestag dienen kann. Es hat zwar lange gedauert, aber immerhin: Es geht in die richtige Richtung. Wir sind auch fair genug, das an einer solchen Stelle zu sagen. Beim Thema Effizienz wird genau wie beim Thema KWK von allen Seiten immer wieder betont, es sei sozusagen eine Allzweckwaffe. Deswegen muss man erheblich daran arbeiten, um damit voranzukommen. Es gilt deshalb als Allzweckwaffe, weil KWK auf der Angebotsseite, also bei der Strom- und Wärmeerzeugung, ein Effizienzangebot ist und weil sie in einem System, das wir weiterentwickeln wollen und das flexibel sein soll, über Wärmespeicher einen besonderen Beitrag leisten kann. Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir in diesem Bereich nicht nur Kraftwerke bauen, sondern auch dafür sorgen, dass Wärmesenken vorhanden sind. Deswegen geht es auch um den Ausbau und die Verdichtung von Wärmenetzen. Wenn wir erfolgreich sind, dann entlasten wir über mehr Dezentralität letztlich auch Übertragungsnetze im Strombereich und stabilisieren insgesamt die Strom- und Wärmeversorgung. Insofern ist zu loben, dass wir heute eine taugliche Beratungsgrundlage bekommen haben. Ganz verkneifen können wir uns aber nicht die Kritik daran, dass es so lange gedauert hat und dass zwei konservative und zwei liberale Wirtschaftsminister dieses Thema so lange vor sich hergeschoben haben. (Beifall bei der SPD) Richtig ist auch – das kann auch niemand abstreiten –, dass es einen engen Zusammenhang mit dem Thema Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gibt. Denn in ein Szenario mit verlängerten Laufzeiten von Atomkraftwerken hat der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung -natürlich nicht richtig hineingepasst. Das wäre eine -Konkurrenz für die großen Kraftwerke der großen Vier gewesen. Deswegen hat man das in den vergangenen Jahren nicht angepackt. Jetzt ist es Gott sei Dank so weit. Die Vorlage, die Sie geliefert haben, ist von den Marktakteuren insgesamt positiv aufgenommen worden, vermutlich auch deshalb, weil man aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit gar nicht mehr damit gerechnet hat. Jedenfalls ist klar, dass wir im Deutschen Bundestag eine Anhörung beantragen werden, um das auch aufzugreifen, was Sie als konstruktives Angebot – wir nehmen das ernst – gerade gemacht haben, als Sie gesagt haben, dass Sie noch flexibel sind und Sie die konstruktive -Kritik und die Vorschläge aus den Branchen prüfen und gegebenenfalls noch in Ihr Konzept einarbeiten wollen. Dabei wird es unter anderem um die Frage der Zuschlagshöhen gehen. Sie haben gerade einige Beispiele genannt. Ich stimme dem von Ihnen genannten Kriterium für die Höhe des Zuschlags zu, der so hoch sein muss, dass er zu dem gewünschten Ausbauziel von 25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung führt. Sie haben als zweites Stichwort die Modernisierung von Kraftwerken genannt. Ich glaube, dass das bisher erheblich unterschätzt worden ist und dass wir sogar eine Menge an finanziellen Ressourcen einsparen können, wenn wir gerade bei der Modernisierung von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und -netzen erfolgreich sind. Wir müssen sehr genau darauf achten, dass wir nicht durch falsch gesetzte Schwellen dieses Thema totmachen, bevor es überhaupt begonnen hat, zu atmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch aus den Branchen hören wir, dass das, was bisher vorgeschlagen worden ist, nämlich dass man die Modernisierung ein Stück weit antreiben will, in der Grundrichtung richtig ist, dass man aber, wenn man das umsetzen will, was möglich ist, auch darüber nachdenken muss, ob man die Schwellen nicht niedriger ansetzen muss, also die Modernisierung auch dann unterstützt, wenn weniger als 50 oder 30 Prozent einer Anlage modernisiert werden. (Klaus Barthel [SPD]: Wir schlagen in der richtigen Höhe zu!) Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist die industrielle Kraft-Wärme-Kopplung. Wir wissen, dass es diese Anlagen gerade im industriellen Bereich vielfach gibt. Wir müssen aber sehr genau darauf achten, dass wir diesen Markt am Leben erhalten. Auch dabei gilt es, das Potenzial auszuschöpfen, indem wir die richtigen Anreize setzen. Dazu gibt es entsprechende Vorschläge aus der Branche. Einige Vorschläge betreffen übrigens nicht das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz selbst, sondern andere, flankierende Gesetze, etwa das Erneuerbare-Energien--Gesetz oder das Energiewirtschaftsgesetz. Wenn man dabei die Rahmenbedingungen falsch setzt, kann dadurch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durchaus behindert werden. Uns geht es auch um das Ausschöpfen des Potenzials der Mini-KWK- und der Mikro-KWK-Anlagen. Es gibt ein großes Interesse der Bevölkerung, hier aktiv zu werden. Aber dann müssen die Rahmen-bedingungen stimmen. Aus diesem Grunde sollten wir uns das noch einmal genauer anschauen. (Beifall bei der SPD) Sie haben das Emissionshandelssystem angesprochen. Es hat indirekt Auswirkungen auf die Kraft-Wärme-Kopplung. Wir begrüßen sehr, dass es zum Ausgleich der Auswirkungen des Emissionshandelssystems entsprechende Zuschläge geben soll. Wir bitten aber auch hier, noch einmal über die Höhe der Zuschläge nachzudenken und die Vorschläge aus der Branche zu prüfen. Ich denke, das wird eines der Themen der bevorstehenden Anhörung sein. Insbesondere müssen wir -darüber nachdenken, wie wir Anlagen, die nicht in das Emissionshandelssystem einbezogen sind, behandeln wollen. Wir dürfen nicht durch Maßnahmen an einer Stelle negative Nebeneffekte an einer anderen Stelle erzeugen. Wenn man ein Fazit ziehen will: Wir freuen uns, dass es jetzt eine verhandlungsfähige Grundlage gibt. Wir freuen uns auf die Anhörung und Beratungen im Deutschen Bundestag und hoffen, dass wir am Ende zu einem Ergebnis kommen, das seinen Niederschlag in den Marktaktivitäten zum Bau und zur Modernisierung von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen sowie zur Verdichtung und zum Ausbau der Wärmenetze finden wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Bareiß von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Hempelmann, herzlichen Dank für Ihren konstruktiven Beitrag. Ich glaube, dass Sie recht haben: Das, was jetzt vorliegt, ist eine sehr gute Grundlage für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Sie wird eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Energiewende spielen. Wir brauchen die Kraft-Wärme-Kopplung mehr denn je, um die hohen Ziele unseres Energiekonzepts tatsächlich erreichen zu können. Erlauben Sie mir, trotz Ihrer sehr konstruktiven Rede ein paar wenige Kritikpunkte anzusprechen. Sie haben gesagt, bei der Kraft-Wärme-Kopplung gehe es viel zu langsam voran. Sie selber können vor Ort dafür sorgen, dass die Kraft-Wärme-Kopplung verstärkt zum Einsatz kommt. Ich habe schon öfter von diesem Rednerpult aus gesagt – Sie lächeln schon, Herr Hempelmann; Sie wissen offenbar, was nun kommt –: In Nordrhein-Westfalen steht eine der modernsten und größten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, die es in Europa gibt. Sie könnte hundertausend Haushalte mit Wärme beliefern und wartet nur darauf, ans Netz zu gehen. (Rolf Hempelmann [SPD]: Sie meinen das, was Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen verbockt hat!) Aber die rot-grüne Regierung in Düsseldorf schafft es nicht, diese Anlage ans Netz zu bekommen. Dieses Problem haben wir häufiger vor Ort. (Rolf Hempelmann [SPD]: Aber wir müssen uns an Recht und Gesetz halten!) Es gibt noch andere Beispiele dafür, dass Rot-Grün gegen die Kraft-Wärme-Kopplung ist. Im niedersächsischen Stade wartet ein Chemiewerk dringend darauf, dass eine Kraft-Wärme-Kopplungsanlage ans Netz geht. Dadurch könnten 40 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart werden. Hier könnten wir ebenfalls vorangehen. Aber die Grünen im Landtag in Niedersachsen verhindern das und demonstrieren ständig dagegen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind in der Opposition! Da regiert Schwarz-Gelb! Das ist die Mehrheit!) Ähnlich verhält es sich beim Kraftwerk Staudinger in Hessen. Überall demonstrieren und agieren Sie gegen Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte. Aber auch Sie übernehmen vor Ort Verantwortung und sollten für solche Projekte kämpfen. Deshalb fordere ich Sie auf, nicht nur große Reden zu halten, sondern auch vor Ort für die Kraft-Wärme-Kopplung einzutreten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Kraft-Wärme-Kopplung hat schon heute einen großen Anteil an unserer Stromversorgung. Mehr als 15 Prozent unseres Stroms kommen aus der Kraft-Wärme-Kopplung. Wir haben das Ziel, bis 2020 den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung auf 25 Prozent zu steigern. Wir sind derzeit auf einem guten Weg. Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zeigt, dass wir unter den jetzigen Rahmenbedingungen wahrscheinlich 21 Prozent schaffen können, obwohl wir in den letzten zwei, drei Jahren enorme Kritik erfahren mussten. Wenn wir die Stellschrauben, die wir jetzt -anpacken, justiert haben, werden wir sicherlich die angestrebten 25 Prozent erreichen. Dies ist sinnvoll – meine beiden Vorredner haben es schon angesprochen –: Während normale fossile Kraftwerke einen Wirkungsgrad von 40 bis 50 Prozent erreichen, erzielen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen einen Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent. Wenn wir nicht nur in eine Zukunft der regenerativen Energien starten wollen, sondern auch in eine energieeffiziente Zukunft gehen möchten, brauchen wir mehr Kraft-Wärme-Kopplung. Auch das ist eine wichtige Botschaft des heutigen Tages. Ein weiterer Gesichtspunkt ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: der Beitrag der Kraft-Wärme-Kopplung zur Netz- und Systemstabilität. Die größte Herausforderung der nächsten Jahre wird sicherlich die hohe Volatilität in unseren Netzen sein. Ich glaube, dass die Kraft-Wärme-Kopplung hier eine ganz entscheidende Rolle spielen könnte. Deshalb müssen wir die richtigen Weichen stellen, damit die Volatilität auch durch die Kraft-Wärme-Kopplung ausgeglichen wird. Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahr ein Energiekonzept vorgelegt, das seinesgleichen sucht. Dieses Energiekonzept baut auf einer bezahlbaren, umweltverträglichen und sicheren Energieversorgung in unserem Land auf. Die Kraft-Wärme-Kopplung passt hier hervorragend hinein. Sie wird unter dem ersten Gesichtspunkt, den ich genannt habe, der Bezahlbarkeit, in den nächsten Jahren eine größere Rolle spielen. Vor dem Hintergrund, dass wir heute beim Ausbau der erneuerbaren Energien, für die nächsten 20 Jahre gerechnet, von Kosten in Höhe von 200 Milliarden Euro ausgehen, wird die Kraft-Wärme-Kopplung mit dafür sorgen, dass die Energiewende in den nächsten Jahren bezahlbar bleibt. Schließlich stellen unsere Verbraucher immer öfter die Frage, wie sie die Strompreise in den nächsten Jahren bezahlen können. Diese Frage wird aber nicht nur von den Privatverbrauchern aufgeworfen. Auch die Industrie, die Ihnen seit kurzem so stark am Herzen liegt und die die Energiepreise immer stärker infrage stellt, braucht zukünftig verlässliche und günstige Energiepreise. Wir sollten darauf achten, dass die Industrie, die nach wie vor einen sehr hohen Anteil an der Wertschöpfung in Deutschland hat – er liegt bei 25 Prozent –, hier nicht abgewürgt wird, sondern eine gute, verlässliche Energieversorgung zu bezahlbaren Preisen angeboten bekommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb brauchen wir unter anderem mehr Kraft-Wärme-Kopplung. Wir brauchen aber – ich sage es in aller Deutlichkeit; wir haben es heute schon mehrfach diskutiert – weniger Photovoltaik; denn das ist sicherlich ein Ansatz, der in Deutschland nicht in der Form umsetzbar ist wie andere Bereiche. Wir haben im letzten Jahr schon viel getan; das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Bereits im Jahr 2011 haben wir den ersten Grundstein für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung gelegt. Im Rahmen unserer Diskussion über die Energiewende haben wir im Frühjahr 2011 eine Gesetzesnovellierung vorgelegt, wodurch wir die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung flexibler gestaltet und Investitionssicherheit für die nächsten Jahre geschaffen haben. So haben wir das Kriterium der maximal zulässigen Betriebsjahre aus dem Gesetz he-rausgenommen und haben als Grundlage für die Förderung nur noch maximal 30 000 Betriebsstunden festgelegt. Darüber hinaus haben wir den Förderzeitraum, der im Jahr 2016 endete, bis 2020 verlängert. Konkret hat das dazu geführt, dass Kraft-Wärme-Kopplungsprojekte auch in den nächsten zwei Jahren verwirklicht werden, bis die neue Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes dann auch greift. Diese beiden Gesetzesveränderungen haben also dazu geführt, dass die Kraft-Wärme-Kopplung auch in diesem Jahr weiter ausgebaut wird. Mit der Novelle, die jetzt kommen wird, wollen wir weitere, noch bessere Investitionsanreize liefern, Bürokratie abbauen und die bestehende Förderung noch einmal optimieren. Es wurden schon viele Punkte angesprochen, die im Gesetzentwurf eingearbeitet sind. Ich möchte einige wenige Punkte, die mir besonders wichtig sind, noch einmal herausstreichen. Der erste Punkt ist das Thema Speichertechnologie, das vorhin schon angesprochen wurde. Meines Erachtens wird dieser Bereich nicht nur in den Zeiten enorm wichtig, in denen wir wenig Strom und wenig Energie haben, sondern auch in den Zeiten, in denen wir viel Strom und viel Energie haben, weil wir dann wiederum Reserven schaffen können, um die enormen Spitzen, die kommen werden, auch abfangen zu können. Dabei wird das Thema Speicher eine große Rolle spielen. Mit dem jetzigen Ansatz, Wärmespeicher stärker zu fördern, ermöglichen wir es meiner Einschätzung nach auch kleineren Einheiten, beispielsweise Stadtwerken, etwas zu tun. Auch sie können dann in Wärmenetze investieren, was vielleicht zu einem größeren diesbezüglichen Angebot in Städten und Gemeinden führt. Eine wichtige Komponente in Verbindung mit der Förderung von Wärmenetzen ist die Förderung von Kältenetzen; das ist neu. Damit haben wir einen weiteren wichtigen Ansatz mit aufgenommen. Hier bieten wir ein Gesamtfördervolumen von 150 Millionen Euro an, damit in diese Bereiche stärker investiert wird. Das macht dann Projekte auch wirtschaftlich, was derzeit in vielen Regionen nicht der Fall ist. Damit werden wir in den nächsten Jahren meines Erachtens noch einmal einen Investitionsschub auslösen, wie er auch heute schon besteht. In den letzten zwei Jahren haben wir 797 Kilometer Wärmefern- und nahnetze ausgebaut. Mit einer Förderung in Höhe von 64 Millionen Euro haben wir ein Investitionsvolumen von über 250 Millionen Euro erzielt. Das zeigt, dass das System – zu bezahlbaren Preisen – funktioniert und vor Ort für viel Effizienz sorgt. Darüber hinaus wollen wir die Modernisierung von Kraft-Wärme-Kopplung vorantreiben, alte, also bestehende fossile Kraftwerke zu Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen umbauen, wie beispielsweise in Stade oder beim Kraftwerk Staudinger; das bezieht sich auf die Projekte, die ich vorhin genannt habe. Auch das ist sicherlich ein Weg, um unseren bestehenden Kraftwerkspark zu modernisieren und um hier Investitionen zu ermöglichen. Ein weiterer Punkt – er liegt mir ebenso wie Herrn Hempelmann sehr am Herzen – ist die dezentrale Energieversorgung durch Mikro- und Mini-KWK-Anlagen; sie sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirtschaftlich. Auch da wollen wir etwas tun. Ich halte den im Gesetzentwurf verfolgten Ansatz, zu pauschalisieren, zu vereinfachen und zu entbürokratisieren, für richtig. Ganz konkret: Wir versuchen, es den Kleinanlagen möglich zu machen, zu investieren. Eine einfache Umsetzung der Förderung soll ein Anreiz sein, schneller an Geld zu kommen und Investitionen zu tätigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was für kleine Anlagen gilt, gilt auch für große Anlagen. Ab 2013 wird der Emissionshandel teilweise auch für Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gelten. Das heißt, wir müssen einen gewissen Ausgleich in Erwägung ziehen. Deshalb halte ich den im Gesetzentwurf verankerten Ansatz, eine zusätzliche Vergütung von 0,3 Cent einzuführen, für richtig. Dadurch müssten größere Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nicht stillgelegt werden; vielmehr könnte man schauen, wie beim Emissionshandel für einen Ausgleich gesorgt werden kann. Das Gute an all den Punkten, die ich genannt habe, ist, dass wir einen Förderdeckel haben: 750 Millionen Euro dürfen maximal ausgegeben werden. Das heißt, der Verbraucher wird bis zu einem Betrag von maximal 750 Millionen Euro belastet. Ich erlaube mir die Randnotiz: Eine solche Förderobergrenze wünsche ich mir auch für andere Bereiche, in denen wir ein bisschen effizienter vorgehen sollten. Hier, bei der Kraft-Wärme-Kopplung, funktioniert die Deckelung. Ich glaube, dass wir gegenüber dem Verbraucher guten Gewissens sagen können, dass wir damit auf der sicheren Seite sind, und dass wir ihm eine KWK-Umlage von maximal 0,3 Cent zugestehen können. Trotz aller Euphorie und Freude über die Kraft-Wärme-Kopplung müssen wir uns in den nächsten zwei, drei Jahren stärker darüber unterhalten, welchen Vorrang die KraftWärme-Kopplung bekommen soll. Wir werden meines Erachtens immer mehr in einen Systemkonflikt mit den erneuerbaren Energien hineingeraten; das stellen wir schon heute in den Diskussionen mit Betreibern von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen fest, beispielsweise mit Industrieunternehmen, die sehr stark auf Kraft-Wärme-Kopplung setzen. Wir haben einen Einspeisevorrang bei den erneuerbaren Energien; dieser Vorrang war und ist richtig. Wenn wir den Anteil der erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren auf 30 Prozent erhöhen wollen und den Anteil der KraftWärme-Kopplung auf 25 Prozent steigern wollen, dann werden sich diese beiden -Systeme irgendwann einmal gegenseitig behindern. Zukünftig müssen wir Marktdesigns kreieren, um mehr Wettbewerb im Energiemarkt zu ermöglichen. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde von der Mehrheit der einzelnen Betroffenen dieser Branche begrüßt; das finde ich sehr gut. Auch die Opposition scheint konstruktiv mitarbeiten zu wollen. Insofern freue ich mich auf die kommende Gesetzesberatung. Ich glaube, dass sie für uns eine große Chance bedeutet. Sie ist ein weiterer Baustein auf dem Weg der Energiewende. Wir hatten heute Morgen, ein Jahr nach Fukushima, eine große Debatte dazu. Mit diesem Gesetzentwurf werden unsere Pläne ganz konkret. Der richtige Ansatz ist, nicht darüber zu diskutieren, wo wir aussteigen, sondern darüber, wo wir einsteigen. In die Kraft-Wärme-Kopplung steigen wir ein, und deshalb herzlichen Dank an die Regierung für diesen Gesetzentwurf. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Strom von unten ist die Devise der Energiewende. Die Erzeugung des Stroms soll an erster Stelle natürlich regenerativ geschehen: mit Windkraft, Solarzellen oder Biomasse. Strom von unten kann es aber auch dezentral auf Basis von Erdgas geben, vorzugsweise dann, wenn nicht nur Strom erzeugt wird, sondern im gleichen Prozess auch Wärme. Hierbei wird im Vergleich zur getrennten Erzeugung viel CO2 eingespart. Wir reden von der KraftWärme-Kopplung, KWK. Ich möchte eingangs eine Lanze für die Mini-KWK und die BHKW, die Blockheizkraftwerke, brechen. Einer neuen Studie zufolge könnte ihr Einsatz die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger allein bis 2020 um bis zu eine halbe Milliarde Euro entlasten, wenn sie intelligent vernetzt werden. Zudem sind sie eine Brückentechnologie par excellence. In Verbindung mit Wärmespeichern können viele kleine stromgeführte BHKW zusammengeschaltet als flexibles virtuelles Kraftwerk fungieren, Stichwort „Schwarmstromkonzept“. In Zeiten schwankender Einspeisung aus Windkraftanlagen – darüber wurde gerade gesprochen – werden die Anlagen hoch- oder heruntergefahren, um die Differenz zum Strombedarf regional auszugleichen. Sie können also zur Integration der erneuerbaren Energien in das Stromsystem beitragen. Weil Energieerzeugung und -verbrauch ortsnah stattfinden, könnte der Ausbau des deutschen Stromnetzes deutlich bescheidener ausfallen als bislang geplant. Das ist also ein weiterer Vorteil; denn der Strom muss nicht mehr so weit transportiert werden, und dies wird eine Menge Geld einsparen. Der KWK-Zuschlag fließt jedoch nach dem vorliegenden Gesetzentwurf weiterhin nur unabhängig vom Zeitpunkt der Erzeugung. Damit besteht aber weniger Interesse für die Anwender, Beiträge zur Systemintegration – ich habe vorhin erklärt, was das ist – zu leisten, sprich, in dem Augenblick Strom zu produzieren, in dem in einer Region zu wenig Windstrom anfällt. Es ist sinnvoll, wenigstens übergangsweise einen Flexibilitätsbonus für virtuelle Kraftwerke zu zahlen, um einen Anreiz dafür zu schaffen, die Mini-KWK in den Strommarkt zu integrieren. (Beifall bei der LINKEN) Die Deutsche Umwelthilfe hat einen Vorschlag für eine Flexibilitätsprämie gemacht. Vielleicht schauen Sie sich diesen einmal an, Herr Bareiß. Schwarmstromkonzepte sollen dann eine zusätzliche Förderung erhalten, wenn sie erstens eine gemeinsame Steuerung haben und zweitens ausgeschlossen ist, dass die KWK-Anlagen wärmegeführt sind; denn dann würden sie sich nicht zur flexiblen Fahrweise eignen. Auf der anderen Seite müssen klassische wärmegeführte KWK-Anlagen auch vor Maßnahmen des Netzmanagements geschützt werden, etwa wenn Netzbetreiber bei Starkwinden die Abschaltung von Erzeugungsanlagen erzwingen. Auch darüber haben Sie kurz gesprochen. KWK-Anlagen, die in ein Fernwärmenetz einspeisen, dürfen jedoch nicht einfach zwangsabgeschaltet werden, solange ihre Wärme der Beheizung von Haushalten dient. Das geht dann natürlich nicht. Aber das ist bisweilen schon passiert, beispielsweise in Jena in diesem Winter. Im Rahmen des Erzeugungsmanagements des Netzbetreibers 50 Hertz Transmission musste das örtliche Heizkraftwerk mehrere Tage heruntergeregelt werden. In den Wohnblöcken in Jena-Lobeda zog darauf allmählich die Kälte ein. Das geht natürlich überhaupt nicht. Das kann nun auch nicht Ergebnis der Energiewende sein. (Beifall bei der LINKEN) Immerhin umfasst der Regierungsentwurf erstmals die Förderung von Wärme- und Kältespeichern. Dies ist ein echter Fortschritt; denn die Wärmespeicherung für stromgeführte KWK ist im Wettbewerb mit Heizkesseln oft nicht wirtschaftlich, gleichwohl die CO2-Gesamtbilanz bei KWK deutlich besser ist. Diese gute Treibhausgasbilanz macht BHKW im Übrigen auch zu einer guten Zwischenlösung, um schnell und preiswert CO2 im Gebäudesektor einzusparen. Bei 20 oder 30 Jahre alten Häusern dürfte es nämlich sinnvoller sein, zunächst auf die KWK als Klimaschutzmaßnahme zu setzen, als im Rahmen einer energetischen Sanierung funktionstüchtige Gebäudeteile herausreißen zu müssen. Darüber muss man diskutieren. Wir begrüßen zudem, dass der Gesetzentwurf zwei Neuerungen enthält, die auch die Linke in der letzten Wahlperiode gefordert hatte. Zum einen ist das Ziel von 25 Prozent KWK-Strom bis 2020 nun im Gesetz verankert, zum anderen soll die Stromabnahmeverpflichtung durch Netzbetreiber auch über die KWK-Förderzeit hinaus gelten. Ferner wurde für Kleinstanlagen bis 2 Kilowatt ein sinnvoller Investitionsanreiz geschaffen, indem die Möglichkeit zur pauschalen Auszahlung der Zulage für 30 000 Vollnutzungsstunden besteht. Damit steht den Investoren das Geld direkt bei der Anlagenbeschaffung zur Verfügung. Hohe Liquidität bereits in der Investitionsphase, das ist übrigens eines der Geheimnisse der Expansionsstrategie chinesischer Anbieter in Deutschland beim Verkauf von Photovoltaikanlagen. Die Chinesen haben Zahlungsziele von einem halben Jahr. Damit ist für die -Betreiber die Investitionsphase durchfinanziert – ein äußerst lukratives Geschäft. Vielleicht sollte die Bundes-regierung zur Verteidigung der heimischen Solarmodulproduktion entsprechende Kreditprogramme kreieren, damit heimische Modulhersteller den Investoren ähnliche Konditionen bieten können. Aber zurück zur KWK. Unverständlich ist, dass der Deckel für die KWK-Förderung von 750 Millionen Euro weiter bestehen bleibt. Ich sage dies angesichts der Tatsache, dass Deutschland momentan noch weit von dem Ziel – KWK-Anteil von 25 Prozent – entfernt ist. Halten wir uns vor Augen, dass die Abwärme des deutschen Kraftwerksparks ausreicht, den gesamten Gebäudebestand zu heizen, so wird klar, welche Potenziale hier liegen. Wir als Linke stellen uns darum die Frage, ob es ausreicht, dass das KWK-Gesetz nur als Förderinstrument fungiert. Aus unserer Sicht ist es vielmehr Zeit für verpflichtende Vorgaben für den Einsatz von KWK sowie Wärme- und Kälteplänen. Ein solcher Rahmen hat in anderen Ländern zu einem KWK-Anteil von bis zu 50 Prozent geführt. Die EU-Kommission macht Vorgaben in diese Richtung. Das müssen wir diskutieren. Das wäre vernünftig. Zum Schluss noch: Die Blockaden des Bundeswirtschaftsministeriums in Brüssel zeigen leider, dass zumindest Herr Rösler von der Energiewende immer noch nicht viel begriffen hat. Also: Lernen Sie sie, Herr Rösler! (Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. Klaus Breil [FDP] – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jetzt gehe ich! Wenn ich so was höre! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Unter Protest verlässt der Kollege den Saal! Das haben Sie nun davon! – Gegenruf der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Auf Wiedersehen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer von Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bareiß, ich hatte mir echt vorgenommen, hier einmal ein nettes Wort über die Koalition zu sagen. (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Kein Zwang! – Franz Obermeier [CDU/CSU]: Tun Sie sich keinen Zwang an!) Aber nach Ihrem Beitrag fällt das wieder sehr schwer. Das Einzige, was Ihnen beim Thema Kraft-Wärme-Kopplung einfällt, ist – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –: Datteln und Staudinger. (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Und alles -zusammen!) Das habe ich bei Ihnen gehört. Zu Datteln sage ich Ihnen: (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Da wird es -konkret!) Eine schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers – die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an ihn; (Heiterkeit bei der SPD) das ist schon ein bisschen länger her; der Mann ist ein bisschen in der Versenkung verschwunden – (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!) hat dort ein Kraftwerk gebaut, (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Er hat gebaut!) zu dem alle zuständigen Gerichte gesagt haben, nicht aus einem Grund, aus einem Dutzend von Gründen, dass das ein offizieller Schwarzbau ist. Jetzt ist eine andere Landesregierung, eine rot-grüne Landesregierung, dabei, mit großem Aufwand und großer Sorgfalt die Fehler zu reparieren. Das können Sie denen nicht vorhalten. Das sind Ihre Fehler! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zum Thema Staudinger. Da unterlaufen genau die gleichen Fehler. Da droht etwas Ähnliches. Wer ist da verantwortlich? Mir ist neu – die Kollegin Maisch könnte das wissen; ich habe es jedenfalls nicht mitbekommen –, dass in Hessen die Grünen regieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es wird demnächst dazu kommen, aber das ist noch nicht der Fall. Auch da trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung. Es geht hier um Kraft-Wärme-Kopplung, und da sind Staudinger und Datteln allenfalls Randanekdoten, die man erzählen kann, weil da auch ein paar Megawatt Wärme ausgekoppelt worden sind. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Immerhin!) Es geht um etwas ganz anderes. Wir haben ein Ziel, nämlich 25 Prozent des Stroms aus KWK zu erzeugen. Wir sind im Moment bei 13 oder 14 Prozent. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: 15 Prozent! – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: 15,8 Prozent!) Wir wollen das in den nächsten acht Jahren mehr oder weniger verdoppeln. Es gibt unterschiedliche Zahlen, aber im Grunde geht es darum, dass wir das verdoppeln. Wenn wir das schaffen, dann erledigen sich viele Fragen, die in der Energiewende eine Rolle spielen, dann brauchen wir kein Kraftwerksförderungsprogramm, wie Sie es wollen; denn wir schaffen das dann mit Kraft-Wärme-Kopplung. Das funktioniert dann auch so. Das ist allemal eine bessere Lösung, als fossile Kohlekraftwerke, reine Kondensationskraftwerke, zu subventionieren, wie Sie das vorhaben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Hier wird oft ein Gegensatz aufgebaut – das kam in der Debatte bisher noch nicht, aber das hört man manchmal in den Diskussionen –, nämlich zwischen Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbaren Energien. Ich sage klipp und klar: Erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-Kopplung ergänzen sich ideal, weil Kraft-Wärme-Kopplung die Back-up-Kapazität darstellen kann, wenn der Wind nicht weht, die Sonne nicht scheint und die Erneuerbaren nicht liefern können. Da sind die Speicherpotenziale. Das müssen wir erschließen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich sage Ihnen: Das können wir vor allen Dingen durch eine dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung schaffen, indem wir in Millionen von Heizungskellern, in denen noch alte Heizungsanlagen laufen, stromerzeugende Heizungen bauen. Es ist doch ein Irrsinn, dass wir rund um die Ballungsgebiete – es wurden Datteln und Staudinger, in der Nähe von Rhein-Main, erwähnt – Kohlekondensationskraftwerke bauen, und gleichzeitig heizen wir mit teurem, aus Russland importiertem Gas schlecht isolierte Wohnungen. Das müssen wir zusammenbringen. Da müssen wir jeden Keller zum Kraftwerk machen; Tausende Anlagen bauen. Es gibt viele Unternehmen, die solche Anlagen bauen. Diese Unternehmen müssen wir stärken. Das muss das Ziel der Politik sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Dass das geht, belegen viele andere Länder, die eine konsequente KWK-Politik betrieben haben, wie zum Beispiel die Niederlande mit einem KWK-Anteil von über 30 Prozent, Finnland mit einem ähnlich hohen Anteil, Dänemark sogar mit einem Anteil von über 50 Prozent. Unser 25-Prozent-Ziel in Deutschland ist dagegen eher bescheiden. Das Problem ist, dass man es politisch wollen muss. Herr Bareiß, hierzu habe ich von Ihnen nichts gehört. Die letzten zwei Jahre dieser Regierung waren für die Kraft-Wärme-Kopplung völlig verlorene Jahre. (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Hören Sie -einmal zu!) Sie haben ein Energiekonzept vorgelegt. In diesem kommt die Kraft-Wärme-Kopplung nicht mehr vor. Sie taucht lediglich in einem Nebensatz auf. Das ist die -Realität von Schwarz-Gelb. Sie mussten schmerzlich kapieren, dass Sie ohne die Kraft-Wärme-Kopplung nicht auskommen. Sie müssen an dieser Stelle etwas vorlegen, wenn Sie die Energiewende halbwegs ernsthaft anstreben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das Ergebnis ist – das hat der Staatssekretär gerade mit entwaffnender Ehrlichkeit gesagt –, dass wir ein Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz haben, das schon lange hätte novelliert werden müssen; denn es hat praktisch seine Wirkung verloren. Die Umlagesumme pro Kilowattstunde ist auf 0,032 Cent gesunken. Das sind Ihre eigenen Zahlen. Das sind drei hundertstel Cent. Hier passiert praktisch nichts mehr. Es steht an der Stelle still, weil Sie es verpasst haben, früher zu handeln. Genau das ist das Problem. Jetzt legen Sie uns eine Gesetzesnovelle vor. Hierzu sage ich ganz offen: Nach dem, was ich von dieser Regierung in den letzten zwei Jahren erlebt habe, ist dies schon etwas. (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Dass überhaupt etwas kommt, kann man positiv sehen. (Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es muss gar nichts darin stehen, Hauptsache es kommt!) An anderen Stellen – hier nenne ich das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und die Energieeffizienzrichtlinie – treiben Sie es in die andere Richtung. Da machen Sie überhaupt nichts. Da blockieren Sie nur. Dass Sie hier etwas vorlegen, ist immerhin etwas. In Schulnoten ausgedrückt, würde ich es mit mangelhaft plus mit Tendenz zu ausreichend benoten. Immerhin kommt von Ihnen etwas. Ich sage aber auch klipp und klar: Wer die Energiewende ernsthaft betreiben will, muss mehr tun als das, was hier vorgelegt wird. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hier gibt es in der Tat einige richtige Punkte. Es reicht aber bei weitem nicht aus, wenn wir das 25-Prozent-Ziel tatsächlich erzielen wollen. Ich will ein paar Beispiele nennen: Wir brauchen eine Erhöhung der Fördersätze. Ich glaube – das habe ich eben auch von der Bundes-regierung gehört –, dass man das inzwischen selbst gemerkt hat. Man muss in allen Anlagenkategorien etwas drauflegen, damit wir hier vorankommen, wenn tatsächlich etwas passieren soll. Wir brauchen einen Flexibonus als Anreiz zur Verbesserung und Nutzung der Speicherkapazität. Dort muss etwas passieren. Die Probleme mit dem Netzanschluss für Klein-KWK-Anlagen müssen gelöst werden. Solange die bürokratischen Hürden bestehen bleiben, kommen Sie überhaupt nicht voran. Last, not least ein ganz wichtiger Punkt: Sie wollen zum ersten Mal die Wärmespeicher fördern. Das ist völlig richtig. Das Mindestspeichervolumen von 5 Kubikmetern betrifft aber nur die größeren Anlagen. Bei den interessanten Klein-, Mini- und Mikro-KWK-Anlagen kommen Sie überhaupt nicht voran. Hier muss mehr passieren. Jenseits des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes muss man noch auf einen Punkt hinweisen, der ganz wichtig ist, der nicht in diesem Gesetz enthalten ist. Das ist das Mini-KWK-Programm. In der Großen Koalition wurde es von Herrn Gabriel eingeführt. Herr Röttgen hatte nach seinem Amtsantritt nichts Besseres zu tun, als dieses Programm nach langer Unklarheit wieder einzustampfen. Jetzt führen Sie es wieder ein. Sie brauchen ein halbes Jahr, um die Förderrichtlinie zu schaffen. Wir hören jetzt, dass kein Geld im Energie- und Klimafonds vorhanden ist. Wahrscheinlich wird am Ende wieder gar nichts bezahlt werden können. So verunsichert man eine junge, innovative Branche, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Das haben Sie in zwei Jahren geschafft. Ihre Bremsspuren sind an allen Ecken und Enden zu erkennen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da kann ich nur an Sie appellieren, dass wir im Ausschuss eine konstruktive Beratung darüber hinbekommen, wie man das, was Sie hier vorgelegt haben – das Gesamtkonzept Ihrer KWK- und Energiepolitik –, verbessern kann. Ich hoffe, dass wir vielleicht eine vernünftige Lösung im Sinne der Sache finden. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus Breil das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Klaus Breil (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Novelle des KWK-Gesetzes passen wir die schon bestehenden Anreize für Investitionen in hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an die Realität an. Hören Sie gut zu, Herr Kollege Krischer: Sie haben davon gesprochen, was wir brauchen, ich werde jetzt vortragen, was wir machen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie in der Vergangenheit verschwiegen!) An unserem Ziel hat sich nichts geändert. Wir wollen den Anteil der Stromerzeugung aus KWK bis 2020 auf 25 Prozent erhöhen. Aktuell liegen wir noch bei 16 Prozent. Bedauerlicherweise hat uns die Zwischenüberprüfung gezeigt, dass wir auf der Basis des aktuell gültigen Gesetzes lediglich 20 Prozent erreichen werden. (Rolf Hempelmann [SPD]: Welche -Überraschung!) Ich persönlich – hören Sie zu, Herr Krischer – (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ganz Ohr!) glaube das nicht; vielmehr glaube ich, dass bis 2020 mehr drin ist, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wissen, dass da mehr drin ist, aber nicht in Ihrem Gesetzentwurf!) und dieses Potenzial wollen wir heben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sowohl Anlagen der allgemeinen Versorgung als auch industrielle Anlagen könnten vielerorts noch Teile ihrer Abwärme absetzen. Es bedarf lediglich genauerer Analysen. Wärmesenken sind häufig vorhanden, häufiger als meistens angenommen wird. Gerade in meiner Heimatregion, inklusive meiner Heimatgemeinde Bernried in Oberbayern, mache ich die Erfahrung, dass viel mehr Potenzial vorhanden ist, als bisher angenommen wurde. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau! Daran ist die CSU schuld!) Allerdings – und das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen – verwahre ich mich gegen jede Verpflichtung, neue Kraftwerke mit Wärmeauskopplung bauen zu müssen. Solchen Vorgaben wie in der EUEnergieeffi-zienzrichtlinie müssen wir von vornherein entschieden entgegentreten. Wir setzen eben nicht auf Zwang. Daher wird es in der Novelle im Rahmen der Möglichkeiten maßvolle Erhöhungen der Zuschläge geben. Es werden fortan auch Nachrüstungen gefördert, sowohl bei Kraftwerken der allgemeinen Versorgung als auch bei Indus-trieanlagen. Wir wollen mit der Novelle außerdem den Bau von Wärmenetzen, der zuletzt ins Stocken geriet, und den Bau von Wärmespeichern stärker unterstützen. Die Speicher sind dabei besonders wichtig; dadurch können die Anlagen bei unterschiedlicher Wärme- und Stromnachfrage auch einmal nur stromgeführt gefahren werden. Unser zukünftiger Energiemix mit zunehmender Einspeisung fluktuierender Leistung braucht diese Flexibilität. Auf diese Anforderung reagieren die großen Versorger im Übrigen auf ihre eigene Weise. In Essen – bei Ihnen, Herr Hempelmann –, (Rolf Hempelmann [SPD]: „VoRWEg -gehen“!) in München, Stuttgart und Berlin rauchen nämlich die Köpfe. Abseits der Ballungsgebiete sollen flächendeckend BHKW eingesetzt werden. Die einst marktbeherrschenden Akteure suchen sogar die Zusammenarbeit mit den Kommunen. Sie tun dies aus der Erkenntnis heraus, dass nur das zielführend sein kann. Das ist eine Art der Rekommunalisierung, mit der ich mich anfreunden kann. So viel zum Thema „Konterrevolution“, das Herr Trittin heute Morgen ansprach – Herr Krischer, das können Sie ihm ja einmal ausrichten. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie sind ein Konterrevolutionär, oder wie?) Die Sache hat noch einen weiteren positiven Neben-effekt: Werden die skizzierten Pläne realisiert, bräuchte man möglicherweise nur eine geringere Zahl an neuen Gaskraftwerken, zum Beispiel auch in Bayern, wo ich herkomme. Interessant finde ich auch die Mini- und Mikro-KWK-Anlagen bis 2 Kilowatt Leistung. Dort haben wir die Rahmenbedingungen vereinfacht. Die Zuschlags-zahlungen werden im neuen Gesetz pauschaliert. „Schwarmstrom“ ist das Stichwort, unter dem mehr und mehr Verteilnetzbetreiber den Einsatz von Mini- und Mikro-KWK-Anlagen planen. In diesem Zusammenhang finde ich auch den Vorschlag des Bundesrates, die Förderung für Anlagen auf Brennstoffzellenbasis anzuheben, höchst interessant. Meine sehr geehrten Damen und Herren, den Vorreden der Opposition habe ich entnommen, dass wir uns im Ziel einig sind; allein der Weg unterscheidet uns leider wie so oft. Aber Sie können sicher sein, dass der Ausbau der KWK wie die gesamte Energiewende bei uns in guten Händen ist. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – -Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch ein Kalauer zum Schluss! – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagte der Wolf zum Schäfer!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Dirk Becker von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dirk Becker (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Breil, Sie haben eingangs ein ehrliches Wort gesprochen, nämlich dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wir brauchen, und dem, was Sie tun. Das war durchaus ehrlicher als Ihre Schlusspointe. Herr Bareiß, ich muss eines deutlich sagen: Sie können sich darauf verlassen – das wissen Sie auch –, dass wir versuchen, das Gesetzgebungsverfahren beim Thema KWK konstruktiv zu begleiten. Es geht aber nicht, nun zu sagen: Jetzt geht’s los! – Sie haben eben wieder gesagt: Jetzt erfolgt der Einstieg in die Kraft-Wärme-Kopplung. – Der Einstieg in die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist vor mehr als zehn Jahren geschehen. Eines, was Sie in dieser Legislatur gemacht haben, war, den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung durch die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke nachhaltig zu behindern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE] – Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Ach was! Unsinn!) Sie haben doch im letzten Jahr sicher auch mit Vertretern der Stadtwerke und anderen gesprochen: Viele Projekte des Neubaus von KWK-Anlagen, die lange geplant waren, die in der Pipeline waren, sind daraufhin auf Eis gelegt worden. Das heißt, Sie haben den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung zunächst einmal nachhaltig behindert. Ich sage aber ganz klar: Wir wollen jetzt nicht beim Nachkarten bleiben, sondern nach vorn schauen. Ich muss jetzt hier nicht noch einmal den Werbeblock für die Kraft-Wärme-Kopplung einschieben; die Vorzüge sind nachhaltig beschrieben worden. Herr Staatssekretär, ich will Ihren Beitrag ausdrücklich würdigen. So eine Rede von einem Staatssekretär Ihres Hauses hätte es hier vor zwei Jahren noch nicht gegeben. (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Natürlich hätte es das gegeben! – Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Von mir schon!) – Das stelle ich ja lobend fest. Sie sind jetzt sicherlich in einer Situation, in der Sie an vielen Stellen erkennen, welche Weichenstellungen notwendig sind, und wissen, woran das KWKG krankt. Allerdings fehlt Ihnen noch ein bisschen der Mut, dann die Maßnahmen konsequent zu Ende zu bringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Ich will auf einige Bereiche eingehen. Ja, die Kraft-Wärme-Kopplung ist der ideale Partner des Ausbaus der erneuerbaren Energien, insbesondere der fluktuierenden erneuerbaren Energien; denn die Kraft-Wärme-Kopplung ist bedarfs- und verbrauchsgerecht steuerbar. Die Wärme ist heute schon speicherbar; im Strombereich führen wir immer so eine tolle Debatte über die Thematik der Speicherung. Im Wärmebereich haben wir die Möglichkeit, vorhandene Speicherkapazitäten zu verbessern und auszubauen. Wir haben natürlich auch – das ist ein weiterer großer Vorteil – eine sehr breite Brennstoffpalette. Ich sage einmal: Der Weg vom fossilen Zeitalter ins Zeitalter der erneuerbaren Energien ist mit der Kraft-Wärme-Kopplung darstellbar, nicht nur mit fossilen Brennstoffen, sondern auch mit Technologien wie beispielsweise der Erdwärme. Das alles wissen wir; das alles wurde von allen Fraktionen bestätigt. Wenn wir uns einig sind, dass die Kraft-Wärme-Kopplung diese Rolle spielen soll, ist jetzt die Frage zu stellen: Reicht denn das, was jetzt im vorgelegten Entwurf vorgesehen ist? (Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Darüber reden wir!) – Darüber reden wir. – Ich will deutlich machen, dass die Verlängerung der Anmeldezeiträume bis 2020, die Sie 2011 durchgeführt haben – Kollege Bareiß hat das gesagt –, ein erster wichtiger Schritt war; wir haben das damals entsprechend unterstützt. Entscheidend ist jetzt aber – ich beginne natürlich mit dem Kernthema –, wie wir die Schaffung zusätzlicher Kapazitäten im Markt tatsächlich anreizen. Der Kern dieses Anreizes ist natürlich Cash, ist die Frage: Wie werden wir die Fördersätze künftig ausgestalten? Da muss man vorsichtig sein und schauen, was tatsächlich angemessen ist und wo es wirtschaftliche Nachteile gibt. Da muss man auch noch einmal in den Erfahrungsbericht und in das Gutachten schauen. Leider werden im Erfahrungsbericht und im Gutachten die Kraftwerkskapazitäten, die von besonderer Bedeutung sind, nur unzureichend beleuchtet. Aber wir, ich denke, auch Sie, wissen – das klang an –, dass wir hier zusätzliche Anreize brauchen. Denn eines ist doch klar – das haben Sie selbst gesagt –: Die Erhöhung der Zuschläge um 0,3 Cent, die Sie jetzt im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz vorsehen, ist nichts anderes als der Ausgleich einer Benachteiligung, die über den Emissionshandel entsteht, aber kein zusätzlicher Anreiz. Damit alleine werden Sie keine neuen Zubauten schaffen. Das heißt, wir brauchen hier eine moderate Erhöhung. Verbändeübergreifend werden Hausnum-mern genannt. 0,5 Cent sind ein Betrag, der geringfügig darüber liegt und der aus unserer Einschätzung erforderlich sein wird, um neue Projekte anzureizen, und – das will ich bei Umlagedebatten sagen – der nicht dazu führen wird, dass wir mit der Umlage ein Problem bekommen. Sie selbst haben die Entwicklung dargestellt. Ich will noch einmal die absoluten Zahlen nennen. Wir haben insgesamt 750 Millionen Euro pro Jahr als oberen Deckel für die Umlage vorgesehen. Nach den Prognosen, die uns vorliegen, gehen wir ab dem Jahr 2011 in der Summe auf eine Größenordnung von unter 150 Millionen Euro zu. Wir haben also auch auf Basis dessen, was in der Großen Koalition vereinbart wurde, genügend Potenzial im Markt. Ich möchte jetzt einige Punkte und konkrete Vorschläge meiner Fraktion zur Verbesserung des vorgelegten Entwurfes aufgreifen; eines klang auch bei Herrn Breil an. Richtig ist, dass wir in dem veränderten Energiemarkt jetzt auch stärker auf die stromgeführte Kraft-Wärme-Kopplung gucken müssen, um gerade die Flexibilität im Strommarkt abzubilden. Das heißt allerdings, dass wir für die stromgeführte KWK einen zusätzlichen Anreiz brauchen werden. Wir schlagen daher an dieser Stelle vor, die Vergütung nicht erneut unterschiedlich zu gestalten, sondern die Zahl der anrechnungsfähigen Vollbenutzungsstunden von 30 000 auf 40 000 auszudehnen. Für uns ist es ein großes Problem, dass der Ausbau der Mini- und Mikro-KWK sowie der industriellen KWK mit ihren großen Potenzialen durch diesen Entwurf nicht hinreichend angereizt wird. Aus welchem Grund? Gerade im Bereich der industriellen KWK ist es künftig so: Wenn ein industrieller KWK-Betreiber beispielsweise Unternehmen der chemischen Industrie versorgt, die selber dem Emissionshandel unterliegen, dann kommt er nicht in den Genuss dieser Begünstigung. Also lohnen sich zusätzliche Investitionen für ihn schlichtweg nicht. Wir glauben, dass Anreize für diese Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen der Industrie geschaffen werden müssen. Ebenso müssen zusätzliche Anreize für die Mini- und Mikro-KWK geschaffen werden. Schwarmstrom toll zu finden, ist das eine. Dann muss man im Gesetz allerdings auch abbilden, wie man die nachweisbaren Benachteiligungen beseitigt. Das heißt, auch für den Ausbau der Mini-KWK brauchen wir eine zusätzliche Förderung. Wir schlagen vor, diese mit einem sogenannten Systemdienstleistungsbonus zu kombinieren und, sofern kleine Mini-KWK-Anlagen im Markt regelbar Systemdienstleistungen erbringen, hierfür zusätzlich 2 Cent vorzusehen. Zwei Punkte zum Schluss, die in dieser Debatte immer wichtig sind. Zunächst zur Frage, wie wir Modernisierungen stärker anreizen. Ja, Sie haben einen richtigen Schritt gemacht. Sie haben die Grenze, die im alten KWKG war – für Modernisierung mussten 50 Prozent der Kosten für einen Neubau ausgegeben werden –, auf 25 Prozent abgesenkt. Ich glaube, dass wir auch damit weitere Potenziale verschwenden. Denkbar ist, auf 10 Prozent zu gehen, mit einem gleitenden Anstieg. Ich bitte, das zu überlegen. Wir werden diese Vorschläge sicherlich auch nach der Anhörung machen. Wir verschenken an zwei Punkten Potenziale. Das gilt zum einen für die Speicherförderung. Es macht keinen Sinn, die förderfähige Speichergröße nach unten zu begrenzen; das hat der Kollege Krischer vorhin deutlich gemacht. Nun ist eine Größe von 5 Kubikmetern vorgesehen. Eine Förderfähigkeit muss allerdings auch bei kleineren Anlagen gegeben sein, um auch die Betreiber kleinerer KWK-Anlagen und Schwarmstromnutzer zu erreichen. Zum anderen darf die Fördersumme nicht auf 5 Millionen Euro je Projekt gedeckelt werden. Denn es gibt auch größere Speicher, die wir brauchen und die wichtig sind. Daher glauben wir, dass diese Begrenzung ebenso nicht erforderlich ist wie die Begrenzung der Investi-tionszuschüsse für den Netzausbau. Auch diese Summe ist in ihrer Höhe gedeckelt. Das verhindert, dass gerade große Potenziale ausgeschöpft werden; beispielsweise könnten in Nordrhein-Westfalen vorhandene Anlagen ausgebaut werden. Auch hierzu werden wir Vorschläge machen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss. Dirk Becker (SPD): Herr Präsident, das will ich gerne machen. – Ich komme zum Ergebnis: An vielen Stellen haben Sie die Schwachstellen erkannt. Um diesen Entwurf allerdings gut auszugestalten und zu erreichen, dass wir gemeinsam das Ziel von 25 Prozent KWK-Strom erreichen, müssen wir Nachbesserungen vornehmen. Ich habe einige wenige genannt. Ich hoffe, dass Ihr Angebot, konstruktiv mit der Opposition zusammenzuarbeiten, dann auch in der Praxis gilt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Franz Obermeier (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es waren eine bemerkenswerte Diskussion und eine bemerkenswerte Beratung in diesem Hause, Herr Becker. Die konstruktive Art war wohltuend. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen. Die Bundesregierung legt heute einen offenbar ausgesprochen guten Gesetzentwurf vor. (Klaus Breil [FDP]: So ist das!) Herr Staatssekretär, Ihr Angebot, dass wir in der Beratung über die einzelnen Punkte noch reden können, werden wir sicher annehmen. Es ist in der Tat so, dass man über eine ganze Reihe von Details durchaus noch reden kann. Es ist auch nicht so – wie von Herrn -Krischer dargelegt –, dass für uns die Stromerzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung und die Stromerzeugung durch die erneuerbaren Energien etwas Gegensätzliches ist. Ich vertrete eher die umgekehrte Auffassung: Wenn wir das Ganze klug gestalten, dann wird die Kraft-Wärme-Kopplung einen nennenswerten Beitrag zum Ausgleich der volatilen Stromerzeugung im Bereich erneuerbare Energien leisten können. Die zentrale Frage ist: Wie bekommen wir das hin? Darauf werden wir in der parlamentarischen Beratung und in der Anhörung unseren Schwerpunkt legen. Wir meinen es mit der Energiewende ernst. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie werden sich daran gewöhnen und Ihre Standardreden umschreiben müssen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) In der nächsten Zeit werden Sie sich häufig mit von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesvorlagen befassen müssen, aus denen hervorgeht, wie wir die Instrumente zum Gelingen der Energiewende einsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da freue ich mich drauf! – Rolf -Hempelmann [SPD]: Wird auch Zeit!) Wir werden nicht mehr auf pauschale Vorwürfe eingehen müssen, beispielsweise auf den Vorwurf, dass es zu lange gedauert hat, bis wir eine Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz hinbekommen haben. (Rolf Hempelmann [SPD]: Ein einfaches Geständnis reicht!) Herr Staatssekretär, mir ist es schon lieber, wenn die Bundesregierung mit der Vorlage von Gesetzesentwürfen wartet, bis eine fundierte Grundlage aufgrund von Erfahrungsberichten vorliegt, damit wir in der parlamentarischen Beratung relativ rasch zu guten Ergebnissen kommen. Ich möchte eine vernünftige Basis für die anstehenden Entscheidungen haben. Es stimmt nicht, dass der Bundesregierung der Mut fehlt. Wir beraten eine ganze Reihe von Novellen, durch die wir zielorientiert an das Gelingen der Energiewende herangehen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie uns doch ein paar Beispiele! Wir sind so gespannt!) Ich will nicht auf die sieben wesentlichen Punkte der Gesetzesnovelle eingehen – sie wurden schon mehrfach genannt –; vielmehr möchte ich auf die Frage eingehen, wie es uns gelingen kann, dass wir die Kraft-Wärme-Kopplung stärker unter dem Aspekt der Stromführung sehen, wie wir mit dem angebotenen Instrument der Förderung der Erhöhung der Speicherkapazitäten stärker dazu beitragen können, dass aus diesem Bereich größere Mengen an Strom nachgeführt werden, sobald bei der Stromerzeugung im Bereich der erneuerbaren Energien Schwankungen entstehen. Die Kraft-Wärme-Kopplung hat mit Sicherheit eine neue Bedeutung bekommen. Über die Frage, ob wir die Grenze für die Förderfähigkeit von 30 000 Kilowattstunden auf 40 000 Kilowattstunden erhöhen können, müssen wir reden. Das scheint ein interessanter Ansatz zu sein. Dies müsste man einmal ausrechnen. In diesem Zusammenhang interessiert mich die Frage – das werden wir in der Anhörung klären –: Wo genau liegen die wirklichen Potenziale? Liegen sie im Großkraftwerksbereich, für den es eine Anhebung der Umlage zum Ausgleich des Zertifikatehandels geben soll? Oder bieten die Minikraftwerke die besseren Chancen? Im Bereich Minikraftwerke haben wir einen technologischen Prozess hinter uns. Nach meinen Informationen sind die Minikraftwerke in den zurückliegenden Zeiträumen immer besser geworden. Auch wir müssen noch einen Lernprozess durchlaufen. Ich wehre mich prinzipiell nicht dagegen, im Bereich Minikraftwerke ganz konkret über eine direkte Förderung nachzudenken. Der Gesetzentwurf wurde im Plenum sehr positiv aufgenommen, Herr Staatssekretär. Ich meine, wir sollten in der parlamentarischen Beratung die sachliche Auseinandersetzung in der Form, in der wir das in dieser Stunde getan haben, fortsetzen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8801 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Musikförderung durch den Bund – Drucksachen 17/4901, 17/7222 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Siegmund Ehrmann von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Siegmund Ehrmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wer viel fragt, kriegt viele Antworten“, so die Überschrift einer ersten Analyse der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Musikförderung durch den Bund in der Neuen Musikzeitung. In der Tat haben wir ein breit gefächertes Spektrum von Fragen unterbreitet. Für die umfassenden Antworten der unterschiedlichen Ressorts und der unterschiedlichen Förderinstitu-tionen bedanke ich mich ausdrücklich bei allen, die daran mitgewirkt haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Zunächst einmal möchte ich diese Debatte einordnen und daran erinnern, dass die Bundesmusikförderung uns bereits in der letzten Legislaturperiode grundlegend beschäftigt hat. Seinerzeit haben wir in der Großen Koalition gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Union einen Antrag unterbreitet, der insbesondere da-rauf ausgerichtet war, der populären Musik seitens des Bundes mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Aus diesem Impuls ist die „Initiative Musik“ entstanden, die mittlerweile mächtig Fahrt aufgenommen hat. Seitdem wurde das Thema „Musikförderung durch den Bund“ wiederholt im Ausschuss behandelt. Ich nenne nur die Stichworte „Bundeskulturstiftung“ und „JeKi“ und erinnere an diverse Debatten mit Vertretern des Deutschen Mu-sikrates und der „Initiative Musik“, aber auch an Gesprächsrunden, zum Beispiel mit Vertretern der Bundeskonferenz Jazz. Nachdem wir uns mit einer Fülle von Einzelaspekten befasst haben, ist es nun an der Zeit für eine Bestandsaufnahme. Es ist Zeit für eine Gesamtschau der Musikförderung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Ziele die Bundesregierung mit ihrer Förderung verfolgt. Nach welchen Kriterien fördert sie Musik, und welche Schwerpunkte setzt sie dabei? Kurz: Welches Konzept liegt der Musikförderung des Bundes zugrunde? Ich will mich in meinem Debattenbeitrag im Wesentlichen auf die Fragen der Musikförderung beschränken. In der Großen Anfrage sind noch andere wichtige -Aspekte angesprochen worden, zum Beispiel die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler oder Fragen zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel zum Urheberrecht. Es wird sicherlich andere Gelegenheiten geben, um darüber an dieser Stelle vertieft zu debattieren. Ich konzentriere mich auf die Frage der Musikförderung. Zunächst möchte ich einen Überblick geben. Die Antwort der Bundesregierung zeigt das breite Spektrum des Engagements für die Musik. Rund 44 Millionen Euro wurden im Jahr 2010 für Konzerte, Festspiele, Wettbewerbe, für die Arbeit der Verbände und für Forschungsprojekte aufgewandt – von der Klassik und neuer Musik über Jazz, Pop und Rock bis zu Electro und Hip-Hop; viele Genres sind davon betroffen. Einige Formate -werden institutionell gefördert, andere erhalten einmalig oder wiederholt Projektförderung. Der BKM ist beteiligt. Eine Fülle von Ministerien ist auf diesem Gebiet -unterwegs. Es gibt aber auch wichtige Institutionen, die gewissermaßen als Förderagenturen für die Bundes--regierung tätig werden, zum Beispiel die Kulturstiftung des Bundes, der Deutsche Musikrat oder die „Initiative Musik“, die ich schon erwähnte. Bezogen auf Berlin nenne ich die Kulturveranstaltungen des Bundes in -Berlin GmbH und den Hauptstadtkulturfonds. Man kann die allgemeinen Ziele der Musikförderung, die man in der Antwort der Bundesregierung findet, einfach nur unterstreichen. Es geht um die Wahrung des kulturellen Erbes auch in der Musik, es geht um die Förderung und Entwicklung der zeitgenössischen Musik und ihre -Rezeption, und es geht auch um die Präsenz der Musik in der auswärtigen Kulturpolitik. Das ist überhaupt nicht streitig. Aber die Antwort der Bundesregierung auf unsere Frage nach Konzepten und Kriterien der Musikförderung stellt uns – das muss ich deutlich sagen – nicht zufrieden. Sie offenbart tatsächlich ein Förderkonzept, auch wenn es nicht explizit so genannt wird, aber es ist ein, wie ich finde, sehr zweifelhaftes Förderkonzept, das im Wesentlichen auf drei Regeln basiert. Die erste Regel lautet: Jeder, wie er meint. (Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Unterschiedliche Entscheidungsträger in unterschiedlichen Ministerien oder beauftragten Institutionen beschließen ohne einen übergreifenden Plan, ohne eine übergreifende Idee, wen sie in welcher Weise fördern, und vor allen Dingen, in welcher Höhe. Dabei koordinieren sie sich, so steht es in der Antwort, allenfalls „anlassbezogen“, was immer das heißen mag. Es ist – einmal abgesehen vom Deutschen Musikrat, der Kulturstiftung des Bundes und der „Initiative Musik“ – nicht immer klar, an welchen Kriterien sich Förderentscheidungen orientieren. Nur ein Kriterium taucht wie ein roter Faden in den verschiedenen Antworten auf: die gesamtstaatliche Bedeutung. Natürlich sind die Länder in unserer föderalen Ordnung vorrangig in Obligo, aber es bleibt offen, wann und in welchem Maße es gerechtfertigt ist, dass sich der Bund mit einem begründeten Interesse engagiert. Dieser Frage weicht die Bundesregierung aus. Dafür, worin genau das Bundesinteresse besteht, lässt sich ein Zitat -finden: Das „lässt sich angesichts der Vielfalt der Sachverhalte nicht verallgemeinern.“ So schreibt es die Bundesregierung in ihrer Antwort. Aber wenn sich die Verantwortung des Bundes gewissermaßen subsidiär aus der Verantwortung der Länder ableitet, wie es gestern der Staatsminister in unserem Ausschuss ausdrücklich betont hat, dann müssten sich die Länder ihrer fördernden Eigenverantwortung bewusst sein und ihr nachkommen. Ich will das an einem Beispiel darstellen. Man muss klären, ob diese Art und Weise der Förderung durchgängig der Fall ist. Das Festival JazzBaltica – es findet, Wolfgang Börnsen, in deinem wunderschönen Schleswig-Holstein statt – (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Hervorragendes Festival!) ist sicherlich ein tolles Festival. Es ist durch schwere Krisen gegangen. Ich begrüße es außerordentlich, dass sich der Bund für das Jahr 2012 zu einer Anschubfinanzierung für das Festival durchgerungen hat. Aber wie steht es – Stichwort „Subsidiarität“ – um die Verantwortung des Landes Schleswig-Holstein? Die Stadt Timmendorfer Strand ist mit 75 000 Euro dabei. Das Land Schleswig-Holstein ist sozusagen Nutznießer des -Marketings durch das Festival, aber aktives Handeln, eine finanzielle Unterstützung ist nicht zu erkennen. Auch andere Festivals haben nationale und internationale Bedeutung. Kommunen und Länder finanzieren sie erheblich; gleichwohl werden diese nicht durch den Bund gefördert. Was sind also die Kriterien für eine -Förderung? Ist die konkrete Förderentscheidung im Vergleich zu ähnlich gelagerten Projekten nachvollziehbar und gerecht? Diese Fragen bleiben offen. Die zweite Regel lautet: Das haben wir schon immer so gemacht. Das verdeutliche ich anhand des sogenannten Omnibusprinzips. Dies gilt insbesondere für die in-stitutionelle Förderung. Das heißt, wenn jemand dauerhaft institutionelle Förderung bekommt, ist diese auch langfristig gesichert. Eine neue institutionelle Förderung ist nur vorstellbar, wenn eine andere wegfällt. Nur wenn jemand anders aussteigt, kann ein Neuer einsteigen. Das bedeutet, dass ohne kritische Reflexion einige wenige seit vielen Jahren eine institutionelle Förderung erhalten; alle anderen haben Pech und können allenfalls jedes Jahr erneut Projektanträge stellen. Permanente Projektverlängerung bindet den Bundeshaushalt ohnehin. Dies hat zwei Effekte. Auf der Seite der Antragsteller ist es Planungsunsicherheit – bekomme ich eine Zuwendung? –, also ein wirtschaftlicher Effekt. Der zweite Effekt ist ein kolossaler Verwaltungsaufwand in einer Zeit, in der man Bürokratie eigentlich abbauen möchte. Dies ist also wirtschaftlich und administrativ problematisch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieses Prinzip – das haben wir schon immer so gemacht – verfestigt die Förderstrukturen und Ungleich-gewichte zwischen der Förderung des kulturellen Erbes durch die klassische Musik und den neueren Genres. -Natürlich ist die Pflege des kulturellen Erbes wichtig, aber wir tragen auch eine Verantwortung für die zeitgenössische Musik. Dem steht das starre Fördersystem im Wege. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin die „Initiative Musik“ angesprochen. Auf sie wird immer dann verwiesen, wenn es um populäre Musik geht. Sie macht auch gute Arbeit; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Aber sie kann längst nicht all das stemmen, was ihr aufgebürdet wird. Die jährliche Zuwendung liegt in diesem Jahr bei etwa 1,5 Millionen Euro; sie kommt -übrigens aus dem Etat des BKM, also des Kulturstaats--ministers. Die „Initiative Musik“ hat nicht vorrangig eine kulturfördernde Funktion, sondern eher eine kulturwirtschaftliche Dimension. Ich erlaube mir an dieser Stelle, die Frage aufzuwerfen, wieso der Etat des Wirtschaftsministers dafür nicht stärker herangezogen wird. Das ist zumindest eine Frage, über die wir einmal diskutieren sollten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]) Zwischen dem Aufsichtsrat der „Initiative Musik“ und der Bundeskonferenz Jazz finden Dialoge statt. -Allerdings gibt es hier nach wie vor kulturpolitischen Diskussionsbedarf; damit müssen wir uns auseinandersetzen. Diese Diskussionen darf man nicht einfach, wie in einer Hamsterrolle, in Gremien hineinschieben, sondern wir müssen uns mit diesen Fragen auch in der -Kulturpolitik aktiv beschäftigen. Die entsprechenden Debatten sind bereits aufbereitet. Es geht zum Beispiel um die Fragen: Wie sieht es eigentlich mit der Spielstättenförderung aus? Inwieweit kann man den Bund hier ernsthaft in die Verantwortung nehmen? Ich will die Antworten nicht vorwegnehmen; aber diese Debatte muss geführt werden. Es gibt einen weiteren Streitpunkt. Was steht im Vordergrund: die Künstlerförderung oder die Infrastrukturförderung? Auch diese Debatte muss -geführt werden. Ich glaube, hier ist die Musikpolitik des Bundes gefordert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Herbst letzten Jahres hat sich der Deutsche Komponistenverband hilfesuchend an den Staatsminister gewandt und auf die Probleme der neuen Musik aufmerksam gemacht. Der Staatsminister hat diese Nöte in seinem Antwortschreiben grundsätzlich anerkannt und angeregt, dass man über die richtigen Schritte und vordringlichen Konzepte auch öffentlich diskutieren müsse. Genau darum geht es. Das ist eine richtige Feststellung. Es geht um eine öffentliche Debatte darüber, welche Schwerpunkte der Bund künftig in der Musikförderung setzt. Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrem Hause genug Expertise, um diese Debatte zu führen. (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Er ist leider nicht da! – Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Der Staatsminister ist nicht da! Sein Stuhl ist leer! – Gegenruf des Abg. Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Also wirklich! Das ist ja so was von kleinlich!) – Ich muss sagen: Mir ist im Vorfeld signalisiert worden, dass er aufgrund einer Terminkollision nicht hier sein kann. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Eben! Das wussten wir doch!) Allerdings verdient dieses Thema natürlich auch seine Präsenz in diesem Hause. (Christoph Poland [CDU/CSU]: Aber wir haben alle gewusst, dass er nicht kann! Dafür war er ja heute Morgen da!) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Siegmund Ehrmann (SPD): Die dritte Regel des Förderkonzepts lautet: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Auch was die Evaluation betrifft, besteht dringender Klärungsbedarf. Eine Evaluation wird von der Bundeskulturstiftung und der „Initiative Musik“ durchgeführt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! Siegmund Ehrmann (SPD): Ich komme zum Schluss. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nicht dass Sie nach Ablauf Ihrer Redezeit noch einen vierten Punkt ansprechen. Das war mir jetzt zu heikel. Siegmund Ehrmann (SPD): Nein, Frau Präsidentin. Schönen Dank für Ihr Verständnis. – Ich führe meinen Gedanken ganz kurz zu Ende: Es ist sehr wichtig, dass wir uns mit den Ergebnissen der Evaluation durch die Bundeskulturstiftung und die „Initiative Musik“ auseinandersetzen. Kurzum: Was nach dieser Anfrage nottut, ist, dass der Ausschuss mit allen Akteuren in einen intensiven gemeinsamen Dialog über die künftige Ausrichtung der Musikförderung eintritt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Wolfgang Börnsen hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Mit Ihrer freundlichen Zustimmung möchte ich in das Thema -Musik auf besondere Weise einführen. (Der Redner intoniert „Viva la Musica!“ – Heiterkeit und Beifall – Zurufe: Bravo!) Man könnte das auch als Kanon singen. Leider lässt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages das nicht zu. (Zurufe: Oh! – Wie schade!) Es gäbe zwischen uns nicht einmal Misstöne. (Gisela Piltz [FDP]: Na ja! Das kann ich nur für uns sagen!) Ich möchte mit einer Bemerkung beginnen, die an das anschließt, was Siggi Ehrmann gesagt hat. Siggi Ehrmann, es ist richtig, manche Komposition im Bereich der politischen Musikförderung ist überprüfenswert. Vergiss aber nicht, Siggi: Die Grundlagen für die Musikförderung nach diesen Kriterien haben drei sozialdemokratische Staatsminister gelegt. Jetzt soll ein christdemokratischer Staatsminister das regeln. Vergiss nicht: Die Sozialdemokraten haben in der Großen Koalition diese Art der Förderung auch begrüßt. Die Einlassung, dass das überprüfenswert ist, teilen wir, und wir werden uns auch aktiv beteiligen. Deutschland ist ein starkes Musikland. Über 7 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger musizieren oder sind in Chören engagiert. Unsere Orchesterlandschaft mit 750 erstklassigen Sinfonie- und Staatsorchestern ist weltweit einzigartig. Über 50 000 Rock-, Pop- und Jazzbands, fast 50 000 Kirchen-, Laien- und Profichöre sind von Flensburg bis Freiburg aktiv. 60 Millionen Menschen hören jährlich Chorkonzerte in unserem Land. Die Musikwirtschaft unseres Landes mit einem Umsatz von fast 6 Milliarden Euro gehört zur Weltspitze. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erfreulich und ermutigend ist, dass jeder vierte Jugendliche in Deutschland selbst Musik macht. Das ist ein tolles Ergebnis. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Dank der Unionsfraktion und sicher auch des ganzen Hauses gilt den Musikverbänden, den Vereinen, den Musikschulen und -erziehern, den Chorleitern und Dirigenten, die alle zu einer klingenden Republik beitragen. Musik bildet, verbindet, begeistert, baut Brücken zu den Migranten und zwischen den Generationen. Die Große Anfrage weist nach, das Notenbuch der Bundesregierung ist wohlfeil geschrieben, auch wenn manche Komposition überarbeitet werden muss. Allein die jährliche Bundesförderung beträgt 44 Millionen Euro. Noch umfangreicher sind die Leistungen der Kommunen und der Länder. Verdienstvoll hat sich die Bundeskulturstiftung der zeitgenössischen Musik angenommen, und zwar mit 42 Millionen Euro in den vergangenen Jahren. Engagiert und ideenreich trägt der Deutsche Musikrat, der weltweit größte Kulturverband dieser Art, zu einem vielfältigen Musikleben bei und rechtfertigt damit die jährliche Bundesförderung von über 4 Millionen Euro. Auch wenn die Musikförderung verfassungsgemäß auf Projekte von gesamtstaatlicher Bedeutung beschränkt sein muss, ist es dem amtierenden Staatsminister gelungen, neue Akzente zu setzen. Kulturförderung ist zugleich Musikförderung. Die Abgrenzung zwischen allein auf die Kunst ausgerichteter Kulturförderung und dem Wachstumsmarkt der Kreativ- und Kulturwirtschaft ist gefallen. Die Tür für viele neue Arbeitsplätze ist damit geöffnet. (Beifall bei der CDU/CSU) Die vor fünf Jahren gegründete „Initiative Musik“, die über 450 Maßnahmen im populären Bereich präsentieren kann, ist beispielgebend dafür. Neben Bernd Neumann, Hans-Joachim Otto, Monika Griefahn hat Dieter Gorny wesentlich zu dieser Erfolgsgeschichte beigetragen. Einen Boom erfahren derzeit die über 1 000 öffentlichen und privaten Musikschulen mit über 1 Million Schülerinnen und Schülern. Wartelisten gibt es jedoch nicht allein für die Jungen, sondern auch für die Senioren. Die Zahl ihrer Bewerbungen hat sich verdoppelt. Auch bei ihnen gibt es Engpässe. Musik wird als lebensbereichernd empfunden. Bei der Musikeinzelförderung durch den Bund sind drei sogenannte B-Standorte besonders bemerkenswert. Berlin erhält bedingt durch den Hauptstadtvertrag mit jährlich gut 16 Millionen Euro die höchste Zuwendung. Es folgen Bonn – NRW eingeschlossen – und Bayerns Bayreuth, derzeit eine komplizierte Baustelle, musikalisch jedoch von internationaler Bedeutung. Diese Einschätzung teilte auch Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als erster Kanzler diesen Operntempel im Jahr 2003 besuchte und ihm seinen Regierungssegen gab. Beobachter der Premiere registrierten damals, dass die „Schwarze“ Frau Merkel in Grün gekommen war, die „Grüne“ Roth in Pink und der „Rote“ Schily im Smoking. Das fraktionsübergreifende Bekenntnis zu den Bayreuther Festspielen von damals sollte auch heute noch halten; denn die weltweite Bedeutung von Richard Wagner hat sich nicht geändert. Deswegen bin ich für eine Gemeinsamkeit in Bayreuth. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Neben der Auffassung zum Handlungsfeld Bayreuth und zu einer verbesserten Perspektive für den Jazz teilen wir auch die Auffassung des Deutschen Musikrates zur Reform des Urheberrechtes: „Stillstand entrechtet Urheber“ – so seine These; „ohne Komponisten keine Musik“. Die Piraterie im Netz ist eine Herausforderung für den Kultur- und den Arbeitsmarkt in Deutschland – und für den Standort ebenso. 900 Millionen Songs wurden alleine 2010 illegal im Netz genutzt. Die Musikwirtschaft erleidet jährlich einen Schaden von 90 Millionen Euro. Sachkenner sagen für alle Kulturbereiche – Film und Theater eingeschlossen – einen jährlichen Verlust von insgesamt 70 000 Arbeitsplätzen voraus. Diese Entwicklung vernichtet Arbeitsplätze, entmutigt die Kreativen und schadet unserem Land. Das gilt auch für eine andere Sache: Das Jahreseinkommen von Musikern in Deutschland ist mit 11 500 Euro ausgesprochen dürftig. Das gilt es, zu verbessern. Das gilt auch für die Einkommen der Lehrbeauftragten an den 24 Musikhochschulen. Wir haben der KMK geschrieben und hätten es für aufrichtig gehalten, wenn die Fraktion der Grünen darauf aufmerksam gemacht hätte, dass sie in den Ländern ebenfalls eine Mitverantwortung trägt; denn die Lehrbeauftragten sind Ländersache. (Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Baden-Württemberg hat den Antrag gestellt!) Die Musik – damit komme ich zum Ende – steht bei der jungen Generation gleich nach der Freundschaft an zweiter Stelle – weit vor dem Sport und dem Internet. Als ehemaliger Schlagzeuger von Jazzbands kann ich das durchaus nachvollziehen. Musik fasziniert. 82 Prozent der 12- bis 19-Jährigen besitzen einen MP3-Player. Musik hören ist Volkssport geworden, selbst Musik machen sollte es aber auch sein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): In der Lessingschule in Nordhausen wird aus diesem Wunsch sicher schon bald Wirklichkeit. Frau Präsidentin, ich komme jetzt wirklich zum Schluss. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wirklich. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Deshalb begrüßen wir die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“. 70 000 Schüler sind daran bereits beteiligt. Der Bund fördert dies mit 10 Millionen Euro. Ich würde mir wünschen, dass die ganze Republik von dieser neuen Initiative profitiert. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich singe leidenschaftlich gerne, aber meistens nicht sehr gut. Insofern erspare ich uns hier eine Intonation zu Beginn dieser Rede. Musik spielt im kulturellen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche Rolle. … Die Bundesregierung misst der Pflege des Musiklebens … einen hohen Stellenwert bei. Solch Grundsätzliches liest man gerne. Man vernimmt es mit Freude, Genugtuung, ja, Stolz. Deutschland ist eine Musiknation – von alters her bis auf den heutigen Tag. Wenn man dann allerdings in der umfangreichen Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Musikförderung durch den Bund in dem konkreten, sachlichen Teil der Statistik nachliest, welche Jahreseinkommen 2009 die Musikerinnen und Musiker nach Auskunft der Künstlersozialkasse hatten – Orchestermusiker „Ernste Musik“: 9 237 Euro im Jahr, Instrumentensolist „Ernste Musik“: 10 498 Euro im Jahr, Oper-, Operetten- und Musicalsänger: 9 585 Euro im Jahr, Lied- und Oratoriensänger: 10 335 Euro im Jahr –, dann muss man sagen: Hier stimmt doch etwas nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Siegmund Ehrmann [SPD] und Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Hier tut sich ein gravierender Unterschied zwischen der Proklamation und der Wirklichkeit auf. Auch Komponisten, Texter und Librettisten kommen im Jahr gerade einmal auf rund 16 000 Euro. Das sind 1 333 Euro im Monat. Man könnte sagen: Glanz und Elend spiegelt diese Ausarbeitung der Bundesregierung zur Musikförderung durch den Bund. Staatsminister Neumann hat gestern im Kulturausschuss betont, dass die Förderung durch den Bund nur subsidiär, also zusätzlich, ist, da die Förderung von Musik vorrangig Aufgabe der Länder ist. Das ändert aber nichts an den Arbeits- und Einkommensverhältnissen der Musikerinnen und Musiker in all den vielfältigen Sparten der Kunst in unserem Land. (Gisela Piltz [FDP]: Dann halten Sie doch mal so eine Rede im Landtag!) Es ist zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden Bericht eine wichtige Übersicht vorliegt. Sie könnte allerdings strukturierter und systematischer sein. Am besten wäre es, wenn sie einem umfassenden Kulturbericht zugeordnet wäre, wie ihn die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ bereits vor Jahren gefordert hat. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Musikförderung des Bundes hat zwei Ziele: einerseits die Bewahrung des Erbes und die umfassende Erschließung und Vermittlung seiner Potenziale und andererseits die Entwicklung der zeitgenössischen Musik und ihre Rezeption. Das ist nicht leicht zu leisten, wenn die Mittel nicht von Jahr zu Jahr steigen. Denn die Pflege des Erbes wird nicht von sich aus weniger. Aber das Zeitgenössische nimmt zu und braucht mehr Unterstützung und Mut zum Experiment. Wie kann man also die Balance halten und Gerechtigkeit walten lassen? Rund 44 Millionen Euro stellte die Bundesregierung für die Musikförderung 2010 zur Verfügung. Ein Viertel dieser Summe ging an die Rundfunkorchester und Chöre in Berlin. Das ist eine Aufgabe und Verpflichtung, die aus der Vereinigung unseres Landes herrührt. Es ist eine glanzvolle Verpflichtung von wahrhaft gesamtstaatlicher Relevanz. Das Gleiche gilt für die Verpflichtungen im Hauptstadtkulturvertrag, Kostenfaktor: 4,3 Millionen Euro. Es bleiben rund 28 Millionen Euro als Fördersumme. Werden sie gerecht verteilt zwischen Alt und Neu? Jazzmusikerinnen und -musiker haben in diesen Tagen mehr als tausend Unterschriften gesammelt und fordern mehr staatliche Subventionen und vor allem mehr Spielstätten sowie Gleichbehandlung mit der ernsten Musik. In der Künstlerförderung der „Initiative Musik“ entfallen 17,7 Prozent auf Jazzprojekte. Das entspricht einer erbärmlichen Summe von rund 230 000 Euro im Jahr, und gefördert wird nur dann, wenn die Musiker selbst 60 Prozent der Projektkosten aufbringen können. Wie sollen da viele Bands, Talente und Musiker unter dieser Regelung noch gefördert werden? (Beifall bei der LINKEN) Lässt sich dabei noch von einer einigermaßen gerechten Mittelverteilung reden? Nein. Ein Umverteilungsvorschlag: Rund 2,3 Millionen Euro fließen jedes Jahr vom Bund an die Bayreuther Festspiele, ein Musikereignis, das sich vor Nachfrage kaum retten kann. 400 000 Kartenbitten können jedes Jahr nicht berücksichtigt werden. Die Bundesregierung gibt an, dass sie seit 1953 die Festspiele mitfinanziert, damit sie – das ist ein Zitat – bei bezahlbaren Karten für breite Bevölkerungsschichten zugänglich seien. Das ist doch Hohn und Spott! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schauen Sie sich doch an, was heute in Bayreuth passiert. Bezahlbare Karten für breite Bevölkerungsschichten? Ich sage: Hohn und Spott. Solange dies so ist, könnten die 2,3 Millionen Euro gut anderen Projekten zugutekommen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Bei der Bundesliga ist es das Dreifache!) Das wäre dann übrigens das Zehnfache für den Jazz und damit für zeitgenössische Musik. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Reiner Deutschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Reiner Deutschmann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, dass wir heute im Deutschen Bundestag die Gelegenheit haben, uns einmal etwas ausführlicher mit der Musikförderung des Bundes auseinanderzusetzen. Musik ist für Deutschland ein ganz wichtiger Bereich des kulturellen Schaffens und integraler Bestandteil unseres kulturellen Erbes. Komponisten wie Bach, Brahms, Beethoven oder Schubert, um nur einige zu nennen, haben die musikalische Landschaft nicht nur Deutschlands, sondern der Welt geprägt. Deutsche Orchester sind in der Welt geschätzt und werden für ihre Darbietungen verehrt. Auch deutsche Musik, zum Beispiel von Kraftwerk oder der mitteldeutschen Band „Tokio Hotel“, war und ist ein Aushängeschild deutscher musikalischer Schaffenskraft. Ich lasse es mir in diesem Zusammenhang nicht nehmen, auch „Silbermond“ zu erwähnen. Diese Gruppe hatte schließlich ihre Anfänge als Schülerband in meinem Wahlkreis Bautzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das war der Werbeblock!) Die Förderung der Musik hat in Deutschland durchaus eine jahrhundertelange Tradition. Bereits an Fürstenhöfen fand sie statt. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher das Engagement sowohl des Staates als auch des Privatsektors; denn gerade Verlage und Label sorgen sich um eine blühende Musiklandschaft in Deutschland. Ohne diese Unterstützung wären viele Erfolge von Künstlerinnen und Künstlern einfach nicht denkbar. Ich denke, es ist unbestritten, dass für die Musikförderung in erster Linie Länder und Kommunen zuständig sind. Deshalb gibt es auch kein ganzheitliches Musikförderkonzept des Bundes, wie von der SPD gewünscht. Nur dort, wo das gesamtstaatliche Interesse es gebietet, kann der Bund als Förderer tätig werden. Dass sich der Bund dieser Verantwortung in entsprechenden Größenordnungen stellt, wissen wir nicht erst seit der Beantwortung der Großen Anfrage, über die wir gerade sprechen. Das spüren wir bei jeder Haushaltsdebatte. Auf die seit Jahren vorgenommenen Weichenstellungen – das wurde vom Kollegen Börnsen schon gesagt – können wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestags durchaus stolz sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Musik ist beides: Sie ist Kultur- und zugleich Wirtschaftsgut. 2009 setzte die Musikindustrie 5,5 Milliarden Euro um. Zehntausende Menschen arbeiten in diesem Sektor und finanzieren dadurch ihren Lebensunterhalt. Der Musiksektor ist somit ein wichtiger Bestandteil der Kultur- und Kreativwirtschaft unseres Landes. Dass es auch hier soziale Probleme gibt, ist uns allen bewusst. Wir haben in verschiedenen Bereichen versucht, nachzusteuern. Aber nicht alles ist Sache des Bundes. Wir können beispielsweise nicht beeinflussen, wie viel eine Schauspielerin oder ein Sänger an einem Landestheater verdient. Eine der größten Herausforderungen für die Musikwirtschaft ist ohne Zweifel die Digitalisierung. Lassen Sie mich an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Kreativität muss sich lohnen. Kreative müssen von ihrer Arbeit leben können. Dies gelingt nur, wenn wir es schaffen, auch in Zeiten des Internets einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Rechteinhaber und der Nutzer geistigen Eigentums zu erzielen. Dazu gehört aber auch, dass die Wirtschaft weitere Modelle entwickelt, die es ermöglichen, zu attraktiven Bedingungen Werke legal im Internet zu erwerben. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Auch damit begegnen wir nachhaltig den millionenfachen illegalen Downloads. Eines ist ganz klar: Die FDP-Bundestagsfraktion steht ohne Wenn und Aber für die Rechte der Urheber als geistiger Mütter und Väter ihrer Werke. Mit uns wird es immer eine Unterstützung für das geistige Eigentum geben. Das kann ich Ihnen versichern. Was tut der Bund konkret für die Förderung der Musik-landschaft in Deutschland und über die Grenzen hinaus? Dazu gibt die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD detailliert und umfassend Auskunft. Aber auch ein Blick in den jeweiligen Haushaltsplan des Bundes hilft hier weiter. 2010 wurden insgesamt 44,2 Millionen Euro durch den Bund für die Musikförderung ausgegeben. Mit zahlreichen Maßnahmen bewahrt der Bund unser musikalisches Erbe, fördert zeitgenössische Musik und transportiert deutsches Musikschaffen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik – zum Beispiel durch das Auswärtige Amt oder durch Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut – in alle Welt. Über die Kulturstiftung des Bundes wurde – das ist schon mehrfach erwähnt worden – das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ angeschoben und unterstützt. Es war erstmals im Ruhrgebiet verfügbar und ist inzwischen von elf Bundesländern aufgegriffen und eigenständig weitergeführt worden. Wir fördern Orchester wie die Rundfunkorchester und Chöre in Berlin und ebenso Sparten wie den Jazz durch Projekte wie das Bundesjazz-orchester oder durch das Projekt „Jugend jazzt“. Wir unterstützen den Deutschen Musikrat jährlich mit rund 3 Millionen Euro. Was dort geleistet wird, ist durchaus sehenswert. Die schon erwähnte „Initiative Musik“ ist beispielgebend für den Export deutscher Musikkunst. Dadurch können wir Bands und Solokünstler hervorragend unterstützen und international bekannt machen. Ich möchte aber auch die Bayreuther Festspiele erwähnen. Der Bund bekennt sich ausdrücklich zu diesem Ereignis von Weltgeltung. Aber aus gegebenem Anlass möchte ich genauso deutlich darauf hinweisen, dass die bestehenden Probleme im Bereich der wirtschaftlichen Führung gelöst werden müssen. Ich möchte hier aber auch den Tanz thematisieren; denn er stellt für mich eine ganz besondere Form der Umsetzung von Musik dar. Dazu gehört zum einen die direkte Förderung des Tanzes. Zum anderen müssen Tänzer in besonderer Weise sozial abgesichert werden. Schließlich kann dieser Beruf aufgrund der körperlichen Belastung nur zeitlich begrenzt ausgeübt werden. Deshalb setzen wir Liberale uns sehr stark für die Stiftung „TANZ – Transition Zentrum Deutschland“ ein, die Tänzern hilft, nach dem Ende der Karriere eine neue berufliche Perspektive zu finden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nach Ministerien aufgeschlüsselt, fördern neben dem BKM und dem Auswärtigen Amt das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Musik. Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen der Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ oder, ganz konkret, durch Messeförderung im Ausland. Nennen möchte ich aber auch solche Forschungs- und Bildungsprojekte wie die Begleitforschung zum Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ oder den Bundeswettbewerb Komposition 2010, in dessen Rahmen sich Schülerinnen und Schüler mit Eigenkompositionen beteiligen konnten. Es ist mir wichtig, dass die Förderung durch den BKM und andere nachhaltig erfolgt. Es ist besonders erfreulich, dass man erkennen kann, dass die Ziele des Bundes tatsächlich erreicht werden; genannt wurde schon das sehr erfolgreiche Projekt „Jedem Kind ein Instrument“. Anschubfinanzierungen, gerade für Festivals, können nachweislich Anreize für neue Entwicklungen schaffen. Zu Recht spricht die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage von einem „kulturpädagogischen Impuls“. Damit stärken wir nicht nur die Kreativen im Bereich der Musik, sondern wir tun auch etwas für die kulturelle Bildung unserer jungen Menschen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig!) Ich stelle also abschließend fest, dass wir, der Bund, im Bereich Musik gut aufgestellt sind. Natürlich könnte das eine oder andere noch umfassender gefördert werden. Da gibt es durchaus noch Spielraum, insbesondere beim Feintuning. Im Bereich Jazz sind wir das gerade angegangen. Ich bin mir durchaus bewusst – dafür stehe ich auch ein –, dass nicht alles, was über Jahrzehnte gefördert wurde, immer wieder gefördert werden muss. Da sollten wir tatsächlich einiges auf den Prüfstand stellen; vieles wächst nach, und die Töpfe werden nicht unbedingt größer. Deshalb muss man auch über Förderungen einmal neu nachdenken. Wichtig ist für uns als Kulturpolitiker, dass wir neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen sind; denn Kunst und Kultur leben von der Kreativität der Menschen und sind damit eine ganz wichtige Voraussetzung für die weitere Entwicklung unserer gesamten Gesellschaft. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Agnes Krumwiede das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD]) Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen die Große Anfrage der SPD sehr. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir auch!) Die Antworten sagen einiges aus über das Musikförderkonzept der Bundesregierung: Sie hat nämlich keins. (Widerspruch bei der CDU/CSU) In ihrer Antwort gesteht die Regierung ein, dass eine Definition gesamtstaatlicher Relevanz konkretisiert werden muss. Wenn aber keine genaue Definition vorliegt, stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage überhaupt Mittel an Kulturinstitutionen und Festivals vergeben werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]) Die Wagner-Festspiele jedenfalls entwickeln sich für die Bundesregierung zur Götterdämmerung von gesamtstaatlicher Bedeutung. Nachdem mittlerweile der Bayerische Oberste Rechnungshof interveniert hat, ergreift der Kulturstaatsminister – lieber spät als nie – endlich die Initiative und sorgt hoffentlich dafür, dass die WagnerFestspiele keine Exklusivveranstaltung zur Unterhaltung eines Fördervereins bleiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Christoph Poland [CDU/CSU]: Wagner ist exklusiv, nicht die Veranstaltung!) Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für musikalisches Schaffen steht nicht im Fokus der Bundesregierung. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von Musikern liegt bei 11 700 Euro. Altersarmut ist vorprogrammiert. Erschreckend hilflos sind die Antworten der Bundesregierung auf Fragen zur sozialen Absicherung und zur Altersvorsorge für Musiker: Jeder könne mit der Riester-Rente aufstocken, und die Einkünfte durch Urheber- und Leistungsschutzrechte seien ja auch eine geeignete Altersversorgung. In die Riester-Rente einzahlen kann nur, wer es sich leisten kann. Einkünfte durch -Urheber- und Leistungsschutzrechte als Altersversorgungsquelle zu nennen, zeugt von Inkompetenz. Ganze Berufsgruppen im Bereich Musik, zum Beispiel die In-strumentallehrer, hat die Bundesregierung offenbar vergessen. Musikunterricht ist nicht urheberrechtlich geschützt. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist Sache der Kommunen und der Länder! Das ist keine Bundesangelegenheit!) Die Lage vieler Lehrkräfte im Bereich Musik ist prekär. Dabei übernehmen sie hauptsächlich die Förderung von Musik in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir haben Ihnen mit unserem Antrag, zum Beispiel zu Reformen des Arbeitslosengeld-I-Bezugs, ein allgemein gültiges Modell präsentiert, das Sie nur umsetzen müssten, um die Bedingungen für Künstler und Musiker zu verbessern. Außerdem brauchen wir branchenspezifische Mindestlöhne – auch im Kulturbetrieb. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Gravierende Schwachstellen offenbart die Bundesregierung auch bei der sogenannten Exportförderung. Was die Zuschüsse für Tourneen betrifft, sind deutsche Solokünstler und Bands gegenüber anderen Ländern klar im Nachteil. Exportförderung für Auslandstourneen erhalten bei uns in erster Linie prominente Bands, die es ja wohl am wenigsten nötig hätten. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das Goethe-Institut macht eine sehr umfangreiche Arbeit für alle Bereiche!) Die Bundesregierung sollte sich am skandinavischen Vorbild orientieren und ein Programm zur Tourförderung von Bands auflegen. Ob Jazz, Hip-Hop, Rap, Punk oder Techno – bei fast allen Fragen nach der Förderung neuer musikalischer Ausdrucksformen verweist die Bundesregierung auf die „Initiative Musik“. Über 40 Millionen Euro gibt der Bund pro Jahr für Musikförderung aus, die „Initiative Musik“ bekommt 1,5 Millionen Euro. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und den Beitrag der Wirtschaft darf man nicht vergessen!) Davon sollen so gut wie alle neuen Musikbereiche gefördert werden. Zum Vergleich: Die Wagner-Festspiele erhalten pro Jahr rund 2 Millionen Euro, und damit wird nur ein einziges Festival finanziert. Auch was die zeitgenössische Klassik betrifft, ist vonseiten der Bundesregierung Saure-Gurken-Zeit angesagt. Das erfolgreiche Programm „Netzwerk Neue Musik“ ist gerade ausgelaufen; jetzt klafft eine große Lücke bei der Förderung zeitgenössischer Klassik. Was an Neuem in der Musik entsteht, muss gleichberechtigt an Mitteln aus dem Kulturetat beteiligt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Zukunft unserer Musiklandschaft besteht in einem Überwinden des qualitativ unterscheidenden Denkens in U- und E-Musik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wir brauchen ein anderes Kulturverständnis, eines ohne Scheuklappen. Das geht schon bei den Spielstätten los. (Gisela Piltz [FDP]: Sagen Sie das mal Ihren Kollegen in den Ländern!) Ein Konzerthaus ist eine Spielstätte für alle. Dort sollten Angebote und Aufführungen für Jung und Alt, Reich oder Arm einen Platz finden. Opern, Theater und andere Institutionen müssen als Kulturerlebnisorte für alle Bedürfnisse begriffen und bespielt werden, nicht als exklusive Heimat einer Musikrichtung. Wir brauchen institutionelle und Projektförderung, bei der Interaktion von Musikbereichen, also Jugendkultur, Pop und Klassik, genauso vorgesehen ist wie eine Mindestgage, ein ausgewogener Frauenanteil und der interkulturelle Austausch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christoph Poland [CDU/CSU]: Sollen jetzt Frauen die Männerrollen übernehmen?) Es gibt viel zu tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnen gemeinsam ein Musikförderkonzept zu entwickeln, das unserer Tradition als dem Land der großen Komponisten gerecht wird. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Christoph Poland hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Christoph Poland (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon -Napoleon wusste, dass Musik von allen Künsten den tiefsten Einfluss auf das Gemüt hat und ein Gesetzgeber sie deshalb am meisten unterstützen soll. Das tun wir, das tut die Bundesregierung. Ich kann Ihnen nach 32 Jahren Tätigkeit als Musiklehrer und nach 18 Jahren Tätigkeit als Musikveranstalter hier und heute sagen, dass wir für Musikveranstaltungen auf Anfrage immer Sponsoren und Unterstützer gefunden haben, egal wie wir um Unterstützung gebeten haben. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig! Das ist die Realität!) Die umfassenden Antworten auf die 74 Fragen der SPD zeigen, wie großartig und umfangreich die Förderungen des Bundes sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die schon genannten über 44 Millionen Euro für die Musikförderung, die zur Verfügung gestellt werden, sind ein beredtes Beispiel dafür. Für seine Förderung hat der Bund objektive, überprüfbare Kriterien formuliert. Dabei ist, so finde ich, die Nachhaltigkeit bei den geförderten Projekten besonders wichtig. Wir sehen es am Beispiel JeKi, welche Auswirkungen es haben kann, wenn ein Projekt angeschoben wird. Der Bund fördert Einrichtungen und Projekte mit gesamtstaatlicher Bedeutung. Das haben wir heute schon gehört. Dazu kommt die Förderung der Musik als Teil der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Als Beispiel für die Förderung von Leuchttürmen der Kultur möchte ich folgende hervorheben: Beim Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e. V. handelt es sich um ein Leuchtturmprojekt in den neuen Bundesländern. Durch das Zusammenwirken von drei Ländern und dem Bund wird ein Beitrag zur Bewahrung, Erforschung und aktiven Vermittlung der in dieser Region überreichen Zeugnisse des musikalischen Erbes von Bach, Händel, Schütz, Telemann und weiteren Komponisten geleistet. Auch das Musikfestival auf Usedom mit seinem grenzüberschreitenden europäischen Ansatz bekommt zu Recht eine Bundesförderung. In diesem Jahr ist dort das Thema russische Musik. Ein weiteres Beispiel sind die Zuschüsse für die Dachverbände der Laienmusik. Denken Sie an den Deutschen Musikrat! Dort werden Veranstaltungen und Projekte der musikalischen Breitenarbeit und der nationale Spitzennachwuchs gefördert. Ich freue mich daher besonders über die Förderung des Bundesjugendorchesters und des Wettbewerbs „Jugend musiziert“. Übrigens gibt es auch Bundeswettbewerbe für Jugendbands. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ja!) Nur denke ich, dass es unser Uranliegen sein muss, in Deutschland die Hochkultur zu erhalten. Mit der einmaligen Anschubfinanzierung des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen für die Etablierung eines ECHO Jazz im Jahr 2010 sollte ein neues Forum entstehen. Das läuft nun ohne Förderung erfolgreich weiter. Die herausragenden Leistungen bundesweit und international im Bereich des Jazz sollen gewürdigt und öffentlich wieder mehr wahrgenommen werden. Der Anteil von nur noch 1,4 Prozent des Jazz am Gesamtumsatz der Plattenindustrie ist ein Vermarktungsproblem, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ja!) aber auch Ausdruck einer schwindenden Anerkennung des Jazz in der breiten Öffentlichkeit. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Leider!) Daher möchte ich an dieser Stelle auch die Förderung des Jazz im Rahmen der „Initiative Musik“ hervorheben. Als Professor Gorny hierzu im Ausschuss war, deutete sich eine fraktionsübergreifende Neigung an, den Jazz stärker zu unterstützen. Die Forderungen der Bundeskonferenz Jazz wurden von der „Initiative Musik“ aufgenommen und ausgewertet. Hier die Bilanz: 88 Jazzmusiker und Jazzprojekte wurden von 2008 bis 2011 mit 1,5 Millionen Euro gefördert. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Guter Anfang!) Auch das ist ein Spitzenergebnis. Das ebenfalls vom Bund geförderte Bundesjazzorchester kümmert sich um den Nachwuchs. Hier leistet die „Initiative Musik“ ebenfalls erfolgreiche Arbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Musikförderung des Bundes ist historisch gewachsen und strukturiert. Sie unterstützt das vielfältige Musikleben in Deutschland. Musik ist ein zentraler Bestandteil unseres kulturellen Selbstverständnisses. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat das Wort für die CDU/CSU der Kollege Paul Lehrieder. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Musikförderung des Bundes verdeutlicht die unionsgeführte Bundesregierung einmal mehr, welch großes Gewicht sie auf die Förderung von Musik legt, und das ist gut so. Die Antwort auf die Große Anfrage mit ihren 74 Fragen umfasst immerhin 47 Seiten. Das zeigt die ganze Bandbreite – es wurde von einigen Vorrednern bereits darauf hingewiesen – der vielfältigsten Facetten der Musikförderung in Deutschland. Kollege Börnsen hat in seiner Auftaktrede bereits darauf hingewiesen – man kann es gar nicht oft genug wiederholen –: 44 Millionen Euro hat die Bundesregierung 2010 für die Förderung der Musik in Deutschland zur Verfügung gestellt. Frau Kollegin Krumwiede, Sie sagen, es könne manches noch besser werden, die soziale Absicherung der Künstler müsse verbessert werden. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass wir derzeit über eine Veränderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes verhandeln. Wir wollen die soziale Absicherung der Künstler, den Arbeitslosengeld-I-Bezug, schon in den nächsten Wochen verbessern. (Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden reicht nicht! Wir brauchen Ergebnisse!) Wir kümmern uns auch im Ausschuss für Arbeit und Soziales um die Belange der Künstler. Das ist bei uns in guten Händen. Frau Krumwiede, machen Sie sich mal keine Sorgen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifle ich! Es dauert alles ein bisschen lang!) Ich freue mich natürlich immer, wenn bei solchen Debatten auch die Nutznießer unserer Förderung als Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne dabei sind. Insbesondere die jungen Leute können von dem vielfältigen Musikangebot in den Schulen, aber natürlich auch in den Vereinen profitieren. Ja, es ist richtig: Die Musikförderung des Bundes ist eine Facette. Sie ist die Ergänzung zu den Maßnahmen der Länder und der Kommunen. In Bayern etwa gibt es den Bayerischen Musikplan, durch den eine großzügige Unterstützung der Musik, auch der Laienmusik, erfolgt. Für den letzten Redner einer Debatte ist es immer schwierig, noch viel Neues und Sinnstiftendes beizutragen. Ich möchte mich deshalb auf zwei Facetten beschränken. Das ist einmal der Bereich der Laienmusik; hierauf hat der Kollege auch schon kurz hingewiesen. Um die Laienmusik als Teil der Breitenkultur geht es in Abschnitt X Ihrer Anfrage, Herr Kollege Ehrmann. Es ist schon beeindruckend, wenn man sich die Zahlen aus der Anfrage vor Augen führt. Allein die Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände umfasst elf Mitgliedsverbände und immerhin 23 000 Laienorchester. Dort wird eine hervorragende Arbeit geleistet. Machen Sie sich einmal klar, welche Jugendarbeit in den Laienorchestern betrieben wird! Wir hatten gerade auf -Antrag der Linken eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Zivilcourage gegen Nazis stärken“. Wenn wir die Programme des Familienministeriums gegen rechts und entsprechend auch gegen links einbeziehen, so können Sie eigentlich gar nicht ermessen, welche wertvolle Jugendarbeit in den Kapellen, in den Gesangsvereinen, in den Chören und natürlich auch in den Sportvereinen geleistet wird und was dadurch auch für den Staat an Prophylaxe und Zusammenhalt generiert wird. Das, was wir in den Laienorchestern haben, ist ein Wert, ein Goldschatz der Gesellschaft, auf den man in einer solchen Debatte ausdrücklich hinweisen sollte. Für die geleistete Arbeit möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände hat deutschlandweit immerhin 48 500 Chöre mit 2,5 Millionen Mitgliedern. Hier sind Ehrenamtliche unterwegs, die in ihrer Freizeit anderen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Lebensqualität, Freude am Leben, Freude am Gesang – der Kollege Börnsen hat es sich nicht nehmen lassen, hier zu singen – vermitteln. Das zeigt, dass wir optimistisch und positiv in die Zukunft schauen können. Das können wir auch über unsere Chöre und Verbände organisieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Gerade das Ehrenamt!) Ich bedanke mich noch einmal bei der Jugendarbeit. Ich selber bin stellvertretender Bezirksvorsitzender im Nordbayerischen Musikbund, war viele Jahre lang als Kreisvorsitzender für 75 Blaskapellen zuständig. Jetzt bin ich für 360 Kapellen mit zuständig. Ich weiß aus eigener Erfahrung: Wenn über 300 000 Kinder und Jugendliche allein über die Deutsche Bläserjugend vom Bund mit gefördert werden, so ist das eine sinnvolle zukunftsfähige Jugendarbeit. In mehr als 10 000 Spielmanns- und Fanfarenzügen sind unsere Jugendlichen organisiert. Frau Kollegin Jochimsen, eines tut mir weh, wenn Sie versuchen, Jazzmusik und Bayreuth gegeneinander auszuspielen. Wir sollten uns in Deutschland mit unserer vielfältigen Kulturszene beides leisten können. Bayreuth darf gefördert werden. Ich bin froh, dass der Staatssekretär der Debatte zugehört hat. Herr Kollege Koschyk, das ist ein Aushängeschild deutscher Kultur. Das sollte man nicht verstecken und man sollte nicht sagen: Wir können es nicht fördern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Bekanntheitsgrad Bayreuths ist nicht nur für die Region, nicht nur für Bayern, nicht nur für Deutschland, nicht nur für Europa wichtig, er ist für die ganze Welt wichtig. Wir sind stolz darauf, dass Wagner und Bayreuth auch über die Festspiele ein Markenzeichen für deutsche Kultur sind. Das sollten wir nicht schlechtreden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen wir nicht! Die Zustände dort sind schon schlimm genug!) Ich wünsche uns weiterhin ein konstruktives Mitarbeiten, damit wir die Kultur in Deutschland weiterentwickeln, Frau Kollegin Krumwiede, damit wir in Zukunft eine vielfältige Kulturlandschaft mit Laienorchestern, Profiorchestern, Jazzkapellen, Schlagzeugen in Jazzkapellen – dort hat der Kollege Börnsen früher gespielt – haben. Wenn das gut weitergeht, hat die Gesellschaft davon einen Nutzen. Dafür Sorge zu tragen, ist auch die Aufgabe der Politik. Herzlichen Dank an alle Gutmeinenden, die hier mitwirken. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren – Drucksache 17/8882 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hierzu haben die Fraktionen verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Herr Börnsen, ich weiß nicht, ob Sie jetzt im Duo singen wollen. Vielleicht ist das auch draußen möglich. Ich würde gern dem Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion das Wort geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin! Er wird Ihnen den Gefallen tun, die Rede nicht vorzusingen. Meine Damen und Herren! Der Zugang zu Rohstoffen ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch aus sozialen Gründen die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Deswegen ist es richtig, dass sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen dazu entschieden haben, das zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Im Übrigen weiß ich, dass sich auch die Oppositionsfraktionen intensiv mit diesem Thema befassen. Es gibt eine Vielzahl von Initiativen – in der Außenpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Landwirtschaftspolitik und in der Entwicklungshilfe –, die das Thema Rohstoffe betreffen. Ich denke, es ist Zeit, dass auch wir Finanzpolitiker uns mit diesem Thema beschäftigen, und zwar ganz konkret mit der Spekulation mit Rohstoffen, mit Rohstoffderivaten und Rohstofftermingeschäften. Dies will ich Ihnen anhand von fünf Punkten erläutern: Erster Punkt: Worum geht es überhaupt? Was sind Rohstoffderivate? Rohstoffe kennen wir alle, die holt man aus der Erde oder vom Acker. Mit Rohstoffen ist im Übrigen schon immer gehandelt worden, vom Klafter Holz in der Antike bis zu den Seltenen Erden, die man heute braucht, um Handys zu produzieren. Es gab auch immer schon die Spekulation mit Rohstoffen oder Termingeschäfte mit Rohstoffen: Als Beispiel nenne ich den Bauern im Mittelalter, der sein Saatgut nicht bezahlen konnte und dafür dem Saatguthändler versprochen hat: Ich gebe dir für das Saatgut im Herbst einen Teil meiner Ernte. – Heutzutage ist es der Stahlproduzent, der eine feste Lieferverpflichtung gegenüber VW und Audi zu einem gewissen Preis zu erfüllen hat und der heute schon wissen möchte, was er am Ende des Jahres für Eisenerz bezahlen muss. Diese beiden Beispiele haben eines gemeinsam: Erstens werden Verträge über Dinge abgeschlossen, die es körperlich noch nicht gibt und die noch nicht zur Verfügung stehen. Zweitens sind diese Geschäfte gar nicht so unvernünftig; denn sie machen wirtschaftlich durchaus einen Sinn. Trotzdem machen wir uns Sorgen um den Markt für Rohstoffderivate. Warum machen wir uns diese Sorgen? Diese Sorgen machen wir uns deswegen, weil wir einige alarmierende Entwicklungen sehen. Die erste alarmierende Entwicklung ist die starke Schwankung der Rohstoffpreise. Normal wäre es, dass die Rohstoffpreise steigen, weil es eine erhöhte Nachfrage gibt, weil auf dieser Welt mehr Menschen leben, die essen und etwas konsumieren wollen. Dass die Preise jedoch stark schwanken, ist beunruhigend – im Übrigen nicht nur für uns in der Politik, sondern auch für die mittelständische Wirtschaft, die ja damit leben muss. Zweiter Punkt. Wir sehen, dass im Rohstoffderivatebereich eben nicht nur der von mir erwähnte Bauer oder das Stahlwerk, zusammen mit den Hausbanken, tätig sind. Nein, wir sehen vielmehr, dass in diesem Bereich auch Investmentbanken Fuß fassen und sich dort Hedgefonds und Versicherungen tummeln. Wir sehen, dass unglaublich viel Kapital in diesen Bereich hineinfließt und dass es in dem Zusammenhang immer wieder Empfehlungen gibt: Geht weg von unsicheren Produkten wie beispielsweise Staatsanleihen und investiert in Rohstoffe! Das müsste uns zunächst einmal nicht beunruhigen, und wir könnten sagen: Es ist uns doch egal, was da passiert. Aber wir sind gebrannte Kinder, und zwar deshalb, weil es auf dem Markt der Finanzderivate zu einer ähnlichen Entwicklung kam. Es gibt einige Parallelen: Man hat Sicherungsgeschäfte getätigt über Zins und über Währung. Das geschah aus sehr gutem Grund und war Anfang der 80er-Jahre auch noch eine tolle Sache. Dann haben wir jedoch gesehen, dass sich das Volumen dieser Geschäfte verhundertfacht hat. Ein erheblicher Teil der Probleme, zu denen es im Rahmen der Finanzmarktkrise gekommen ist, ist genau auf diesen Moloch Derivatemärkte zurückzuführen, der mittlerweile das Vielfache des Bruttosozialproduktes der ganzen Welt umfasst und der mit menschlichem Vorstellungsvermögen von den Zahlen her mit all den Nullen schon gar nicht mehr fassbar ist. Dementsprechend muss er derzeit von uns mühsam zurückgeführt werden. Genau diese Probleme wollen wir im Zusammenhang mit den Rohstoffmärkten vermeiden. Das wollen wir auch aus einem anderen Grund, nämlich weil Rohstoffe eine andere Bedeutung haben als Geld. Ich kann gegebenenfalls ohne Geld Stahl produzieren, aber nicht ohne Eisenerz. Das heißt: Es hängt viel von diesen Rohstoffen ab. Deswegen führen Rohstoffe auch zu sehr starken Verwerfungen. Wegen Rohstoffen werden Kriege geführt, beispielsweise im Kongo wegen Coltan. Aufgrund von Rohstoffspekulationen kommt es zu Hungersnöten und sozialen Verwerfungen. Ich denke, deswegen ist es wichtig, dass wir dieses Thema anpacken. Dritter Punkt: Wie packen wir es an? Welche Möglichkeiten stehen uns offen? Zunächst einmal brauchen wir Transparenz. Wir müssen wissen, was dort überhaupt passiert. Alles, was ich bislang gesagt habe, beruht auf Indizien. Es handelt sich um Vermutungen, weil diese Geschäfte völlig intransparent abgewickelt werden. Deswegen brauchen wir Meldepflichten und Plattformen, über die diese Geschäfte abgewickelt werden. Weiterhin brauchen wir Regeln für Rohstoffderivategeschäfte, und zwar strenge Regeln, damit wir nicht in eine Risikosituation hineingeraten, wie das bei den Finanzmärkten der Fall war. Überdies brauchen wir außer den Regeln noch eine Aufsicht, die die Einhaltung der Regeln überwacht. Diese Aufsicht muss vor allem kommunizieren, nicht nur im Finanzmarktbereich, sondern beispielsweise auch mit der Welternährungsorganisation oder mit anderen Organisationen, die für Rohstoffe zuständig sind. Schließlich brauchen wir ein Eingriffsinstrumentarium. Die Aufsicht muss auch eingreifen können. Sie muss -sagen können: „Geschäfte in dieser Höhe erlauben wir nicht“ – da spricht man von Positionslimits – oder: „Wir untersagen Geschäfte ganz“ oder – letzter Punkt – „Wir untersagen missbräuchliche Geschäfte“, zum Beispiel wenn Insiderhandel stattfindet. Ich denke, es gibt einige Eingriffsmöglichkeiten. Aber einer Eingriffsmöglichkeit wollen wir uns versagen: dem kompletten Verbot von Rohstoffderivategeschäften; denn sie können – ich habe es bei meinem Eingangsbeispiel gesagt – durchaus den wirtschaftlichen Nutzen der Absicherung haben. Wer kann das umsetzen? Am besten natürlich die G 20, indem sie eine weltweite Regelung findet, bei der kein Land ausscheren kann. Die Erfahrungen, die wir mit der G 20 gemacht haben, die sich im Übrigen mit diesem Thema beschäftigt, ist, dass das erstens lange dauert und dass zweitens immer wieder irgendwelche Länder sagen: „Wir machen da nicht mit“. Insofern müssen wir ganz realistisch sein: Wir haben da keine schnellen Ergebnisse zu erwarten. Die zweite Möglichkeit wäre eine Lösung auf europäi-scher Ebene. Die Europäische Kommission hat ein -Positionspapier hierzu vorgelegt. Das ist auch ein Aufruf an die Bundesregierung, daran mitzuarbeiten und sich einzubringen. Ich denke, wir werden dort einiges auf den Weg bringen können. Zur letzten Möglichkeit. Wenn auch das nicht fruchtet und wir auf europäischer Ebene nichts hinbekommen, dann müssen wir schauen, was wir auf deutscher Ebene regeln können. Wir haben das in einigen Fällen durch-exerziert. So haben wir im Alleingang die Leerverkäufe verboten; heute ist das europäischer Standard. Wir haben ein Gesetz zur Restrukturierung von Banken auf den Weg gebracht. Heute steht in der Zeitung: Österreich schreibt das so ab, wie wir es aufgesetzt haben. Das heißt, es lohnt sich, an der einen oder anderen Stelle vo-ranzugehen. Ich glaube, das Thema ist so wichtig, dass man das auch hier machen sollte. Aber es gibt natürlich auch Kritiker, die sagen: Die Rohstoffderivatemärkte sollten gar nicht reguliert werden, weil Spekulationen und Derivate wichtig sind; denn sie tragen dazu bei, dass es auf den Märkten eine bessere Preisfindung gibt, dass Liquidität, dass Angebot und Nachfrage organisiert werden. Richtig; das wollen wir auch. Aber wenn wir erkennen, dass die Finanzderivatemärkte ein Volumen von über 600 Billionen US-Dollar haben, ein Vielfaches des Bruttosozialprodukts, das in der Welt erwirtschaftet wird – ich habe es eben schon erwähnt –, dann müssen wir ganz ehrlich sagen: Ein so großes Volumen brauchen wir nicht, damit die richtigen Preise entstehen und Liquidität in den Markt kommt. Deswegen sagen wir ganz klar: Es gibt eine Legitimation dafür, in diese Märkte einzugreifen und sie zu regulieren. Die Argumente der Gegner einer Regulierung an sich sind an der Stelle zu schwach, als dass ich sie gelten lassen würde. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erklärt, warum wir das Thema Rohstoffderivate angehen müssen. Ich habe aufgezählt, mit welchen Instrumenten man das machen kann. Ich habe Ihnen gezeigt, wer das machen kann bzw. auf welcher Ebene man das machen kann. Ich habe auch gesagt, dass es Kritiker gibt, aber dass man mit den kritischen Argumenten durchaus umgehen kann. Ich denke, alles in allem ist das Thema wert, dass wir es angehen. Der Entschließungsantrag, der heute von der CDU/CSU-Fraktion zusammen mit den liberalen Kollegen vorgelegt wird, ist dabei ein erster Schritt, genauso wie der Kongress zu diesem Thema, den die CDU/CSU-Fraktion am Montag zusammen mit den Finanzpolitikern, aber auch mit den Entwicklungspolitikern durchgeführt hat. Diese ersten Schritte sind wichtig, aber es sind natürlich nicht die abschließenden Schritte; wir sind nicht am Ende. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Am Ende sind Sie schon!) Wir sind sehr gespannt darauf, welche zusätzlichen Anregungen wir von der Opposition, von der Wissenschaft und auch aus der Praxis bekommen. Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir Finanzpolitiker uns mit diesem Thema beschäftigen, dass wir es angehen. Insofern freuen wir uns auf eine kritische, konstruktive Diskussion. Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir bei den Rohstoffderivatemärkten relativ schnell verhindern, was bei den Finanzderivatemärkten passiert ist. Ich bin optimistisch, dass wir das gemeinsam hinbekommen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Carsten Sieling (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tatsache, dass die Regierungskoalition die Verwerfungen auf den Rohstoffmärkten endlich hier im Deutschen Bundestag thematisiert, muss man schon als Fortschritt bezeichnen. Der Kollege Brinkhaus nennt das hier „die ersten Schritte“. Das sind späte erste Schritte. Die Probleme werden schon lange thematisiert. Sie sind vielfach auch in diesem Hause diskutiert worden; es gab dazu verschiedene Initiativen. Wir von der SPD-Fraktion wie auch andere haben dieses Thema schon vor längerer Zeit angesprochen. Lange hat es gedauert; immer gab es abwehrende Reaktionen. Jetzt scheint ein gewisser Ruck durch die Koalition gegangen zu sein. Da kann man nur sagen: Schwarz-Gelb, bravo! – Das hat aber lange gedauert und wurde wirklich Zeit. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Ihr hättet es ja selber machen können!) Ihr Antrag mit der Überschrift „Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“ weckt große Erwartungen. (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Wir warten auf Ihre Anregungen!) Wenn man ihn sich allerdings genauer anschaut, dann macht sich – so war es jedenfalls bei mir, Herr Kollege – tiefe Enttäuschung breit. Denn ähnlich wie in der Rede meines Vorredners werden die Probleme hier auf einer beschreibenden Ebene benannt, und es sind Tausende von Prüfaufträgen vorgesehen. Es kommt aber nichts Konkretes. Es sind alles Dinge, die lange bekannt sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihr Antrag kommt sehr spät. Sie greifen viele Verwerfungen auf und wollen erst einmal die Entwicklung beobachten. Meine Damen und Herren, Sie sind nicht auf der Vogelwarte eines Natur--reservats. Sie regieren. Sie können sich nicht mit Beobachtungen zufriedengeben, sondern müssen an dieser Stelle handeln. Ich sage das auch deshalb, weil wir – da will ich aufnehmen, was hier eben gesagt worden ist – Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten wahrnehmen, die nicht mehr damit zu erklären sind, dass sich Angebot und Nachfrage auseinanderentwickeln, dass die Nachfrage zu groß ist, dass es vielleicht realwirtschaftliche Faktoren wie Produktionseinbrüche und Produktionsschwierigkeiten, Naturkatastrophen und anderes gibt. Diese Einflüsse sind es eben nicht, die dazu geführt haben, dass es auf den Rohstoffmärkten zu Preisexplosionen, zu Preisblasen und anderem gekommen ist und immer mehr Menschen in die Hungersnot getrieben werden, dadurch allein 40 Millionen im letzten Jahr. Das ist mit realwirtschaftlichen Faktoren nicht mehr zu erklären. In diesem Zusammenhang möchte ich den Präsidenten der Weltbank, Herrn Zoellick, zitieren, der von einem giftigen Gemisch aus menschlichem Leid und sozialem Aufruhr spricht und darauf hinweist, dass es zu Verselbstständigungen auf den Derivatemärkten gekommen ist, die zu dieser Situation geführt haben. Es hat Preisexplosionen gegeben. Der Preis für Grundnahrungsmittel beispielsweise hat sich verdoppelt. Bei Weizen, Mais, Reis ist es in den Jahren zwischen 2000 und 2011 sogar zu einem Anstieg von über 150 Prozent gekommen. Den Grund dafür hat Kollege Brinkhaus angesprochen. Allerdings hat er die Verselbstständigung auf diesen Derivatemärkten als Marktentwicklung bezeichnet. 1990 waren wir in der Situation, dass die Derivatemärkte ein Weltvolumen von 2 Billionen Euro und das reale Weltbruttoinlandsprodukt 20 Billionen Euro umfasst haben; es herrschte also ein Verhältnis von 1 : 10. Im Jahre 2010 waren es 600 Billionen Euro an Derivaten und 60 Billionen Euro an realem Weltbruttoinlandsprodukt. Das Verhältnis betrug also 10 : 1. Die Welt ist auf den Kopf gestellt worden, und das ist auch die Ursache für die Explosion auf den Rohstoffmärkten. Dies müssen wir mit den Regulierungen auf den Finanzmärkten angehen. Davon sprechen wir schon lange, aber Sie nehmen das erst jetzt auf – zu spät, wie ich schon sagte. (Beifall bei der SPD) Wenn man sich anschaut, was Sie jetzt prüfen wollen, dann stellt man fest, dass Sie nichts weiter machen, als sich in dem Regime zu bewegen, das wir schon kennen und das aufgrund der Regulierung, die die Europäische Kommission vorschlagen wird, kommen wird. Da geht es um die Finanzmarktrichtlinie zur Regulierung des Wertpapierhandels; MiFID ist angesprochen worden. Sie sagen, man solle sie nutzen, um die Transparenz auf den Märkten zu erhöhen. Richtig! Aber was heißt das konkret? Sind Sie bereit, sehr schnell Maßnahmen zu ergreifen, damit wir zentrale Verrechnungsstellen für die Bereiche einrichten, die neben den Börsen und im Schatten von wichtigen wirtschaftlichen Ereignissen bestehen? Das sagen Sie nicht konkret. Sie sprechen davon, dass das Entstehen von Preisblasen eingeschränkt werden soll. Wie wollen Sie das machen, meine Damen und Herren? Auch darauf finden wir keinen Hinweis. Bei Agrarderivaten fällt Ihnen wirklich nichts Besseres ein, als die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen. Ich sage es noch einmal: Das ist zu spät. (Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben das elf Jahre nicht gemacht! Sie haben recht: Das ist zu spät!) – Diese Entwicklung ist in den letzten elf Jahren vorangeschritten, aber man hat das erst mit Ausbruch der -Finanzkrise gemerkt, Herr Kollege. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Haben Sie das auch schon gemerkt? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war vor 2009!) Ich will deutlich sagen: Es war der sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück, der in Pittsburgh mit deutlichen Worten vorangegangen ist. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So, so! Deutliche Worte! Aber die Leerverkäufe haben Sie zugelassen! Ihr habt die Finanzmärkte -liberalisiert!) Seit 2009 regieren Sie. Sie schaffen an dieser Stelle überhaupt nichts. Ihre Krakeelerei drückt Ihre Armseligkeit aus; sie zeigt nämlich, dass Sie keine Argumente -haben. So kommen Sie nicht weiter. (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihr auch nicht! Ihr habt die -Finanzmärkte liberalisiert! Ihr seid jetzt ganz groß, wo ihr in der Opposition seid! Vorher habt ihr liberalisiert, sonst gar nichts! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Das ist doch Quatsch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Heiderich zulassen? – Bitte schön. Helmut Heiderich (CDU/CSU): Herr Kollege Sieling, ist Ihnen bekannt, dass die Bundeskanzlerin schon beim G-8-Gipfel ein Programm auf den Weg gebracht hat, um die Spekulationen auf den Agrarmärkten einzudämmen? Ist Ihnen dieses Programm bekannt? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir bereits gehandelt haben und dass ein Teil der Lösung, nämlich erst einmal Transparenz auf den Märkten zu schaffen, bereits existiert? Insofern agieren wir nicht erst heute, sondern schon seit geraumer Zeit. Dr. Carsten Sieling (SPD): Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege. Das ist mir sehr wohl bekannt, und nicht nur mir. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Aha! – Klaus Breil [FDP]: Das ist interessant!) Dieses Thema wird seit Jahren, allerspätestens zum jetzigen Zeitpunkt intensiv diskutiert: in der Öffentlichkeit, auf internationalen Plattformen und auch hier im Hause aufgrund verschiedener Aktivitäten und Anträge. Wir sind überrascht und auch entsetzt darüber, dass die Ko-alition erst jetzt aufwacht. Sie hätten schon viel weiter sein können, wenn Sie sich in diesem Punkt von der Kanzlerin hätten mitschleppen lassen. (Klaus Breil [FDP]: Hättet ihr doch machen können! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wo bleiben Ihre Anträge?) Ich frage mich: Warum kommen Sie erst jetzt mit Ihren Prüfaufträgen? Warum dackeln Sie erst jetzt hinterher? Das zeigt nur: Diese Koalition ist nicht handlungsfähig und nicht in der Lage, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. (Klaus Breil [FDP]: Sie haben jahrelang nichts gemacht! – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: -Immer dasselbe!) – Herr Kollege, es ist natürlich immer dasselbe, weil das Elend mit Schwarz-Gelb immer dasselbe ist. (Klaus Breil [FDP]: Fakten! – Weitere Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Das ist die Ursache. Verwechseln Sie nicht Ursache und Wirkung. Muss das eigentlich so laut sein, Frau Präsidentin? (Heiterkeit) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das muss nicht so sein. Sie sind aber auf jeden Fall lauter; für Sie haben wir das Mikrofon angestellt. Dr. Carsten Sieling (SPD): Das nutze ich auch für mich. Ich bedanke mich. Ich möchte zum Schluss sagen, (Jens Ackermann [FDP]: Zum Schluss zum Thema!) dass ich es natürlich nicht versäumt habe, mir anzuschauen, was Herr Rösler in den letzten Tagen vorgelegt hat. Auch dies ist ein Dokument in dem bereits genannten Sinne: eine Aufzählung von bekannten Allgemeinplätzen. Die Bereitschaft, zu handeln, fehlt. Nehmen Sie sich endlich der Entwicklung auf den Derivatemärkten an, und ergreifen Sie entsprechende Maßnahmen! Ich frage mich, warum Sie zu den vielen Vorschlägen, die es gibt, nichts Konkretes sagen. Warum ergreifen Sie nicht die Gelegenheit beim Schopf und schlagen uns die Einführung eines wesentlichen Instruments vor? (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Machen Sie wenigstens einen Vorschlag! Nur einen einzigen!) Warum sprechen Sie sich nicht für die Einführung einer Finanztransaktionsteuer zur Beschränkung der Finanzmärkte aus? (Beifall bei der SPD und der LINKEN – -Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich hoffe, die nächsten Redner haben trotz der FDP den Mut, das zu sagen. (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Mein Gott! Ein ganz Großer! So viel Mut!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Björn Sänger (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat ist dieses Thema von außerordentlicher Wichtigkeit, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist die Rohstoffversorgung von elementarer Bedeutung für die deutsche Wirtschaft. Die Industrie muss mit Rohstoffen versorgt werden. Die Industrie produziert Güter und schafft damit überhaupt erst die Möglichkeit, dass sich der Arbeitsmarkt im tertiären Sektor so wahnsinnig gut entwickelt, wie er sich in der Vergangenheit entwickelt hat. Rohstoffe sind die Grundlage für jedes erfolgreiche Wirtschaften, für jede Form von Wirtschaftswachstum. Deswegen haben sie eine große Bedeutung für Deutschland. Zum anderen gibt es Rohstoffe, die wir alle zum Leben brauchen, nämlich die Lebensmittel. Deshalb erfährt dieses Thema eine besondere Beachtung. Es wird von den Menschen in besonderer Art und Weise wahrgenommen, weil es ihr unmittelbares Lebensumfeld betrifft. Dieses Thema ist daher moralisch-ethisch aufgeladen. Dieser Bereich ist nicht grau, vielmehr bunt, auf gar keinen Fall aber schwarz-weiß. Rohstoffderivatgeschäfte sind wichtig für die Realwirtschaft; denn sie hat ein Interesse daran, sich gegen Risiken abzusichern. Der Hersteller von Pommes frites zum Beispiel möchte das ganze Jahr über Pommes frites anbieten, und zwar in gleichbleibender Qualität und – das ist auch aus Sicht der Verbraucher wichtig – zu einem gleichbleibenden Preis. Deswegen versucht er, sich Kartoffeln möglichst frühzeitig zu sichern. Dazu nutzt er ein Derivat. Insofern haben Derivate eine wichtige Funktion auf diesem Markt. Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen schon immer gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden. Da ist zum einen die Knappheit des Gutes. Es kommt darauf an, wie man an das Gut herankommt. Das ist teilweise relativ aufwendig. Das wird klar, wenn wir zum Beispiel an den Bergbau denken. Wir haben Unwägbarkeiten: Wenn eine Grube verschüttet ist, steht sie erst einmal nicht zur Verfügung. Das bedeutet, dass es sofort zu einer Verknappung des Gutes und in der Folge zu einer Preisschwankung kommt. Auf den Agrarmärkten hat man mit dem Bevölkerungswachstum zu kämpfen und nicht zuletzt mit dem Wetter und der politischen Lage in den jeweiligen Fördergebieten, die bezogen auf einige Märkte außerordentlich heikel ist. Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unterwegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand muss das Risiko übernehmen. Nicht immer hat man eine entsprechende Gegenpartei zur Verfügung. Das heißt, man braucht jemanden, der bereit ist, zu sagen: Okay, ich nehme dieses Risiko auf mich. – Das kennen wir beispielsweise von den Buddenbrooks. In dem großen Roman von Thomas Mann hat Thomas Buddenbrook die Jahresernte von Gut Pöppenrade zum halben Preis „auf dem Halm“ gekauft und damit Schiffbruch erlitten, weil es einen Hagelschlag gegeben hat. Buddenbrook hat als Spekulant das Risiko auf sich genommen. In diesem Fall war das positiv für den Gutsbesitzer; denn er hatte für seine Ernte zumindest den halben Preis erzielt. Wir beobachten – auch das ist richtig –, dass Finanz-investoren zunehmend auf Rohstoffmärkte ausweichen. Diese Entwicklung kann man durchaus erklären: Die Finanzinvestoren weichen von den stärker regulierten Märkten auf einen Markt aus, von dem sie den Eindruck haben, dass er noch nicht so stark reguliert ist. Man muss sagen: Auch das ist nicht zuletzt ein Erfolg der Regulierungsbemühungen dieser Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir wollen diese „Finanzialisierung“ der Rohstoffmärkte, wie es heißt, an dieser Stelle aber nicht. Wir möchten, dass die Rohstoffmärkte ganz normal, von den natürlichen Preisschwankungen getrieben werden. Sie sollen einen realwirtschaftlichen Hintergrund haben und von den natürlichen Faktoren beeinflusst werden. Diese Finanzialisierung kann die Schwankungen verstärken. Das genau wollen wir nicht. Was wir auch nicht wollen, sind entsprechende Preis-obergrenzen im Bereich der Landwirtschaft – das ist ein Instrument, das immer wieder ins Spiel gebracht wird –; denn wenn man eine Preisobergrenze festsetzt, muss man natürlich auch eine Preisuntergrenze festsetzen, sozusagen einen Mindestpreis einführen. Das wäre ein Eingriff in den Markt, den wir an dieser Stelle nicht wollen. Mit dem vorliegenden Antrag sollen die Bemühungen der Bundesregierung unterstützt werden. Er liefert Argumente und zielt darauf, dass der Deutsche Bundestag -seinen politischen Willen zum Ausdruck bringt. Die Maßnahmen, die die Bundesregierung auf G-20- und EUEbene bereits angestoßen hat, sollen weiter in die richtige Richtung vorangetrieben werden. Wir schlagen ein Bündel von Maßnahmen vor, mit denen wir die Fehlentwicklungen in den Griff bekommen können. Die Transparenz ist ein ganz scharfes Schwert; (Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt man über Nebeneinkünfte auch, bei der Offenlegung! Dafür ist die FDP gar nicht!) denn der Spekulant scheut das Licht. Eine Spekulation ist nur dann erfolgreich, wenn Sie über Wissen verfügen, das nur Sie haben. Nur dann können Sie Gewinne machen. Daneben haben wir die Positionslimits. Auch das ist ein Mittel, um Spekulationspositionen zu vermeiden. Wir wollen eine verstärkte Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Überblick zu haben, wie sich ein Markt entwickelt, und Fehlentwicklungen zielgerichtet unterbinden zu können. Darüber hinaus greift der Antrag den Hochfrequenzhandel auf – es ist richtig, dass dies getan wird – und verortet ihn als einen Bereich, der einer Regulierung bedarf. Auch hier unterstützen wir die Bundesregierung in ihren Bemühungen, diesen Bereich einer Regulierung zuzuführen. Die Hochfrequenzhändler sollen unter Finanzaufsicht gestellt werden, und den Börsenbetreibern sollen weitere Mittel an die Hand gegeben werden, um gegebenenfalls einzuschreiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unter dem Strich geht es in dem Antrag um Folgendes: Wir unterstützen die bereits getroffenen Maßnahmen der Bundesregierung sowie die von ihr mitgetragenen Maßnahmen auf EU-Ebene und auf G-20-Ebene. Wir als Deutscher Bundestag dokumentieren hier unseren Willen, die Bundesregierung bei der Umsetzung der Maßnahmen, die bereits getroffen wurden, weiterhin zu unterstützen. Es ist ein sehr guter Antrag. Man kann ihm zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ulla Lötzer hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Lötzer (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich müssen wir in diesem Zusammenhang über die Rolle der Finanzmarktakteure und der neuen Finanzinvestoren auf den Rohstoffmärkten reden. Sie haben zwischen 2003 und 2008 ihre Investitionen in die Rohstoffmärkte von 13 Milliarden Euro auf 200 Milliarden Euro erhöht; inzwischen haben sie diese Summe verdoppelt. Die Deutsche Bank ist einer der wichtigsten Spieler in diesem Derivatemarkt. Sie hat knapp 5 Milliarden US-Dollar direkt in Agrarrohstofffonds und knapp 3,6 Milliarden US-Dollar in Energiefonds investiert, 45 eigene Rohstofffonds aufgelegt und beschäftigt in diesem Bereich 250 Fachleute in 21 Städten. Sie wollen mir doch nicht im Ernst sagen, dass dies mit einer Absicherung gegen Preis- und Währungsschwankungen bei Realgeschäften zu tun hat. Das hat mit Spekulationen und Milliardengewinnen zu tun. (Beifall bei der LINKEN – Klaus Breil [FDP]: Das ist Marktanalyse!) Der Agrarfonds der Deutschen Bank gilt als weltweit größter. Es geht aber nicht nur um Spekulationen. Diese Anleger sind zusammen mit den fünf bis sechs großen Bergbaukonzernen, den Rohstoffhändlern wie Glencore und den Agrarmultis verantwortlich für Hungersnöte, Landgrabbing, skandalöse Arbeits- und Umweltbedingungen beim Abbau von Rohstoffen in Entwicklungsländern und, wie es in Ihrem Ressourceneffizienzprogramm heißt, für 18 Kriege, die durch Konflikte um Rohstoffe verursacht werden. Deshalb sind diese Debatte und entsprechende Maßnahmen dringend erforderlich. Es ist schön, dass jetzt auch Schwarz-Gelb dieses Thema aufgreift und einen Vorschlag macht; besser spät als nie. Aber die Maßnahmen, die Sie treffen, sind in jeglicher Hinsicht völlig unzureichend. Erstens. Sie sind nicht, wie hier eben dargestellt, der Treiber auf der Ebene der G 20, wenn es um die Begrenzung geht, sondern eher der Bremser. Bei Agrarrohstoffen und sogenannten Konfliktmetallen sind zum Beispiel selbst die USA weiter. Sie treffen Maßnahmen, die die Bundesregierung ablehnt. Dort wurde beispielsweise das Vorsichtsprinzip eingeführt. Das heißt, dass Behörden aufgefordert sind, exzessiver Spekulation vorzubeugen. Das fehlt bei Ihnen völlig. In den USA wurde bereits 2010 festgelegt, dass börsennotierte Unternehmen und deren Zulieferer der Aufsichtsbehörde Rechenschaft über die Herkunft bestimmter Konfliktrohstoffe und damit zusammenhängender Zahlungsströme ablegen müssen. Die Einführung einer solchen Vorschrift auf europäischer Ebene verweigert die Bundesregierung. Zweitens. Der europäische Vorschlag sieht zumindest Obergrenzen für die Zahl der abgeschlossenen Verträge vor, die einzelne Händler eingehen können, sogenannte Positionslimits. Sie wollen das jetzt mit alternativen Regelungen, über die Sie sagen, sie hätten eine gleichwertige Wirkung, aufweichen. Das wäre wieder das perfekte Schlupfloch für die Finanzindustrie, die ihre Lobbytätigkeit seit Wochen in diese Richtung konzentriert. Drittens. Sie ziehen keine Konsequenz aus Ihrer Analyse des Hochfrequenzhandels. Dieser wird durch eigenständig handelnde Hochleistungscomputer auf Basis elektronisch erhaltener Marktinformationen betrieben. Wegen der großen Menge lassen sich hier mit minimalen Kursdifferenzen Milliardengewinne erzielen. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit einer Absicherung gegen Preisänderungen oder Wechselkursrisiken bei realen Geschäften zu tun. Deshalb gehört der Hochfrequenzhandel wie andere außerbörsliche Geschäfte ganz einfach verboten und nicht nur registriert. (Beifall bei der LINKEN) Viertens. Sie machen keine konkreten Vorschläge zur Erhöhung der Transparenz bezüglich Rohstoffhändlern, investoren und produzenten. Das wäre aber neben der Beschränkung der Spekulation äußerst dringend. Die FDP meinte bei einer Anhörung Anfang Februar dieses Jahres, dass die Regierungen der Entwicklungsländer selbst die Verantwortung dafür hätten, transparente Rohstoffwertschöpfungsketten aufzubauen. Ich bestreite sicherlich nicht, dass es in dem einen oder anderen Land schwache Regierungsstrukturen und Korruption gibt. Aber auch Sie wissen, dass die Rohstoffmärkte durch mächtige transnationale Konzerne und inzwischen auch durch Finanzinvestoren außerordentlich vermachtet sind. Es gibt viele Beispiele dafür, dass lateinamerikanische Länder die Rohstoffförderung aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit diesen skrupellosen Konzernen in die eigene Hand nehmen wollen oder zumindest hohe Konzessionszahlungen oder Steuern verlangen. Dann aber werden sie wegen Wettbewerbsverzerrung vor die WTO gezerrt. Der freie Zugang zu billigen Rohstoffen ist Ihnen wichtiger als Umwelt- und Sozialstandards, die Entmachtung der Konzerne und Finanzmarktakteure oder die Verhinderung von Spekulation. Kurzum: Sie schützen nicht die Produzenten und Unternehmen, die realwirtschaftliche Risiken absichern. Erst recht nicht schützen sie die Menschenrechte. Sie sorgen auch nicht für Konfliktfreiheit in Rohstofffragen. Sie sind die Bremser. Wenn Sie tatsächlich etwas tun wollen, dann müssen Sie endlich von dieser Bremse gehen, auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Gerhard Schick. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass uns dieser Antrag vorliegt, ist grundsätzlich zu begrüßen. Die Fragen sind bloß: Was steht eigentlich Substanzielles drin? Ist das dem Problem wirklich angemessen? Herr Brinkhaus hat gerade gesagt, wir müssten im Hinblick auf Rohstoffderivate das verhindern, was bei Finanzderivaten passiert ist. Diesem Satz kann ich nur zustimmen. Man muss aber darauf hinweisen, dass die jüngsten Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten sehr viel damit zu tun haben, dass die Europäische Zen-tralbank gerade viel zusätzliche Liquidität in den Markt gibt und dies notwendig geworden ist, weil die Bundesregierung das Problem mit ihrer Krisenpolitik nicht in den Griff bekommen hat. Das ist ein Teil der unangenehmen Wahrheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Was? Sie haben doch alles abgewehrt! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja an den Haaren herbeigezogen!) Konkret zu Ihrem Antrag. Sie fordern erstens die konsequente Umsetzung der von den G 20 beschlossenen Maßnahmen. Das klingt knackig. Aber Sie weichen diese Forderung wieder auf. Ich will das deutlich machen: Die G 20 haben beschlossen, dass konkrete Ex-ante-Positionslimits eingesetzt werden und die Regulatoren über diese verfügen sollten. Was steht in Ihrem Antrag? Es sollen Alternativen zu starren Ex-ante-Limits intensiv geprüft werden. Die harten Regeln, die die G 20 festgelegt haben, wollen Sie offensichtlich nicht mehr. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: So ist es!) Daran sieht man, dass hinter Ihren knackigen Worten an manchen Stellen im Endeffekt eine Aufweichung der G20-Positionen steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Heiße Luft!) Das zweite Beispiel hört sich sehr interessant an. Sie wollen, dass angemessene Eingriffsinstrumente eingeführt werden und die Transparenz erhöht wird. In Punkt 2 c Ihres Antrags heißt es, man müsse den legitimen Absicherungsinteressen der Realwirtschaft angemessen Rechnung tragen. Wer die entsprechende Debatte in den USA verfolgt hat, weiß: Dort ist nicht darüber geredet worden, dass die Interessen der Finanzindustrie eingeschränkt werden könnten. Dort hat man vielmehr ganz gezielt die realwirtschaftlichen Unternehmen vorgeschickt. Dadurch wurde die knackige Regulierung im Hinblick auf Derivate im Endeffekt verhindert. Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie mit einer angemessenen Berücksichtigung der Realwirtschaft meinen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wird als eigentlich gedacht. Wenn Sie diesen Interessenkonflikt nicht klar offenlegen, dann sagen Sie nicht, was Sie wollen. Dann sind die Überschriften, die Sie liefern, nicht viel wert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Herr Schick, wenn da nicht mehr kommt, dann ist das ein guter Antrag gewesen!) Ich möchte ganz konkret auf einen Schwerpunkt eingehen, den wir in dieser Debatte legen. Dies betrifft die Frage der Agrarrohstoffe. Herr Sänger hat gesagt, diese Debatte sei manchmal moralisch-ethisch aufgeladen. Da hat es mich schier vom Stuhl gerissen. Die Debatte ist nicht aufgeladen, sondern es ist eine ethische Debatte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Wenn in Deutschland oder in Europa Menschen in Produkte investieren und davon profitieren, wenn der Preis für Weizen steigt, und wenn auf der anderen Seite der Erde der Preis für Weizen steigt und deswegen Menschen Schwierigkeiten haben, ihren Hunger zu stillen, dann ist das eine ethische Frage, und die muss man beantworten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Was steht dazu in Ihrem Antrag? Sie treten lediglich dafür ein, für Agrarderivate zusätzliche und strengere Regulierungsmaßnahmen zu „prüfen“. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Gegenvorschlag von Herrn Schick!) Wir haben bereits einen Antrag vorgelegt, den Sie -abgelehnt haben. In diesem Antrag haben wir etwas Konkretes dazu vorgeschlagen. Wir haben in diesem Antrag vorgeschlagen, Finanzinstituten soll untersagt werden, in physische Agrarrohstoffe zu investieren; denn wir müssen das trennen vom Markt für Finanzderivate. Banken sollen natürlich nach wie vor mit Finanzderivaten handeln müssen. Der Rohstoffbereich muss aber -davon getrennt werden, damit die „Finanzialisierung“, die Sie beklagen, wirklich zum Halten kommt. Ohne diese Schneise werden Sie das Phänomen, das Sie beklagen, nicht stoppen. Den Antrag, den wir dazu gestellt -haben, haben Sie aber abgelehnt. Offensichtlich haben Sie ein Problem damit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Außerdem sind wir der Meinung, indirekte Investitionen über Derivate in Agrarrohstoffe sollen untersagt werden. Wir sagen: Mit Essen spielt man nicht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will ein konkretes Beispiel nennen. Um einmal nicht die Deutsche Bank zu zitieren, habe ich mir angebotene Produkte noch einmal angeschaut und ein Produkt der Royal Bank of Scotland ausgewählt, nämlich ein Open-end-Zertifikat auf Weizen. Solche Produkte werden im Internet und an anderen Stellen schön beworben: Profitieren Sie von der rasanten Preisentwicklung von Agrarrohstoffen. Dies ist eines der Produkte, bei dem Sie das tun können. Wir halten es ethisch aber nicht für richtig, die Preise von Produkten in die Höhe zu treiben, die die Lebensgrundlagen von anderen Menschen sind. An dieser Stelle sind wir für Verbote auf Finanzmärkten. Wir meinen, in diese Richtung sollte die Bundesregierung auch hier in Deutschland tätig werden, aber nicht nur einen Marketingantrag hier vorlegen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Peter Aumer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Peter Aumer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Beiträge der Opposition waren nicht wirklich sehr hilfreich in einer doch sehr wichtigen Debatte zu einem sehr wichtigen und bewegenden Thema, das aus ethischen Gründen zu diskutieren ist, Herr Dr. Schick. Wir sind Menschen – das gilt wahrscheinlich für viele in diesem Haus –, die aus einer christlichen Motivation heraus Politik machen für die Menschen in der Verantwortung für unser Land, für Europa, (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Für die ganze Welt!) aber auch für die ganze Welt, ja, auch für die ganze Welt. (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen müssen wir hier Regelungen finden, die angemessen sind. Das Thema ist aber nicht so einfach abzugreifen, wie Sie es angesprochen haben, Herr Dr. Schick. Ich glaube, man muss auch hier in die Verästelungen der Thematik schauen. Einfach Dinge zu verbieten – das hatte der Kollege Brinkhaus angesprochen –, das kann man aufgrund der weltweiten Komplexität der Materie nicht. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Doch, das geht schon! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer braucht denn das Produkt, von dem ich gesprochen habe?) Wir sind dabei, Regelungen zu finden. Herr Dr. Sieling, Ihre Rede war diesem Thema nicht angemessen. Sie beschuldigen uns, wir würden Dinge auf die lange Bank schieben. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist leider so! Das freut mich ja nicht!) Sie waren jedoch auch einmal an der Regierung und -haben das Thema nicht angepackt. Wir sind dabei, einen großen Strauß von Themen zu bearbeiten, den Euro zu retten und vieles mehr richtig anzugehen und verlässliche Entscheidungen für die Menschen auf den Weg zu bringen. Dazu gehört auch der Rohstoffhandel. Wir müssen Lösungen für die Menschen finden, die angemessen und praktikabel sind. Das geht halt nicht mehr allein bezogen auf Deutschland, sondern das geht nur europaweit bzw. weltweit. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Die ganze Welt wartet drauf!) Deswegen ist die Bundeskanzlerin dabei, auf der Ebene der G 20 darüber zu verhandeln. Auf der europäischen Ebene sind wir dabei, diese auf der Ebene der G 20 ausgehandelten Dinge umzusetzen. Das dauert einfach. Hier brauchen wir auch die Unterstützung des ganzen Hauses. Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig, dass etwas getan werden und man verlässliche Lösungen finden muss. Der Populismus, den Sie hier an den Tag gelegt haben, Herr Sieling, gehört aus meiner Sicht nicht wirklich dazu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Aber Ihre Marketingnummer auch nicht!) – Na ja, wir machen hier kein Marketing, sondern verlässliche Politik für die Menschen in Deutschland und in der Welt. Ich habe ja vorhin versucht, das anzusprechen. Prinzipiell sind Termingeschäfte im Rohstoffbereich nicht allgemein zu verteufeln. Sie dienen sowohl den Produzenten von Rohstoffen als auch den realwirtschaftlichen Unternehmen als Instrument zur Absicherung vor Preisrisiken. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass Rohstoffderivate auch für spekulative Zwecke eingesetzt werden. Diese Spekulationen müssen wir verhindern; denn es darf nicht sein, dass hier Fehlentwicklungen auftreten. Hier müssen gezielte Regulierungsmaßnahmen eingefordert werden. Fehlende Liquidität und mangelnde Absicherung sind Auswirkungen und können vor allem auf den Märkten zu schweren Verwerfungen führen. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben in unserem Land nicht unbedingt sehr viele Rohstoffe. Deswegen ist für uns der Rohstoffhandel natürlich wichtig. Wie vorhin schon -angesprochen, gehört auch eine effiziente Regulierung auf die Tagesordnung unseres politischen Handelns. Die Transparenz ist eines der großen Themen, die wir hier ansprechen müssen. Es muss eine Aufsicht geben, die die Fehlentwicklungen sehr frühzeitig erkennt. Preisübertreibungen auf den Terminmärkten müssen ein--gedämmt werden. Eine solide Informationsbasis beschränkt darüber hinaus auch die Gefahren von Marktmissbrauch. Die Europäische Kommission hat bereits in ihrem Vorschlag zur Überarbeitung der MiFID konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Transparenz gemacht. Die Transparenz ist aber nur ein Schritt für eine erfolgreiche Regulierung. Damit die Aufsichtsbehörden gegen Fehlentwicklungen effektiv vorgehen können, brauchen sie die nötigen Eingriffsbefugnisse. Im -Rahmen der MiFID soll es hierzu die Möglichkeit zur Verhängung von Positionslimits geben. Weitere wichtige Bestandspunkte unseres Antrags sind die strengere Regulierung des Hochfrequenzhandels, die Verbesserung der Aufsicht, die Prüfung strengerer -Regeln für Agrarderivate und striktere Marktmissbrauchsregelungen für Rohstoffderivate. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, wir arbeiten also schon daran, die Themen, die Sie angesprochen haben, umsetzen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Spekulationen mit Rohstoffen, gerade im Nahrungsmittelbereich, halte ich für bedenklich. Wir, die christlich-liberale Koalition, setzen uns daher für eine effektive Regulierung der Rohstoffderivatemärkte ein. Wir fordern eine rasche Umsetzung der Regeln auf europäischer Ebene. Das Wohlergehen der Menschen, meine sehr geehrten Damen und Herren in diesem Hohen Hause, muss Ziel unseres Handelns sein. Kollege Brinkhaus hat es angesprochen: Wir haben in dieser Woche einen sehr interessanten Kongress der Fraktionen gehabt, auf dem auch der Bundesfinanz--minister gesprochen hat. Er hat eine sehr wichtige Äußerung gemacht, die wir alle uns als Handlungsrahmen -geben sollten. Er sagte: Wir müssen die Manipulations-risiken auf diesen Märkten verringern. Wenn wir dem Treiben tatenlos zusehen, haben wir aus der Finanzkrise nichts gelernt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Schlüsse aus der Krise, die wir im Moment bewältigen, ziehen können, auch in diesem Bereich. Wir leben in einem Land, in dem die Menschen darauf vertrauen, dass die Politik die Dinge verantwortungsvoll umsetzt und dass wir dem Handlungsrahmen folgen: unserem Grundgesetz und der Wirtschaftsordnung, die wir uns gegeben haben, nämlich der sozialen Marktwirtschaft. Es gilt hier, dass Regelungen getroffen und Grenzen gesetzt werden. Dies gilt auch in Bezug auf den Rohstoffhandel. Das darf aber nicht nur in unserem Land, sondern muss auch auf europäischer Ebene und weltweit passieren. Deswegen sollten wir gemeinsam daran arbeiten, dass wir Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung in unserem Land, in Europa und weltweit sichern können. Deswegen bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag; denn nur gemeinsam können wir verlässlich Politik für die Menschen in unserem Land und auf dieser Welt machen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die SPD-Fraktion hat Lothar Binding das Wort. (Beifall bei der SPD) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen waren enttäuscht darüber, dass wir den Antrag nicht rundum gut finden; denn die Überschrift finden wir rundum gut. Was erwartet man unter der Überschrift „Rohstoffderivatemärkte gezielt regulieren“? Man hat schließlich seine Erwartungen, und als Opposition erwartet man auch konkrete Vorschläge. Wir finden aber nichts zur Finanztransaktionsteuer. Wir finden nichts zum Trennbankensystem. Wir finden nichts dazu, wie Handelsplattformen organisiert werden müssen, um graue und schwarze Märkte in den Griff zu bekommen. Wir finden nichts dazu, wie Sie zwischen spekulativem und notwendigem Hedging unterscheiden wollen. Man merkt: Wir finden nichts Konkretes. Herr Brinkhaus wollte uns erklären, wie das Thema angepackt werden muss. Im Antrag finden wir das Stichwort „Transparenz“. Transparenz funktioniert immer und überall; deshalb funktioniert es letztlich nirgends. (Beifall bei der SPD) Im Antrag ist von angemessenen Eingriffsinstrumenten die Rede. Grundsätzlich sind wir sofort dafür, aber wir müssen auch wissen, was das konkret ist. Sie wol-len den legitimen Absicherungsinteressen angemessen Rechnung tragen. Schon wieder heißt es „angemessen“. Wir wollen doch alle angemessene Politik machen. Das muss man so nicht aufschreiben. Sie wollen strengere Regulierungsmaßnahmen. Die wünschen wir uns auch. Aber wie wollen Sie vorgehen? Wollen Sie irgendetwas Spezielles verbieten, oder haben Sie Ideen? Nein. Es bleibt im Abstrakten und Allgemeinen. Das macht die Sache kompliziert. Wir haben schon viel über Ethik gehört. Vielleicht können wir die Moral noch dazunehmen. Die Agrarmärkte sind total unter Druck. Agrarmärkte heißt auch: Weizen, Mais und Sojabohnen. Wir wissen genau: Die Volatilität, also die Schwankungsbreite, der Preise im Zeitverlauf führt dazu, dass die Preise kontinuierlich steigen. Die kontinuierliche Preissteigerung hat etwas mit kontinuierlicher Gewinnzunahme zu tun. Die kontinuierliche Gewinnzunahme hat etwas damit zu tun, dass immer mehr Menschen ärmer werden. Deshalb wollen wir etwas dagegen tun. (Beifall bei der SPD) Das kommt daher, dass Finanzinvestoren nicht nur von den Preisschwankungen profitieren, nein, sie erzeugen sie auch. Deshalb muss man genau da ansetzen, Arbitragegeschäfte auf dieser Ebene zu verbieten. Diesen Mut muss man haben. Das widerspricht natürlich jedem neoliberalen Konzept, demzufolge klar ist: Die Märkte reinigen sich selbst. Genau diese Ideologie müssen wir durchbrechen. Das merkt man Ihrem Antrag nicht an. Das hätten wir uns als Opposition aber gewünscht, weil es in diesen Märkten ein starkes Herdenverhalten gibt. So schaukeln sich die Preise auf. Wir wissen: Es gibt Schwarmintelligenz. Wir haben aber auch gelernt: In diesen Märkten gibt es noch mehr Schwarmdummheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb glaube ich, wir müssen den strengen, monotonen Preisgestaltungen durch diese Menschen oder sogar Preisgestaltungen, die durch automatische Investitionsentscheidungen entstehen, begegnen. Denn sowohl bei den Preissteigerungen machen Menschen Gewinne als auch dann, wenn die Preise sinken. Wenn wir Pech -haben und es nur dumm genug anstellen, dann zahlt hinterher der Steuerzahler zuerst den Gewinn des einen und dann den Gewinn des anderen. Wenn man diese Mechanismen nicht aufbricht, dann läuft der Antrag ins Leere. Mit dem Abstraktionsniveau, auf dem Sie Ihren Antrag formuliert haben, haben wir, glaube ich, noch keine Instrumente, um die Verteuerung spekulativer Transaktionen, eine Verlangsamung der Handelsfrequenz und eine Verlängerung der Assethaltefristen zu erreichen und um letztendlich bestimmte notwendige Hedgefunktionen in der Realwirtschaft zu erhalten. Wir wissen alle: Hedging an sich ist nicht böse, aber so, wie es heute betrieben wird, ist es sehr oft schädlich und vergrößert die Armut in der Welt. Ich glaube, dass es nicht nur um Finanzpolitik geht. Ich will nur einen Aspekt erwähnen. Es geht auch -darum, Handelsplätze zu koordinieren. Dazu braucht man eine funktionierende Außenpolitik. Wenn wir uns so dilettantisch aufstellen und weiterhin eine solche -Außenpolitik betreiben, dass das Misstrauen gegenüber Deutschland zunimmt, dann kann der Finanzminister -international keine diplomatische Plattform finden, auf der er das verabredet. Wir müssen deshalb eine Außenpolitik höherer Qualität erreichen. Wenn wir das schaffen, dann können wir eine bessere Finanzpolitik machen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Schwierig mit dem vorhandenen Personal! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wie war das mit der Schwarmdummheit? Die gibt es nicht nur auf den Finanzmärkten!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8882 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss der Beschäftigten stärken – Drucksache 17/8880 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Schlecker sollen 11 750 Arbeitsplätze abgebaut werden. Es sind vor allen Dingen Frauenarbeitsplätze. Viele Frauen sind alleinerziehend und viele jenseits der 50. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich die Kolleginnen und Kollegen von Schlecker begrüßen, die heute „ihre“ Debatte verfolgen. Herzlich willkommen! (Beifall bei der LINKEN) Ich denke, ich spreche in eurem Namen, wenn ich sage: Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung den Schlecker-Beschäftigten bisher kein klares Signal gegeben hat. (Beifall bei der LINKEN) Es geht hier um die nackte Existenz der Kolleginnen und Kollegen sowie ihrer Familien. Wir können doch nicht zulassen, dass so viele Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Linke sagt klar: Die Politik trägt eine Mitverantwortung. Sie alle hier, die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP, haben die Gesetze gemacht, die es einem Herrn Schlecker erlauben, ein Unternehmen mit Milliardenumsätzen nach Gutsherrenart zu führen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch absurd!) Sie alle haben auch durch die Gesetzeslockerungen etwa bei den Ladenöffnungszeiten dazu beigetragen, einen brutalen Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel anzuheizen und eine Spirale nach unten in Gang zu setzen. (Beifall bei der LINKEN) Die Politik kann sich also nicht aus der Verantwortung stehlen. Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben am Wochenende verlauten lassen, es seien 20 000 offene Stellen im Einzelhandel vorhanden. Sie haben aber vergessen, zu erwähnen, dass es zugleich 300 000 arbeitslose Menschen in dieser Branche gibt. Wie soll das denn der Markt regeln? Offen bleibt auch, welchen Beitrag die Bundesregierung wenigstens für eine mögliche Transfergesellschaft leisten will. Hier brauchen wir schnell klare Antworten. (Beifall bei der LINKEN) Es drängt sich im Übrigen der Verdacht auf: Dieser Regierung sind Frauenarbeitsplätze weniger wert, und das heute, am 8. März. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Die Linke legt heute einen Antrag zur Rettung der Arbeitsplätze bei Schlecker vor. Es geht um die Beschäftigten. Es geht nicht um Anton Schlecker. Er hat dieses Desaster maßgeblich zu verantworten. Er muss mit seinem vollen Familienvermögen haften. Wir brauchen hier volle Transparenz über die Vermögensverhältnisse von Anton Schlecker. (Beifall bei der LINKEN) Die Beschäftigten haben das Unternehmen großgemacht, mit ihrer Hände Arbeit. Sie haben Betriebsräte gegründet. Sie haben für Tarifverträge gestritten. Das alles darf doch nicht umsonst gewesen sein. Wir fordern von der Bundesregierung, sich für ein alternatives Unternehmenskonzept starkzumachen. Das, was der Insolvenz-verwalter jetzt vorgelegt hat, ist kein Unternehmenskonzept, sondern ein Kahlschlagkonzept. (Beifall bei der LINKEN) Die Beschäftigten und Verdi wollen etwas anderes. Sie wollen die Filialen und die Arbeitsplätze weitgehend retten. Denkbar wäre etwa der Umbau des Unternehmens zu einem modernen Nahversorger mit starker Belegschaftsbeteiligung. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konsum!) – Sie können eigene Ideen einbringen – das ist ganz einfach – und nach mir noch reden. Für einen solchen Umbau kann es dann auch staatliche Hilfen geben. Um dies zu entwickeln, bedarf es aber Zeit. Deshalb fordern wir eine Änderung des Insolvenzrechts und auch, dass das Insolvenzgeld länger als drei Monate gezahlt wird. (Beifall bei der LINKEN) Denn die Kolleginnen und Kollegen brauchen Zeit. Man muss ihnen die Pistole von der Brust nehmen. Arbeitslosigkeit kostet pro Beschäftigten rund 18 000 Euro pro Jahr. Selbst wenn jeder zweite Beschäftigte einen neuen Job findet, würden sich die gesellschaftlichen Folgekosten der Arbeitslosigkeit auf 113 Millionen Euro im Jahr belaufen. Es wäre doch Wahnsinn, wenn die Politik Arbeitslosigkeit statt Arbeitsplätzen finanzieren würde. Ich fordere Sie im Namen der vielen Tausend Beschäftigten von Schlecker und der Linken auf, endlich zu handeln. Die Zeit drängt. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Paul Lehrieder hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Für die Zuschauer auf den Tribünen, insbesondere für die Beschäftigten der Firma Schlecker: Auf der linken Seite dieses Hauses fehlen heute die Männer, weil heute der Internationale Frauentag ist. So geht die Linke mit Ihrem Anliegen um. Die Hälfte der Fraktion wird ausgegrenzt, wenn es darum geht, über diesen Tagesordnungspunkt zu diskutieren. (Zuruf von der LINKEN: Das ist ja lächerlich! – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was die machen, ist reine Schaumschlägerei! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Das ist Ihr Verständnis von Demokratie, meine Damen und Herren von den Linken. Wir arbeiten lieber mit unseren Frauen zusammen, um die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Die Grünen machen es genauso. Die SPD macht es so. Die FDP macht es so. Bei den Linken trägt man exotische Tücher und grenzt die Hälfte der Fraktion aus. Also, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Es erschüttert mich. Seit Bekanntgabe der Insolvenzanmeldung des Drogeriekonzerns von Anton Schlecker Ende Januar häufen sich die Hiobsbotschaften über Filialschließungen und drohende Entlassungen. Das Ausmaß der Pleite hat alle überrascht. Daher ist es nur verständlich, dass die derzeit rund 12 000 betroffenen, zumeist weiblichen Beschäftigten sorgenvoll in die Zukunft blicken. Mit dem vorliegenden Antrag „Schlecker-Verkäuferinnen unterstützen – Arbeitsplätze und Tarifverträge erhalten – Einfluss der Beschäftigten stärken“ haben auch die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion – heute sind es nur Kolleginnen – bewiesen, dass sie sich dazu ein paar Gedanken gemacht haben. Das ist im Grunde lobenswert; doch leider sind ihre gutgemeinten Vorschläge wie so oft nicht zielführend. (Zuruf von der LINKEN: Haben Sie bessere?) Uns allen liegt das Schicksal der Schlecker-Beschäftigten am Herzen. Daher hat sich unsere Bundesarbeitsministerin, Frau Dr. von der Leyen – sie verfolgt die ganze Debatte hier; sie zeigt, dass sie hinter den -Schlecker-Beschäftigten steht, mehr als diejenigen, die populistische Anträge stellen –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bereits mit dem Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Herrn Raimund Becker, mit dem Verdi-Chef Frank Bsirske und mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz getroffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Dabei hat Frau Ministerin Dr. von der Leyen klargestellt, dass die bislang bei Schlecker beschäftigten Frauen gute Perspektiven haben, schnell wieder einen Arbeitsplatz zu finden, und zwar nicht allein wegen ihrer Qualifikation. Derzeit ist die Nachfrage im Einzelhandel nach guten Mitarbeitern hoch, sodass die Chancen auf Vermittlung sehr gut sind. Dies bestätigte der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, bereits in der vergangenen Woche. Seit Jahren baut der Einzelhandel neue Arbeitsplätze auf. Derzeit gibt es in dieser Branche gut 20 000 offene Stellen. (Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Dr. -Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Frau Gysi meldet sich! – Gegenruf der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das war eben ausgesprochen verräterisch! Das sollte Ihnen peinlich sein! – Weiterer Gegenruf von der LINKEN: Herrn Lindner ist nichts peinlich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Zimmermann möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen? Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sie möchte sie in Ermangelung der Männer stellen. Ich würde sie von Herrn Birkwald genauso annehmen. – Bitte, Frau Zimmermann, selbstverständlich, gern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Lehrieder, ich habe eine Frage: Worauf beruht Ihre Erkenntnis, dass die Schlecker-Beschäftigten, wenn sie denn gekündigt werden, auf dem Markt aufgefangen werden? Schließlich weist die Statistik, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe, 20 000 offene Stellen aus, während diese Branche 300 000 Arbeitslose verzeichnet? (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist schlichtweg falsch! Die Zahlen sind falsch!) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Die Schlecker-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter haben eine vernünftige Ausbildung; sie sind gut eingearbeitet. Natürlich wird eine Umschulung erforderlich sein. Wenn man bisher Reinigungsmittel oder Zahnpasta verkauft hat und in Zukunft vielleicht Damenoberbekleidung verkaufen soll, dann kann man nicht von heute auf morgen umsteigen. Aber: Motivierte, freundliche, gut ausgebildete weibliche Beschäftigte – ich kenne sie aus meinem Wahlkreis – werden in vielen Einzelhandelsunternehmen gebraucht. Deren Beschäftigung schon jetzt schlechtzureden und zu sagen: „Das können sie nicht; sie werden nicht gebraucht; sie erhalten keine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse“, das ist Ihre Denkweise, aber nicht unsere. Lassen Sie uns versuchen, mit möglichst viel Erfolgsorientierung an diese Geschichte heranzugehen. Lassen Sie uns dann in ein paar Wochen einmal schauen, was dabei herausgekommen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Von diesen guten Voraussetzungen werden gerade die Schlecker-Mitarbeiter profitieren können; ich habe es bereits ausgeführt. Hätten Sie ein bisschen gewartet, Frau Zimmermann, hätte sich Ihre Frage möglicherweise erübrigt. Qualifiziertes Personal hat gute Chancen, abseits der reinen Drogeriemarktsparte eine Anstellung zu finden. Laut Handelsverband Deutschland haben die Unternehmen zwischen Juni 2010 und Juni 2011 rund 62 000 Jobs geschaffen, davon 60 000 sozialversicherungspflichtige. Insgesamt ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Einzelhandel zuletzt stärker als die geringfügige Beschäftigung gewachsen. Auch das ist eine positive Entwicklung, die Sie in Ihren Anträgen regelmäßig nicht beschreiben. Von einer Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch geringfügige Beschäftigung, wovor Sie immer eindrucksvoll warnen, kann folglich in dieser Branche nicht die Rede sein. Unter enormem Zeitdruck haben vor zwei Tagen die Verhandlungen zwischen Insolvenzverwalter und Gewerkschaft über einen Sozialplan für den Abbau von 11 750 Arbeitsplätzen beim Unternehmen Schlecker begonnen. Voraussichtlich bis zum Ende der Woche werden alle Beteiligten geklärt haben, ob die notwendigen Voraussetzungen für eine Transfergesellschaft geschaffen werden können. Auch die Einrichtung einer dezen-tralen Onlinetransfergesellschaft ist im Gespräch. -Zudem wird geprüft, ob für die Qualifizierung der Mitarbeiter Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds in Anspruch genommen werden können. Ich möchte noch auf einen stereotypen Passus in Ihrem Antrag eingehen. Auf Seite 3 oben schreiben Sie, ein Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde würde die Kaufkraft um 26 Milliarden Euro erhöhen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Schauen Sie doch einmal, was gestern in Berlin passiert ist: In Berlin ist vom Bürgermeister ein Mindestlohn von 8,50 Euro abgelehnt worden mit der Begründung, hierdurch würden keine Arbeitsplätze geschaffen werden können. (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Das ist doch nicht von uns!) – Moment! Sie regieren doch in Berlin mit. In Berlin gibt es eine rot-rote Regierung, die es noch nicht einmal schafft, einen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg zu bringen. Und jetzt schreiben Sie wieder 10 Euro in Ihren Antrag. Machen Sie die Hausaufgaben, wo Sie Verantwortung haben, und dann schauen wir, was dabei herauskommt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Die Linken waren an der Regierung!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schlecker ist eine Schande für Deutschlands Unternehmen, und das nicht erst seit der spektakulären Pleite, die wir erleben mussten. Mitbestimmungsrechte wurden immer wieder mit Füßen getreten. Mitarbeiterinnen wurden bespitzelt, und Tariflöhne wurden nicht gezahlt. Wir alle hier im Plenum des Bundestages werden uns noch an die XL-Schweinerei von Schlecker erinnern. Das ist noch nicht so lange her. 2010 haben wir hier intensiv darüber diskutiert. Damals wurden Schlecker-Filialen geschlossen und wenig später auf der anderen Straßenseite als XL-Schlecker als eigenständige GmbH wieder aufgemacht. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das alles wissen wir ja! Darauf haben wir reagiert!) Die Mitarbeiterinnen wurden aus den alten Schlecker-Filialen entlassen. Sie haben ihre Arbeit verloren, aber dann ein Angebot von der extra gegründeten Leiharbeitsfirma Menia erhalten, um bei XL-Schlecker die gleiche Arbeit, die sie vorher getan haben, zum Teil für den halben Lohn zu leisten. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das haben wir jetzt gesetzlich geregelt!) Das ist eine Sauerei. Dies haben wir hier scharf kritisiert. Diese Firmenphilosophie und Unternehmensstrategie von Anton Schlecker – dies haben wir hier gesagt – ist schon damals, 2010, hart kritisiert worden. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das haben wir inzwischen geregelt! Wir haben Ihre Lücke geschlossen, Frau Hiller-Ohm!) Ministerin von der Leyen wurde schon 2010 zum Handeln aufgefordert, solchen miesen Praktiken einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Leider ist es so, dass Leiharbeiter sehr lange auf ihren Mindestlohn warten mussten. Es hat sehr lange gedauert, bis dies endlich durchgesetzt wurde. Aber unsere Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wurde noch immer nicht umgesetzt. Da ist sie noch in der Bringschuld. Bis heute ist nichts umgesetzt. Auch das ist eine Schande für Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie kam es zur Schlecker-Pleite? Es wurden verheerende Managementfehler gemacht. Sinkende Kunden- und Umsatzzahlen wurden schlichtweg verschlafen. Ein Unternehmen mit über 25 000 Beschäftigten, überwiegend Frauen, wurde voll an die Wand gefahren. Vielleicht haben einige von Ihnen am Montag im ZDF die Sendung Frontal 21 gesehen. Es war ganz interessant, was dort eine Gewerkschafterin zu dem Thema ausgeführt hat. Sie sagte, sie habe das Gefühl, dass Anton Schlecker sein Unternehmen wie eine Würstchenbude geführt habe und nicht professionell wie ein multinationales Großunternehmen. Und wieder müssen die -Beschäftigten die Suppe auslöffeln. Etwa 2 400 der bundesweit 5 400 Schlecker-Filialen sollen geschlossen werden. 12 000 der insgesamt über 25 000 Beschäftigten – zu über 90 Prozent Frauen – sind betroffen. Das bedeutet: Jeder zweite Arbeitsplatz fällt weg. Betroffen sind vor allem – das wurde schon gesagt – viele ältere Beschäftigte, alleinerziehende Frauen und auch viele Teilzeitbeschäftigte. Diese Frauen, diese Menschen können nichts für die Pleite. Vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt ein Scherbenhaufen. Was können wir tun? Wie kann man den Betroffenen am besten helfen? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, fordern in Ihrem Antrag Staatshilfen für Schlecker und die Entwicklung eines neuen Zukunftskonzepts, damit die Filialen und somit die Arbeitsplätze weitgehend erhalten bleiben. Wir hier im Bundestag können keine Konzepte machen. Dies ist Aufgabe des Insolvenzverwalters. Der sieht offensichtlich keine andere Lösung als die Schließung der 2 400 Filialen. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist noch nicht geklärt!) Das müssen wir erst einmal so zur Kenntnis nehmen. Auch Wirtschaftsexperten diagnostizieren, dass Schlecker in der derzeitigen Form und Größe keine wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft haben kann. Wir müssen nun überlegen: Was kann getan werden? Sie haben Vorschläge gemacht. Unser Wirtschaftsminister Nils Schmid aus Baden-Württemberg hat sich auch schon mit Vorschlägen zu dem Thema geäußert. (Josip Juratovic [SPD]: Sehr gut!) Ganz wichtig finde ich, dass zügig Transfergesellschaften gegründet werden und den entlassenen Mitarbeiterinnen schnell und gezielt neue Perspektiven eröffnet und vor allen Dingen neue Arbeitsstellen vermittelt werden. (Beifall bei der SPD) Die Drogeriekette Rossmann hat bereits angekündigt, dass sie allein in diesem Jahr 1 000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen will. Das wäre schon ein erster Schritt. Aber natürlich brauchen die Beschäftigten auch Unterstützung von unserer Arbeitsministerin; da stimme ich Ihnen voll zu. Die Arbeitsministerin ist gefordert, diese strukturelle Kurzarbeit im Sinne der Beschäftigten zu bewältigen. Wir als SPD haben in entsprechenden Krisen sehr gute Erfahrungen mit unserem damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz gemacht. Er hat in solch kritischen Situationen sehr schnell, sehr gut und sehr zielgenau gehandelt. (Beifall bei der SPD – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie vergessen Schröder bei -Holzmann! Das ist total in die Hose gegangen!) Ich erwarte, dass Ähnliches genauso zielführend auch von Ministerin von der Leyen geleistet wird. Es wurde gesagt, dass schon Gespräche mit Verdi geführt werden. Ich bin sehr auf die Ergebnisse gespannt. Wir haben für die nächste Ausschusssitzung auch schon einen Bericht zu diesem Thema angefordert. (Beifall bei der SPD) Natürlich müssen auch die Arbeitsagenturen und die Jobcenter ran. Das ist ganz wichtig. Die Arbeitsplätze fallen nicht vom Himmel; das ist uns allen klar. Wir müssen jetzt sicherstellen, dass die betroffenen Frauen gute Beratung, Qualifizierung und Umschulung, wenn es sein muss, also Unterstützung, erhalten und dass sie dann mit aller Kraft in neue Arbeit vermittelt werden. Es muss alle Kraft aufgewandt werden, damit dies gelingt. Was brauchen wir dafür? Sind die Agenturen und Jobcenter dafür ausreichend ausgestattet? Natürlich braucht man dafür Personal. Natürlich braucht man auch Geld für arbeitsmarktpolitische Instrumente; das ist doch klar. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, daran hapert es jetzt leider. Die Bundesregierung hat die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik massiv gekürzt. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Es sind auch weniger Arbeitslose!) Zahlreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente wurden von Pflicht- in Ermessensleistungen umgewandelt und damit praktisch abgeschafft. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!) Das ist eine ganz schlimme Sache, die uns jetzt auf die Füße fällt. Wir sehen: Arbeitslose haben in der Bundesregierung keine Lobby. Das müssen wir wieder ändern. (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frauen sind besonders betroffen. Die Entlassungen bei Schlecker verdeutlichen, wie die Arbeitsmarktsituation vieler Frauen in Deutschland aussieht: Sie haben oft unsichere Arbeitsplätze. Die Arbeit wird schlecht bezahlt. Gut zwei Drittel von ihnen sind Niedriglohnbeschäftigte. Das betrifft sogar jede dritte Frau mit Vollzeitstelle. Karrierechancen sind gering. Viele arbeiten in Teilzeit und verdienen damit 4 Euro im Durchschnitt weniger als in einer Vollzeitstelle. Ihre Arbeitsplätze sind in der Regel schlecht abgesichert. Ein Beispiel sind die Minijobs. Eine Frau, die zwei Kinder erzogen hat und 30 Jahre lang in einem Minijob gearbeitet hat, kommt damit auf monatlich sage und schreibe knapp 150 Euro Rente. Das geht so nicht. Das müssen wir ändern. Wir müssen alle Kraft darauf richten, um diese Situation in Deutschland zu verbessern. Jetzt muss unser Augenmerk den Frauen von Schlecker gelten, damit wir dort einen Schritt vorankommen, und wir müssen den dort beschäftigten Frauen unsere Solidarität zeigen. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gabriele Molitor (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines vorweg: Die FDP lehnt diesen Antrag der Linken ab. (Zurufe von der LINKEN: Überraschung!) Es ist schließlich noch gar nicht so lange her, da waren Arbeitsplätze bei der Firma Schlecker für Sie der Inbegriff von schlechter Arbeit. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran ist Schlecker gescheitert!) Jetzt sehen Sie das offenbar komplett anders. Sie rühmen Schlecker als Nahversorger. Bei mir entsteht der Eindruck, dass Sie die Schlecker-Insolvenz als Vorwand nutzen, um hier im Parlament mal wieder die Gutmenschen zu mimen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN) Die Beschäftigten der Firma Schlecker erleben derzeit eine sehr belastende Zeit für sich und ihre Familien. Sie erleben eine Zeit der Anspannung, der Existenzangst und der Ungewissheit. Die Verantwortlichen im Unternehmen versuchen gleichzeitig mit Hochdruck, die Firma zu retten. In dieser Situation einen solchen Antrag zu stellen, zeigt Ihre wahre Geisteshaltung. Auf dem Rücken der Betroffenen formulieren Sie Forderungen, die den Menschen bei Schlecker mitnichten helfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Woher wissen Sie das? Haben Sie mit Betroffenen gesprochen?) Wie konstruiert Ihr Antrag ist, zeigt schon der Titel. Darin sprechen Sie ausschließlich die Verkäuferinnen an. Es gibt bei Schlecker natürlich auch Verkäufer und andere männliche Angestellte. Auch die haben Familien zu ernähren und bangen um ihre Arbeitsplätze. Diese männlichen Angestellten passen aber nicht zum Weltfrauentag und damit nicht zu Ihrem Antrag. Es geht Ihnen gar nicht um die Sache selbst, sondern nur um einen weiteren Anlass, Ihr Verständnis von Staatswirtschaft zu transportieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie regen beispielsweise an, dass die Politik ein nicht näher erklärtes Zukunftskonzept für Schlecker erarbeiten soll. Jetzt möchte ich Sie doch direkt fragen: Glauben Sie allen Ernstes, dass Politiker die besseren Unternehmer sind? (Zurufe von der LINKEN: Bei Ihnen nicht!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, auch Ihre volkswirtschaftliche Erfahrung müsste doch für die Einschätzung reichen, dass Planwirtschaft auf Dauer nicht gut geht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Unternehmer wie Honecker!) Und was machen Sie dann bei Betrieben, die nicht die Größe und damit die öffentliche Aufmerksamkeit wie Schlecker haben? Soll die Politik für alle Firmen ein Sanierungskonzept erarbeiten, die in Schwierigkeiten sind? (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Opel zum Beispiel!) Nein, das ist vollkommen absurd und passt nur in Ihr schräges Verständnis einer Volkswirtschaft. Aber es geht noch weiter: Natürlich fordern Sie in dem Antrag auch, dass die Bundesregierung mit Geld helfen soll. Auch bei dieser Argumentation bleibt offen, warum ausgerechnet im Fall von Schlecker und nicht auch bei anderen Unternehmen. Oder plädieren Sie für die generelle Verstaatlichung insolventer Firmen? Ein weiterer Punkt in Ihrem Katalog sind neue Formen der Mitbestimmung bis hin zur Übernahme insolventer Unternehmen durch die Belegschaft in Form von Genossenschaften. Genossenschaften sind per se nichts Schlechtes, aber glauben Sie allen Ernstes, dass es für Mitarbeiter attraktiv ist, ein insolventes Unternehmen in diesem Stadium zu übernehmen? (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Generaldirektor Schabowski!) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, all diese Punkte zeigen, dass dieser tragische Fall von Unternehmensinsolvenz nur Anlass ist, Ihre wirtschaftspolitischen Irrungen aufzuzeigen. Sie legen mit diesem Antrag einen kruden Mix aus Frauentag, Mindestlohn und Subventionen vor, ohne ein wirkliches Interesse an einer Lösung des Falls Schlecker zu haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Zum Mindestlohn steht kein Wort drin!) Eine solche Politik wird der Situation der betroffenen Menschen nicht gerecht. Was jetzt wirklich zählt, sind Taten. (Zurufe von der LINKEN) Die Verantwortlichen bei Schlecker sind aufgefordert, alle weiteren Schritte vor allem im Interesse des Unternehmens einzuleiten. Die bestehenden Instrumente sind dafür ausreichend. Gerade das Beispiel Schlecker zeigt, dass die Marktwirtschaft offensichtlich stark genug ist, Konzepte, die nicht funktionieren, zum Scheitern zu bringen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! – Zuruf der Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE]) Die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt ist sehr gut. Ich denke, den Beschäftigten von Schlecker wird es angesichts ihres guten Ausbildungsstandes möglich sein, Alternativarbeitsplätze zu finden. Die Bundesregierung hat jedenfalls ein großes Interesse daran, dass möglichst viele Arbeitsplätze bei Schlecker gerettet werden. Wir haben allerdings kein Interesse daran, in Deutschland wieder die Planwirtschaft einzuführen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 12 000 Schlecker-Beschäftigten, weit überwiegend Frauen, droht der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Schuld an diesem Desaster trägt einzig und allein die katastrophale Unternehmensführung des Schlecker-Patriarchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Hier ist auch ein Geschäftsmodell gescheitert – ein Geschäftsmodell, das auf Lohndrückerei, Entrechtung der Beschäftigten und inakzeptable Arbeitsbedingungen gesetzt hat. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Spitzelei!) – Und auf Spitzelei, genau. – Das alles hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Kunden weggeblieben sind und der Laden dichtgemacht werden musste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Politik trägt an der Schlecker-Pleite nun wirklich keine Schuld. Wir haben sie nicht verbockt. Trotzdem sind wir jetzt in der Pflicht, den Schlecker-Beschäftigten ein Angebot zu machen, um ihnen eine neue Jobperspektive zu eröffnen. Natürlich muss es zunächst einmal darum gehen, dass unter Beteiligung der Beschäftigten – das möchte ich betonen – ein Zukunftskonzept entwickelt wird. Aber selbst wenn das gelingt, wird es nicht dazu führen, dass alle Beschäftigten weiterhin eine berufliche Perspektive bei Schlecker haben. Deswegen müssen wir auch denjenigen Beschäftigten ein Angebot machen, denen die Arbeitslosigkeit droht, und zwar ein Angebot – das will ich an dieser Stelle betonen –, das über die Perspektive des Einzelhandels hinausgeht. Dafür brauchen wir dringend eine Transfergesellschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Frau von der Leyen in dieser Debatte nicht das Wort ergriffen hat, und zwar deswegen, weil sie presseöffentlich versprochen hat, bis zum Ende dieser Woche die Transfergesellschaft in trockenen Tüchern zu haben. Es wäre für uns alle interessant, einen Bericht über den Stand der Dinge zu erhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In der Branche heißt es übrigens: Wer bei Schlecker schafft, der schafft es überall. Ich finde, das sagt sehr viel aus über das Durchhaltevermögen und die Leidensfähigkeit, aber auch über das Arbeitsethos dieser Frauen. Diese Frauen können etwas. Es ist unsere Aufgabe, sie darin zu unterstützen, dieses Können auszubauen. Dafür brauchen wir die Transfergesellschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ein spezielles Problem der Schlecker-Insolvenz besteht darin, dass die bedrohten Arbeitsplätze über ganz Deutschland verteilt sind. Deswegen kann man nicht einfach sagen: In der Branche gibt es doch eine Menge freier Arbeitsstellen. Diese freien Arbeitsstellen müssen auch in dem kleinen Ort vorhanden sein, in dem eine Filiale zugemacht wird. Es kommt eben sehr stark auf die besondere regionale Arbeitsmarktsituation an. Deswegen geht es nicht nur darum, die Frauen von Schlecker aus in einen anderen Supermarkt zu vermitteln, (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was wäre denn daran so schlimm?) sondern es geht auch darum, diese Krise als Chance für die Beschäftigten zu nutzen und sie auch für andere Zukunftsberufe zu qualifizieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum sollen sie zukünftig nicht die Beschäftigtenlücke im Erziehungsbereich, in der Pflege oder auch in männerdominierten Zukunftsberufen füllen? Das wäre gut für die Betroffenen, und das wäre gut für diese Branchen. Meine Damen und Herren, heute sind die Betriebsräte gemeinsam mit Verdi auf die Straße gegangen. Sie haben für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstriert und die Politik zum Handeln aufgefordert. Sie fordern, Arbeit zu organisieren statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Ich finde, daran sollten wir uns halten. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gitta Connemann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme aus einem kleinen Dorf aus Ostfriesland. Dort gibt es einen Bäcker und zwei Dorfläden, und es gab Schlecker. Dort erwarben Ältere und Mütter ihre Drogerie-produkte. Die Filiale ist geschlossen worden. Diese Geschäftsaufgabe ist für die Gemeinde ein großer -Verlust. Es ist aber eine persönliche Katastrophe für die Beschäftigten und ihre Familien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren von der Linken, aus diesem menschlichen Leid, das sich hinter jeder Verkäuferin, übrigens auch hinter jedem Verkäufer, verbirgt, versuchen Sie einmal mehr, politisches Kapital zu schlagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Sie hätten ja auch etwas beantragen können!) Denn es geht Ihnen erkennbar nicht um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schlecker. Sie suchten ein Thema für den heutigen Weltfrauentag. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren von der Linken, es gibt keine Fraueninsolvenz, es gibt auch keine Männerinsolvenz, es gibt nur eine Insolvenz in Gänze. Die tut jedem weh, insbesondere den Familien. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir von der Union wehren uns dagegen, dass die Linke die Mitarbeiterinnen von Schlecker für ihre ideologischen Anträge in Geiselhaft nimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]) Diese Mitarbeiterinnen – und ich habe, anders als Sie, mit diesen gesprochen – haben eine bessere Behandlung verdient. (Zurufe von der SPD und der LINKEN) Ich spreche aus eigener Erfahrung: Anders als Sie mit Ihren lila Schals brauche ich keine Symbolpolitik; denn anders als Sie bin ich eine gelernte Verkäuferin und habe mit diesen Frauen die Schulbank gedrückt. Ich bin heute noch mit diesen Frauen befreundet. (Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Mit diesen Frauen sind Sie befreundet! Wow!) Sie verkauften übrigens nicht nur in diesen Filialen, -sondern sie leiteten auch diese Filialen. Deshalb ist ihr Ruf in der Branche – Frau Pothmer hat zutreffend darauf hingewiesen – zu Recht sehr gut. Die Konkurrenten von Schlecker buhlen um diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, übrigens ohne Staatshilfe, Frau Hiller-Ohm. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Deshalb ist die Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz wirklich begründet, übrigens auch wegen der dezentralen Struktur von Schlecker. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – 12 000 an der Zahl – werden nicht an einem Ort entlassen, sondern über das Bundesgebiet -verteilt. (Zuruf von der LINKEN) Nach Aussagen des Handelsverbandes Deutschland haben sie eine gute Chance, auch weil der Arbeitsmarkt übrigens besser ist, als es uns der Antrag der Linken glauben lässt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Im vergangenen Jahr sind über 60 000 Stellen im Einzelhandel entstanden. Der Handel meldet auch jetzt offene Stellen. Wenn Sie, Frau Zimmermann, andere Zahlen anführen, dann sage ich Ihnen ganz deutlich: Diese sind falsch. Es geht Ihnen hier um eine bewusste Dramatisierung aus parteipolitischem Kalkül. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Das stimmt ja gar nicht!) Natürlich brauchen die Schlecker-Beschäftigten, die nicht sofort am Arbeitsmarkt unterkommen, eine Perspektive. Ich sage ganz deutlich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Sie können sich auf uns verlassen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Denn wir werden ihnen reale Hilfe geben. Sie brauchen keine lila Schals und keine Girls’-Day-Ausflüge der männlichen Abgeordneten. Was sie brauchen, ist reale Hilfe, zum Beispiel in Form einer Transfergesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Da bin ich dankbar, dass die Gespräche auf Hochtouren laufen, dass sich das Bundesarbeitsministerium dieser Sache so intensiv annimmt. Wir in der Union werden -dafür sorgen, dass Gelder für diese Transfergesellschaft bereitstehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Wort, Frau Kollegin!) Übrigens: Sinnigerweise steht im Antrag der Linken kein nennenswertes Wort über Transfergesellschaften etc. (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Haben Sie das nicht gelesen? Natürlich steht das da!) Es geht Ihnen auch nicht um die Beschäftigten, sondern um den Aufbau des real existierenden Sozialismus. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) So wollen Sie Schlecker vergesellschaften, vielleicht in memoriam Konsum oder HO. Dafür verlangen Sie eine Anschubfinanzierung durch den Bund. Ich warne Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Der künstliche Erhalt von Unternehmen durch den Staat ist in der Vergangenheit stets grandios fehlgeschlagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Neue Heimat, co op AG oder Holzmann lassen grüßen. Gescheiterte Unternehmen lassen sich nicht retten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann? Gitta Connemann (CDU/CSU): Immer sehr gerne. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Frau Connemann, nehmen Sie bitte Folgendes zur Kenntnis: Sie sagen, es stehe nicht in unserem Antrag drin, dass wir eine Insolvenzgeldverlängerung bzw. die Gründung einer Transfergesellschaft fordern. Das sind zwei Hauptforderungen in unserem Antrag. Sind Sie meiner Meinung, dass Sie nicht gelesen haben, was wir formuliert haben? Gitta Connemann (CDU/CSU): Liebe Frau Zimmermann, ich habe es so genau gelesen, dass mir die Augen übergequollen sind. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich habe den Antrag hier vor mir liegen, und wissen Sie, was mich an diesem Antrag am meisten erbost? Das ist die Tatsache, dass eigentlich schon der erste Satz in diesem Antrag Ihre Absicht entblößt. Sie fordern uns auf, gerade und besonders am Internationalen Frauentag den Kampf der mehrheitlich weiblichen Schlecker-Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze zu unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn das alles ist, sich nur am Frauentag für Beschäftigte einzusetzen, (Zurufe von der LINKEN: Oh!) dann ist uns das zu wenig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Übrigens, was Ihre staatlichen Hilfen angeht, so könnte auch jeder andere Unternehmer fragen: Weshalb wird mir nicht geholfen? (Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]) Auch dies beweist: Die Schlecker-Insolvenz ist für Sie nur ein Vorwand für den Umbau dieser Wirtschaftsordnung. (Lachen bei der LINKEN) Ihre Forderungen bleiben dabei immer dieselben. Das macht sie nicht besser. So wollen Sie zum Beispiel die paritätische Mitbestimmung ab 100 Mitarbeitern. Bislang gilt dafür ein Schwellenwert von 2 000 Beschäftigten, und ich frage mich: Haben Sie sich schon einmal annähernd Gedanken darüber gemacht, dass ein kleiner Handwerksbetrieb mit einer Aktiengesellschaft wie der Daimler AG in keiner Weise zu vergleichen ist? (Cornelia Möhring [DIE LINKE]: 100 Mitarbeiter! Kleiner Handwerksbetrieb?) Nach Ihrem Willen müssten dann auch solche Betriebe Aufsichtsräte einrichten. Was für Kosten und was für ein wahnsinniger bürokratischer Aufwand! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dann wünschen Sie sich ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in wirtschaftlichen Fragen. Mit unternehmerischer Freiheit hat das nichts mehr zu tun. (Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) Ich erinnere Sie daran: Diese Freiheit wird durch das Grundgesetz geschützt. Aber was interessiert Sie schon unsere Verfassung, meine Damen und Herren von der Linken? Doch einen Pieps. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Und schließlich soll nach Ihrem Willen der Aufsichtsrat an Belegschaftsabstimmungen gebunden sein. -Wissen Sie wirklich nicht, dass der Aufsichtsrat eine Überwachungsfunktion hat? Er ist aus gutem Grund ein unabhängiges Gremium, das nur dem Unternehmenswohl verpflichtet ist. Eine Bindung seiner Entscheidungen an Voten welcher Art auch immer würde genau diese Unabhängigkeit konterkarieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren von der Linken, aus unserer Sicht hat sich die Mitbestimmung in unserem Land bewährt. Aber was mich an Ihrem Antrag noch sehr viel mehr stört als die immerzu wiederholten rechtlichen und inhaltlichen Mängel, ist seine Unredlichkeit; das möchte ich betonen. Sie versuchen, aus dem Scheitern eines Unternehmens, (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das haben Sie jetzt zum vierten Mal gesagt! Sagen Sie mal was zu Anton Schlecker! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Das kann man euch nicht oft genug sagen!) aus dem Verlust von Arbeitsplätzen und aus menschlichem Leid politisches Kapital zu schlagen. Mit diesem Versuch lassen wir Sie nicht durchkommen. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Was tun Sie denn gegen die Zerstörung von Arbeitsplätzen?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8880 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Deutsches Ressourceneffizienzprogramm – Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften – Drucksachen 17/8575, 17/8875 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Gerd Bollmann Horst Meierhofer Eva Bulling-Schröter Oliver Krischer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Katherina Reiche für die Bundesregierung das Wort. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim -Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rohstoffengpässe können das Wachstum in Europa gefährden. Das ist leider keine abstrakte Betrachtung mehr, sondern wird zunehmend zu einer konkreten Gefahr. Die KfW hat vor kurzem eine Studie zur Rohstoff-versorgung in Deutschland in Auftrag gegeben. Sie stuft die Versorgungslage für 13 mineralische Rohstoffe mittlerweile als kritisch oder sehr kritisch ein: darunter Germanium, das für die Produktion von Glasfaserkabeln gebraucht wird, oder Rhenium, das in Legierungen Flugzeugturbinen Festigkeit verleiht, Gallium für Mikro-chips, Seltene Erden für Batterien bzw. Generatoren oder Indium für Displays. Die Studie sieht in der zunehmenden Rohstoffverknappung Risiken, aber auch Chancen gerade für deutsche Unternehmen. Hier setzen wir mit dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm an, kurz ProgRess, das in der vergangenen Woche durch das Bundeskabinett beschlossen worden ist. Ich möchte mich bei den Fraktionen von CDU/CSU und FDP bedanken, dass sie uns in ihrem gemeinsamen Antrag unterstützen. Wir erleben derzeit weltweit die Entwicklung, dass die Nachfrage nach Rohstoffen dramatisch ansteigt. 2009 wurden ungefähr 60 Milliarden Tonnen an Rohstoffen eingesetzt. Das sind doppelt so viel wie Ende der 70er-Jahre und noch ein Drittel mehr als im Jahr 2000. Im Jahr 2050 werden Prognosen zufolge 9 Milliarden Menschen auf der Welt leben. Entwicklungs- und Schwellenländer werden dann Industrieländer sein, das heißt, dass sich der in Industriegesellschaften lebende Bevölkerungsanteil verdreifachen wird – mit all ihren Bedürfnissen nach Wohlstand, Konsumgütern und Rohstoffen. Ein effizienter Umgang mit Rohstoffressourcen ist deshalb eine Schlüsselkompetenz zukunftsfähiger Gesellschaften. Wer dies frühzeitig erkennt, der wird nicht nur helfen, Umweltbelastungen zu vermeiden, sondern wird auch seine Wettbewerbsfähigkeit auf globalen Märkten stärken und dadurch Beschäftigung sichern. Roland Berger Consulting hat eine Verdreifachung des Umsatzes im Leitmarkt Rohstoffeffizienz von 95 Milliarden Euro im Jahr 2007 auf 335 Milliarden Euro im Jahr 2020 prognostiziert. Diese Zahlen beschreiben sehr gut die ökonomische Dimension, über die wir sprechen. Deutschland hat die besten Voraussetzungen, sich zu einer der ressourceneffizientesten Volkswirtschaften der Welt zu wandeln. Innovationskraft, deutsche Ingenieurskunst, eine moderne Industrieinfrastruktur, anspruchsvolle Umweltstandards, aber auch ein hohes Nachhaltigkeitsbewusstsein unserer Bevölkerung tragen dazu bei. Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Wirtschaftswachstum und Wohlstand möglichst weitgehend vom Ressourceneinsatz zu entkoppeln und Umweltbelastungen zu reduzieren. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet. Es geht um die sichere Versorgung mit Rohstoffen, es geht darum, die Rohstoffeffizienzen in der Produktion zu steigern, den Konsum effizienter zu gestalten, eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft weiter auszubauen sowie übergreifende Instrumente zu nutzen. Das Programm setzt insbesondere auf Marktanreize, auf Information, Beratung, Bildung, Forschung und -Innovation, auf freiwillige Maßnahmen und deren -Stärkung sowie auf Initiativen in Wirtschaft und Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anhand konkreter Beispiele wird ausführlich dargestellt, wie in besonders relevanten Feldern Ressourcen effizienter genutzt werden können. Um ein Beispiel zu nennen: Beim Recycling von Kupfer aus Kupferschrotten nach dem neuesten Stand der Technik werden im -Vergleich zur Primärproduktion 30 Prozent Energie eingespart, bei der Verarbeitung von Aluminiumschrott können sogar 90 Prozent Energieaufwand eingespart werden. Mit steigendem Rohstoffbedarf werden Recycling und die Verwendung von Sekundärrohstoffen immer lohnender. Hier haben wir mit der Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes, das gerade von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde, wichtige Maßnahmen ergriffen. Dieses Gesetz ist ein wichtiges Instrument unserer Ressourceneffizienzpolitik. Mitte Januar hat das Europäische Parlament die Revision der Richtlinie über Elektro- und Elektronikaltgeräte verabschiedet. Es lohnt, hier anzusetzen; denn nach Angaben der Europäischen Kommission produziert jeder EU-Bürger im Durchschnitt pro Jahr 17 Kilogramm Elektroschrott. Im Jahr 2020 werden es 24 Kilogramm sein. Auch diese Ressourcen müssen wir besser nutzen. Die Richtlinie enthält auch Regelungen, um den illegalen Export von Elektroaltgeräten in Zukunft besser bekämpfen zu können. Auch dies ist dringend erforderlich. Vielleicht erinnert sich einer von Ihnen an das UNICEF-Foto des Jahres 2011, das einen kleinen Jungen auf einer Müllkippe in Ghana zeigt, der Elektroschrott verbrennt. Das ist ein sehr bedrückendes Bild. Noch ist das Verfahren auf europäischer Ebene nicht endgültig abgeschlossen. Nach Inkrafttreten der Richtlinie werden wir diese durch eine Änderung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes in Deutschland in nationales Recht umsetzen. Der Kampf gegen den illegalen -Export von Elektroschrott ist ebenso wie die Steigerung der Ressourceneffizienz mehr als nur eine Änderung von abfallrechtlichen Vorschriften. Das ist, wie ich finde, auch Teil unserer ethischen Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Angesichts eines zunehmenden Wettlaufs um Ressourcen und Rohstoffe wird die Rohstoffquelle „Ressourceneffizienz“ weiter an Bedeutung gewinnen, und ökonomische Anreize werden zunehmen. Deutschland kann und wird zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und Ressourceneinsparung zwei Seiten einer Medaille sind. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die Inanspruchnahme von Rohstoffen in Deutschland zwischen 2000 und 2010 bei deutlich gestiegenem Wirtschaftswachstum um 11,2 Prozent gesunken. Durch den Aufbau einer geeigneten Recyclinginfrastruktur eröffnen sich auch Schwellen- und Entwicklungsländern Chancen für eine eigene Entwicklung. Nach den UNEP-Zahlen – wir vertrauen diesen Zahlen – wird beispielsweise der Elektroschrott aus Computern in China und Südafrika um 200 bis 400 Prozent ansteigen. In Indien werden es sogar 500 Prozent mehr sein. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Gerne. – Ressourceneffizienz ist also nicht nur eine ökologische Notwendigkeit, sondern ein zentrales Element und ein internationales Markenzeichen. Ich möchte schließen mit Ernst Ulrich von Weizsäcker, der sagte: Wenn die Preise uns vorgaukeln, die Natur sei unendlich, rennen der technische Fortschritt und die Zivilisation in den Abgrund. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gerd Bollmann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Gerd Bollmann (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ressourcenschutz und knapper werdende Rohstoffe sind inzwischen ein viel diskutiertes Thema. Zahlreiche Medienberichte über knapper und teurer werdende Rohstoffe haben einer breiten Öffentlichkeit die Wichtigkeit vor Augen geführt. Begrifflichkeiten wie Seltene Erden, Rohstoffmangel oder strategische Ressourcen tauchen immer wieder auf. Die deutsche Wirtschaft warnt davor, dass ein Mangel an wichtigen Rohstoffen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze gefährdet. Allen Beteiligten scheint klar zu werden, dass Rohstoffe nicht unendlich vorhanden sind und ein anderer Umgang damit dringend vonnöten ist. Daher begrüßen wir ausdrücklich den Antrag. 40 Jahre nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome und elf Jahre nach Einsetzung des Nachhaltigkeitsrates durch die rot-grüne Bundesregierung wird die Notwendigkeit eines umfassenden Ressourcenschutzes allseits bejaht. Viele Jahre nachdem unser allseits geschätzter ehemaliger Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker als Leiter des Wuppertal-Instituts die Diskussion über Nachhaltigkeit angestoßen und mitgeprägt hat, bemüht sich nun auch die schwarz-gelbe Bundesregierung um ein umfassendes, nachhaltiges Ressourcenschutzprogramm. (Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP]) Meine Damen und Herren von Union und FDP, letzte Woche hat das Bundeskabinett dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm, kurz: ProgRess, zugestimmt. Die SPD begrüßt, dass ein solches Programm vorgelegt wird. Für die deutsche Industrie und Wirtschaft sei, so die Bundesregierung, eine ausreichende Versorgung mit Rohstoffen äußerst wichtig. Dies stimmt, und entsprechende Konsequenzen sind notwendig. Die Sozialdemokratie setzt sich seit langem für einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen und ihren Schutz ein. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung jetzt, zwar spät, aber umfangreich, ein Ressourceneffizienzprogramm vorlegt. Die Probleme scheinen erkannt zu sein; auch Lösungsansätze und konkrete Maßnahmen werden teilweise genannt. Kernaussagen sind unter anderem: effizienterer Umgang mit Rohstoffen, Verbindung der ökologischen Notwendigkeiten mit den ökonomischen Chancen, soziale und globale Verantwortung als zentrale Orientierung bei der nationalen Ressourcenpolitik. Weiterhin werden folgende Ziele genannt: Verbesserung der Kreislaufwirtschaft, mehr Recycling, Kaskadennutzung, Verringerung des Pro-Kopf-Verbrauchs von Rohstoffen und qualitatives Wachstum. Diese Kernaussagen und Ziele sind lobenswert; sie sind richtig. Ich denke, heutzutage wird sich niemand öffentlich dagegen aussprechen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Horst Meierhofer [FDP]) Ebenso sind einige Punkte vor allem im Hinblick auf Forschung und Entwicklung durchaus positiv zu bewerten. Aber schauen wir uns einmal die Umsetzung an. Blicken wir auf das, was fehlt. In dem Antrag der Koalitionsfraktionen und im Regierungsprogramm zum Ressourcenschutz werden hohe Recyclingquoten insbesondere für mineralische Abfälle gefordert. Das ist gut so. Aber warum haben Sie dann beim gerade erst geänderten Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz höhere Verwertungsquoten abgelehnt? (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Skandal!) Warum haben Sie für Bauschutt eine Verwertungsquote von 70 Prozent durchgesetzt, wenn bereits 2008 in Deutschland 93 Prozent stofflich verwertet wurden? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Warum haben Sie durchgesetzt, dass die energetische Verwertung der stofflichen Verwertung sozusagen durch die Hintertür wieder nahezu gleichgesetzt wird, obwohl dies europäischem Recht widerspricht? Warum gibt es im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz keine konkreten Aussagen zur Abfallvermeidung, obwohl dies nach Ihren eigenen Feststellungen wichtig ist? Meine Damen und Herren von Union und FDP, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, der Bundesrat und auch die Fraktion der Grünen hatten Änderungsanträge gestellt, in denen man sich für genau dies aussprach: für höhere Recyclingquoten, für den eindeutigen Vorrang der stofflichen Verwertung und für konkrete Abfallvermeidung. All diese Anträge haben Sie abgelehnt. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!) Ähnlich sieht es bei den Elektroaltgeräten aus. Sie beklagen den illegalen Export von Elektroschrott, und Sie fordern höhere Sammel- und Verwertungsquoten. Die Revision der Elektro-Altgeräte-Richtlinie der EU haben Sie begrüßt, auch die darin enthaltene Rücknahmepflicht für Elektrokleingeräte und die Beweisumkehrpflicht beim Export; dies ist im Übrigen eine hervorragende Regelung. Richtig so! Aber warum setzen Sie dies nicht sofort um? Warum warten Sie? Niemand hindert Sie, sofort eine Rücknahmepflicht der Händler für Elektrokleingeräte und Energiesparlampen einzuführen. In der Befragung der Bundesregierung in der letzten Sitzungswoche hat Bundesumweltminister Röttgen zweimal betont, dass die Ressourceneffizienz bis 2020 verdoppelt werden soll. In der unmittelbar vorher beendeten Ausschusssitzung wurde ein Antrag der Grünen mit dem gleichen Ziel von Union und FDP abgelehnt. Warum? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! Das wird Herr Meierhofer gleich erläutern!) Das haben wir und auch einige Abgeordnete von FDP und CDU/CSU nicht verstanden. Es wird die Berücksichtigung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten, von Umwelt- und Gesundheitsschutz beim internationalen Rohstoffabbau und handel gefordert; das ist völlig richtig. Wo aber findet sich die Berücksichtigung dieser Rechte beim Regierungsabkommen mit Kasachstan? Warum wird deutscher Müll nach China exportiert, dort unter menschenunwürdigsten Bedingungen per Hand verarbeitet und dies dann in Deutschland als stoffliche Verwertung anerkannt? Damit unsere Quoten eingehalten werden? Damit China mehr Sekundärrohstoffe erhält? Transparenz im Rohstoffsektor wird gefordert. Aber die Bundesregierung blockiert die Ausarbeitung der EURichtlinie zur projektbasierten Offenlegung von Zahlungsströmen von Rohstoffunternehmen an ausländische Regierungen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist ja unerhört!) Mir ist bewusst, dass gerade im Spannungsfeld von wirtschaftlichen Interessen und Menschenrechten die Erreichung der genannten Ziele schwierig ist. Aber gerade hier ist mehr möglich, als die jetzige Bundesregierung leistet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bundesumweltminister Röttgen will Ressourcenweltmeister werden. Die Bundesregierung schafft es aber noch nicht einmal, die öffentliche Beschaffung konsequent an Ressourcenschonung auszurichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, bitte weniger Schlagworte benutzen und dafür mehr handeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Noch einige Anmerkungen zu dem, was fehlt. Das Europaparlament hat vor kurzem ebenfalls ein Ressourcenschutzprogramm gefordert; das haben wir gerade gehört. Das Europaparlament geht jedoch viel weiter als Schwarz-Gelb. Es fordert zum Beispiel ein Top-Runner-Programm in den Bereichen Energie und Rohstoffeffi-zienz. Davon lese ich bei ProgRess nichts. Daher nehme ich an, dass Sie – wie in der Vergangenheit – ein Top-Runner-Programm ablehnen. Ebenso setzt sich das EUParlament für ein auf Ressourcenschutz und besseres Recycling ausgerichtetes Produktdesign ein. Klare Regeln für die Produktion werden gefordert. Auch dies fehlt im Deutschen Ressourceneffizienzprogramm. Vorgaben beim Produktdesign und Maßnahmen zur Abfallvermeidung fehlen in Deutschland. Ich sehe auch keine Initiativen der jetzigen Regierung, dies zu ändern. Zum Schluss noch ein Wort zu der von Union und FDP vorgeschlagenen Art der Umsetzung des Ressourcenschutzes. In dem schwarz-gelben Antrag wird der Vorrang freiwilliger Lösungen vor Gesetzen und Verordnungen gefordert. Die Mehrwegquote, freiwillige Rücknahmesysteme wie Lightcycle und andere freiwillige Vereinbarungen in unserem Bereich sind meistens nicht erfüllt worden. Ich könnte Ihnen viele solcher freiwilligen Vereinbarungen nennen: im sozialen Bereich, in der Bildung, der Wirtschaft oder gerade heute, am Weltfrauentag, freiwillige Vereinbarungen speziell in diesem Zusammenhang. Eines ist diesen freiwilligen Vereinbarungen weitestgehend gemeinsam: Sie sind fast immer gescheitert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Erfolgreich waren sie nur in dem Bestreben der Betroffenen, gesetzliche Regelungen zu verhindern. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, zur Erreichung der wichtigen Ziele beim Ressourcenschutz reichen freiwillige Vereinbarungen nicht aus. Wir brauchen gesetzliche Vorgaben. Wir brauchen mehr als ein Programm, das nur auf dem Papier steht. Wir brauchen ein Programm, das in der realen Politik umgesetzt wird. Es darf nicht mehr, wie bisher, nach dem Motto „Gut reden, anders handeln“ regiert werden. Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Horst Meierhofer (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bollmann, ich habe nicht verstanden, ob die SPD unserem Antrag trotzdem zustimmt. Wahrscheinlich werden Sie ihm wohl zustimmen, weil Sie das Positive daran erkennen, auch wenn es Ihnen vielleicht nicht ganz ausreicht. Das wäre ein positives Signal. Ich glaube nämlich, dass das Kabinett ein wegweisendes Programm beschlossen hat. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das glauben Sie doch selber nicht!) Ich denke, dass es wirklich etwas bringt, Umwelt und Wirtschaft endlich zu verzahnen, für einen besseren Verbraucherschutz und für bessere Kennzeichnungen zu sorgen und durch das Ressourceneffizienzprogramm insgesamt voranzukommen; das ist doch das Entscheidende. Deswegen: Herzlichen Dank für die Initiative! Wir wollen sie mit unserem Antrag untermauern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben festgestellt, dass die Grünen auf europäischer Ebene unsere Vorschläge gar nicht so schlecht finden, Herr Krischer. Herr Bütikofer ist ja fast in eine Begeisterungsarie ausgebrochen, (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: So? Aha!) als deutlich wurde, dass erstmals ein EU-Mitgliedsland entsprechende Regelungen verankert, sodass in diesem Bereich endlich etwas passiert. Er fand das sehr positiv. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe das anders gelesen! Sie müssen ihn auch komplett zitieren!) – Na ja, das klingt bei Ihnen natürlich ein bisschen anders. Das Ressourceneffizienzprogramm (ProgRess) der Bundesregierung – so schrieb er – verankert zum ersten Mal in einem EU-Mitgliedsland solch ein Programm auf Kabinettsebene. Viele vorgeschlagene Ansätze, wie die Einbeziehung von Ressourceneffizienz beim Ökodesign, passen zu entsprechenden Vorschlägen von EU-Kommission und Europäischem Parlament. Dies sollte helfen, solche Instrumente auf EU-Ebene zu verankern. Das ist doch eigentlich eine positive Rückmeldung. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie weiter! Ab da weiterlesen!) Bei Ihnen klingt das natürlich ganz anders. Sie verstehen das so, als hätte er geschrieben, dass dieses Programm ein zahnloser Tiger ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das kommt bei Bütikofer dann doch auch!) Ich denke aber, hier steht das Gegenteil. Ich frage mich: Wie sahen denn Ihre konkreten Vorschläge in den letzten Jahren aus? In welchem Bereich haben Sie etwas Vernünftiges auf den Weg gebracht? Ich glaube, Sie finden unsere Vorschläge eigentlich ganz gut. Sie dürfen das nur nicht sagen, weil Sie in der Opposition sind. (Lachen der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) Deswegen trauen Sie sich nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eigentlich sind Sie aber froh, dass es endlich vorwärtsgeht. Ich glaube, dass dieses Programm kein zahnloser, sondern ein mächtiger Tiger ist, den wir geschaffen haben. Ich gehe davon aus, dass die Forschung, die Beratung und die Verzahnung verbessert werden, dass wir Rohstoffpartnerschaften entwickeln und das Recycling dadurch tatsächlich verbessern; die Frau Staatssekretärin hat es angesprochen. Wir sollten diese Fortschritte aber nicht durch eine Besteuerung abwürgen. Wir sollten auch keine Verpflichtungen schaffen. Das sind nie die besten Lösungen, Herr Bollmann. Denn dann wird versucht, die bestehenden Regelungen zu umgehen und an anderen Stellen etwas herauszuholen. Das ist geistige Ressourcenverschwendung, bringt uns aber ganz bestimmt nicht weiter. Es geht darum, eine positive Grundeinstellung zur Ressourceneffizienz und zum Ressourcengebrauch zu schaffen. Man darf nicht die ganze Zeit immer nur die negativen Effekte sehen. Wir dürfen nicht nur Verzicht predigen, wie es die Grünen tun. Sie fordern ja: Verzicht, Verzicht, Verzicht! Das mag in Deutschland zum Teil ganz gut ankommen. Das wird aber im Rest der Welt nicht gut ankommen. Wir müssen den Leuten zeigen, dass es nicht darum geht, möglichst wenig zu verbrauchen, sondern dass es darum geht, die Dinge sinnvoll zu gebrauchen und nichts kaputtzumachen. Man muss aber nicht unbedingt wenig verbrauchen. Das Entscheidende ist, dass die Menschen endlich einen positiven Eindruck bei diesem Thema bekommen. Ich glaube, die Realität ist schon ein bisschen weiter als Sie. In früheren Zeiten haben Sie sich bei diesen Themen berechtigterweise gut eingebracht; das sei Ihnen unbenommen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal über Ihr Programm!) Die Grünen haben da wirklich einiges auf den Weg gebracht. Aber mit diesem Programm verfolgen wir zum ersten Mal einen konkreten Ansatz, der auch funktioniert. Wenn man sich über Ressourceneffizienz Gedanken macht, dann muss man das auch im Hinblick auf die bürokratische Ebene tun. Man muss erst einmal überprüfen: Was passiert wo? Was wird in den Kommunen, in den Kreisen, auf Länderebene und auf Bundesebene gemacht? So etwas gab es bisher noch nicht. Wir haben bei den Ländern direkt nachgefragt, Herr Bollmann. Die einzigen Länder, die nicht geantwortet haben, waren zufälligerweise Berlin und Brandenburg. Da gibt es nichts; da wird nichts dergleichen gemacht. In einem Fall wurde einfach nicht geantwortet. In Brandenburg konnte man nicht einmal Auskunft geben, wer überhaupt dafür zuständig ist. Wenn das die Art und Weise Ihres Handelns ist und Sie gleichzeitig Ressourceneffizienz predigen, dann ist das scheinheilig und führt bestimmt zu keinem Ergebnis. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das, was Herr Bollmann zum Thema Kreislaufwirtschaft gesagt hat, ist doch das beste Beispiel dafür, dass es Ihnen wirklich nicht darum geht, Ressourcen effizienter zu nutzen, sondern es geht Ihnen darum, Besitzstände zu verteidigen. Wenn es Ihnen nämlich darum gegangen wäre, ein besseres Recycling zu ermöglichen, wie Sie es gerade gesagt haben, dann würden Sie sich doch dafür einsetzen, dass derjenige, der höhere Recyclingquoten schafft, eine Chance im Wettbewerb hat. Das haben Sie aber im Bundesrat verhindert. Um für die Kommunen und die Bundesländer Besitzstände zu wahren, haben Sie verhindert, dass derjenige, der besser ist, jederzeit alle Möglichkeiten hat, tätig zu werden. Ihnen geht es nicht um die Frage, wer es besser macht, sondern Ihnen geht es darum, bestimmte Interessengruppen zu unterstützen. Sie und auch die Grünen verzichten damit darauf, ein besseres ökologisches Ergebnis zu erreichen. Das halte ich, ehrlich gesagt, für relativ schändlich, und das macht Ihre Aussagen sehr unglaubwürdig. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie das einmal erklären?) Wir müssen das Recycling stärken. Das machen wir durch die Wertstofftonne. Im kommenden Jahr recyceln wir wahrscheinlich 600 000 Tonnen mehr, die wir dann nicht verbrennen müssen. Wir haben übrigens die Nutzungskaskaden berücksichtigt. Damit ist das Problem, das Sie infolge der Verbrennung sehen, Herr Bollmann, überhaupt nicht mehr gegeben. Wir werden die Stoffe so lange recyceln, wie es möglich ist. Wir werden die Mitarbeiter schulen, damit sie sich besser mit Effizienz auskennen. Wir werden Innovationsgutscheine ausstellen und Effizienzchecks durchführen. Wir werden also positive Anreize setzen, damit die Leute eine echte Chance haben, hier vorwärtszukommen. Das ist gut für die Umwelt, und das ist auch gut für Innovationen. Vor allem der Verein Deutscher Ingenieure ist von dem Programm sehr begeistert und spricht davon, es seien sehr viele Anregungen aus der Praxis übernommen worden. Auch die Schwerpunktsetzung auf den Erhalt und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sei gut. Das ist das Entscheidende. Denn wenn wir am Schluss die Ressourcenverschwendung in Deutschland dadurch eingrenzen, dass wir sie in andere Länder verlagern, in denen viel niedrigere Standards gelten, dann ist niemandem geholfen. Dann haben wir dem Wirtschaftsstandort Deutschland geschadet. Gleichzeitig haben wir der Umwelt einen Bärendienst erwiesen. Das ist genau das, was wir nicht wollen. Deswegen setzen wir nicht auf negative, sondern auf positive Impulse. Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie wollen, und dem, was wir wollen. Wir wollen nämlich nicht, dass man ein ökologisches Putzmittel erzeugt, während man gleichzeitig die Tropenwälder abholzt. Wir wollen nicht, dass man die Bioenergie nutzt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was mit der Fläche passiert und was gespritzt wird. Dabei erzielt man nur einen vermeintlich positiven ökologischen Effekt. In Wirklichkeit hat man aber einen negativen Effekt erreicht. Deswegen müssen wir mehr zu dem Gedanken des Gebrauchs statt des Verbrauchs kommen. Wir müssen weg von der Green Economy hin zur Blue Economy. Wir müssen zu einem anderen Ressourcenbegriff und zu einer anderen Verwendung der Stoffe kommen – wir kommen heute Abend noch darauf zu sprechen –, sodass man sie jederzeit wiederverwerten kann. Es geht also nicht um Verzicht, sondern um positive Aspekte und um positive Impulse. Das ist das, was wir hier unterstützen. Ich glaube, das ist ein großer Schritt nach vorn. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Kostenstruktur des produzierenden Gewerbes entfallen im Durchschnitt 45 Prozent der Kosten auf das Material und nur 18 Prozent der Kosten auf das Personal. Ich kenne Betriebe in der Industrie, bei denen die Personalkosten noch wesentlich niedriger sind. Es gibt trotzdem Lohndrückerei, die im Mittelpunkt von Kostensenkungsprogrammen steht, anstatt zu überlegen, wie man weniger Material verbrauchen kann. Das ginge natürlich auch so. Es gibt immer Alternativen. Produkte müssten nicht nur effizienter hergestellt werden, sondern auch langlebiger sein, Kollege Meierhofer. (Horst Meierhofer [FDP]: Genau!) Produkte müssten grundsätzlich zerstörungsfrei demontierbar sein, um die Wiederverwendung intakter Teile zu ermöglichen, ohne sie zu kaputtzumachen. Das ist eine Frage, wie das Ganze konstruiert ist. Produkte müssten so gestaltet werden, dass sie nach ihrer Lebensdauer sinnvoll stofflich verwertbar sind. Viele Wegwerf-, aber auch Luxusartikel müssen in Zeiten des Klimawandels und der Ressourcenknappheit wenn schon nicht verboten, dann wenigstens deutlich teurer werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wenn wir das machen könnten, dann hieße das mehr Beschäftigung in Produktion, Reparatur und Dienstleistung, etwa in der Vorbereitung zur Wiederverwendung – Stichwort Wertstoffwirtschaft. Hier gibt es noch sehr viele weitere Jobs, die ich jetzt nicht genannt habe. Auf der anderen Seite würden dann die Rohstoffpreise sowohl am Produkt, aber wahrscheinlich auch insgesamt sinken; denn es würden nicht mehr so viele Rohstoffe wie vorher benötigt. Weniger Material wäre also notwendig. Damit könnten wir auch Konflikte vermeiden, die weltweit bei der Rohstoffförderung existieren. Ich brauche Ihnen das nicht näher zu erläutern. Hier gibt es ganz viele Konflikte: Kinderarbeit, Vertreibung usw. Der Antrag der Koalition zur Ressourcenschonung und auch das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm, -ProgRess, gehen erst einmal in die richtige Richtung, zum Beispiel in Richtung weniger Abfall und dahin, aus den vorhandenen Rohstoffen mehr zu machen. (Horst Meierhofer [FDP]: Bravo!) Zentrales Ziel bleibt aber ressourceneffizientes Wachstum. Die Frage, ob sich der Ressourcenverbrauch überhaupt so weit abkoppeln lässt, dass wir bis 2050 auf eine Minderung des Ressourcenverbrauchs um 60 bis 80 Prozent kommen, wird nicht gestellt. Abkopplung bedeutet doch, dass man irgendwann ein Auto bauen kann, für das zum Beispiel 37 Prozent weniger Rohstoffe benötigt werden. Ist das überhaupt möglich, oder muss ich hier ganz andere Dinge tun? (Horst Meierhofer [FDP]: Recycling!) Es stellt sich also schon die Frage nach den Rohstoffen. Hier fehlt uns ein wachstumskritischer Ansatz. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) Ich glaube auch nicht, dass diese Zahlen mittels Effi-zienz- und Technologiegläubigkeit zu erreichen sind. Dieser Ansatz fehlt auch im Deutschen Ressourceneffizienzprogramm und im Koalitionsantrag. Sie bauen mehr auf Rohstoffsicherung als auf Ressourcenschonung. Das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm beinhaltet viele Prüfaufträge und Ankündigungen, wie etwa beim Top-Runner-Programm, auf das wir schon seit der vorletzten Legislaturperiode warten. Ich sage Ihnen: Machen Sie es endlich! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Horst Meierhofer [FDP]: Jetzt geht es vorwärts! Jawohl!) Bei Begriffen wie Sicherstellung des diskriminierungsfreien Zugangs der Unternehmen auf dem Weltmarkt, Abbau von Handelshemmnissen oder auch Rohstoffpartnerschaften gehen bei mir die Alarmglocken an. Das ist sehr gefährlich. Hierunter können wir uns sehr viel vorstellen. Auch zu der Frage, unter welchen Bedingungen in den Förderländern gearbeitet wird, gibt es keine Aussagen. Im Zweifelsfall interessiert das niemanden. Stichwort Kanadische Ölsande. Die Bundesregierung schafft es nicht einmal hier, für ökologische Importstandards einzutreten. (Frank Schwabe [SPD]: Ja, so ist es!) Das hätten wir alle von Ihnen erwartet. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In Rohstoffpartnerschaften wie der mit Kasachstans Diktator Nasarbajew sehen wir ebenfalls keinen Beitrag zu einer nachhaltigen Weltwirtschaftsordnung. Unter dem Strich: Es gibt positive Ansätze. Uns gehen sie nicht weit genug. Ich habe unsere Kritik genannt. Wir werden dem Antrag nicht zustimmen. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es so, dass das Thema Ressourceneffizienz eines der zentralen Zukunftsthemen ist, die wir haben; denn wir müssen immer mehr mit immer weniger Rohstoffen schaffen. Das muss letztendlich das Ziel sein. (Horst Meierhofer [FDP]: Ja!) Herr Meierhofer, wenn Sie hier schon Herrn Bütikofer zitieren, dann zitieren Sie ihn bitte vollständig. (Horst Meierhofer [FDP]: Ich hatte nur sechs Minuten!) Sie hören genau an der Stelle auf, an der Herr Bütikofer sagt: Der Ansatz, den die Bundesregierung für ein solches Programm wählt, ist zwar richtig, aber das Programm, das sie hier vorlegt, kann man nur ablehnen. – Das sind 112 Seiten reine Lyrik. 112 Seiten bedrucktes Papier ohne jede konkrete Maßnahme! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD] – Horst Meierhofer [FDP]: Konkretes habt ihr doch nie zusammengebracht!) Die Kollegen haben gerade schon eine ganze Reihe von Punkten genannt. Da Sie hier die EU-Ebene ins Spiel bringen, muss man auch sagen: Die Bundesregierung stand genau beim Thema Ressourcenschonung auf der Bremse, (Horst Meierhofer [FDP]: Nein!) und sie hat Herrn Kommissar Potocnik kurz vor Weihnachten dabei ausgebremst, konkretere Maßnahmen durchzuführen. Das ist die Realität Ihrer Ressourcen-politik, und diese Realität findet sich auch in anderen Bereichen wie bei der Energieeffizienz oder bei kanadischen Teersanden. Wenn Sie zulassen, dass diese importiert werden und das Klima und die Umwelt zerstört werden, dann ist das die Realität Ihrer EU-Politik. Das hat nichts mit dem zu tun, was Sie hier vortragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn man die 112 Seiten liest, dann fühlt man sich phasenweise an Wikipedia erinnert. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?) Da wird aufs Schönste die Welt erklärt. Das ist wunderbar, alles klar. Dort erfährt man, wie viel Gold in Handys enthalten ist und wie wichtig es ist, Handys einzusammeln. Man denkt dann: Jetzt kommt der Hammer; jetzt kommt die Lösung. Es kommt aber nichts. Darin heißt es sinngemäß nur: Die Erfassung von Althandys muss optimiert werden. – Das ist wunderbar. Aber wie soll es funktionieren? Fährt Herr Röttgen oder Herr Meierhofer demnächst mit dem Auto herum und sammelt irgendwo Handys ein, oder was kommt dabei heraus? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zur Elektronikschrottverordnung oder zu konkreten Maßnahmen ist nichts zu lesen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Placebopolitik!) Ein anderes zentrales Thema in Ihrem Programm: Ihr Handlungsansatz Nummer eins ist die Deutsche Rohstoffagentur DERA. Ich habe in der Fragestunde den Minister gefragt, wie viele Mitarbeiter diese Handlungsinformationsplattform, eines der zentralen Instrumente, die Sie angeblich implementieren, hat. Die Antwort zeigte, dass der Minister es nicht wusste. Ich habe behauptet, es seien fünf. Ich muss mich entschuldigen. Diese Zahl stimmt nicht. Ich bin nachher korrigiert worden. Man hat mir gesagt, es seien weniger als fünf. Es sind also null bis vier Mitarbeiter, die Ihre zentrale Handlungsplattform ausmachen. Es ist lächerlich, was Sie hier vorlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Schlagkraft! Wahnsinn! Das sind Maßnahmen!) Das zieht sich durch das ganze Programm. Sie können es rauf- und runterzählen: Es sind 112 Seiten bedrucktes Papier, aber letzten Endes kommt nichts Konkretes he-raus. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade um den Regenwald!) Ein weiteres Beispiel ist der auf EU-Ebene geforderte Top-Runner-Ansatz. Man sucht ihn vergeblich; er fehlt. Zur öffentlichen Beschaffung, wo Sie konkret handeln könnten und nicht die private Wirtschaft in die Pflicht nehmen müssten, wovor Sie immer zurückschrecken, findet sich überhaupt nichts. Sie beziehen sich nicht einmal auf die EU-Ziele. Das ist nicht in Ordnung. Ganz schlimm ist aber – da geht die Koalition noch weiter als die Bundesregierung –, dass Sie die Ziele, die Helmut Kohl 1994 zu dem Thema implementiert hat, nämlich die Verdopplung der Ressourcenproduktivität bis 2020, offensichtlich versenken wollen. Denn anders ist Ihre Ablehnung unseres Antrags im Umweltausschuss nicht zu verstehen. Sie zerstören das, was über mehrere Legislaturperioden hinweg zu dem Thema aufgebaut wurde. Sie wollen es einfach nicht mehr wahrhaben. Stattdessen gibt es nur Lyrik, Ankündigungen und Texte, aber keine konkreten Maßnahmen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN) Bitte haben Sie an der Stelle Verständnis, meine Damen und Herren: Trotz aller schönen Lyrik und aller Gemeinsamkeit, in der wir uns über die Sprache verständigen können, können wir das nicht mitmachen. Das ist aus unserer Sicht reine Politiksimulation. Wie der Rheinländer so schön sagt: So einen Kokolores machen wir nicht mit. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der -LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Thomas Gebhart für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute einen Antrag zum Thema Ressourceneffizienz. Ich gebe gerne zu, dass dieses Wort vielleicht ein wenig technisch klingt. Wahr ist aber: Die Steigerung der Ressourceneffizienz ist eine der großen Aufgaben dieser Zeit. Warum ist das so? Weil die weltweite Nachfrage nach bestimmten Ressourcen zugenommen hat. Dieser Trend wird durch eine nach wie vor wachsende Weltbevölkerung verstärkt. Die Herausforderung ist deswegen so groß, weil mit der Ressourcennutzung zum Teil erhebliche Umweltbelastungen verbunden sind. Die Herausforderung ist für uns, für Deutschland als starke Industrienation, die wir bleiben wollen, deswegen besonders groß, weil wir in hohem Maße von Rohstoffimporten abhängig sind. Es ist klar: Die Rohstoffversorgung zu sichern, ist ein sehr wichtiger Punkt. Dazu gibt es die Rohstoffstrategie. Ein Punkt, der hier ebenfalls hineingehört, ist mindestens genauso wichtig wie die anderen und wird in Zukunft eher an Bedeutung gewinnen: die Steigerung der Ressourceneffizienz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir wollen Wohlstand und Wachstum stärker vom Ressourceneinsatz entkoppeln. Wir wollen nachhaltiges Wirtschaften. Deutschland ist übrigens auf diesem Weg. Die Rohstoffproduktivität hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Viele Unternehmen haben erhebliche Anstrengungen unternommen. Wir wollen eine der ressourceneffizientesten Volkswirtschaften dieser Welt sein. Wir wollen diesen Weg weitergehen, weil wir vor allem darin große Chancen sehen, sowohl ökologische als auch ökonomische. Der effiziente Umgang mit knappen Ressourcen wird künftig noch mehr über die Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Effizienztechnologien gehören mit Sicherheit zu den Wachstumstechnologien der nächsten Jahre. Wir begrüßen daher außerordentlich, dass die Bundesregierung ein Ressourceneffizienzprogramm aufgelegt hat. Es ist ein Meilenstein. Ein solches Programm gab es bislang noch nie. Die Handlungsfelder und die Aufgaben werden umfassend beschrieben und dargelegt. Wir begrüßen insbesondere – das ist auch Gegenstand unseres Antrags –, dass dieses Programm auf Anreize, freiwillige Lösungen, Information, Beratung, Forschung und Entwicklung sowie Weiterbildung und Bildung setzt. Es geht gerade nicht darum, die Wirtschaft in irgendeiner Weise zu bevormunden, sondern darum, klassische Win-win-Situationen zu erkennen und zu nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich will kurz drei wichtige Punkte nennen, die wir aufgreifen. Der erste Punkt sind Forschung und Entwicklung. Wir setzen vor allem auf technologische Innovationen, weil diese ein Schlüssel zu mehr Ressourceneffizienz sind. Aus diesem Grund wollen wir die Forschungsprogramme noch stärker auf diesen Aspekt ausrichten. Wir begrüßen, dass die KfW ganz aktuell hier einen neuen Förderschwerpunkt gesetzt hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der zweite Punkt ist: Wir wollen darauf hinwirken, dass die Ressourceneffizienz stärker als bisher bei der Normung berücksichtigt wird. Dabei ist entscheidend, dass wir den gesamten Produktlebenszyklus im Auge behalten, also nicht nur den Ressourceneinsatz bei der Herstellung eines Produktes, sondern auch die Nutzungsphase und in gleicher Weise die Entsorgungsphase. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Der dritte Punkt ist: Wir stärken die einzelbetriebliche Effizienzberatung. Sie ist vor allem für kleine und mittlere Unternehmen eine Hilfe. Ich habe mir vor kurzem hier in Berlin das Ressourcenzentrum angesehen, eine Kooperation des Vereins Deutscher Ingenieure und des Ministeriums. Es ist beeindruckend, zu sehen, welche hervorragenden Projekte schon heute realisiert werden. Mit Blick auf die Zukunft kann ich nur sagen: Das -Potenzial dort ist riesengroß. Ich will noch etwas zur Opposition, insbesondere zu den Grünen, sagen. Herr Krischer, zuerst fanden Sie das, was wir gemacht haben, ganz gut, haben dann aber kritisiert, dass das Programm und unser Antrag nicht konkret genug seien. Ich will Ihnen dazu nur zwei Punkte nennen. Der erste Punkt ist: Sie müssen dieses Programm auch lesen. Es enthält viele konkrete Punkte. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wenn es konkret wird, hört es auf!) Sie haben vorhin beispielsweise behauptet, der Top-Runner-Ansatz werde nicht erwähnt. Ich empfehle Ihnen, Seite 52 des Programms zu lesen. Genau dort ist der Top-Runner-Ansatz zu finden. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht der Top-Runner-Ansatz, aber dann kommt nichts mehr!) Das Programm enthält noch viele andere konkrete Punkte. Der zweite Punkt ist: Es handelt sich um ein Programm, das noch umgesetzt und in der Umsetzung an vielen Stellen weiter konkretisiert werden muss. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch, wie Sie konkretisieren wollen!) Ich lade die Opposition ausdrücklich ein, sich mit klugen Vorschlägen in diesen Umsetzungsprozess einzubringen. Wenn Sie aber vorschlagen, eine zusätzliche Abgabe einzuführen, die die Wirtschaft sowie die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zusätzlich belastet, dann sage ich Ihnen ausdrücklich: Dies entspricht nicht unserer Vorstellung. Da unterscheiden wir uns. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kurzum, die Steigerung der Ressourceneffizienz ist eine große Aufgabe. Wir gehen diese Aufgabe umfassend und systematisch wie nie zuvor an. Damit nutzen wir auch die gewaltigen Chancen, die in diesem Bereich liegen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Antrag heute zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Deutsches Ressourceneffizienzprogramm – Ein Baustein für nachhaltiges Wirtschaften“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8875, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8575 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Steuerungsfehler bei der Hochschulzulassung untersuchen und Zulassungsreform besser unterstützen – Drucksache 17/8884 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Swen Schulz für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Swen Schulz (Spandau) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hochschulzulassung, also der Weg, wie Studieninteressierte und Hochschulen zueinanderfinden, ist in Teilen chaotisch organisiert. Das ist für die Hochschulen schwierig. Das ist aber vor allem für die Studieninteressierten belastend und abschreckend. Was im Resultat vielleicht das Schlimmste ist: Im letzten Wintersemester blieben fast 20 000 Studienplätze unbesetzt. Das ist Irrsinn. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir kennen dieses Problem schon länger. Wir haben deswegen vor Jahren eine gemeinsame Lösung erarbeitet. Wir haben gesagt, dass ein Serviceverfahren installiert werden soll, um die Probleme zu lösen. Doch dessen Einführung ist wiederholt gescheitert. Ich will jetzt nicht so tun, als ob wir von der SPD immer schon alles besser gewusst haben. (Ewa Klamt [CDU/CSU]: Das ist sympathisch!) Das ist nicht der Fall. Wir haben das ja gemeinsam beschlossen. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition: Man muss im Laufe der Zeit eben auch einmal dazulernen. Wenn ich richtig gezählt habe, haben wir uns im Ausschuss in den vergangenen Jahren siebenmal mit dieser Thematik befasst. (Monika Grütters [CDU/CSU]: Richtig!) Zumindest in der letzten Zeit, in den letzten paar Jahren, war doch immer deutlicher erkennbar, was für Probleme es gibt, wo die Schwierigkeiten liegen. Wir haben die Probleme auch benannt. (Beifall bei der SPD – Monika Grütters [CDU/CSU]: Wir auch! – Kai Gehring [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir alle!) Schon Ende 2008, als es erkennbar immer noch Pro-bleme gab, haben wir die Ministerin Schavan darauf hingewiesen, dass das Zulassungsverfahren so nicht geregelt werden kann. Als zum Beispiel im April 2011 zum wiederholten Mal die Einführung des dialogorientierten Serviceverfahrens verschoben werden musste, haben wir hier im Bundestag einen Antrag eingebracht und ein Konzept für einen Notfallplan und für einen Plan B vorgelegt. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So ist es!) Aber wie war die Reaktion der Bundesregierung, der Koalitionsfraktionen? Gleich null. Sie haben die Augen fest geschlossen und sind wieder auf dieselbe Wand zugerannt – und Sie sind wieder gescheitert. (Beifall bei der SPD) Was an dem Ganzen vielleicht am ärgerlichsten ist: Für dieses Versagen haben Sie einen Sündenbock gesucht und gefunden: die HIS, eine öffentliche Gesellschaft, die für die Software an vielen Hochschulen zuständig ist. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das haben wir aber gemeinsam festgestellt!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, so zu tun, als ob die HIS allein verantwortlich und man selber völlig raus aus dem Spiel wäre, das ist stillos, das ist falsch, und das bringt die Lösungsfindung nicht voran. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie wollen den Sündenbock jetzt durch einen Privatisierungskurs zur Strecke bringen. Aber zur Problemlösung müssen Sie ganz anders vorgehen. Deswegen haben wir hier heute einen Antrag vorgelegt, der ein entsprechendes Konzept aufzeigt. Wir wollen das dialogorientierte Serviceverfahren zum Erfolg bringen. Wir sind bereit, dass der Bund mögliche Mehrkosten dafür übernimmt. Bis zum Start des -dialogorientierten Serviceverfahrens möchten wir, dass in der Clearingphase ein koordiniertes Vergabeverfahren durchgeführt wird. Und wir wollen einen Ersatzplan für das Wintersemester 2013/2014 haben, bei dem ein effi-zientes Zulassungsverfahren nach dem Typ D plus durchgeführt wird. Ich will das jetzt nicht zu technisch machen; aber das basiert auf dem, was wir bereits entwickelt haben. Darüber hinaus muss es natürlich eine Prozessanalyse geben, die auch das politische Programmmanagement mit einbezieht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, orientieren Sie sich daran, anstatt Ablenkungsmanöver zu fahren! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Redezeit ist leider sehr begrenzt. Deswegen will ich zum Abschluss nur noch eine Bemerkung machen. Wir haben jetzt nur noch diesen einen letzten Versuch. Das muss jetzt mit dem Serviceverfahren wirklich klappen. Wenn das – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelingt, dann müssen wir anders und grundsätzlicher diskutieren. Dann müssen auch die rechtlichen Rahmenbedingungen hier im Deutschen Bundestag thematisiert werden. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Dann muss ein Bundeszulassungsgesetz auf die Tagesordnung, das einheitliche Standards setzt. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Monika Grütters für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Monika Grütters (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Schulz, nach einem erstaunlichen Erkenntniszuwachs der SPD reden wir heute zum wiederholten Mal über das dialogorientierte Hochschulzulassungsverfahren. (Lachen bei der SPD) – Offensichtlich ist der Antrag Ihrem Erkenntnisgewinn geschuldet. Ich jedenfalls bin überrascht, dass wir heute hier zum wiederholten Mal und relativ kurzfristig nach der letzten ausführlichen Beratung im Ausschuss wieder darüber reden müssen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist leider notwendig!) Wir alle wollen, dass die Studierenden einen besseren Hochschulzugang als beim bisherigen Verfahren haben. (Klaus Hagemann [SPD]: Dann mal ran!) Die Vorteile des DoSV liegen für jeden – auch für die SPD, so denke ich – auf der Hand. Wer sich einmal in der nahegelegenen Mohrenstraße bei Professor Jähnichen im Fraunhofer-Institut kundig macht, kann das direkt erkennen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da war ich auch!) Wie gesagt, gerne nehme ich den Erkenntnisgewinn der SPD zum Anlass, hier noch einmal über die, wie Sie es nennen, Entwicklung und Einführung des DoSV zu reden und es weiter zu unterstützen. Ich freue mich da-rüber, dass wir uns zumindest in dieser grundsätzlichen Frage noch immer einig sind. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das funktioniert aber noch immer nicht!) Dennoch habe ich mich über manche Volte in Ihrem Antrag gewundert. Erstens. In dem Antrag taucht wiederholt die Forderung nach weiteren Bundesmitteln für die Etablierung des dialogorientierten Serviceverfahrens auf. Gleich zweimal fordern Sie in Ihrem Antrag Bundesmittel für die Konnektorenanschaffung. Darüber kann ich mich nur wundern. Ein Allheilmittel sind genau diese berühmten Bundesmittel nämlich nicht. Am 2. November hat Staatssekretär Rachel Sie alle in einer Drucksache darüber unterrichtet – ich zitiere –, dass alle Länder ihren Hochschulen ausdrücklich die Übernahme der Kosten für die Beschaffung der Konnektoren zugesichert haben. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Ich frage mich also, ob Sie an dieser Stelle wider besseres Wissen Zweifel an der Finanzierung des Projekts wecken wollen. Ich glaube, mit derartigen Einlassungen tragen Sie nicht dazu bei, den Erfolg des Programms zu unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Klaus Hagemann [SPD]: Wo ist denn der Erfolg?) Außerdem entlasten Sie die zuständigen Länder, nachdem Sie die Finanzierung zugesichert haben, völlig ohne Not von ihren Pflichten. Das halte ich für falsch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Machen Sie es jetzt, oder machen Sie es nicht?) Zweitens. Fragwürdig ist, dass Sie plötzlich einen dringenden Bedarf sehen, Umstände und Ursachen der Probleme aufzudecken. Wir hatten doch erst am 18. Januar – das ist erst wenige Wochen her – das große Fachgespräch – Sie haben es angesprochen –, in dem auch Sie die Gelegenheit hatten, die Hintergründe zu erörtern. Im Ausschuss gab es während des Fachgesprächs übrigens einen Konsens – das fand ich gut –, dass wir auf gegenseitige Schuldzuweisungen eher verzichten wollen. Wenn Sie vom Sündenbock HIS sprechen, kann ich nur sagen: In Ihrem Antrag versuchen Sie, den Sündenbock Annette Schavan auszumachen. Das ist nun wirklich ein Manöver, das nicht nur ein Stück weit unanständig, sondern auch völlig unsachgemäß ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sachgemäß ist es schon!) Konstruktive Lösungen des Problems wären besser gewesen. Das hätte auch Ihrem Antrag gutgetan. Schuldzuweisungen jedenfalls sind keine Lösung. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Wunsch nach einer Ursachensuche beim DoSV für die SPD eher darin begründet ist – ein durchsichtiges Manöver –, eine der erfolgreichsten Ministerinnen ins Visier zu nehmen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh!) Pauschal und, wie ich finde, sehr oberflächlich beklagen Sie wiederholte Managementfehler, ohne ein konkretes Versäumnis zu benennen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Also hat niemand Schuld!) Das finde ich stillos, Swen Schulz, falsch, und es bringt die Sache im Übrigen nicht voran. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wahr ist: Wenn eine ihre Aufgaben auch bei diesem leidigen Thema erledigt hat, dann ist es die Bundesministerin. (Lachen des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mit den 15 Millionen Euro aus Bundesmitteln ist jedenfalls eine einwandfrei funktionierende Software entwickelt worden. Der Bund hat also seine Leistung erbracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundestag hat das bewilligt!) Eine dritte Überraschung. Sie beschreiben in Ihrem Antrag zwar, wie das System D oder das System D plus funktionieren soll, aber ich kann nicht sehen, dass es die Probleme löst. Erstens liegt das Hauptproblem in der Zeitschiene, darin, dass das Ganze immer wieder verschoben wird. Das System D zu installieren, würde mindestens 26 Monate dauern. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Falsch!) Das Problem wäre damit nicht nur nicht zeitnah gelöst; es würde noch länger dauern, als wenn wir jetzt hieran weiterarbeiten. Zweitens. Die Risiken und Hindernisse bei einem solchen Paradigmenwechsel – das wäre es ja – verschweigen Sie wohlweislich. Sie sagen nicht, welche Rechenkapazitäten dafür nötig wären. Sie sagen auch nicht, wie das Zulassungsverfahren kurzfristig an die Stiftung für Hochschulzulassung angebunden werden soll. Sie sagen nichts darüber, mit welchen Personalstrukturen ein solches Zentrum arbeiten müsste und wie es zu finanzieren wäre. Sie sagen vor allen Dingen nichts über das heikle Thema Datenmigration. Es geht um massenweise hochsensible Daten. Wie die durch die gesamte Republik geschickt werden sollen – das ist übrigens der Grund dafür, dass alle Hochschulen dieses System nicht wollen –, verschweigen Sie. Insofern ist das ein, wie ich finde, völlig aus der Luft gegriffener Vorschlag, der offensichtlich in erster Linie ein Ziel hat, nämlich ein bisschen Show zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass wir alle uns nach wie vor Gedanken über den Masterplan für die IT-Infrastruktur des Hochschulsystems machen müssen, und zwar über die Zulassungssoftware weit hinaus, haben wir alle am 18. Januar erlebt und gelernt. Dafür müssen wir uns noch einmal zuständig machen, obwohl die Länder die ersten Akteure sind. Ich glaube, dass Ihr Antrag eher zu größerer Verunsicherung beiträgt. Sie chaotisieren die ohnehin schwierige Diskussion. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das haben Sie immer gesagt! Immer dann, wenn wir etwas kritisiert haben, haben Sie gesagt, wir sollten das nicht schlechtreden!) – Aber das ist ja auch so! Das System D ist das Gegenteil einer Lösung. Es bringt nur noch mehr Chaos. (Klaus Hagemann [SPD]: Wer hat das Chaos gemacht?) Alle Beteiligten haben immer gesagt, dass sie es nicht wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihr Antrag ist ein Ablenkungsmanöver. Unausgegorene Schnellschüsse wie dieser lösen das Problem, das wir alle inzwischen erkannt haben, sicher nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Immer die gleiche Platte!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Nicole Gohlke (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Centrum für Hochschulentwicklung sagte dieser Tage voraus, dass es bis zum Jahr 2025 mindestens 1,1 Millionen zusätzliche Studienanfängerinnen und Studienanfänger geben wird. Die Kultusministerkonferenz hat gerade zugegeben, sich bei ihren Prognosen deutlich verschätzt zu haben, und korrigierte ihre Zahl nach oben: bis 2020 jährlich 60 000 bis 80 000 mehr Studienanfängerinnen und Studienanfänger. Jetzt werden diese Zahlen endlich einmal offiziell genannt. Überrascht haben sie allerdings nur die Bundesregierung – den Eindruck hat man zumindest –; (Monika Grütters [CDU/CSU]: Haben Sie schon was vom Hochschulpakt gehört?) denn die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Studierendenvertretungen, die Studentenwerke, auch die Fraktion Die Linke – sie alle haben schon seit einigen Jahren nicht mehr an die prognostizierten niedrigen Zahlen der Bundesregierung geglaubt. Und: Wir finden es gut, dass immer mehr junge Menschen ein Studium aufnehmen wollen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD] und Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Monika Grütters [CDU/CSU]: Wir auch!) – Wenn Sie das auch so toll finden, dann handeln Sie entsprechend! Dass die Bundesregierung die Hochschulen nicht nach dem Bedarf der Studierenden, sondern nach Kassenlage und Wunschprognosen ausstattet, zieht sich wie ein roter Faden durch die Bildungspolitik von Schwarz-Gelb. Im Herbst letzten Jahres fehlten genau deswegen schon 100 000 Studienplätze. Was diese Politik außerdem bedeutet, kann man erfahren, wenn man eine Hochschule besucht, die keine Exzellenzuni ist oder die nicht irgendwelche gesponserten Stiftungslehrstühle hat: Tausende von jungen Menschen ohne Studienplatz, zu wenig Lehrkräfte, unterbezahlte Professorinnen und Professoren – das haben wir gerade durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt bekommen –, zu wenig Wohnheimplätze, BAföG-Anträge, die sechs Monate und länger nicht bearbeitet werden – das ist die Situation an den Hochschulen, und dieser Zustand muss endlich beendet werden. (Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wer ist für die Hochschulen zuständig?) Die Meldungen zu den steigenden Studierendenzahlen und zu den prekären Verhältnissen an Hochschulen überschlagen sich. Und was macht die Bundesregierung? Anstatt selbst mehr Geld in die Hand zu nehmen, übt sie sich darin, Verantwortung abzugeben, und findet, die Länder müssten handeln. Seit einiger Zeit hoch im Kurs als Sündenbock ist – mein Kollege Schulz hat es schon angesprochen – die HIS-IT, die IT-Sparte des Hochschul-Informations-Systems. Sie soll ein Internetportal zur koordinierten Vergabe von Studienplätzen entwickeln, damit nicht auch noch inmitten der ganzen Misere um mangelnde Studienplätze viele Plätze unbesetzt bleiben. Der Start dieses Portals wurde aus technischen Gründen mehrfach verschoben, zuletzt auf das Wintersemester 2013/2014. Was schlägt die Bundesregierung jetzt vor? Sie zieht eine Privatisierung der HIS-IT in Betracht, ganz so, als hätte es die ganzen negativen Erfahrungen der letzten Jahre mit Privatisierungen und Deregulierungen nicht gegeben. Ich freue mich sehr, dass von der Privatisierung der HIS-IT im vorliegenden SPD-Antrag nicht die Rede ist. Thüringens Bildungsminister Matschie von der SPD war ja leider Mitbeförderer dieser Idee. Für die Linke ist klar: Die Hochschulzulassung gehört in die öffentliche Hand. (Beifall bei der LINKEN) Es kann nicht sein, dass irgendwann private Anbieter zum Beispiel über die Höhe der Kosten für die Vermittlung eines Studienplatzes entscheiden, die dann vielleicht auch noch von den Bewerberinnen und Bewerbern oder von den Hochschulen getragen werden müssen. Natürlich brauchen wir eine Plattform, die es den Studienbewerberinnen und Studienbewerbern ermöglicht, einen Überblick über Studienangebote zu bekommen, und mit der die Studienplatzvergabe koordiniert wird. Diese Plattform kann aber – ganz egal, wie gut sie technisch ausgerüstet ist – nicht die Zehntausenden jährlich fehlenden Studienplätze ersetzen. Das ist doch das eigentliche Problem. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen endlich eine Aufstockung des Hochschulpaktes auf mindestens 500 000 Studienplätze und ein Bundeszulassungsgesetz, das jedem Studienberechtigten das Recht auf ein Studium garantiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem NC-Urteil von 1972 in aller Deutlichkeit gesagt: (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben 2012!) Die Beschränkung des Hochschulzugangs ist eine Grundrechtseinschränkung, die nur zur Regulierung eines temporären Mangels an Studienplätzen überhaupt zulässig ist. – Dieser temporäre Mangel hat nun gerade seinen 40. Geburtstag. (Beifall bei der LINKEN) Die Tausenden Schülerinnen und Schüler, die in den vergangenen Jahren empört auf die Straße gegangen sind, brauchen nicht nur eine bessere Software, sie brauchen vor allem einen Studienplatz. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Jetzt kommt Privat vor Staat!) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahr 2008 brachten SPD und CDU/CSU das dialogorientierte Zulassungsverfahren auf den Weg. Alle waren voll der Hoffnung, endlich ein Instrument gefunden zu haben, das den Hochschulen ein Höchstmaß an Autonomie zubilligen und gleichzeitig einen effektiven Mitteleinsatz gewährleisten würde. Der Zuversicht des Jahres 2008 folgten Ärger und Enttäuschung. Im Jahr 2012 kann man eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln. Das Problem ist: Wie konnte das Parlament sich so lange von einem staatlichen Unternehmen wie der HIS GmbH an der Nase herumführen lassen? (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie war das mit den Sündenböcken?) Wir alle wünschen uns eine schnelle Lösung der technischen Probleme im Sinne der Hochschulen und der Studienbewerber; darüber haben wir ausführlich diskutiert. Gerade die Hochschulen sind in diesem Prozess die Leidtragenden der Entwicklung. Sie müssen den glücklicherweise ansteigenden Zustrom der Studienbewerber managen. Gerade hier geraten sie aufgrund der knappen Personal- und Finanzausstattung durch die zuständigen Länder mehr und mehr an ihre Grenzen. Bislang haben sie es aufgrund einer enormen Anstrengung geschafft – und das verdient höchsten Respekt –, die negativen Folgen für Studierende minimal zu halten. Der Ausschöpfungsgrad – dies muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – ist tatsächlich noch gestiegen. Den Hochschulen muss hier höchster Respekt zuteilwerden. Aber auch die Studienplatzbewerber brauchen das -dialogorientierte Zulassungsverfahren; darüber herrscht Einigkeit. Es würde helfen, dass Bewerberverfahren zügig durchgeführt werden können. Damit wäre auch frühzeitiger klar, an welcher Hochschule sie einen Studienplatz erhalten. Bislang haben Nachvermittlungen und die Studienplatzbörse erstaunlich gut funktioniert. Doch den Ärger kann das kaum lindern. Glauben Sie mir, mich hat es geärgert, dass uns die HIS GmbH – das haben wir sehr ausführlich im Ausschuss diskutiert – in der Vergangenheit nie über die tatsächlichen Probleme informiert hat. Das ist der Punkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie hat im Gegenteil immer wieder verlauten lassen, man sei voll im Zeitplan. Dann, kurz vor Erreichen des nächsten Meilensteins, kam die Mitteilung, es gebe doch noch Probleme und ein weiterer Zeitverzug sei unumgänglich. Ich erinnere mich an den April letzten Jahres: Wenige Tage vor dem geplanten Start wurden wir noch in dem Glauben gelassen, es könne funktionieren. Das ist wirklich unverschämt und kann nicht länger hingenommen werden. Daher wurden bereits – ich sage, zu Recht – personelle Konsequenzen gezogen. Meine Damen und Herren von der SPD, zu dieser Situation haben Sie kein Wort verloren. Das Problem liegt jedoch genau darin begründet: Wir konnten nicht zeitig genug reagieren, weil uns immer wieder etwas anderes gesagt wurde. In der Analyse, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, kann man das, was in Ihrem Antrag steht, im Großen und Ganzen sicherlich teilen, von dem Aussetzer bezüglich der HIS GmbH einmal abgesehen. Trotzdem hilft uns dieser Antrag nicht weiter. Ich sage Ihnen auch, warum er nicht weiterhilft: Wie Sie richtig darstellen, hindern uns derzeit technische Probleme daran, das dialogorientierte Serviceverfahren zum Funktionieren zu bringen. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig; darüber ist gesprochen worden. Es liegt vor allen Dingen daran, dass die beauftragten Unternehmen an den Hochschulen nur eine stark veraltete Software vorgefunden haben, sodass die Schnittstellenproblematik nicht beherrscht werden konnte. An dieser Stelle muss ich sagen: Diese Probleme kann die Politik nicht lösen, wenngleich hier ein entsprechender Eindruck vermittelt wird. Es würde auch nicht weiterhelfen – Kollegin Grütters hat es angesprochen –, wenn der Bund, der bereits 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat, weitere Kosten übernehmen würde, um Umgehungs- oder Ersatzlösungen zu schaffen. Denn eigentlich obliegt es den Ländern, ihre Verantwortung für die Hochschulen selbst zu schultern. Wir brauchen die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, besonders die der Länder. Die Länder müssen dafür Sorge tragen, dass an ihren Hochschulen eine moderne und zeitgemäße Softwareausstattung zur Verfügung steht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich hatte vorhin von dem Respekt vor den Leistungen der Hochschulen gesprochen. Die Hochschulen brauchen vor allen Dingen eine schnelle Entlastung im Bereich der Verwaltung, indem ihnen auch personell eine angemessene Ausstattung zur Verfügung steht, um das Bewerbermanagement ordentlich bewältigen zu können. Wir freuen uns ja darüber, dass sich viele Studierende an den Hochschulen anmelden. Bezüglich der weiteren Projektdurchführung erwartet meine Fraktion, dass wir als Deutscher Bundestag regelmäßig und vor allen Dingen in einem transparenten Verfahren über den Projektfortschritt informiert werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf Probleme muss frühzeitig hingewiesen werden. Wo es nötig ist, muss rechtzeitig gegengesteuert werden. Wenn wir aus diesem Projekt eines gelernt haben, dann ist es aus meiner Sicht – das ist die Erfahrung des heutigen Tages –, dass es nicht günstig war, ein öffentliches Unternehmen mit der Projektdurchführung zu beauftragen. Zum einen kann gerade bei einer solchen Konstellation die Leistungserbringung nicht ausreichend von der Kontrolle getrennt werden. Zum anderen stehen uns als Auftraggeber kaum Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Jedes private Unternehmen hätte man zu Recht mit Regressforderungen konfrontieren müssen. Insofern begrüßen wir die Überlegungen des BMBF, den IT-Geschäftsbereich der HIS GmbH in eine private Trägerschaft zu überführen. Meine Fraktion steht diesem Ansinnen ausgesprochen positiv gegenüber. Damit erhoffen wir uns mehr Professionalität und letztendlich auch eine bessere Steuerungsmöglichkeit für uns. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Studierende, die heute unsere Debatte verfolgen, werden sich die Haare raufen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) und das nicht nur wegen des Privat-vor-Staat-Mantras meines FDP-Vorredners. Die Studienplatzbewerber in unserem Land erleben jedes Jahr aufs Neue dieses Stu-dienplatzparadoxon: Einerseits gibt es immer mehr und höhere Zulassungsbeschränkungen, andererseits gibt es Semester für Semester Zehntausende Studienplätze, die unbesetzt bleiben. Das muss sich ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wenn man an das Nichtstun des Bundesbildungsministeriums und das sehr ernüchternde Fachgespräch im Bundesbildungsausschuss denkt, dann erkennt man die Gefahr, dass sich das Ganze nicht so schnell ändert. Lasse ich die Pleiten-Pech-und-Pannen-Serie der letzten Monate und Jahre zu diesem Thema Revue passieren, dann bekomme ich den Eindruck, dass die Erarbeitung des dialogorientierten Serviceverfahrens leider eine Never-ending Story wird. Der Startschuss für die Erarbeitung des neuen Stu-dienplatzvergabeverfahrens fiel bereits zu Zeiten der Großen Koalition. Als Starttermin wurde das Winter-semester 2011/2012 anvisiert, ein sowieso schon zu später Zeitpunkt also, weil dann längst die ersten doppelten Abiturjahrgänge vor den Hochschultüren standen. Seit Jahren ist doch bekannt, dass es so viele Studienberechtigte wie nie zuvor gibt; aber es gibt kein funktionierendes Zulassungsverfahren. Über diesen Zustand kann man einfach nur den Kopf schütteln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Angesichts dieses vermurksten Prozesses stellen wir uns immer wieder die Frage: Wie konnte es eigentlich passieren, dass bei der Softwareerarbeitung niemand -geprüft hat, ob das neue Softwareverfahren auch wirklich mit bestehenden IT-Lösungen an den Hochschulen kompatibel ist, (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das wäre schon sinnvoll gewesen!) dass sie untereinander kommunizieren können, dass da Datenfluss stattfinden kann? Offensichtlich gilt: Viele Köchinnen und Köche haben hier den Brei verdorben. Besonders nervt uns an dieser Stelle auch das Weg-ducken von Bundesbildungsministerin Schavan. Auch ihr fehlendes Projektmanagement rächt sich bei den Studienbewerberinnen und Studienbewerbern immer mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der schwarz-gelbe Vorschlag einer Privatisierung der HIS-Softwaresparte hilft aus unserer Sicht nicht weiter. Wir halten das für ein Ablenkungsmanöver. Das Zulassungschaos wird damit nicht beendet, sondern droht nochmals verlängert zu werden. (Monika Grütters [CDU/CSU]: Richtig! -Genau!) Wenn man sich überlegt, welch ein Prozess bei solch -einer Privatisierung in Gang gesetzt wird, dann erkennt man: Das hilft doch nicht weiter. Der Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion überzeugt uns auch noch nicht. Natürlich gibt sich hier überhaupt niemand damit zufrieden, wenn die Softwareentwickler sagen, es gebe zum nächsten Wintersemester wohl nur einen Pilotbetrieb mit einigen wenigen Hochschulen. Aber der Vorschlag, zum jetzigen Zeitpunkt ein komplett neues Alternativverfahren zu erarbeiten, widerspricht doch den Äußerungen der Sachverständigen aus der -Anhörung des Bundestagsbildungsausschusses, wonach die Entwicklung von Alternativen oder eines Plans B zu weiteren Verzögerungen führe. Das wäre – auch da sind wir alle uns einig – das Letzte, was die Studienbewerberinnen und -bewerber jetzt brauchen können. Wir sollten stattdessen alle Kräfte bündeln, das heißt mehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen, Technik- und Datenschutzprobleme lösen und den Prozess des dialogorientierten Serviceverfahrens doch noch zu einem Erfolg führen. Ich glaube, wir sollten uns darauf konzentrieren, dass dieses dialog-orientierte Serviceverfahren am Ende funktioniert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die beste Medizin gegen immer höhere Zulassungsbeschränkungen ist es, deutlich mehr Studienplätze zu schaffen. Die klar nach oben korrigierte KMK-Prognose zeigt doch: Wir haben es nicht mit einem kurzzeitig vorhandenen Studierendenberg zu tun, sondern zum Glück mit einem dauerhaften Studierendenhochplateau. Wenn Ministerin Schavan ihren eigenen Hochschulpakt tatsächlich als atmendes System ansieht und ihn ernst nimmt, dann muss sie jetzt Gespräche mit den Ländern aufnehmen, um den Hochschulpakt auszuweiten und mehr Studienplätze zu schaffen. Wir brauchen mehr Studienplätze mithilfe des Hochschulpakts, eine funktionierende Hochschulsoftware für die Studienplatzvergabe und bundeseinheitliche Regeln zur Hochschulzulassung. Hier können wir, der Bundestag, gemeinsam etwas auf den Weg bringen. Endloses Zulassungschaos wäre jedenfalls für den Technologie- und Wissenschaftsstandort Deutschland blamabel. Dazu darf es nicht kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Hahn (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das dialogorientierte Serviceverfahren wurde entwickelt, um die Studienplatzvergabe sowie die Auswahl von Studierenden im Sinne der Hochschulen und der Studierenden zu vereinfachen. Mit dem Start des Systems soll das europaweit modernste Hochschulzulassungsverfahren an den Start gehen. Wie wir alle wissen, gibt es nun große Probleme bei der Anbindung zwischen den hochschuleigenen Softwaresystemen und dem DoSV. Zur Behebung dieser technischen Probleme versucht die HIS nun, die notwendigen Konnektoren zu entwickeln. Ziel ist es, im Wintersemester 2013/2014 das System endlich final einzu-führen. Zur Absicherung, dass dieser Termin dann hoffentlich auch eingehalten werden kann, ist für das Wintersemester 2012/2013 die Implementierung eines Pilotprojekts vorgesehen. Es gibt also keinen Grund für die SPD, in ihrem Antrag die ohnehin gesetzten Fristen noch einmal einzufordern. Wir alle – nicht nur Sie von der SPD – waren enttäuscht und auch sehr verärgert darüber – und das sind wir auch weiterhin –, dass allen Zusagen der Verantwortlichen zum Trotz der Zeitplan zum wiederholten Male nicht eingehalten werden konnte. Natürlich fragt man sich, wie solche Verzögerungen und Fehleinschätzungen zustande kommen können. Aber zur Lösung des aktuellen Problems trägt die Antwortsuche allein nicht bei. Die Suche nach einem Sündenbock wird die technischen Probleme dieses sehr komplexen Systems nicht lösen. Vielmehr ist es jetzt wichtig, dass wir alle gemeinsam an diesem Projekt festhalten. Denn für die Zukunft unserer Hochschulen ist dieses effiziente System von enormer Bedeutung; allein mehr Geld reicht hier nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass das dialogorientierte Serviceverfahren an sich schon sehr gut funktioniert. Die 15 Millionen Euro des Bundes sind nicht einfach versickert. Es geht nun lediglich darum, die Schnittstellenproblematik zu lösen. Insgesamt bietet das neue Verfahren gegenüber der derzeitigen Situation für alle Beteiligten, also sowohl für Studienanfänger als auch für die Hochschulen, immense Vorteile, und die Kultusministerkonferenz – das wurde schon erwähnt – prognostiziert, dass in den kommenden Jahren bis 2020 mit einem absoluten Anstieg der Zahl der Studienanfänger zu rechnen ist. So werden 2013 knapp 490 000 Studienanfänger an den Hochschulen -erwartet. Im Studienjahr 2011 betrug der Zuwachs deutschlandweit ganze 16 Prozent. In Bayern sind sogar 32 Prozent mehr als im Jahr 2010 zu verzeichnen gewesen. Selbst wenn man die Effekte durch die doppelten -Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflicht -berücksichtigt, zeigen die Zahlen, dass wir mit unserer bisherigen Hochschulpolitik mit dem Ziel, die Anzahl der Studierenden zu erhöhen, und auch der angestrebten Neuregelung der Studienplatzvergabe auf dem richtigen Weg sind. Die Politik steht vor der Aufgabe, durch einen effi-zienten Einsatz der Ressourcen dieser steigenden Zahl von studierwilligen jungen Menschen gerecht zu werden. Das dialogorientierte Serviceverfahren kann zur Entschärfung der Zulassungssituation in den überfüllten Studiengängen erheblich beitragen. Wesentliche Vorteile sollen darin bestehen, dass durch das DoSV ein hocheffizientes und zentrales Vergabeverfahren organisiert werden kann, ohne dass in die Autonomie der Hochschulen eingegriffen werden muss. Des Weiteren werden den Studierenden bei der Studienplatzwahl viele Freiheiten eingeräumt. Genau diese positiven Änderungen für die Studierenden und Hochschulen hatten uns dazu veranlasst, vonseiten des Bundes 15 Millionen Euro als Anschubfinanzierung bereitzustellen, obwohl dies eigentlich in die Zuständigkeit der Länder gefallen wäre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Länder haben sich wiederholt zur weiteren Finanzierung bekannt. Das schließt auch die Kosten für die notwendigen Konnektoren ein. Deshalb sehe ich keinen Grund für eine Änderung, und ich verstehe auch nicht, warum die SPD nun erneut Forderungen nach weiteren Bundesmitteln stellt. Dass es hier überhaupt kein Gerangel um Zuständigkeiten gibt – und schon gar keine Zweifel an der Finanzierung des Projekts insgesamt –, hat Staatssekretär Rachel schon im November 2011 klar-gemacht. Mir drängt sich daher eher ein bisschen der Verdacht auf, dass mit dieser kurzsichtigen Forderung nur eines erreicht werden soll: die Entlastung der leeren und maroden Kassen der SPD-geführten Bundesländer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Lachen bei der SPD – Klaus Hagemann [SPD]: Ach Gott!) – Die laute Reaktion zeigt, dass der Nerv getroffen ist. Auch die Einführung des „Typs D“ als Notfallplan, wie von der SPD in ihrem Antrag skizziert, ist aus meiner Sicht nicht durchsetzbar; das wird auch von den Hochschulen abgelehnt. Auch dieses System würde aufgrund seiner technischen Komplexität nicht vor dem Wintersemeser 2014/2015 zum Laufen gebracht werden können, (Zuruf des Abg. Willi Brase [SPD]) und ich möchte mir auch gar nicht ausmalen, wie sehr die Einführung des „Typs D“ zu weiteren Unsicherheiten bei den Universitäten führen würde. Vor allem für kleinere Hochschulen mit einer überschaubaren IT-Abteilung wäre die Einarbeitung in ein weiteres Zulassungsverfahren mit einem erheblichen finanziellen und zeitlichen Aufwand verbunden, ganz abgesehen von den Daten-sicherheitsrisiken, auf die die Kollegin Prof. Rüttgers – (Zuruf von der SPD: Der wurde in NRW schon abgewählt!) – Grütters – schon hingewiesen hat. Dem Antrag der SPD kann ich daher nicht zustimmen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Klaus Hagemann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße insbesondere die vielen jungen Leute, die heute dieser Debatte folgen, herzlich willkommen; denn bei dieser Diskussion geht es auch um ihre Zukunft. Ich möchte das aufgreifen, was der Kollege Gehring bereits angesprochen hat. Die Zuständigkeitsdebatte bringt keine Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Nein!) Herr Kollege Hahn, Sie haben auf die leeren Kassen in den SPD-geführten Ländern verwiesen. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, was in Schleswig-Holstein und -einigen großkoalitionärgeführten Ländern los ist. Herr Kollege Neumann, das Problem ist: Man kann nicht über Steuersenkungen reden (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) – doch, die FDP hat das getan – und dann den Ländern das Geld wegnehmen, damit Sie Ihren Verpflichtungen nachkommen können. (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Nein, die Länder sollen einfach ihre Aufgaben machen!) Herr Neumann, Ihr Tun passt nicht zur Situation. Schon seit 2008 reden wir über das dialogorientierte Serviceverfahren, und nun endet alles im Chaos. Wir haben dieselbe Situation wie damals im Jahre 2008, als wir in der Großen Koalition damit begonnen haben, etwas in Bewegung zu setzen. Aber nichts ist geschehen. Immer noch werden 16 000, 18 000, 20 000 Studienplätze im Jahr nicht besetzt, und das trotz der steigenden Zahl der Studierwilligen. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Kommen Sie doch einmal auf das Problem zurück!) Da liegt doch der Hase im Pfeffer. Hier muss angesetzt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Handelsblatt hat es kürzlich sehr treffend ausgedrückt: Das Bewerbungsverfahren ist immer noch ein Glücksspiel. Das ist der richtige Ausdruck. Man könnte auch sagen: Ohne Spesen nichts gewesen; denn bisher ist dem Parlament noch nichts vorgelegt worden. Das Schwarze-Peter-Spiel, das Sie hier betreiben, ist unangebracht. (Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie betreiben das! – Ewa Klamt [CDU/CSU]: Die Länder sind -zuständig!) Sie schieben dem HIS, dem Hochschulinformationssystem, die Schuld zu. Herr Staatssekretär Braun, soweit ich weiß, ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Aufsichtsrat der HIS vertreten, (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hört! Hört!) und trotzdem haben Sie keine Initiative ergriffen; -dabei stellen Sie sogar den Aufsichtsratsvorsitzenden. Ich frage Sie: Wo war das Krisenmanagement von Frau Schavan? Wo war das Krisenmanagement Ihres Ministeriums, Herr Staatssekretär Braun? Diese Fragen sind -zu stellen. Wir müssen uns intensiv um dieses Thema -kümmern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Süddeutsche Zeitung hat gestern von einem miserablen Krisenmanagement gesprochen. Dem kann ich mich nur anschließen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Was ist mit den Ursachen?) Sie haben in den zurückliegenden Wochen und Monaten immer wieder gesagt: Es ist alles in Ordnung, es läuft -alles sehr gut. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!) Frau Grütters hat eben am Anfang der Debatte ähnlich gesprochen. (Monika Grütters [CDU/CSU]: Nein! Nein! Zuhören!) – Hören Sie doch einmal zu. Ich habe im Dezember des vergangenen Jahres eine Frage zum aktuellen Stand hinsichtlich der Einführung des dialogorientierten Serviceverfahrens gestellt. Da hieß es noch: Wir sind noch in der „laufenden Bestellphase“. Das ist ein wörtliches -Zitat aus einer Antwort des Bundesbildungsministe-riums. Wir haben Ende Februar dieses Jahres erneut -danach gefragt. Die Antwort macht deutlich: In der „Braunschweiger Straße“, im Bildungsministerium, ist man im Tal der Ahnungslosen, Herr Kollege Staatssekretär Braun. (Monika Grütters [CDU/CSU]: Das ist die Hannoversche Straße! Macht aber nichts! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Die falsche Hausnummer!) Wir haben gefragt: Wie viel unbesetzte Studienplätze gibt es im Wintersemester 2011/2012? Antwort: „Das liegt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung noch nicht vor.“ Wo ist denn Ihr Plan B für das Zulassungsverfahren, damit es wenigstens im nächsten Semester, das vor der Tür steht, einigermaßen läuft? (Beifall bei der SPD) Wir haben weiterhin gefragt: Wie viele Hochschulen sind technisch angebunden oder können angebunden werden? Antwort: „Eine Überprüfung beginnt erst am 27. Februar“, also vor 14 Tagen. Man sieht: Das Tal der Ahnungslosen; so ist es doch! Wir haben auch nach -zusätzlich zur Verfügung gestellten Mitteln gefragt; denn wenn der Bund für das Krisenmanagement zuständig ist, dann müssen auch entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Länder nicht ausgeblutet werden. Hier ist Handlungsbedarf vonseiten des Bundes -gefragt, hier müssen die Maßnahmen zusammengeführt werden. Das Krisenmanagement – Kollege Schulz hat es die Steuerung genannt – muss beim Bundesministerium liegen; denn wir sollten auch an den volkswirtschaftlichen Schaden denken, der dadurch entsteht, dass jedes Jahr 18 000 bis 20 000 Studienplätze nicht besetzt sind, und zwar gerade in den Bereichen, in denen wir Fachkräfte mit Masterabschlüssen brauchen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist doch der entscheidende Punkt. Wir haben das einmal hochgerechnet: In fünf bis sechs Jahren können dadurch 600 bis 800 Millionen Euro volkswirtschaftlicher Schaden entstanden sein. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Klaus Hagemann (SPD): Ich komme zum Ende. – Wer von der Bildungsrepu-blik spricht, der muss auch hier entsprechend handeln und darf nicht schon am elektronischen Hochschulzulassungsverfahren scheitern. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes – Drucksache 17/8235 – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – Drucksache 17/8867 – Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Bernd Scheelen Dr. Daniel Volk Dr. Gerhard Schick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antje Tillmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Titel des Basisgesetzes des -Gesetzentwurfs, den wir heute beraten – Gemeindefinanzreformgesetz –, erweckt den Eindruck einer umfangreichen Reform der der Gemeinde zur Verfügung stehenden Finanzen. Tatsächlich wird mit diesem Gesetz weder eine neue Einnahmequelle eröffnet noch eine Steuer in ihrer Höhe verändert. Es geht um die Verteilung des rund 27,6 Milliarden Euro hohen Gemeindeanteils an dem Einkommensteuer- bzw. Lohnsteueraufkommen auf die einzelnen Gemeinden. Nach Art. 106 unseres Grundgesetzes sind die Länder verpflichtet, an ihre Gemeinden einen Anteil am Aufkommen der Einkommensteuer auf der Grundlage der Einkommensteuerleistungen ihrer Einwohner weiterzuleiten. Diese Regelung in unserer Verfassung hat den Sinn, einen Zusammenhang zwischen Bürger und Gemeinde herzustellen. Ähnlich wie bei der Gewerbesteuer, bei der es um das Verhältnis zwischen Gewerbebetrieb und Gemeinde geht, ist es bei der Einkommensteuer: Der Einkommensteuerzahler soll ein Verhältnis zu seiner Gemeinde haben. Deshalb die Abhängigkeit von der Einkommensteuerleistung. Um das Gefälle zwischen Gemeinden mit sehr hohen Einkommensteuerzahlungen und Gemeinden mit eher einkommensschwachen Bürgern nicht extrem werden zu lassen, hat man bei der Einführung des Gemeindereformgesetzes bestimmte Höchstbeträge hinsichtlich der zu versteuernden Einkommen eingeführt: 30 000 Euro für Alleinstehende und 60 000 Euro für zusammenveranlagte Ehegatten. Diese Grenzen sind seit 2006 nicht mehr erhöht worden. Die Einkommensentwicklung ist positiv. Deshalb ist eine Anpassung dieser Höchstgrenzen erforderlich, um der Verfassung Genüge zu tun. Der heute vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, diesen Höchstbetrag auf 35 000 bzw. 70 000 Euro zu erhöhen. Wir haben sehr intensiv, sowohl im Finanzausschuss als auch in der Unterarbeitsgruppe Kommunales, über die Auswirkungen gesprochen. Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und des Finanzministeriums haben uns gegenüber dargelegt, dass es auch bei den Gemeinden, die aufgrund des Gott sei Dank gestiegenen Einkommensteueraufkommens einen Anteil abgeben müssen, nicht zu Mindereinnahmen kommen wird. Probleme kann es aber durchaus bei größeren Städten mit einkommensschwachen Bürgerinnen und Bürgern geben. Auf diese müssen wir weiterhin unser Augenmerk richten. Mit Bundesgesetzen wie dem Bildungs- und Teilhabepaket und der dauerhaften Übernahme der Kosten der Grundsicherung haben wir gerade diesen Städten eine erhebliche Entlastung verschafft. Aber auch bei den weiteren Bundesgesetzen müssen wir unser Augenmerk gerade auf die Städte mit einkommensschwachen Bewohnern richten. Ich bin sicher, dass wir die Auswirkungen von Bundesgesetzen weiterhin genau beachten werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Das ist der eigentliche Teil des Gesetzentwurfs. Wir haben den Gesetzentwurf im Laufe der Zeit um drei weitere Punkte ergänzt. Zum einen geht es um die Aufhebung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Pferde. Das hat mit Gemeinden nichts zu tun. Es liegt eher an dem zeitlichen Ablauf, dass diese Änderung des Umsatzsteuergesetzes an diesen Entwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes angehängt wurde. Dies war erforderlich, weil der EuGH, der Europäische Gerichtshof, uns im vergangenen Jahr darauf hingewiesen hat, dass das deutsche Mehrwertsteuerrecht hinsichtlich des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Pferde nicht mit der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie vereinbar ist. Der EuGH ermahnt uns, unter dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz nur noch Tiere zu erfassen, die zur Herstellung von Nahrungs- oder Futtermitteln oder zum Einsatz in der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmt sind. Künftig müsse bei der Veräußerung von anders genutzten Pferden ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent gelten. Wir haben im Berichterstattergespräch sehr intensiv darüber beraten, wie wir das Urteil des EuGH möglichst eng umsetzen, um die Forst- und Landwirtschaft nicht zu belasten. Tatsächlich gibt es aber keine einfachen Kriterien, nach denen man sagen kann, dass ein Pferd in der Landwirtschaft genutzt wird. Die Zahl der Pferde, die in Deutschland gegessen werden, ist mit 0,01 Prozent aller Pferde sehr gering, sodass man eine Ausnahme hier nicht rechtfertigen könnte. (René Röspel [SPD]: Sehr lecker mit Klößen und Soße!) Im Berichterstattergespräch haben wir eine sehr aufschlussreiche Debatte über die Essgewohnheiten in Deutschland geführt. So haben wir zum Beispiel erfahren, dass Esel und Maultiere so gut wie gar nicht, Brieftauben hingegen in manchen Gegenden in Deutschland häufig gegessen werden. (René Röspel [SPD]: Die schmecken aber nicht!) – Ich kann nicht beurteilen, ob die Tauben schmecken. – Uns wurde jedenfalls dargelegt, dass, glaube ich, in Baden-Württemberg durchaus ein Grund für den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bei Brieftauben gegeben ist, weil sie dort tatsächlich als Nahrungsmittel dienen. Auch wenn sich das ganz amüsant anhört, zeigt es einmal mehr, dass die Liste der Dinge, die unter den ermäßigten Mehrwertsteuersatz fallen, dringend reformbedürftig ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich ist darüber diskutiert worden, ob neben Pferden auch Esel und Maultiere demnächst nicht mehr unter den ermäßigten Steuersatz fallen. Wir müssen diese Liste im Umsatzsteuergesetz reformieren. Eine umfassende Reform konnten wir jetzt aber nicht abwarten, da die Europäische Kommission uns abgemahnt hat – es gab bereits eine Fristverlängerung –, sodass wir dieses Urteil des EuGH zum 1. Juli 2012 umsetzen müssen. Eine komplette Renovierung der Anlage zu § 12 des Umsatzsteuergesetzes ist aber dringend erforderlich. In einem weiteren Punkt folgen wir Anregungen aus der Finanzverwaltung. Die Finanzbeamten hatten von sich aus festgestellt und an uns herangetragen, dass die Steuerfreiheit der Vorteile von Arbeitnehmern aus der privaten Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlassener Software nicht mehr den Gegebenheiten entspricht. Seit 2000 ist nach dem Einkommensteuergesetz die Überlassung von Personal Computern steuerfrei. Jeder von uns, der mit Computern umgeht, weiß, dass die alten Personal Computer größtenteils längst durch moderne Datenverarbeitungs- und Kommunikationsgeräte abgelöst wurden. Zudem ist die Software, die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird, häufig sehr viel mehr wert als die Hardware, sodass wir uns entschieden haben, die Steuerfreiheit auf moderne Hard- und Software auszudehnen und auch die in diesem Zusammenhang erbrachten Dienstleistungen steuerfrei zu stellen. (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sehr vernünftig!) Wir wollen damit Rechtssicherheit bei Betriebsprüfungen mit Blick auf die Lohnsteuer schaffen. Es ist ausgesprochen schwierig, die private Nutzung eines vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Computers abzurechnen. Kein Mensch wird verlangen, eine Art Fahrtenbuch für die Computernutzung einzurichten; der private Anteil ist daher schwer zu schätzen. Darüber hinaus wollen wir fördern, dass Arbeitgeber ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen, von zu Hause aus zu arbeiten. Wenn sie die entsprechende Technik zur Verfügung stellen, könnte es für beide Seiten eine Win-win-Situation sein. Gerade im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wollen wir, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Heimarbeitsplätze fördern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Willi Brase [SPD]: Dann brauchen wir mehr Breitband!) – Dann brauchen wir mehr Breitband, einverstanden. Ich glaube, das ist eine Gesamtstrategie; jetzt gerade geht es um Steuerfreiheit. Wir können auf die geänderten Bedingungen reagieren, indem wir die Regelungen vereinfachen und sagen: Alle Computertechniken einschließlich der Software, die der Arbeitgeber zur Verfügung stellt, werden lohnsteuerfrei gestellt. Dabei muss kein privater Anteil versteuert werden. Ich will aber nicht verhehlen, dass es auch eine breite Diskussion über möglichen Missbrauch gegeben hat. Als Beispiel wurde genannt, dass man versuchen könnte, dem Betriebsprüfer eine Spielkonsole als Betriebsmittel unterzujubeln. Sollte es zu Missbrauch kommen, werden wir diese Regelung überdenken müssen. Von daher appelliere ich an all diejenigen, die damit zu tun haben: Gehen Sie vernünftig damit um, damit wir diese Vereinfachung zugunsten der Steuerbürger durchsetzen können und Steuervereinfachung an anderer Stelle folgen kann. Ein weiterer Punkt in dem Gesetzentwurf befasst sich mit der Dividendenbesteuerung, mit dem Schachtelprivileg. Hier reagieren wir auf ein BFH-Urteil. Dieser hat im letzten Jahr geurteilt, dass Dividenden, die von ausländischen Kapitalgesellschaften an inländische Kapitalgesellschaften gezahlt werden und nach einem Doppelbesteuerungsabkommen steuerfrei gestellt sind, bei hybriden Gesellschaften wie der Kommanditgesellschaft auf Aktien oder der stillen Beteiligung dem persönlich haftenden Gesellschafter selbst dann steuerfrei zufließen, wenn es sich um eine natürliche Person handelt. Sie können sich vorstellen, dass wir zu diesem Thema ein eigenes Fachgespräch durchgeführt haben; das ist nämlich eine schwierige Materie. Wir haben es von dem anderen Teil des Gesetzes abgekoppelt, um die Situation der Gemeinden intensiv beraten zu können und zu vermeiden, dass sie in der allgemeinen Diskussion untergehen. Nach deutschem Recht ist die Dividende der natürlichen Person und nicht der Kapitalgesellschaft zuzurechnen. Das sogenannte Schachtelprivileg in den Doppelbesteuerungsabkommen würde dazu führen, dass es zu gar keiner Besteuerung kommt. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Alle Sachverständigen haben in der Anhörung bestätigt, dass Doppelbesteuerungsabkommen den Sinn haben, doppelte Besteuerung zu verhindern, und nicht den Sinn, Nichtbesteuerung zu erzeugen. Alle Sachverständigen hielten diese Regelung für nicht sachgerecht. Aber auch die heute von uns vorgeschlagene Lösung, trotz der Doppelbesteuerungssteuerfreiheit in § 50 d des Einkommensteuergesetzes eine Besteuerung vorzusehen, haben die Sachverständigen massiv kritisiert. Auf unsere Aufforderung, uns eine andere Formulierung vorzuschlagen oder andere Lösungsvorschläge zu machen, hat leider kein einziger Sachverständiger reagiert, sodass wir zum ursprünglichen Gesetzestext zurückgekehrt sind. Wir werden über § 50 d des Einkommensteuergesetzes eine Besteuerung der Kapitalerträge sicherstellen, weil wir verhindern wollen, dass durch Rechtsgestaltungen am Finanzamt vorbei Steuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe verursacht werden. Wir glauben, Nichtbesteuerung ist keine Steuergerechtigkeit. Außerdem können wir nicht auf jahrelange Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen warten. Wir handeln heute und sofort, damit Bund, Länder und Kommunen die Steuern, die ihnen zustehen, tatsächlich bekommen. Gleichzeitig haben wir das Bundesfinanzministerium beauftragt, dieses Thema in künftigen Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen zu problematisieren und nach Möglichkeit darauf hinzuwirken, dass die Dividenden bei natürlichen Personen in den Doppelbesteuerungsabkommen nicht der Steuerfreiheit unterliegen. Außerdem befasst sich – hoffentlich noch in diesem Jahr – eine Arbeitsgruppe des Bundesfinanzministeriums mit der Reform der Besteuerung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, der KGaA, bei der es häufig zu steuerrechtlichen Problemen kommt. Wir hoffen, dass wir es schaffen, eine einfachere und rechtssichere Regelung zu treffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich bin froh, dass wir uns in diesem Punkt verhältnismäßig einig waren. Ich hoffe, heute wird auch am Abstimmungsverhalten abzulesen sein, dass wir uns darin einig sind, Steuersparmodelle ausschließen zu wollen. Wir wollen, dass Steuergerechtigkeit herrscht. An dieser Stelle gab es eine Lücke. Diese Lücke werden wir mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf schließen. Damit stellen wir sicher, dass die Besteuerung in Deutschland nicht von Tricksereien und rechtlichen Gestaltungen abhängt, sondern dass tatsächlich jeder zur Besteuerung herangezogen wird. Ich freue mich, dass wir diesen Gesetzgebungsprozess heute abschließen. Damit geben wir den Gemeinden Finanzierungssicherheit und stellen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Hinblick auf die Lohnsteuer Rechtssicherheit her. Außerdem werden wir, was hybride Gesellschaften betrifft, eine Gestaltungslücke schließen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Bernd Scheelen (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Tillmann, ich fürchte, die heutige Debatte wird nicht besonders strittig. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist ja schön! – Antje Tillmann [CDU/CSU]: Etwa weil ich Sie überzeugt habe?) Ich streite mich ja gern mit Ihnen; das wissen Sie. Auch mit Frau Dr. Reinemund streite ich mich gern. Es macht nämlich Spaß, sich mit Ihnen zu streiten. Aber über die Punkte, um die es heute geht, brauchen wir uns nicht zu streiten. Das hat für den Staatssekretär folgenden Vorteil: Da er den ersten Teil Ihrer Rede, in dem es um den Kern des Gemeindefinanzreformgesetzes ging, nicht hören konnte, werde ich die wesentlichen Aspekte wiederholen. Sie sagen mir dann, ob das, was ich vortrage, richtig ist oder nicht. (Beifall bei der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Genau! Damit es alle begreifen! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ach! Darauf können Sie auch verzichten, Herr Scheelen!) – Nein. Ich glaube, das ist angesichts der Einigkeit, die wir am Ende feststellen werden, durchaus wichtig. Wenn die heutige Abstimmung so ausgeht wie die Abstimmung im Finanzausschuss, werden drei Fraktionen zustimmen. Allerdings werden sich zwei Fraktionen, obwohl sie großen Teilen des Gesetzentwurfes zustimmen, enthalten, weil sie gegen einzelne Teile Bedenken haben. Am Ende wird große Einigkeit herrschen. Das Erstaunliche ist: Dieses Vorhaben ist nicht strittig, obwohl es um relativ viel Geld geht. In diesem Jahr geht es um etwa 28 Milliarden Euro. Das ist der Anteil der Kommunen am Aufkommen der Lohn- und Einkommensteuer. Im Gesetz ist von 15 Prozent die Rede. Das entspricht für dieses Jahr, wie gesagt, einem Betrag von etwa 28 Milliarden Euro. Angesichts dieser Summe ist es schon erstaunlich, dass dieses Vorhaben nicht streitig ist. Der genannte Betrag steht Städten und Gemeinden zu; so steht es in Art. 106 Abs. 5 des Grundgesetzes. Die Frage ist nur: Wie verteilt man diese Summe? Wie verteilt man in diesem Jahr und in den Folgejahren 28 Milliarden Euro auf die etwa 12 500 Gemeinden in Deutschland? Die entscheidende Frage, wenn Geld zu verteilen ist, lautet ja immer: Wie sorgt man dafür, dass es dabei gerecht zugeht? Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit wäre, zu sagen: Wir verteilen das Geld nach der Kopfzahl. Das wäre eine relativ einfache Regelung, die allerdings nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen würde. Die zweite Möglichkeit besteht darin, nach dem tatsächlichen Aufkommen vor Ort zu verteilen. Auch das wäre möglich. Das Grundgesetz – Frau Tillmann hat es schon erwähnt – schreibt aber genau vor, dass auf der Grundlage der Einkommensteuerleistung der Einwohner zu verteilen ist. Eine Verteilung zu 100 Prozent könnte man also auch als grundgesetzkonform ansehen. Die Gesetzgeber von 1969, die das betreffende Bundesgesetz damals formuliert haben, waren sich aber einig, dass eine gewisse Glättung erforderlich ist, um zu verhindern, dass Gemeinden in Speckgürteln von einkommensstarken Einwohnerinnen und Einwohnern besonders profitieren, während strukturschwache Gebiete leer ausgehen. Deswegen hat man Kappungsgrenzen bei der Berechnung des Verteilungsschlüssels eingeführt – Sie haben das erwähnt –: 30 000 Euro bei Alleinverdienern und 60 000 Euro bei Doppelverdienern. Das heißt, alles, was an Einkommen darüber erzielt wird, wird bei der Berechnung des Schlüssels nicht mit berücksichtigt. Somit fließen im Moment etwa 50 Prozent des gesamten Aufkommens der Lohn- und Einkommensteuer nicht in die Berechnung des Schlüssels ein. Das ist ein Problem. Deshalb sieht der Gesetzentwurf vor, die Kappungsgrenzen anzuheben auf 35 000 Euro bzw. auf 70 000 Euro. Das bedeutet, dass dann 60 Prozent des gesamten Aufkommens in die Berechnung des Schlüssels einfließen. Das ist deutlich mehr Gerechtigkeit als vorher. Deshalb werden wir diesem Vorhaben zustimmen. Mit den vorgesehenen Regelungen wird auch den Vorgaben des Art. 72 des Grundgesetzes Rechnung getragen, der die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse immer noch als grundsätzliches Ziel beschreibt. Wenn die Kappungsgrenzen nicht aufgehoben würden, wenn wir an den jetzt geltenden Kappungsgrenzen festhalten würden, was man machen kann, würde das auch Folgen haben, wie es das Finanzministerium berechnet hat. Dann würden etwa 100 Millionen Euro aus dem gesamten Topf umverteilt, und zwar zulasten der großen und größeren Städte und zugunsten des ländlichen Raums. Das ist nicht gewollt. Deswegen ist die Verteilung nach dem neuen Schlüssel gerechter als die Verteilung nach dem jetzigen Schlüssel. Deswegen stimmen wir dem zu. Sie haben diesem Gesetzentwurf drei Regelungen angehängt, die mit dem eigentlichen Gemeindefinanzreformgesetz nichts zu tun haben. Dem haben übrigens fast alle Länder und die kommunalen Spitzenverbände zugestimmt. Die erste dieser drei Regelungen betrifft das Schachtelprivileg. Dabei geht es darum, ein Steuerschlupfloch, das durch ein Urteil des Bundesfinanzhofs geöffnet worden ist, wieder zu schließen. Es kann durchaus sein, dass Steuerausfälle in dreistelliger Millionenhöhe entstehen, wenn wir das nicht tun. Das heißt, wir sind aufgefordert, schnell zu handeln, um das Steuersubstrat zu erhalten. Wenn es darum geht, Steuerschlupflöcher zu schließen, hat die Koalition uns immer an ihrer Seite. Wir stimmen diesem Vorhaben zu. (Beifall bei der SPD) Die zweite Regelung in diesem Omnibus, den Sie benutzt haben, betrifft die Steuerfreiheit für vom Arbeitgeber an Arbeitnehmer überlassene Software. Dabei setzen Sie auf die Regelung auf, die Rot-Grün im Jahr 2000 für die Hardware getroffen hat. Das war damals alles noch relativ neu. Damals war noch von Personal Computern die Rede. Manche Firmen haben ihren Arbeitnehmern so etwas gestellt und mit entsprechender Software ausgestattet. Das war steuerfrei. Mittlerweile geht die Tendenz dahin, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eigene PC zu Hause haben, also eigene Datenverarbeitungsgeräte. Die Frage ist, ob die in diesem Fall gestellte Software besteuert werden soll oder nicht besteuert werden soll. Wir halten es ebenso wie Sie für richtig, dies steuerfrei zu stellen, weil eine Trennung zwischen privater und beruflicher Nutzung völlig unmöglich ist. Das ist auch ein wichtiger Beitrag zur Steuervereinfachung. Die dritte und letzte Regelung, die Sie an diesen Gesetzentwurf angehängt haben, betrifft die Aufhebung des 7-prozentigen Umsatzsteuersatzes für Pferde. Dabei kommen Sie einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Mai 2011 nach; denn dieser Steuersatz verstößt gegen die Richtlinie über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem. Ein 7-prozentiger Umsatzsteuersatz wäre nur dann zulässig, wenn die Pferde verspeist würden. Pferde werden in Deutschland aber meistens zum Reiten genutzt. (René Röspel [SPD]: Sauerbraten mit Klößen und Soße!) – Das ist nicht ganz so meine Sache. Wir haben aber gerade von Frau Tillmann gehört, dass nur 0,1 Prozent der Nahrung dienen. Das ist somit ein zu vernachlässigender Anteil. Deswegen soll die Besteuerung des Handels mit Pferden auf 19 Prozent angehoben werden. Ich finde, das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit den Eseln gegenüber. Frau Tillmann, anders als Sie es hier gesagt haben, lauten meine Informationen, dass der Handel mit Eseln bisher auch schon mit 19 Prozent besteuert wurde. Wenn sich aber zum Beispiel ein Pferdehengst mit einer Eselstute kreuzt und daraus ein Maulesel entsteht, dann unterliegt der Handel mit diesem Tier einer Umsatzsteuer von 7 Prozent. Genauso ist es bei umgekehrten Vaterschafts- und Mutterschaftsverhältnissen. Ich glaube, die Esel finden es ganz gut, dass der Handel mit Pferden jetzt auch mit dem Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent belegt wird. Insofern ist das also eine Frage der Gerechtigkeit. (Heiterkeit des Abg. René Röspel [SPD]) Letzte Anmerkung. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag niedergeschrieben – jetzt komme ich doch noch zu einem etwas strittigen Punkt –, dass Sie sich mit der Mehrwertsteuer auseinandersetzen wollen. Es geht um die Frage, ob sie jeweils 7 Prozent oder 19 Prozent betragen soll. Hier bestünde Reformbedarf. Das ist sicherlich richtig. Dazu haben Sie eine Kommission eingesetzt, die hochkarätig besetzt ist. Sie besteht aus drei Ministern – Herrn Schäuble, Herrn Rösler und Herrn Pofalla – und drei Generalsekretären – Herrn Döring, Herrn Dobrindt und Herrn Gröhe –, die das richten sollen. Allerdings stellen wir fest, dass sich diese Kommission bis heute immer noch nicht wenigstens konstituiert hat. (Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Ja, sehr bedauerlich!) Die Begründung sind Terminprobleme. Da Sie das in zweieinhalb Jahren nicht hinbekommen haben, frage ich mich, wie Sie das in dem einen Jahr noch schaffen wollen. Tun Sie also etwas! Haben Sie Mut! Setzen Sie diese Kommission ein! Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Bernd Scheelen. Wir hätten zwar gerne noch ein paar Beispiele gehört, aber die Redezeit war zu Ende. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kollegin Frau Dr. Birgit Reinemund für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Birgit Reinemund (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes wird von einer breiten fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen – wir haben es mehrfach gehört –, sowohl auf Länderebene als auch hier im Bundestag. Auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben ihre Zustimmung signalisiert. Einen so großen Konsens erleben wir hier nicht oft, sodass ich dies ganz zu Beginn meiner Rede hervorheben möchte: Die Politik kann durchaus – abseits von allen medienwirksamen Querelen – gemeinsam Gutes auf den Weg bringen. (Peter Götz [CDU/CSU]: Das kommt nicht in den Medien!) Ich wünschte mir, dass dies auch bei weiteren gemeinsamen Herausforderungen möglich wäre: bei der Energiewende, bei der Bewältigung der Finanzkrise und aktuell bei der inhaltlich genauso unstrittigen Abstimmung über den Fiskalpakt. Oder ist Ihnen bei der Verankerung der Schuldenbremse in fast allen europäischen Mitgliedstaaten eine ähnlich positive gemeinsame Haltung und Signalwirkung nichts wert? Wollen Sie wirklich diese historische Chance auf mehr Stabilität und weniger Schulden parteipolitischem Geschachere opfern, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD? (Beifall bei der FDP) Solche Spielchen sind hier einfach fehl am Platz. (Beifall bei der FDP) Doch zurück zum Gemeindefinanzreformgesetz. Wir beraten über die Anpassung des Verteilungsschlüssels für den Gemeindeanteil an der Lohn- und Einkommensteuer der einzelnen Kommunen. In diesem Gesetzgebungsverfahren ist die Bundesregierung lediglich Moderator zwischen den Ländern und Kommunen – ohne eigenes finanzielles Interesse. Die Länder haben sich in Abwägung aller Interessen auf einen fairen Ausgleich geeinigt. 9 von 13 Flächenländern stimmten dem vorliegenden Vorschlag zu. Warum war das Ganze notwendig? Den Gemeinden stehen 15 Prozent des Lohn- und Einkommensteueraufkommens zu. Im Jahr 2012 werden das aufgrund der guten Wirtschaftslage rund 27,6 Milliarden Euro sein. Der Bund und auch die Länder und Kommunen erwarten weiterhin Rekordeinnahmen. Die Verteilungsgrundlage für den kommunalen Einkommensteueranteil wird turnusmäßig auf der Basis einer neuen statistischen Grundlage errechnet. Genau das wird mit dieser Gesetzesänderung umgesetzt. Ziel ist die faire Verteilung anhand des örtlichen Einkommensteueraufkommens. Dies ist grundgesetzlich verankert. Auch das haben beide Vorredner schon angemerkt. Zudem sollen die Steuerkraftunterschiede zwischen den Gemeinden gleicher Funktion und Größe verringert und gleichzeitig das Steuergefälle zwischen großen und kleinen Gemeinden gewahrt bleiben. Das ist ein kniffliges Unterfangen. Umso notwendiger ist es, dass hier eine Einigung zwischen allen Akteuren herbeigeführt wurde und wird. Durch diese Anpassung werden die meisten Kommunen finanziell besser dastehen, manche – das sind eher die Ausnahmefälle – allerdings auch schlechter, vor allem strukturschwache Großstädte. Dies über den kommunalen Finanzausgleich abzufedern, liegt in der Verantwortung der Länder. Zusätzlich entlastet der Bund alle Städte und Gemeinden in nie dagewesener Höhe durch die Übernahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, beginnend ab dem Jahr 2012. Besonders die strukturschwachen Großstädte mit schwierigen Sozialstrukturen, die durch den neuen Verteilungsschlüssel eher mit Nachteilen zu rechnen haben, profitieren davon überdurchschnittlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie es gängige Praxis ist, haben wir an diese Gesetzesänderung, die heute in großem Konsens verabschiedet werden wird, einige kleine steuerliche Änderungen angeflanscht. (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD]) – Richtig, das ist nicht ideal. Es beschleunigt jedoch die Umsetzung zum Beispiel von Vorgaben der aktuellen Rechtsprechung, die nicht in einem eigenen Gesetz umgesetzt werden können. Mit der Aufhebung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Pferde reagieren wir auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Frau Tillmann hat es ausgeführt: Passen wir die nationalen Vorschriften nicht an das Unionsrecht an, droht ein EU-Vertragsverletzungsverfahren mit empfindlichen Strafen. Mit einer weiteren Neuerung passen wir das Steuerrecht an die sich verändernde gesellschaftliche und -geschäftliche Realität an. Arbeitgeber können künftig ihren Angestellten nicht nur PCs, sondern auch andere elektronische Endgeräte wie Smartphones und Tablet-computer und vor allem Software steuerfrei zur Nutzung überlassen. Das ist eine Steuerklarstellung und Steuervereinfachung, die unzählige Gerichtsprozesse, zum Beispiel um die steuerliche Bewertung von Home Offices, vermeidet. Flexiblen Arbeitsplätzen gehört die Zukunft, gerade vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Heute ist Weltfrauentag. Dem muss auch das Steuerrecht Rechnung tragen. Mit der Änderung des Einkommensteuergesetzes zur Beschränkung des steuerfreien Abzugs von Auslandsdividenden schieben wir der missbräuchlichen Ausnutzung des Schachtelprivilegs einen Riegel vor und schließen ein weiteres Steuerschlupfloch. Das ist ein weiterer Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit. Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen, danke für die überfraktionell gute Zusammenarbeit an diesem Gesetzentwurf und an den Zusatzpunkten. Schön, dass Politik so konstruktiv in der Sache sein kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Reinemund. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau Dr. Barbara Höll. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Höll. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes ist meiner Meinung nach nur ein weiterer Beleg für Ihre vermurkste Steuerpolitik. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Uns geht es aber gut!) Statt der jahrelang bewährten Tradition der Jahressteuergesetze, in welchen notwendige Steuerrechtsänderungen verschiedener Bereiche gebündelt werden, nehmen Sie ein Thema und packen einfach noch alles Mögliche dazu: Änderung des Verteilungsschlüssels bei der Einkommen- und Lohnsteuer, Umsatzsteuerregelung für Pferde, eine Prise steuerfreie Datenverarbeitungsgeräte und ein bisschen Schachtelprivileg mit Doppelbesteuerungsabkommen. Wer vermutet das alles in einem Gesetzentwurf zur Gemeindefinanzreform? Im Fokus des Gesetzentwurfs steht die Änderung des Verteilungsschlüssels bei der Lohn- und Einkommensteuerstatistik. Die Kommunen erhalten 15 Prozent des Aufkommens an der Lohnsteuer und der veranlagten Einkommensteuer. Die Verteilung erfolgt nach einem vereinbarten Schlüssel auf die einzelnen Gemeinden innerhalb des jeweiligen Landes. Dieser Schlüssel muss von Zeit zu Zeit angepasst werden. Das geschieht mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nach der Einkommensteuerstatistik von 2007. Allerdings bleibt eine Reihe von Fragen offen. Es klang schon an: Was ist mit den Kommunen mit über 200 000 Einwohnern? Die Bedenken der Landkreise konnten nicht ausgeräumt werden, und auch vier Bundesländer haben Bedenken angemeldet. Ein weiterer Punkt ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz für Pferde. Die Änderung ist nicht ganz freiwillig; es geht vielmehr – Frau Tillmann sagte es bereits – um die Umsetzung eines EuGH-Urteils. Um Strafzahlungen zu vermeiden, müssen wir eine Gesetzesanpassung vornehmen. Es gab dazu Überlegungen, bei der Anhebung des -ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auch zwischen Schlachtpferden und Holzrückepferden zu unterscheiden. Davon haben Sie zum Glück Abstand genommen. Der Handel mit Pferden wie mit Eseln wird in Zukunft dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen. (Beifall bei der LINKEN) Allerdings gilt für Maultiere – das heißt, die Mama ist ein Pferd und der Papa ein Esel – und Maulesel – die Mama ist ein Esel und der Papa ein Pferd – weiter der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Das ist sehr interessant. (Beifall bei der LINKEN) Damit geht die Flickschusterei weiter. Packen Sie endlich eine richtige Beurteilung und eine große, umfassende Reform der Mehrwertsteuer an. Dann haben Sie unsere Unterstützung. Das müssen Sie tun. (Beifall bei der LINKEN) Bevor ich zu der Frage der Datenverarbeitungsgeräte komme, erinnere ich noch daran, dass wir die von den Arbeitgebern den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen unentgeltlich oder verbilligt überlassene Software steuerfrei stellen wollen; gut. Außerdem erfolgt eine Definitionsänderung. Im Gesetz soll es jetzt nicht mehr „Personalcomputer“, sondern „Datenverarbeitungsgerät“ heißen. Ich unterstelle Ihnen schon, dass Sie das als Steuervereinfachung betrachten, glaube aber auch, dass damit der Steuerumgehung bzw. der Steuergestaltung das Tor weit geöffnet wird. Denn was ist ein Datenverarbeitungsgerät? Gehen Sie in den MediaMarkt oder zu Saturn. Heute ist jeder moderne Fernseher internetfähig und hat die entsprechenden Anschlüsse. Damit kann er selbstverständlich so genutzt werden. Selbst die PlayStation 3 ist ganz einfach als Abspielgerät für DVDs nutzbar. Das geht alles. Dadurch werden Arbeitgeber natürlich verführt, Lohnbestandteile nicht auszuzahlen und die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen, zu der sie dann auch als Arbeitgeber tatsächlich verpflichtet wären, einfach durch die Überlassung solcher Geräte zu umgehen. Das ist eine Steuergestaltung, die wir nicht wollen. (Beifall bei der LINKEN) Als letzter Punkt ist die Frage des Schachtelprivilegs zu nennen. Hier haben Sie mit unserer Unterstützung richtigerweise die Tatsache aufgegriffen, dass es in der letzten Zeit dort zu Steuergestaltungen gekommen ist. Sie versuchen jetzt, durch eine Neuregelung dieses Tor zu schließen. Das ist richtig. Ob es wirksam ist, werden wir erst sehen. Allerdings muss ich Ihnen Folgendes sagen, liebe Koalitionäre: Bei einer Umstellung von der angewendeten Freistellungsmethode auf die Anrechnungsmethode würde dieses Problem gar nicht erst entstehen. Insgesamt muss ich feststellen: Einige Ansätze in dem Gesetzentwurf sind gut. Das Ganze bleibt aber eine Flickschusterei. Deshalb werden wir uns enthalten. Ich fordere Sie auf, endlich eine seriöse Steuerpolitik zu machen. Dann haben Sie auch unsere Unterstützung. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll. – Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Britta Haßelmann. Bitte schön, Frau Kollegin Haßelmann. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für diejenigen, die heute hier zu Gast sind, oder für diejenigen, die vielleicht zuhören, verspricht der Titel „Gemeindefinanzreformgesetz“ in der Tat viel mehr, als wir hier diskutieren. Ich bin von mehreren gefragt worden: Was diskutiert ihr denn da heute alles? Frau Tillmann, sicherlich vermutet niemand, dass wir hier im Kern hauptsächlich über drei sachfremde Anhänge des Gesetzes sprechen. Deshalb will ich in meinen wenigen Minuten nur ganz kurz darauf eingehen. Beim Gemeindefinanzreformgesetz reden wir in der Tat über die Verteilung des Anteils der Kommunen an der Einkommensteuer und der Lohnsteuer. Hier muss aufgrund der gesetzlichen Vorgaben des Art. 106 Grundgesetz – Sie haben darauf hingewiesen – eine Veränderung erfolgen. Darüber ist selbstverständlich auch zwischen den kommunalen Spitzenverbänden, dem Bundes-rat und uns diskutiert worden. Wir würden diesem Kerngesetz zustimmen, weil wir wissen, dass wir aufgrund der Frage des Steuerkraftaufkommens nach Art. 106 GG hier natürlich eine Veränderung der Höchstgrenze vornehmen müssen. Das sehen wir auch so, obwohl uns bekannt ist, dass insbesondere den strukturschwachen Kommunen mit über 200 000 Einwohnern negative Folgen aus dieser Änderung der Höchstgrenze erwachsen werden. Wir alle im Deutschen Bundestag – darauf muss man ganz deutlich hinweisen – haben zu dieser Veränderungsschraube aber keine Alternative anzubieten. Deshalb haben wir gesagt: Diesem Kerngesetz könnten wir an dieser Stelle zustimmen, obwohl wir wissen, dass wir uns dem Thema der strukturellen Unterfinanzierung insbesondere der notleidenden großen Städte weiter widmen müssen und diese Problematik auch nicht durch die Grundsicherung im Alter behoben ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Punkt ist die Ausweitung der Steuerbefreiung der Vorteile des Arbeitnehmers aus der privaten Nutzung unentgeltlich oder verbilligt überlassener Software. Darauf will ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Der dritte Punkt ist die Frage der Auslandsdividendenbesteuerung und des Schachtelprivilegs. Auch hier haben wir in der Anhörung, im Berichterstattergespräch sowie im Finanzausschuss sehr intensiv fachlich diskutiert. Wir hätten uns gewünscht, dass wir Einzelabstimmungen dieser sehr verschiedenen Gesetze vornehmen. Dann hätten wir auch deutlich machen können, wie wir uns zu den einzelnen Fragen positionieren. Das war leider nicht vorgesehen. Deshalb komme ich jetzt zum Schluss auf den vierten Bereich zu sprechen. Das ist ein skandalöser Bereich. Dem sind Sie ausgewichen. Sie müssen hier etwas tun, weil Sie beim Thema Mehrwertsteuerreform überhaupt noch nicht in die Gänge gekommen sind. 2010 haben Sie von Schwarz-Gelb eine Mehrwertsteuerkommission eingerichtet. Nichts ist seitdem geschehen. Diese Kommission hat bis heute noch nicht einmal getagt, meine Damen und Herren. Sie tragen diese Kommission quasi vor sich her, nach dem Motto: Wir beseitigen die Mehrwertsteuerungleichgewichte und kümmern uns um das Phänomen der reduzierten und der vollen Mehrwertsteuersätze. – Diese Unterscheidung kapiert niemand. Kein Mensch kann sachlich erklären, warum es hier steuerliche Unterschiede gibt. Pferde und Maultiere wurden bereits als Beispiele genannt. Man kann in diesem Zusammenhang auch die Mehrwertsteuersätze für Sessellifte, Mineralwasser und stillen Sprudel ansprechen. Es ist eigentlich verrückt, dass hier bei der Mehrwertsteuer unterschieden wird. Sie wollten liefern. Hier schaue ich insbesondere Sie an, meine Damen und Herren von der FDP. Ihr Vorsitzender lässt kein Interview aus, um zu sagen: Wir liefern. – Aber Sie liefern nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie mussten im Rahmen Ihres Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Pferde aufheben, weil Sie vom Europäischen Gerichtshof unter Druck gesetzt worden waren. Sie hatten ein Jahr lang nichts getan und hätten nun mit Strafzahlungen rechnen müssen, wenn Sie das nicht geregelt hätten. Das alles ist darauf zurückzuführen, dass Sie in der Koalition keine Idee zur Reform der Mehrwertsteuer haben und zerstritten sind. Sie liefern nicht. Dabei könnten wir da, wenn wir endlich zu einer Lösung kämen, Steuereinnahmen generieren und Ungleichgewichte beseitigen. Wir fordern Sie auf, nicht nur Kommissionen einzurichten, sondern auch zu liefern. Das tun Sie seit 2010 nicht. Seitdem hat die Kommission nicht einmal getagt. Sie sind jetzt gefragt. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Britta Haßelmann. Wir sind am Ende dieser Aussprache; ich schließe sie nun. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/8867, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8235 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind wiederum die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Wieder die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung – Drucksache 17/8760 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einsetzung einer Expertenkommission zur -Sicherungsverwahrung – Drucksache 17/7843 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Burkhard Lischka. Bitte schön, Kollege Burkhard Lischka. (Beifall bei der SPD) Burkhard Lischka (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Neuregelung der Sicherungsverwahrung, über die wir heute Abend auf Antrag der SPD-Fraktion debattieren, ist wahrscheinlich das wichtigste rechtspolitische Vorhaben in dieser Legislaturperiode; denn es geht dabei um den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichsten Gewalt- und Sexualstraftätern. Das sagt sich so leicht: gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Aber welche konkreten Fälle sich dahinter verbergen, können wir Woche für Woche in unseren Gerichten verfolgen. So wurde vor wenigen Tagen die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen einen 69-jährigen Mann durch den Bundesgerichtshof bestätigt, der seit seiner Jugend mehrfach Frauen vergewaltigt und Kinder sexuell missbraucht hatte, bevor er sich zuletzt an einem fünfjährigen Nachbarskind vergangen hat. In der vergangenen Woche wurde die Sicherungsverwahrung gegen einen 41-Jährigen angeordnet, der als sogenannter Maskenmann drei Jungen ermordet und ebenfalls mehrere Kinder sexuell missbraucht hatte. Ein anderes, ebenfalls in der vergangenen Woche eröffnetes Verfahren beschäftigt sich mit einem Täter, der als Tod verkleidet nach der Vorlage eines Horrorfilms ein zwölfjähriges Mädchen in ihrem Elternhaus erstochen hat. Das sind die Fälle, um die es beim Thema Sicherungsverwahrung geht. Die Menschen verlangen von der Politik, und zwar vollkommen zu Recht, dass wir sie im Rahmen des rechtsstaatlich Möglichen vor solchen Tätern schützen, insbesondere dann, wenn die erhebliche Gefahr von Wiederholungstaten besteht. Deshalb sage ich deutlich: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben der Schutz und die Sicherheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger beim Thema Sicherungsverwahrung oberste Priorität. Das bedeutet, alles gesetzgeberisch Notwendige zu tun, damit psychisch gestörte Täter, bei denen die erhebliche Gefahr weiterer schwerster Gewalt- und Sexualdelikte besteht, nicht in die Freiheit entlassen werden. Konkret heißt das: Wir lehnen Pläne der Bundesjustizministerin ab, wonach künftig solche Täter in die Freiheit entlassen werden sollen, bei denen sich die Gefährlichkeit erst nach der Verurteilung, also im Verlauf der Strafhaft, herausstellt. Wer wie die Bundesjustizministerin einen Gesetzentwurf vorlegen möchte, der keine Regelung für solche Täter enthält, der nimmt bewusst eine erhebliche Sicherheitslücke in Kauf. Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie die große Mehrzahl der Bundesländer ernst und legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der in verfassungskonformer Weise die Möglichkeit einer nachträglichen Therapieunterbringung für solche Straftäter vorsieht. Alles andere wäre nur Stückwerk. (Beifall bei der SPD) Der Union biete ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich nochmals unsere Unterstützung an, hier eine gemeinsame Regelung im Sinne unserer Bürgerinnen und Bürger auf den Weg zu bringen; denn den Anspruch, möglichst viel Sicherheit für die Menschen in unserem Land zu schaffen, wollen wir nicht aufgeben. Das sind wir nicht zuletzt auch den Opfern von Gewalt- und Sexualdelikten schuldig. Ich empfehle Ihnen auch, im Rahmen einer Neuregelung die Sicherungsverwahrung auf den Personenkreis zu begrenzen, bei dem eine Sicherungsverwahrung notwendig ist, nämlich bei den Gewalt- und Sexualstraftätern. Straßenverkehrs- und andere Delikte taugen nicht für eine Sicherungsverwahrung. So etwas provoziert nur die Gefahr eines erneuten Scheiterns beim Bundesverfassungsgericht. Das wollen wir nicht, und das sollte auch nicht unser gemeinsames Ziel sein. (Beifall bei der SPD) Schließlich sage ich Ihnen auch: Machen Sie Ihre Hausaufgaben. Legen Sie dem Deutschen Bundestag schnell einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung vor. Es ist schon ein Skandal, dass inzwischen fast ein Jahr vergangen ist, seit das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass eine Neuregelung notwendig ist, und Sie haben es erst gestern geschafft, einen Gesetzentwurf in das Kabinett einzubringen. (Zuruf des Abg. Christian Ahrendt [FDP]) Die Bundesländer, Herr Ahrendt, haben Sie bereits im September vergangenen Jahres aufgefordert, das Gesetzgebungsverfahren spätestens bis Juni 2012 abzuschließen, weil es sonst kaum möglich sein wird, dass die Bundesländer noch innerhalb des Zeitrahmens, den das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich bis Mai 2013, ihre Landesgesetze verabschieden. Die Forderung der Bundesländer ist also, dass der Bund sein Gesetzgebungsverfahren bis Juni 2012 abschließt. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Das wird Ihnen wohl kaum gelingen, und zwar nur deshalb, weil sich Schwarz und Gelb in dieser Frage wieder einmal nicht einig sind. Mit jedem Tag, der von nun an ins Land geht, wächst die Gefahr, dass ab Mai 2013 höchst gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter nur deshalb in die Freiheit entlassen werden müssen, weil entsprechende gesetzliche Regelungen fehlen. Deshalb: Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr. Schließen Sie das Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene zügig ab. Sonst tragen Sie als schwarz-gelbe Bundesregierung die Verantwortung dafür, dass ab dem kommenden Jahr Schwerverbrecher in diesem Land herumlaufen. Das wäre wirklich der absolute Tiefpunkt der Rechtspolitik dieser Bundesregierung, eine absolute Bankrotterklärung, für die es dann auch keinerlei Entschuldigung mehr geben würde. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. – Für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ansgar Heveling. Bitte schön, Kollege Heveling. (Beifall bei der CDU/CSU) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten in dieser Woche zwei Anträge zum Thema Sicherungsverwahrung: erstens einen Antrag der Fraktion Die Linke, die eine Expertenkommission einsetzen möchte, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ein guter Vorschlag!) und zweitens einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, dessen Kernforderungen sind, zum einen eine weitere Beschränkung der Anlasstaten für die Sicherungsverwahrung und zum anderen eine Regelung der nachträglichen Therapieunterbringung vorzusehen. Sicherlich wollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, sich mit diesem Antrag auch ein wenig den Anstrich des Treibers der christlich-liberalen Koalition bei diesem im Detail sicherlich nicht ganz einfachen Thema geben. Der Verlauf dieser Woche aber zeigt, liebe SPD-Fraktion und lieber Herr Kollege Lischka – aus Ihren Worten hatte man den Eindruck, dass es noch nicht ganz bei Ihnen angekommen ist –: Wir sind keine Getriebenen. Wir brauchen uns nicht antreiben zu lassen, von Ihnen schon gar nicht. (Ingo Egloff [SPD]: Von wem denn sonst?) Ein entsprechender Gesetzentwurf ist in dieser Woche durch das Kabinett gegangen und liegt jetzt zur Beratung vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit diesem neuen Gesetz wird dafür Sorge getragen, dass auch zukünftig der Schutz der Bevölkerung vor hochgradig rückfallgefährdeten Schwerststraftätern gewährleistet wird. Ziel muss dabei sein, den – zugegebenermaßen – geringen politischen Spielraum, den uns das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch belassen haben, bestmöglich auszuschöpfen. Wir sollten also – das betone auch ich, ebenso wie Sie, Herr Kollege Lischka – die nächsten Wochen vor allem darauf verwenden, miteinander zu beraten, welche Schritte wir gemeinsam bei diesem Gesetzentwurf gehen können, so wie wir es seinerzeit auch schon beim Therapieunterbringungsgesetz getan haben. Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 stellt eine Abkehr der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung dar. In diesem Urteil hat das Verfassungsgericht die bisherigen Regelungen des Strafgesetzbuches zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Damit hat sich das Bundesverfassungsgericht an der Linie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientiert, der in seiner jüngsten Rechtsprechung die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung einer Strafe gleichgestellt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dem nun erstmals angeschlossen und uns als Legislative mit seiner jüngsten Entscheidung eine Reihe von Aufgaben auf den Weg gegeben: erstens ein Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung in Bund und Ländern zu entwickeln, zweitens dabei dem Abstandsgebot Rechnung zu tragen und drittens die Materie spätestens bis zum 31. Mai 2013 gesetzlich zu regeln. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir nun eine Grundlage, zügig gemeinsam darüber zu beraten, wie die Sicherungsverwahrung künftig ausgestaltet sein soll. Selbstverständlich gehören die in dem SPD-Antrag angesprochenen Punkte in diese Diskussion. Es sind allerdings nur zwei Aspekte von vielen anderen, die wir in den weiteren Beratungen beachten sollten. Selbstverständlich nehme ich für die CDU/CSU-Fraktion zu den in dem SPD-Antrag angesprochenen Punkten gerne schon heute Stellung. Soweit es um den Katalog der Anlasstaten geht, sehen wir keine Notwendigkeit, hier weitere Einschränkungen vorzunehmen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!) Zum einen wurden bereits mit der letzten Reform im Jahr 2010 – richtigerweise – die Anlasstaten beschränkt. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngsten Entscheidung keine weiteren Vorgaben für die Anlasstaten gemacht, und sie sind verfassungsrechtlich nicht beanstandet worden. Wir sehen daher keinen Grund, uns Gedanken über eine weitere Beschränkung der Anlasstaten zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit Blick auf die zweite Forderung, in einem neuen Gesetz zur Sicherungsverwahrung auch die nachträgliche Therapieunterbringung zu regeln, will ich nicht verhehlen, dass sich diese Forderung weitgehend mit den Überlegungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deckt. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das überrascht uns bedauerlicherweise nicht! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir nicht anders erwartet!) Auch ich bin der Auffassung, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der durch das Bundesverfassungsgericht eröffnete Spielraum in diesem Punkt noch nicht voll ausgeschöpft wird (Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) und insofern eine Schutzlücke bleibt. Wir müssen uns meiner Auffassung nach auch darüber Gedanken machen, wie mit Straftätern umzugehen ist, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während des Strafvollzuges herausstellt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Eine Regelung zu diesem Punkt ist ohne Zweifel diffizil, aber sicherlich nicht unmöglich. Hier wird in den nächsten Wochen sehr genau zu erörtern sein – zumal über den Bundesrat natürlich auch die Länder mit in die Diskussion einbezogen sind –, was zu tun ist. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen: Wir sollten in den Beratungen deshalb den gleichen Weg gehen, den wir zuletzt beim Therapieunterbringungsgesetz gegangen sind. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind dazu auch bereit. Leider verbleibt mir für den Antrag der Fraktion Die Linke nun nicht mehr ganz so viel Zeit. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Stimmen Sie der Expertenkommission zu?) Offen gestanden, sollte man über ihn ohnehin am besten schweigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein, Zustimmung zur Expertenkommission!) Mich machen jedenfalls einige Formulierungen in dem Antrag geradezu fassungslos. Das gilt etwa für die Passage, in der die Linke die Freiheit der Person so verabsolutiert, dass sie davon spricht – ich darf das hier einmal zitieren –: Das bedeutet aber auch, dass man bestimmte gesellschaftsimmanente Gefahren dieser Freiheit in Kauf nehmen muss. … Freiheit birgt Risiken. Die Freiheit ungerechtfertigt zu versagen, bedeutet jedoch eine solche Abkehr von den Grundwerten unserer Gesellschaft, dass die freiheitsimmanenten Risiken dieser in jedem Falle vorzuziehen sind. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Satz ist doch nicht ganz falsch! Da gibt es andere Sachen, die sind schlimm!) Als ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, was etwa Eltern eines Kindes, das Opfer eines schwerstkriminellen Rückfalltäters geworden ist, dazu sagen würden, wenn man ihnen mitteilte, dass sie doch nur ein berechtigtes Opfer für die Freiheit der Gesellschaft gebracht hätten. Ich kann bei diesen verqueren Gedanken, ehrlich gesagt, nur den Kopf schütteln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Da spricht unsere Verfassungsordnung – gottlob! – eine andere Sprache. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt keinen Anlass dazu, dieser eigenwilligen Auslegung des Grundgesetzes durch die Linke auch nur einen Hauch von Berechtigung beizumessen. Auch der Schutz der Bevölkerung ist ein Ziel, das verfassungsrechtlich nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten ist. Wer das missachtet, missachtet den Schutzauftrag unserer Verfassung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christian Ahrendt [FDP]) Wir müssen deshalb eine angemessene und verfassungskonforme Risikoverteilung herstellen. Der Vorschlag der Fraktion Die Linke hilft da jedenfalls kein bisschen weiter. Die Einsetzung einer so breit angelegten – in Anführungsstrichen – Expertenkommission, wie von den Linken vorgeschlagen, würde ohnehin nur einem Ziel dienen: das Themenfeld so zu atomisieren, bis keine vernünftige Regelung mehr eine Chance hat. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann würde vielleicht eine vernünftige Regelung herauskommen!) So etwas lehnen wir ab. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Heveling. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau Halina Wawzyniak. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Heveling hat schon darauf hingewiesen: Wir haben keine konkreten Wünsche in Bezug auf den Referentenentwurf. Wir fordern die Einsetzung einer Expertenkommission. Diese Expertenkommission ist auch angebracht; denn die Bundesregierung hat für das im Dezember 2010 verabschiedete Gesetz zur Sicherungsverwahrung vom Bundesverfassungsgericht eine fette Klatsche bekommen. Sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuches und des Jugendstrafrechts über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung wurden für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Deshalb ist es aus unserer Sicht sinnvoll, im Rahmen einer Expertenkommission auch über den Referentenentwurf – seit gestern gibt es wohl auch schon einen Gesetzentwurf – zu reden. Ich frage Sie: Was spricht eigentlich gegen eine -Expertenkommission? Was spricht dagegen, mit Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern, Gesellschaftswissenschaftlerinnen und Gesellschaftswissenschaftlern, Straf-, Polizei- und Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern, psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen, Kriminologen und Vertretern von Opferverbänden das Thema Sicherungsverwahrung zu erörtern? (Beifall bei der LINKEN) Was spricht dagegen, den Handlungsbedarf zum Thema Sicherungsverwahrung auszuloten? Das muss doch auch im Interesse der Bundesregierung sein; denn ansonsten – das garantiere ich Ihnen – droht die nächste Klatsche. Die Linke hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie das Institut der Sicherungsverwahrung für höchst bedenklich hält. In einer menschlichen Gesellschaft gibt es keine vollkommene Sicherheit; darauf hat Herr Heveling hingewiesen. Das weiß jeder und wird in jeder Debatte von jedem Redner wiederholt. (Beifall bei der LINKEN) Die Hintergründe und die Zusammenhänge der Entstehung von Kriminalität sind so vielfältig, dass es einfach nicht möglich ist, eine sichere – ich betone das Wort „sichere“ – Prognose darüber zu treffen, ob jemand gefährlich ist oder nicht. Damit bleibt Sicherungsverwahrung Strafe, auch wenn man es anders nennt. Die Strafe wird nach der Strafe, nachdem die Schuld verbüßt ist, angeordnet. Damit handelt es sich bei der Sicherungsverwahrung um eine vorbeugende Entziehung der Freiheit, um eine präventive Sicherungshaft, und das aufgrund einer unsicheren Prognose. Wir alle wissen, wie es mit den Prognosen ist – es gibt diverse Studien –: Von als gefährlich eingestuften Rückfalltätern sind maximal 20 Prozent gefährlich. Wir sagen: Die restlichen 80 Prozent sperren wir sicherheitshalber ein. Nun liegt der Referentenentwurf vor. Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass das Justizministerium grundsätzlich über das Institut der Sicherungsverwahrung nachdenkt. Da hat ein wenig der Mut gefehlt. Ansonsten nehmen wir zur Kenntnis, dass Anstrengungen unternommen worden sind, den Prinzipien des Urteils gerecht zu werden. Das betrifft den Anspruch, dass die Unterbringung einer individuellen und intensiven Betreuung bedarf, den Sachverhalt, dass ein Rechtsanspruch auf Therapie zumindest angedeutet wird und dass eine Entlassung durch die Gerichte ansteht, wenn keine angemessene Betreuung stattfindet. Das finden wir gut. Was wir schlecht finden, ist die Beibehaltung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Anschluss an die für erledigt erklärte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, der vorhandene breite Kreis der Anlassstraftaten und die Ausweitung der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Lassen Sie mich am Ende noch kurz etwas zum Antrag der SPD sagen. Liebe Genossinnen und Genossen, (Ingo Egloff [SPD]: Sind wir nicht! Wir nicht!) da kommen wir nicht zusammen. Sie wollen die Anlassstraftaten auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte beschränken. Das ist richtig. Dann erklären Sie mir aber einmal, warum Sie im Dezember 2010 noch gesagt haben, dass Sie das in dem Gesetzentwurf wunderbar geregelt finden. Wenn Sie eine nachträgliche Therapieunterbringung machen wollen – da hat Herr Heveling recht –, dann machen Sie sich zum Vorreiter für die Wiedereinführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das ist absurd. (Beifall bei der LINKEN) Sie ignorieren offensichtlich die kompetenzrechtlichen Bedenken, was das Therapieunterbringungsgesetz angeht – hier geht es um Gefahrenabwehr, und damit ist es Ländersache –, und die Unbestimmtheit des Begriffs „psychische Störung“. Ich komme zum Schluss. Der Einsetzung einer Expertenkommission zuzustimmen, tut nicht weh. Ich finde, das ist der angemessene Umgang mit dem Thema. Deswegen geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie unserem Antrag zu! (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Wawzyniak. – Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Christian Ahrendt. Bitte schön, Kollege Ahrendt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christian Ahrendt (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Rechtsstaat stellt uns nicht nur vor Herausforderungen, sondern er ist auch eine Herausforderung, insbesondere dann, wenn es um die Ränder geht, um die schwierigen Abgrenzungsfragen, die wir uns zu stellen haben, und um die Fragen, die zu beantworten sind, wenn wir über ein Thema wie die Sicherungsverwahrung debattieren. Hier geht es um die Frage, ob jemand, der schwere und schwerste Straftaten begangen hat, die Möglichkeit haben soll, noch einmal in Freiheit zu kommen. Diese Frage muss man sich stellen. Wenn man diese Frage falsch beantwortet, dann kommt man auf eine schiefe Bahn. Wie schief die Bahn in Deutschland war, hat uns als Erstes die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2009 gezeigt, und es hat uns auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Mai 2011 gezeigt. Die Folgen – deswegen wundert mich auch Ihr Antrag, Herr Lischka – sind verheerend. Eine Folge ist nämlich, dass aufgrund des Rechtes, das bei uns auf einer schiefen Bahn war, eine nicht unerhebliche Anzahl von Schwerstkriminellen freigelassen werden musste, dass wir plötzlich vor der Situation standen, dass die Polizei diese Menschen rund um die Uhr überwachen muss, weil wir im Bundestag aus Populismus – das eine oder andere, was ich eben zu dem Thema gehört habe, ist nichts anderes als Populismus – Gesetze gemacht haben, die nicht auf dem Fundament unserer Verfassung standen. Wenn wir jetzt wieder anfangen, über nachträgliche Sicherungsverwahrung zu diskutieren, dann sind wir ein Stück weit genau auf dem unsicheren Terrain, das zu einer nicht unerheblichen Zahl von Straftätern geführt hat, die sich derzeit in einer Übergangsregelung befinden, die aber teilweise auch auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Das ist das eine. Das andere ist: Um aus diesem unsicheren Gelände herauszukommen, haben wir im Dezember 2010 mit -Zustimmung der SPD eine Reform der Sicherungsverwahrung beschlossen, mit der die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgeschafft und die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausgeweitet wird. Damit soll klar im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils gesagt werden können: Bei dem Täter liegt eine Gefährlichkeit vor, die das Gericht erkennt. Kommen dann in der Haft noch weitere Aspekte hinzu, kann überdies eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden, aber eben nur dann, wenn sie im Urteil vorbehalten ist; denn hierauf sollen sich alle Beteiligten einstellen können. Das war das Konzept, mit dem die Justizministerin und der Bundestag das Recht der Sicherungsverwahrung auf neue Füße gestellt haben. Wir sollten uns jetzt tunlichst davor hüten, an diesem sicheren Fundament zu rütteln, das wir gelegt haben und das auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letzten Jahres nicht weiter kritisiert worden ist. Nun liegt ein Kabinettsbeschluss zu dem Gesetzentwurf der Justizministerin vor. Mit diesem Entwurf wird exakt anhand der Linie der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai letzten Jahres gearbeitet; dabei wird das Abstandsgebot eingehalten. Das bedeutet: Haft ist etwas anderes als Sicherungsverwahrung. Ein Täter kommt nach der Verbüßung seiner Strafhaft, wenn er in Sicherungsverwahrung gehört und entsprechend verurteilt ist, auch in eine andere Einrichtung. Das ist in diesem Gesetzentwurf in wesentlichen Grundzügen geregelt. An dieser Stelle muss man auch die Länder in die Pflicht nehmen. Bereits im Jahr 2005 hat es eine Untersuchung der Europäischen Kommission zu den Haftbedingungen der Sicherungsverwahrten in Deutschland gegeben. Dabei wurde festgestellt, dass das Abstandsgebot nicht eingehalten wird, dass die Sicherungsverwahrten falsch behandelt werden und dass man sich das Leben nicht einfach leicht machen kann, indem man an der Zellentür lediglich das Schild „Haft“ gegen das Schild „Sicherungsverwahrung“ auswechselt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung gesagt: In diesem Fall hat auch der Bund die Gesetzgebungskompetenz, weil die Länder an dieser Stelle versagt haben. Deswegen muss man jetzt nicht – so wie Sie in Ihrem Antrag – unbedingt dazu kommen, jeden Ratschlag der Länder mitzumachen, der wieder in eine falsche Richtung geht, nämlich eine nachträgliche Sicherungsverwahrung im Bereich der Therapieunterbringung zuzulassen. Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Sie stellen in Ihrem Antrag die Forderung nach einer „nachträglichen Therapieunterbringung“; das ist Ihre Formulierung. Damit sind wir aber aus dem Bereich des Strafrechts heraus. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) Dann stellt sich die Frage: Sind wir überhaupt zuständig? Denn die Länder haben eigene Gesetze und eine eigene Zuständigkeit für den Umgang mit psychisch Kranken. Damit befinden wir uns schon in der ersten Fragestellung: Haben wir eine eigene Gesetzgebungskompetenz? (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) Die zweite Fragestellung lautet: Wollen wir es uns in Deutschland wirklich erlauben, mit dem Begriff des „psychisch Kranken“ zu arbeiten? Das ist ein in seinen Rändern und in seiner Bestimmtheit sehr schwierig zu fassender Begriff. Wollen wir es zulassen, dass jemand auf der Basis des unbestimmten Begriffs „psychisch Kranker“ nachträglich in eine Therapieunterbringung geschickt wird, womöglich für eine psychische Erkrankung, die wiederum gar nicht im Zusammenhang mit der Straftat steht, für die er verurteilt worden ist? Wer so etwas will – und schon beim ersten Blick auf Ihren Antrag zeigen sich diese Probleme – und tatsächlich meint, man müsse jetzt wieder etwas schaffen, das der nachträglichen Sicherungsverwahrung gleichkommt, der zerstört das Fundament, das die Bundesjustizministerin und dieses Haus im Dezember 2010 gelegt haben, und schafft damit eine Rechtsunsicherheit. Wir wollen aber keine Rechtsunsicherheit, sondern Rechtssicherheit. Deswegen sollten wir Ihren Antrag zwar diskutieren, aber in keinem Fall positiv begleiten. Ich bin gespannt auf die Debatte und insbesondere auf den Gesetzentwurf, der dieses Haus bald erreichen wird. Ich glaube, mit dem, was die Ministerin vorgelegt hat, sind wir auf dem richtigen Weg. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Christian Ahrendt. – Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kollege Jerzy Montag. Bitte schön, Kollege Montag. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Antrag der SPD stellt sich mir als Erstes die Frage: Warum haben Sie ihn überhaupt formuliert, und warum müssen wir heute darüber diskutieren? In diesem Antrag fordern Sie die Justizministerin auf, im Referentenentwurf ihres Hauses Änderungen vorzunehmen. Dieser Antrag hat sich erledigt. Es gibt keinen Referentenentwurf mehr. Die Bundesregierung hat gestern entschieden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung kann von der Bundesregierung überhaupt nicht mehr verändert werden; er ist beim Bundesrat eingereicht. In der Sache selber haben Sie, liebe Kollegen von der SPD, und wir, die Grünen, bei der Generalreform der Sicherungsverwahrung in Änderungsanträgen praktisch einstimmig die Beschränkung der Sicherungsverwahrung auf schwerste Gewalt- und Sexualdelikte gefordert. Das werden wir, wenn es zur Neuauflage kommt – das wird es in einigen Monaten –, wiederum in Änderungsanträgen fordern. Darüber brauchen wir heute überhaupt nicht zu diskutieren. Der zweite Punkt ist interessanter: Sie fordern die Einführung einer nachträglichen Therapieunterbringung. Dazu kann ich Ihnen Folgendes sagen: Dieses Haus hat das Recht der Sicherungsverwahrung zum 1. Januar 2011 grundlegend reformiert, und zwar so, dass es keine nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieunterbringung vorsieht. Wer hat diesem Gesetz zugestimmt? Die CDU/CSU, die FDP und Sie von der SPD. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Hört! Hört!) Wir haben aus anderen Gründen nicht zugestimmt, aber haben dem Grundansatz, keine nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieunterbringung vorzusehen, ebenfalls zugestimmt. Jetzt stellen Sie, gegen Ihre eigene Haltung, die Sie noch vor kurzer Zeit hatten, den Antrag, man möge wiederum das einführen, was Sie gar nicht haben wollten. Das ist völlig unverständlich und in sich widersprüchlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christian Ahrendt [FDP] und Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie setzen noch eins drauf. Bei der Diskussion dieses Reformvorhabens haben Sie im Rechtsausschuss einen Änderungsantrag gestellt. Dieser Änderungsantrag lautet: Sie möchten gerne, dass die Wirkung des reformierten Gesetzes, das keine nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Therapieunterbringung vorsieht, bis Ende 2013 evaluiert wird, um danach zu prüfen, ob es vielleicht Notwendigkeiten gibt, irgendetwas zu verändern. Es ist nichts evaluiert; 2013 ist nicht zu Ende. Warum stellen Sie jetzt solch einen Antrag, Gesetze zu ändern, denen Sie vorher selbst zugestimmt haben? Ihr Verhalten ist völlig unverständlich, es sei denn, Sie wollen hier, wofür parteipolitisch etwas spricht, einen Keil in die Koalition treiben. Die Frage ist nur, ob die Sache ein solches Spielchen verträgt. Ich sage Ihnen: Sie wollen lediglich den Ländern, die das wollen, nach der Pfeife tanzen (Burkhard Lischka [SPD]: Baden-Württemberg zum Beispiel!) – ja – und übersehen dabei, dass rechtspolitisch alles dagegen spricht, eine nachträgliche Therapieunterbringung, die nichts anderes als eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ist, wieder ins Gesetz zu bringen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Recht hat er!) Wer psychisch gestörten oder psychisch kranken Menschen, die gefährlich sind, die Freiheit entziehen will, der soll das in eigener Zuständigkeit nach Länderrecht als Gefahrenvorsorge machen. Das gehört nicht in ein Bundesgesetz, nicht in den Bereich des Strafrechts. Da haben wir schon bessere Vorschläge gehabt und diskutiert als diejenigen, die Sie jetzt hier einbringen. (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es ist rein populistisch und taktisch bedingt, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) dass Sie Ihre eigene Position verlassen, und das kreiden wir Ihnen wirklich an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christian Ahrendt [FDP]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Jerzy Montag. – Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege Norbert Geis. (Beifall bei der CDU/CSU) Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Montag, ich glaube schon, dass es gar nicht schlecht ist, dass wir heute über die Sicherungsverwahrung diskutieren, weil es tatsächlich ein schwieriges, aber sehr wichtiges Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode ist. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist doch Ihr Lieblingsthema! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! Aber es gibt heute keinen Anlass dazu!) – Darüber brauchen wir jetzt nicht im Einzelnen zu streiten. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber über den Trauschein könnten wir heute diskutieren! Das treibt mich um!) Es ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht, wie Ansgar Heveling es gesagt hat, mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 der Linie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gefolgt ist. Diese Linie besagt, dass die Sicherungsverwahrung so, wie wir sie zurzeit in der Bundesrepublik Deutschland haben, den Menschenrechten nicht entspricht, und zwar deshalb, weil das Abstandsgebot – der Unterschied zwischen Sicherungsverwahrung auf der einen Seite und Strafvollzug auf der anderen Seite – nicht gewahrt ist. In der Tat ist das eine wichtige Aufgabe, der sich das jetzt vorgelegte Gesetz stellen muss. Ich bin mir sicher – ich habe das Gesetz gelesen –, dass die Regelung der Therapieunterbringung gelungen ist, und ich hoffe, dass sie auch in der Praxis entsprechend umgesetzt wird. Ich will noch einmal auf den Unterschied zwischen der Strafe auf der einen Seite und der Therapieunterbringung bzw. Sicherungsverwahrung auf der anderen Seite eingehen. Die Strafe hat ihren Grund in der Schuld. Die Schuld wird in einem gerichtlichen Urteil festgestellt, das in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen ist. Die Sicherungsverwahrung hat ihren Grund in der Verpflichtung des Staates, für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Das ist der Grund. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Präventive Sicherungshaft!) Beides, sowohl die Strafe als auch die Sicherungsverfahrung, berühren Art. 2 Grundgesetz, das Recht auf Freiheit. Die Strafe hat den Zweck, eine Schuld zu sühnen und damit die Rechtsordnung wiederherzustellen. Sie hat einen generalpräventiven Zweck. Der Staat macht nämlich Folgendes deutlich: Ich verteidige meine Rechtsordnung, und wenn es sein muss, mit dem schärfsten Mittel, das ich habe, nämlich mit dem Strafrecht. Aber sie hat auch den Zweck, die Öffentlichkeit vor dem Täter zu schützen – zumindest so lange, wie er im Strafvollzug ist. Das ist der Sicherheitszweck der Strafe. Die Sicherungsverwahrung hingegen hat ausschließlich den Zweck, die Öffentlichkeit vor der Gefährlichkeit des Täters zu schützen. Der Täter hat keine Tat begangen. Er sitzt nicht wegen einer begangenen Tat in Sicherungsverwahrung. Er ist im Grunde genommen ein freier Mensch, weil er ja seine Strafe verbüßt hat. Es hat sich allerdings im Laufe des Strafvollzuges herausgestellt, dass der Täter seine Gefährlichkeit nicht verloren hat. Vielmehr birgt er nach wie vor die Gefahr in sich, eine schwere Gewalttat oder ein schweres Sexualdelikt zu begehen. Das ist der Grund, weshalb wir überhaupt die Sicherungsverwahrung haben. Die Sicherungsverwahrung wird zunächst einmal durch das Urteil möglich, in dem der Richter erklärt: Nach Verbüßung der Strafe ist Sicherungsverwahrung angeordnet. Es gibt auch noch die vorbehaltene Sicherungsverwahrung. Dann erklärt der Richter nämlich: Ich behalte mir die Sicherungsverwahrung vor, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie wirklich notwendig ist. – Das ist der Hintergrund des Vorbehaltes. Wir sagen – und da bin ich nicht Ihrer Meinung, dass das reiner Populismus ist –, dass auch folgender Fall vorzusehen ist: Wenn sich während des Strafvollzuges herausstellt – ich unterstelle jetzt, dass die Sicherungsverwahrung nicht vorbehalten worden ist und dass kein Ausspruch der Sicherungsverwahrung durch das Urteil erfolgt ist –, dass es sich um einen in höchstem Maße gefährlichen Täter handelt, der nach wie vor zu gefährlichen Taten neigt, zu Gewalttaten, zu schweren Körperverletzungen und zu Sexualdelikten, und der außerdem § 1 des Therapieunterbringungsgesetzes entspricht – das heißt, er leidet unter einer schweren psychischen Störung –, dann meinen wir, dass es möglich sein muss, die Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Das ist kein Populismus, sondern das entspricht durchaus dem Anspruch des Bürgers gegenüber dem Staat, für seine Sicherheit zu sorgen. Deswegen müssen wir uns über den vorgelegten Gesetzentwurf, sehr geehrter Herr Staatssekretär, im Einzelnen unterhalten. Wir können ihm zum großen Teil zustimmen. Aber wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob mit dieser Regelung der nachträglichen Therapieunterbringung dem Interesse der Bürger Rechnung getragen wird. Das ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns stellen müssen, und ich bin mir sicher, dass wir im Gesetzgebungsverfahren im Deutschen Bundestag dazu eine Anhörung durchführen werden. Wir werden uns nach den Ergebnissen dieser Anhörung zu richten haben. Wenn uns Fachleute sagen, dass wir eine Notwendigkeit bezüglich der geplanten bzw. nicht geplanten nachträglichen Sicherungsverwahrung übersehen haben, dann müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir die Sicherungsverwahrung auch nachträglich aussprechen können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Wir sind am Ende dieser Aussprache, die ich hiermit schließe. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8760 und 17/7843 an die in der -Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes – Drucksache 17/8799 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich gehe davon aus, dass Sie einverstanden sind. – Das ist der Fall. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.1 Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8799 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen – Drucksache 17/8883 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.2 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8883 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Hübinger, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken – Drucksache 17/8788 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe -Kekeritz, Krista Sager, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen – Zugang zu Medikamenten weltweit verwirk-lichen – Drucksache 17/8493 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben. Sind Sie damit einverstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.3 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8788 und 17/8493 an die in der -Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans – Drucksachen 17/7774, 17/8396 – Berichterstattung: Abgeordnete Peter Beyer Günter Gloser Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck (Bremen) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Rainer Stinner. Bitte schön, Kollege Dr. Rainer Stinner. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Rainer Stinner (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war gestern Abend auf einer sehr interessanten Veranstaltung der Robert-Bosch-Stiftung. Dort wurde eine Studie vorgestellt, in der im gesamten westlichen Balkan eine Befragung von zwei Generationen vorgenommen wurde, und zwar derjenigen, die im Jahr 1971 geboren sind, und derjenigen, die im Jahr 1991 geboren sind. Die Frage war: Gibt es unterschiedliche Einstellungen und Befindlichkeiten über die Landesgrenzen hinweg und zwischen den Generationen? Die Studie hat einige erstaunliche Ergebnisse -erbracht. Zunächst einmal ist festzustellen: Beide Generationen, also Jung und Alt, haben das Gefühl, dass es sich im früheren Jugoslawien besser leben ließ. Sie -sagen: Der Vorgängergeneration – „unseren Eltern“ – ging es besser, als es uns heute geht. Beide Generationen haben relativ wenig das Gefühl, dass sie auf dem Balkan in einer Region leben, in der es darauf ankommt, -gemeinsam etwas zu tun. Sie haben wenig Vertrauen in ihre Systeme und in ihre Zukunft. Die Jüngeren haben weniger Reisen in den Westen bzw. nach Europa unternommen als ihre Vorgängergeneration: das heißt, die heutige Jugend kann bzw. konnte weniger reisen als ihre Vorgängergeneration. Umso wichtiger ist unsere Visa-debatte, die wir im letzten Jahr geführt haben. In der jüngeren Generation gibt es eine etwas größere Zustimmung zur EU-Integration als bei denen, die 1971 geboren sind. Das ist die Lage, die wir in den westlichen Balkanstaaten heute zur Kenntnis nehmen. Angesichts dieser Befindlichkeiten müsste man -eigentlich sagen: Das Glas ist maximal halb voll oder halb leer – je nachdem, wie man das sehen möchte –, aber mehr nicht. Wenn man die Konfliktsituation im westlichen Balkan aber mit anderen Konfliktsituationen in dieser Welt vergleicht, muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir in den letzten 10, 15 Jahren wirklich eine ganze Menge erreicht haben: Zwei Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien sind bzw. werden Mitglieder der Europäischen Union; mehrere andere Staaten haben den Kandidatenstatus. Wir haben die Militärpräsenz der NATO drastisch reduzieren können. Es gibt also einen Entwicklungspfad. Wenn wir uns andere Konfliktregionen anschauen, Somalia, Sudan oder den Norden von Afrika, dann wird klar, dass im westlichen Balkan relativ viel erreicht worden ist. Unser politisches Commitment von 2003 – das sage ich in jeder Rede zum Thema Balkan – gilt nach wie vor. Es lautet: Jawohl, ihr seid Teil Europas; das ist geografisch völlig unbestritten. Wir wollen euch aber auch in politischer Hinsicht Schritt für Schritt in die Europäische Union integrieren, und dazu wollen wir beitragen. – Die Frage lautet jetzt: Was können wir eigentlich tun? Ich fange mit dem Thema Selbstermächtigung an. Ich glaube, dass es ungeheuer wichtig ist, die Staaten zu -ermächtigen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Liebe Marieluise Beck, an dieser Stelle spreche ich den Konflikt an, den wir beide seit vielen Jahren in aller Freundschaft austragen. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich wollte heute nichts dazu sagen!) – Du wolltest vielleicht nichts dazu sagen, aber du kommst nicht darum herum. – Es geht um die Rolle des OHR in Bosnien-Herzegowina. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Länder zu lange unter ein Patronat gestellt haben. Wir können mit dem, was die -UNMIK in zehn Jahren im Kosovo erreicht hat, nicht -zufrieden sein. Wir können auch mit dem, was der OHR in Bosnien-Herzegowina erreicht hat, nicht zufrieden sein. Da wir diesem Land mit dem Dayton-Abkommen etwas aufgezwängt haben – ich weiß, dass du gleich mit dem Dayton-Abkommen argumentieren wirst; wir kennen uns ja gut genug –, (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Willst du nicht lieber nach mir reden?) haben wir Verantwortung für dieses Land. Wenn ich aber Verantwortung habe, weil ich den OHR stelle, dann muss ich mich auch an den Erfolgen messen lassen, und das ist einfach zu wenig. Ich sage: Die Selbstermächtigung ist ganz wichtig. Zweitens. Wir müssen die EU-Strukturen verbessern. EULEX ist noch nicht so, wie es sein sollte. Wir können nicht zufrieden sein. Wir stehen in Bosnien-Herzegowina jetzt vor der Transition vom OHR zum EUHR, zum europäischen Hohen Repräsentanten. Ich halte das für dringend geboten. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf eine Schriftliche Frage von Frau Beck nochmals betont, wie wichtig es ist, die Rolle Europas zu stärken. Ich bin voll dafür. Drittens. Wir sollten unsere finanziellen Mittel auf die Dinge fokussieren, die wirtschaftliches Wachstum hervorrufen; denn die wirtschaftliche Situation in der -Region kann insgesamt nur als katastrophal bezeichnet werden. Viertens. Wir sollten in Infrastruktur investieren. Gestern Abend haben mir junge Leute aus der Region -gesagt, dass der Zug von Belgrad nach Zagreb im früheren Jugoslawien viereinhalb Stunden brauchte und heute siebeneinhalb Stunden braucht. Das ist ein Beispiel für die Lebenssituation in dieser Region. Diesbezüglich müssen wir zu Verbesserungen kommen. Fünftens. Wir müssen schrittweise vorgehen. Ich halte das Regattaprinzip nach wie vor für richtig. Die Länder sind einzeln zu beurteilen. Unter anderem deshalb lehnen wir den Antrag der Grünen heute ab. In ihm ist zu viel von Gemeinsamkeit die Rede. Ich glaube, es ist nicht richtig, alle auf einmal mitzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass unser selektives Vorgehen richtig ist. Sechstens. Ich glaube, dass die Konditionierung richtig ist. Die Konditionierungspolitik besagt: Wir gehen den nächsten Schritt mit dem einzelnen Land, wenn es bereit ist, Bedingungen zu erfüllen. Das hat sich im letzten Jahr zweimal bewährt. Wir haben es bei Bosnien-Herzegowina gesehen: Bosnien-Herzegowina haben wir den Visastatus im Gegensatz zu Serbien und anderen Ländern nicht gewährt. Daraufhin hat Bosnien-Herzegowina daran gearbeitet. Nach sechs, acht Monaten waren sie so weit, dass wir Bosnien-Herzegowina die Visafreiheit gewähren konnten. In Serbien war es noch dramatischer: Am 9. Dezember hatte Serbien noch keinen Kandidatenstatus. Doch dann ist in Serbien viel passiert. Bis in die letzte Nacht hinein ist bezüglich der Beziehungen zu Kosovo verhandelt worden. Daraufhin konnte der Kandidatenstatus vergeben werden. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass die Länder dieser Region, die Mitglieder der EU sind, also Slowenien und in Zukunft Kroatien, eine Vorbildfunktion haben. Slowenien hat diese Vorbildrolle zu wenig eingenommen, vielleicht weil Slowenien schon im früheren Jugoslawien als Außenseiter gesehen wurde; einige verorteten es sozusagen bei den Nordlichtern. -Jedenfalls ist meiner Meinung nach zu wenig wahrnehmbarer Impetus von Slowenien ausgegangen. Die Kroaten haben fest versprochen, dass sie es anders -machen werden. Sie tragen ja auch besondere Verantwortung für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Das ist der Weg, den wir gehen müssen. Diesen Weg können wir unterstützen, und das wollen wir tun. Wir sagen nach wie vor: Das Tor zu Europa steht für die Region offen. Den Schritt durch dieses Tor müssen die Länder selber machen. Sie sind uns willkommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Stinner. – Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege -Josip Juratovic. Bitte schön, Herr Kollege. (Beifall bei der SPD) Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir interessieren uns viel zu wenig dafür, was vor der Haustür der EU auf dem Westbalkan passiert. Das war in den 90er-Jahren so, bevor dort Krieg ausbrach, und es ist leider auch heute so. Deswegen begrüße ich es, dass die Grünen hier eine europäische Westbalkan-Strategie fordern. (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In vielen Gesprächen mit den Menschen vor Ort wird immer wieder gesagt, dass sich ohne Druck aus der EU auf dem Westbalkan so schnell nichts ändern wird. -Allerdings schaffen wir politische Veränderungen in den Staaten des westlichen Balkans nur dann, wenn eine Beitrittsperspektive besteht. Das Beispiel Kroatien zeigt: Im Beitrittsprozess wurde das Land moderner, eine Zivil-gesellschaft wurde aufgebaut, und das Land bekam eine klare Perspektive abseits des Nationalismus. Eine europäische Westbalkan-Strategie muss diese Perspektive für alle Länder schaffen. Das übergeordnete Ziel muss sein, Perspektiven für junge Menschen zu schaffen. Wir erleben derzeit auf dem gesamten Balkan Resignation bis hin zu politischer Apathie. Die Jugendarbeitslosigkeit in der gesamten Region beträgt über 50 Prozent. Die wirtschaftliche Produktion liegt bei -gerade einmal 50 Prozent des Niveaus von 1989. -Obwohl die politischen Akteure stets um Investitionen aus dem Ausland buhlen, sind sie nicht prioritär am Aufbau einer Zivilgesellschaft interessiert, die sich auf -demokratische Werte beruft, die wiederum eine Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft sind. Lassen Sie mich auf Mazedonien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina näher eingehen. Die politische -Debatte in Mazedonien wird aktuell durch die Identitätsfrage bestimmt – es geht darum, ob die Menschen dort attisch oder slawisch sind – und ist damit fokussiert auf die Vergangenheit statt auf Gegenwart und Zukunft. Dies führt zu ökonomischen und sozialen Absurditäten. Jedes Jahr verlassen zahlreiche exzellent ausgebildete junge Menschen die Universitäten, nur um danach keine entsprechenden Jobs zu finden und in Cafés zu arbeiten. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Mazedonien ist erschreckend. Schon mit dem Arbeitsvertrag wird eine Blankokündigung unterschrieben, auch wenn dies nicht legal ist. Selbst als Putzfrau bekommt man im öffent-lichen Dienst nur mit Parteibuch eine Stelle. Auch das ist nicht legal, aber gängige Praxis. Die Menschen haben Angst, sich politisch und gesellschaftlich zu betätigen, weil sie fürchten, selbst ihren schlecht bezahlten Job mit 100 Euro Monatslohn zu verlieren. Es ist politischer Irrsinn, sich vor Ort in einer solchen Situation nur mit dem Namensstreit von Griechenland und Mazedonien zu -beschäftigen, anstatt die drängenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme anzugehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ähnliches gilt für das Kosovo. In Serbien und im -Kosovo diskutieren alle politischen Kräfte nur über die Anerkennung des Kosovo. Die wirklichen Probleme dieser Länder geraten dadurch in den Hintergrund. Die -Kosovo-Frage darf keine Ausrede für die Politiker vor Ort sein, wenn sie sich zu wenig darum kümmern, wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die jungen Menschen zu schaffen. In Bosnien und Herzegowina beobachte ich die gleiche Tendenz. Prioritär wird dort über die Frage der Entitäten und Ethnien diskutiert, und man kann sich nicht auf eine Verfassung einigen. Gleichzeitig haben die Jugendlichen, egal ob in der Republika Srpska oder in der Föderation, null Perspektive. Ökonomische Fragen oder die Infrastruktur verschwinden hinter den vermeintlichen nationalistischen Konflikten, die die politische Klasse bestimmt. Die politische Klasse drückt auch den Jugendlichen das nationalistische Denken auf. Die Absurdität getrennter Schulen existiert nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Mazedonien. Die Jugendlichen lernen, in Parallelgesellschaften zu leben, die möglichst wenig miteinander zu tun haben. Ich bezeichne das, was aktuell an den Schulen passiert, als eines der größten Verbrechen auf dem Balkan. Den eigenen Kindern wird Misstrauen gegenüber anderen Nationalitäten bis hin zur Verachtung anderer Nationalitäten beigebracht. Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen zum Thema Nationalismus nicht schweigen, sondern müssen gegenseitiges Vertrauen in der Region fördern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir alle wissen, dass keines dieser Länder allein überleben kann. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist ohne Alternative. Am Freihandelsabkommen CEFTA, zwar von allen unterzeichnet, arbeitet niemand mehr ernsthaft. So bekommt die Wirtschaft dieser Länder keine Chance in der Region. Eine Diskussion nur anhand ethnischer Grenzen und auf Kosten der Minderheiten macht einen CEFTA-Dialog unmöglich. Im nächsten Jahr wird Kroatien der EU beitreten. Kroatien ist ein Beispiel dafür, dass eine Westbalkan-Strategie Erfolg haben kann. Auch in Kroatien gab es jahrelang Diskussionen über Identität und Nationalismus. Mit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen wurden die öffentlichen Diskussionen aber in eine andere Richtung gelenkt. Durch die 35 Kapitel, die verhandelt wurden, haben Medien und Öffentlichkeit neue Maßstäbe bekommen, um die Politik zu beurteilen, und sie tun dies nicht mehr anhand nationalistischer Kriterien. Durch die Beitrittsverhandlungen wurde deutlich, dass die alten politischen Kräfte, die nur in ihren nationalen Kategorien denken, nicht die Ideen für die Zukunft haben. Neue politische Akteure bekamen eine Chance. Ein Kroatien mit einem Präsidenten Josipovic wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Nur durch die gesellschaftlichen Veränderungen infolge der EU-Verhandlungen wurde ein so integrer Präsident wie Josipovic überhaupt möglich. Eine solche Entwicklung sollten wir für alle Westbalkan-Staaten anstreben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]) – Danke. Wir dürfen uns nicht mehr damit aufhalten, mit den nationalistischen politischen Kräften vermeintliche Kompromisse auszuhandeln, die dann doch wieder nur anhand der alten nationalistischen Kriterien umgesetzt werden, sondern wir müssen durch Beitrittsverhandlungen neue politische Kriterien aufstellen und somit den neuen politischen Kräften eine Chance geben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben in diesen Ländern Schwesterparteien. Das muss auch ein Druckmittel sein. Die CDU muss in Mazedonien auf die Regierungspartei, die Mitglied der EVP ist, noch stärker einwirken. Ich sage selbstkritisch: Wir Sozialdemokraten müssen in der Republika Srpska auf die sogenannte Sozialdemokratische Partei noch mehr Druck ausüben, Politik und nicht Nationalismus zu betreiben. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja, macht mal! Gut!) Wir müssen den Weg, den Kroatien gemeinsam mit der EU zurückgelegt hat, auf die anderen Staaten übertragen. Dazu müssen wir in den Beitrittsverhandlungen die Themen Verwaltung und Justiz vorrangig behandeln, auch schon bevor ein Land offiziell Beitrittskandidat wird. Nur so bieten wir neuen Kräften eine Plattform für politische Veränderungen in ihren Ländern. Nur so schaffen wir einen Lichtblick für die Gesellschaften auf dem Westbalkan und bewahren die Glaubwürdigkeit unserer europäischen demokratischen Werte. Deshalb stimmen wir dem Antrag der Grünen zu. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Josip Juratovic. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Kiesewetter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass wir uns dieses Themas mit Ernsthaftigkeit annehmen und dass es mehr Gemeinsamkeiten als Gräben gibt. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen Partei: Wir können Ihrem Antrag aus zwei Gründen nicht zustimmen. Ich möchte sie im Folgenden ausführen. Es ist sehr gut, dass wir versuchen, das Konflikt-potenzial in der Region zu neutralisieren, und dass wir gemeinsam an Strukturen arbeiten, die dauerhaft den westlichen Balkan in die Europäische Union integrieren. Wir finden aber, dass Sie bei der inhaltlichen Ausgestaltung Ihres Antrags deutlich hinter diesem Anspruch zurückbleiben. Zunächst beschwören Sie Thessaloniki. Seit dem Jahr 2003 ist es fast schon Tradition bei uns im Bundestag, das Thema der EU-Beitrittsperspektive des westlichen Balkans anzusprechen. Dadurch reden wir sie aber nicht herbei. Wir müssen das praktisch ausgestalten. Das Ziel einer EU-Mitgliedschaft für die gesamte Region wurde ein ums andere Mal bestätigt. Das ist unstrittig und muss deshalb nicht ein weiteres Mal beantragt werden. Auch bei der Diskussion des EU-Erweiterungspakts 2011 ging es darum, dass wir die regionale Zusammenarbeit und die Aussöhnung auf dem Balkan vertiefen müssen. Wir als Unionsfraktion sehen hier nicht die Gefahr einer isolierten Betrachtung einzelner Staaten, wie Sie das in Ihrem Antrag anführen. Wir glauben, dass die EU nicht nur über einen Gesamtansatz verfügt, sondern dass wir das auch praktisch ausgestalten. Es geht schlichtweg darum, wie wir die Westbalkan-Strategie in der Praxis erlebbar machen. – Ich füge hinzu: Wir in der Union haben seit Anfang 2010 eine Westbalkan-Arbeitsgruppe. Die jeweiligen Berichterstatter unternehmen regelmäßig Reisen. Wir machen uns unser eigenes Bild vor Ort. Dies bringen wir in die Debatten des Bundestages, insbesondere aber auch in die Parlamentariergruppen ein. Ich glaube, damit leisten wir dem Parlament einen hervorragenden Dienst und tragen zu einem fairen Informationsaustausch bei. Uns geht es auch darum, eine Aufweichung der Kopenhagener Kriterien zu verhindern; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denn diese definieren die wesentlichen Vorgaben für die beitrittswilligen Staaten. Deshalb müssen wir an diesen Kriterien festhalten. Warum? Es geht darum, dass wir die Staaten des westlichen Balkans auch an den europäischen Wertekanon heranführen wollen. Dazu werde ich gleich ein paar Punkte ansprechen. Entscheidend ist für uns, dass wir keine Paketlösung anstreben. Das könnten Sie nachher vielleicht einmal erklären; denn es kommt uns so vor, als ob Sie das indirekt fordern. Vielmehr wollen wir das Ganze von den tatsächlichen Leistungen einzelner Staaten und deren Fähigkeiten abhängig machen. Ihr Antrag kommt uns so vor, als ob Sie eine Quadratur des Kreises fordern, indem Sie uns einerseits eine Politik möglichst naher Beitritte nahelegen und auf der anderen Seite die strikte Einhaltung der Kriterien fordern. Das ist sicherlich kein Automatismus, bedarf aber der Erklärung. Die Politik der EU-Erweiterung auf dem Westbalkan müssen wir auch im Interesse der Menschen, die jahrelang Krieg erlebt haben, vollziehen. Zugleich – das ist uns als Union wichtig – geht es darum, die innenpolitische Akzeptanz für die Erweiterung innerhalb der Europäischen Union zu erreichen. Das sehen wir gerade im Lichte der Euro-Diskussion. Wir dürfen nicht zulassen, dass auf der Bank des Euro in doppeltem Sinne die EU-Beitrittsperspektive des Balkans scheitert. Deshalb wollen wir kein Abrücken von der leistungsbezogenen Aufnahme in die EU. Dass das machbar ist, zeigt die Aufnahme Kroatiens im nächsten Jahr. Als Union sehen wir folgende Erfolgsfaktoren. Dies sind Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, regionale Zusammenarbeit, eine Visaliberalisierung, an der wir gemeinsam gearbeitet haben, insbesondere für Bosnien und Albanien, sowie Wirtschaftsthemen. Es gibt aber noch ungelöste Fragen. Was wir in der vergangenen Woche bei der Abstimmung zwischen Serbien und dem Kosovo erlebt haben, mag ermutigend sein. Dennoch warne ich davor, dies als Status quo hinzunehmen. Nicht dass wir mit dem Kosovo und dem kleinen Stern ein weiteres FYROM in der Europäischen Union haben. Vielmehr müssen wir im Rahmen des serbischen Beitrittsprozesses eindeutig fordern, dass am Ende dieses Prozesses auch der Austausch von Botschaftern steht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Des Weiteren – ich glaube, wir Außen- und Europapolitiker sind uns darin einig – geht es darum, wie wir dem Kosovo und seiner sehr jungen Bevölkerung helfen. Deshalb sollten wir über weitere Visaliberalisierungen und über Liberalisierungen in den Bereichen Bildung und Wirtschaft nachdenken. Ich glaube, dass es aller Mühe wert ist, auf unsere Innenpolitiker einzuwirken und den interparlamentarischen Diskussionsprozess fortzusetzen. Von Serbien fordern wir die Aufklärung des Brandanschlags auf die deutsche Botschaft vom Februar 2008. Offensichtlich sind die handelnden Personen bekannt. Als Bundesrepublik Deutschland erwarten wir die Aufklärung; denn der Kandidatenstatus muss mehr sein als nur ein politischer Vorschuss. Er muss auch durch tätige Leistungen unterstrichen werden. Gleiches gilt für gutnachbarschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn Serbiens. Außerdem haben Sie den Minderheitenschutz angesprochen. Wir unterstützen das ausdrücklich. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass Sie auch die Trennung in Schulen insbesondere in Bosnien-Herzegowina angesprochen hätten. Es erfüllt uns alle mit Sorge, dass hier nach Ethnien getrennt gemeinsam Schulen genutzt werden, deren Pausenhöfe teilweise sogar mit Drähten voneinander getrennt sind. Zum Abschluss möchte ich noch einen Blick über die EU hinaus wagen. Wir stützen uns als Europäische Union im Zusammenhang mit dem Balkan auch deutlich auf die NATO. Ich möchte hier einen konkreten Vorschlag unterbreiten: Ich glaube, es würde Bosnien-Herzegowina sehr helfen, wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden, dass der sogenannte Beitrittsaktionsplan, der Membership Action Plan, für Bosnien-Herzegowina mit Blick auf eine spätere NATO-Mitgliedschaft in Angriff genommen wird. Das kostet nichts, aber führt zu einer stärkeren Anstrengung innerhalb Bosnien-Herzegowinas und festigt die gesamtstaatliche Klammer. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden heute der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses folgen. Wir unterstützen aber immer konkrete Projekte. Zwei konkrete Projekte – den Membership Action Plan und den Ausgleich zwischen Kosovo und Serbien – habe ich angesprochen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. Die Kollegin Sevim Da?delen gibt ihre Rede zu Protokoll.4 Deswegen steht schon Frau Kollegin Marieluise Beck am Rednerpult. Ihr gebe ich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Marieluise Beck. (Beifall des Abg. Josip Juratovic [SPD]) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Stinner, ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass die FDP-Fraktion nach den Grünen spricht – wegen größerer Kleinheit –, damit Sie mir endlich antworten können und nicht immer vorwegnehmen, was ich sagen werde. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie dann noch da sind!) Das wird vielleicht so kommen. Warten wir einmal ab. In diesen Tagen vor 20 Jahren sind in Sarajevo Hunderttausende auf die Straße gegangen, weil ein Krieg in der Luft lag, den sie auf keinen Fall wollten. Sie ahnten, dass ein Inferno auf sie zukommen würde. Weil es ihnen nicht gelungen ist, den Militärs und den Paramilitärs in den Arm zu fallen, ist es dann auch tatsächlich so gekommen. Drei Jahre Krieg, Belagerung, Vertreibung und Tod – und eine Weltgemeinschaft, die hilflos und unentschlossen zugeschaut hat. Nicht umsonst fällt das Wort Srebrenica, das erstaunlich schnell in Vergessenheit geraten ist, angesichts der Ratlosigkeit in Bezug auf die dramatischen Ereignisse in Syrien jetzt immer wieder. Wir haben uns damals versprochen: Nie wieder! – Wir sind jetzt nicht in der Situation eines drohenden Waffengangs, aber Europa hat die Verpflichtung und die Aufgabe, den Staaten des zerfallenen Jugoslawiens den Weg in die Europäische Union zu ebnen, und zwar auch aus eigenem Interesse; denn wer die langen historischen Linien kennt – im Jahre 2014 jährt sich das Attentat von Sarajevo zum hundertsten Mal –, der weiß, dass sich Unruhe auf dem Balkan immer auf das restliche Europa ausgewirkt hat. Es ist viel geschafft worden: Slowenien ist ein geachtetes Mitglied der EU, die Republik Kroatien wird ihr beitreten, Montenegro und Serbien haben einen Kandidatenstatus. Aber es bleiben die sogenannten unvollendeten Staaten; sie müssen uns wirklich besorgen. Dazu gehört Mazedonien, dessen innere Verfassung aufgrund der albanischen Minderheit ausgesprochen fragil ist. Das Land hat schon jetzt angekündigt, dass es, sollte es zu Grenzverschiebungen kommen, seinerseits auf Grenzverschiebungen setzen wird. Wir müssen uns also darüber klar sein, dass Grenzverschiebungen – ich spreche über Nordkosovo – dramatische Konsequenzen in anderen Regionen auf dem Balkan nach sich ziehen würden und den Balkan wieder in Flammen setzen könnten. (Josip Juratovic [SPD]: Richtig!) Bosnien und Herzegowina, über das wir hier immer wieder sprechen, ist durch eine vollkommen unzulängliche Verfassung schwer belastet. Kollege Juratovic, Sie sprechen es zu Recht an: Es ist auch durch politische Eliten belastet, die auf Grundlage des Nationalismus ihre Süppchen kochen und auf ihre Weise davon profitieren. Die Auseinandersetzung um das OHR betrifft die Frage, ob die Attraktivität der Europäischen Union – darauf setzt die Strategie des Auswärtigen Amtes – wirklich so groß ist – Sie selber haben gesagt, dass sie bei vielen Bevölkerungsgruppen anscheinend nicht so groß ist –, dass die EU-Instrumentarien reichen werden, und ob sie stark genug sein werden, um den destruktiven Kräften, die es gerade innerhalb von Bosnien, vor allen Dingen in der Republik Srpska, gibt, Einhalt gebieten zu können. Das ist eine offene Wette, Herr Kollege Stinner. Ich hoffe, Sie haben mit Ihrem Vertrauen in die EU-Instrumentarien recht. Es gibt neue Kräfte, nämlich die antinationalistische Initiative K 143, zu der sich 143 Kommunen in Bosnien zusammengeschlossen haben. Wir betonen in unserem Antrag noch einmal, Herr Kollege Kiesewetter: Immer und immer wieder muss glaubhaft versichert werden, dass wir alle diese Länder in der EU sehen wollen und dass wir alles dafür tun werden, dass der Letzte nicht irgendwann in 20 Jahren kommt, sondern dass tatsächlich alle möglichst zeitnah kommen. Das liegt auch in unserem eigenen Interesse. Schwarze Löcher im Westbalkan können wir nicht gebrauchen. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollege Marieluise Beck. – Letzter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Thomas Silberhorn. Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt haben, beschreibt im Wesentlichen die Haltung, die auch die Bundesregierung zur Heranführung der Staaten des westlichen Balkans an die Europäische Union vertritt. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir uns fast gedacht!) Ich begrüße ausdrücklich, dass auch Ihre Fraktion diesen Ansatz der Bundesregierung im Grundsatz teilt und mitträgt. Der Europäische Rat hat bei seinem Gipfeltreffen in der letzten Woche, am 1. und 2. März, Serbien den Kandidatenstatus verliehen. Montenegro hat bereits am 8. und 9. Dezember letzten Jahres den Beginn der Beitrittsverhandlungen in Aussicht genommen. Kroatien wird voraussichtlich im Juli 2013 als 28. Mitglied der Europäischen Union beitreten. Das zeigt, dass die europäische Perspektive, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dem westlichen Balkan in der Erklärung von Thessaloniki 2003 eröffnet haben, schrittweise in die Realität umgesetzt wird. Es gibt eine klare europäische Perspektive, zu der wir uns nach wie vor bekennen. Mit Verlaub, wir brauchen auch keine neue Strategie, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern. Entscheidend ist, dass die Erklärung von Thessaloniki jetzt Zug um Zug mit Leben erfüllt wird und dass wir konkrete Ergebnisse vorzeigen können. In den letzten Wochen und Monaten sind im Hinblick auf die Länder des westlichen Balkans wichtige Fortschritte erzielt worden. Ich denke, es ist auch wichtig, zu betonen, dass die Bundesregierung dabei eine mitentscheidende Rolle gespielt hat. Die Bundeskanzlerin war am 23. August 2011 in Serbien, und Bundesaußenminister Westerwelle war am 23. Februar dieses Jahres dort, also kurz vor den entscheidenden Beratungen über die Verleihung des Kandidatenstatus. Ohne diesen persönlichen Einsatz der Bundeskanzlerin und des Bundesaußenministers wären die Verhandlungen angesichts der diffizilen Lage mit Sicherheit erheblich schwieriger verlaufen. Wenn wir uns am Beispiel Serbiens die Dimensionen dieses Beschlusses der letzten Woche vor Augen führen wollen, dann muss man nur wenig mehr als zehn Jahre zurückblicken, als Serbien mit seinen Nachbarvölkern im Krieg stand und sich Luftangriffen der NATO ausgesetzt sah. Heute stellt das Land keine militärische Bedrohung für seine Nachbarn mehr dar und klopft an die Tür der Europäischen Union. Das ist eine positive Entwicklung, die es zu würdigen gilt. Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung und die Versöhnungsprozesse im westlichen Balkan hat zweifellos die Perspektive dieser Länder auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Das ist hier mehrfach angeklungen. Deswegen ist es wichtig, dass nach dem militärischen Eingreifen und der Beendigung der Kampfhandlungen für die gesamte Region eine dauerhafte politische Perspektive in der Europäischen Union eröffnet worden ist. Es geht darum, konstruktiv an dieser Stabilisierung mitzuwirken. Es geht aber auch darum, dass die betroffenen Staaten die notwendigen, oft schmerzhaften innenpolitischen Maßnahmen dazu ergreifen. Es ist sicherlich wichtig, dass diese Staaten – ich denke insbesondere an Kroatien, aber auch an Serbien; von Herrn Stinner ist zu Recht Slowenien angesprochen worden – auch ihre regionale Verantwortung wahrnehmen. Wir setzen darauf, dass die Entwicklung in Slowenien, in Kroatien und jetzt zunehmend auch in Serbien eine positive Auswirkung auf Bosnien-Herzegowina, auf Montenegro, auf den gesamten westlichen Balkan hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube, dass wir diesen Ländern auch diese regionale Verantwortung abverlangen müssen. Die Ausrichtung der Westbalkan-Staaten auf die Europäische Union zeigt, dass die EU jenseits der Staatsschuldenkrise ihrer Rolle als Stabilitätsanker in der Region unvermindert gerecht wird. Bei aller Freude darüber und ungeachtet der Gültigkeit der Erklärung von Thessaloniki dürfen wir aber nicht die Augen davor verschließen, dass eine Reihe großer Herausforderungen weiterhin damit verbunden ist. Das gilt in erster Linie für die Staaten des westlichen Balkans im Hinblick auf die Erfüllung der Beitrittskriterien. Es gilt aber auch für die Europäische Union. Die Staaten des westlichen Balkans stehen nach wie vor vor der schwierigen Aufgabe, Versöhnung und Annäherung zu erreichen. Aber sie müssen eben auch die notwendigen innenpolitischen Reformen unternehmen. Das wird auch enorme Zeit in Anspruch nehmen. Ich weise nur auf die acht Jahre hin, die allein Kroatien gebraucht hat, um jetzt den Beitritt vollziehen zu können. Das ist eine realistische Perspektive. Dies bedeutet, dass wir den Ländern des westlichen Balkans auch in aller Klarheit vor Augen führen müssen, welche Anstrengungen mit einem Beitritt zur Europäischen Union verbunden sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben mit der Erweiterungsrunde 2004 einschlägige Erfahrungen gemacht, die uns sagen: Wir dürfen nicht noch einmal einen Big Bang machen, sondern müssen jedes Land nach seinen eigenen Fortschritten bewerten. Wir wollen keine Rabatte gewähren. Vielmehr muss jedes Land die Kriterien für sich erfüllen. Wir sagen aber auch ganz klar Ja zur europäischen Perspektive des westlichen Balkans. Wir sind zuversichtlich, dass die junge Generation in diesen Staaten europäisch ausgebildet und europäisch orientiert ist. Gerade ihnen müssen wir eine realisierbare, von ihnen noch erlebbare Perspektive auf eine Mitwirkung in der Europäischen Union eröffnen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josip Juratovic [SPD]: Das ist ganz wichtig, ja!) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Thomas Silberhorn. – Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie darauf hinweisen, dass wir jetzt noch eine Reihe von Abstimmungen gemeinsam vor uns haben. Wir kommen aber zunächst zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8396, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7774 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegenprobe! – Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union – Drucksache 17/5096 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) – Drucksache 17/8870 – Berichterstattung: Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein) Frank Hofmann (Volkach) Gisela Piltz Ulla Jelpke Dr. Konstantin von Notz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Offene Grenzen in einem vereinten Europa: das ist eine Errungenschaft, für die zu arbeiten es sich wirklich lohnt. Europa ist – vor allem in den letzten 20 Jahren – in der Europäischen Union stark zusammengewachsen. Ich denke besonders an die Abschaffung der Grenzkon-trollen im Schengen-Raum, an die gemeinsame Währung und an die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Gerade wir Deutsche wissen offene Grenzen zu schätzen. Allerdings bergen offene Grenzen Risiken; denn auch für Straftäter sind die Grenzen offen, und das nutzen sie aus. Vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität wird zunehmend über Grenzen hinweg operiert. Dabei handelt es sich beispielsweise um Menschenhandel, Straftaten an Kindern oder Geldwäsche. Strafverfolgungsbehörden müssen daher auch ohne Grenzkontrollen in die Lage versetzt werden, diese Straftaten wirkungsvoll zu verfolgen bzw. abwehren zu können. Die Europäische Kommission setzt schon länger auf die verstärkte Zusammenarbeit der Strafverfolgungs--behörden ihrer Mitgliedsländer. Zu nennen wären hier beispielsweise das Schengen-Informationssystem, Eurodac – eine Datei zum Abgleich von Fingerabdrücken, um Asylmissbrauch zu verhindern –, Europol – die europäische Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag –, Eurojust – die Einheit für justizielle Zusammenarbeit in der EU – oder die grenzpolizeilichen Kontaktstellen, in denen -Beamte der jeweiligen Nachbarstaaten eng zusammenarbeiten. Ein weiterer Schritt zur verstärkten Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden ist die Schwedische Initiative. Der Rahmenbeschluss des Rates aus dem Jahr 2006 geht zurück auf eine Initiative der schwedischen Ratspräsidentschaft und ist deshalb als „Schwedische Initiative“ bekannt geworden. Dieser Rahmenbeschluss, den wir heute in deutsches Recht umsetzen, besagt letztlich, dass Informationen, die Behörden zu Strafverfolgungszwecken benötigen, leichter von einem Mitgliedsland zu einem anderen weitergegeben werden sollen, und zwar unter genau denselben Voraussetzungen wie im innerstaatlichen Austausch. Natürlich sind die Polizeibehörden seit dem Wegfall der Grenzkontrollen gezwungen, viel stärker über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Aber diese Zusammenarbeit soll verbessert, erleichtert und standardisiert werden. Verschiedene Analysen haben gezeigt, dass das Schengener Übereinkommen, Europol und die Einführung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch den Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 zwar die Qualität des Informationsaustauschs verbessert haben, dass aber das Ausmaß des Informationsaustauschs nach wie vor hinter dem -zurückbleibt, was für eine angemessene Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung erforderlich wäre. Deshalb kann ich diejenigen unter Ihnen nicht verstehen, die beharrlich behaupten, dass dieses Gesetz nicht nötig ist. Das ist schlichtweg falsch. Dort, wo personenbezogene Daten gesammelt, gespeichert und ausgetauscht werden, müssen wir uns -natürlich auch auf die datenschutzrechtlichen Aspekte konzentrieren. In der parlamentarischen Beratung -haben wir uns intensiv mit Fragen des Datenschutzes auseinandergesetzt. Wir haben dabei noch einmal ausdrücklich betont, dass der Informationsaustausch nur unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Datenschutzes erfolgen darf. Bei allen skeptischen Einlassungen zum Datenschutz möchte ich auf eines hinweisen: Hier geht es um den Austausch innerhalb der Europäischen Union. Die -Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Die -Mitgliedsländer der EU folgen demokratischen Grundsätzen, sie achten und schützen die Grundrechte. Ihre Ermittlungsbehörden arbeiten nach rechtsstaatlichen Prinzipien, und Kontrolle dieses Wertekanons wird durch die Europäische Union garantiert. Deshalb hielte ich es für hochproblematisch, wenn jetzt einzelne Staaten der Europäischen Union stigmatisiert würden in Bezug auf ein angeblich mangelndes Datenschutzniveau, nach dem Motto: Denen können wir unsere Daten nicht geben; denn sie schützen sie nicht genauso wie wir. Dass wir Deutsche das höchste Datenschutzniveau in der EU haben, wird dabei gerne unterschlagen. Das kann doch aber nicht heißen, dass wir den anderen Ländern unsere Daten vorenthalten. Ich werbe dafür, den verstärkten und standardisierten Datenaustausch als Chance für den Kampf gegen organisierte Kriminalität anzusehen und nicht in erster Linie als Risiko für Daten- und Persönlichkeitsschutz. Ermittler sammeln und interpretieren Daten, sie -versuchen Zusammenhänge zu erkennen. Eine Flut von Daten hilft auch unseren Polizeibeamten nicht, sondern sie sind immer dankbar dafür, wenn sie genau den kleinen Ausschnitt an Datenmaterial bekommen, der für ihre Ermittlungen wichtig ist. Deshalb haben wir die Schwedische Initiative so umgesetzt, dass personenbezogene Daten nur dann weitergegeben werden, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind. So muss die anfragende Behörde beispielsweise ganz klar darstellen, wie der Zweck der Anfrage und die Person, über die Auskunft erbeten wird, zusammenhängen. All jenen, die darauf drängen, zunächst einmal auf EU-Ebene den Datenschutz zu vereinheitlichen, möchte ich etwas mehr Realismus verordnen. Die Bundesrepu-blik ist bereits Vorreiter für ein hohes Datenschutzniveau in Europa, und das wird sie auch weiterhin sein. Zudem besteht auf EU-Ebene das Grundrecht auf Schutz der personenbezogenen Daten. Die Mitgliedstaaten sind an das Unionsgrundrecht auf Datenschutz gebunden, -soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts -handeln. Das ist hier der Fall. Wir haben zudem in das vorliegende Gesetz ausreichende Optionen für Strafvollzugs- und Polizeibehörden eingebaut, um die Datenvermittlung an Staaten mit erheblich geringerem Datenschutzstandard zu begrenzen oder sogar auszuschließen. Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Rahmen--beschluss endlich umsetzen, nachdem die Frist ja schon lange verstrichen ist. Die christlich-liberale Koalition hat insbesondere nach der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen im Innenausschuss im September 2011 einige wesentliche Änderungen des Entwurfs -vorangebracht. Dazu gehört insbesondere die schon erwähnte Verknüpfung zwischen Zweck des Ersuchens und der Person, um die es geht, sowie die Eingrenzung der Spontanübermittlung und die Einbeziehung der Steuerfahndung. Wir verbessern damit die europäische Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung. Dies ist ein wesentlicher Beitrag für ein freiheitliches und sicheres Europa. Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Der heute vorgelegte Gesetzentwurf soll die Arbeit der Polizei einfacher machen. Es geht darum, die Übermittlung von Daten innerhalb der EU nicht anders zu behandeln als die zwischen Behörden in Deutschland. Das ist ein gutes Ziel. Es ist zu begrüßen, wenn die Strafverfolgungsbehörden in der EU in Zukunft enger, unbürokratischer und damit effizienter zusammenarbeiten können. Leider aber hat die Regierungskoalition dabei den Datenschutz völlig außer Acht gelassen. Wenn die vorliegende Gesetzesänderung in Kraft tritt, werden unsere bestehenden Regeln durch die Hintertür ausgehebelt und ad absurdum geführt. Während wir im Inland die höchsten Kriterien an den Schutz sensibler Informationen unserer Staatsbürger legen, werden wir diese in Zukunft freimütig in der Welt verteilen – ohne zu wissen, was damit passiert. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wissen es doch selbst: Die Datenschutzstandards sind in der Europäischen Union alles andere als einheitlich. Viele liegen deutlich unter deutschem Niveau. Die Grundvo-raussetzung aber für den Austausch von Informationen ist, dass im Empfängerstaat zumindest ein Grundstandard für den Umgang mit ihnen vorhanden sein muss. Doch dafür haben Sie überhaupt keine Regelungen getroffen. Liest man nur Ihren Änderungsantrag, könnte man meinen, der Datenschutz spiele in Ihrem politischen Wertekanon keine Rolle. Wie kommt es, dass gerade bei der FDP der Graben zwischen den Grundüberzeugungen und dem praktischen Handeln so groß ist? Ihr Entschließungsantrag liefert eine Erklärung dafür. Er liest sich wie eine Generalabrechnung mit ihrem eigenen Gesetz. Der Informationsaustausch könne nur unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Datenschutzes erfolgen, heißt es da. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich für die Belange des Datenschutzes einzusetzen. Die Koalition fordert sich selbst auf, auf EU-Ebene für ein einheitliches und hohes Datenschutzniveau zu sorgen. Sie hat völlig recht damit. Schon seit Jahren gibt es hier einen großen Bedarf. Ein gemeinsames Verständnis vom Umgang mit Informationen ist Grundvoraussetzung für eine gemeinsame Nutzung. Auch deshalb kann ich Ihren Änderungsantrag nicht verstehen. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Sie schaffen die Fakten vor den Regeln. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es zu einer Einigung kommt, wenn die Daten längst in ganz Europa im Umlauf sind? Ihr Entschließungsantrag liest sich wie ein Wunschzettel – einer, der niemals in Erfüllung gehen wird. Der Änderungsantrag soll einen Rahmenbeschluss des Europäischen Rates aus dem Jahr 2006 in deutsches Recht umsetzen – eine Entscheidung aus längst vergangener Zeit. Würde sie heute gefällt werden, wäre längst das Europäische Parlament zuständig. Heute unterliegt diese Materie bekanntlich dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Sechs Jahre hat es gedauert, bis wir damit befasst wurden. Gleichzeitig wird auf europäische Ebene über den gemeinsamen Datenschutzstandard diskutiert. Beides hätte man miteinander verbinden können und müssen. Gegen die Auslieferung der Daten werden sich die deutschen Behörden kaum wehren können. Das haben wir in der Anhörung bereits erörtert. Zudem gibt es keine Regel, die verbietet, dass Empfängerländer die Informationen an Drittstaaten weitergeben. Ist das etwa nicht dringend notwendig? Sie wollen stattdessen im Schweinsgalopp einen Informationsaustausch amtlich machen. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Was zum Beispiel passiert, wenn die weitergegebenen Daten an Aktualität verlieren – wenn aus einem Beschuldigten ein Unschuldiger wird? Werden die Informationen nicht aktualisiert, wird er in anderen Ländern einer Straftat beschuldigt werden, für die in Deutschland möglicherweise sogar längst ein anderer rechtskräftig verurteilt ist. Der Schlamassel hat begonnen mit dem Rahmenbeschluss, der den Datenschutz völlig außer Acht lässt. Bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses werden die Möglichkeiten, den Datenschutz mit einzubinden, nicht ausgeschöpft. Die Vorschläge aus der Anhörung werden nur unzureichend umgesetzt, und danach wird in einem Entschließungsantrag dargelegt, dass man ein hohes und einheitliches Datenschutzniveau wünscht. So entstehen keine guten Gesetze, denen man getrost zustimmen kann. Es ist klar: Wir lehnen Ihren Entschließungsantrag, Ihren Änderungsantrag und den Gesetzentwurf ab. Gisela Piltz (FDP): Gelegentlich hört man ja in diesem Hohen Hause das Gerücht, Anhörungen seien reine Showveranstaltungen. Dass dem nicht so ist, zeigt dieser Gesetzentwurf, der aufgrund der Sachverständigenanhörung Änderungen erfahren hat, die dem Datenschutz Rechnung tragen. Den Sachverständigen, die ihre Argumente vorgetragen haben, sei an dieser Stelle nochmals für ihren Sachverstand und ihre Anregungen gedankt. Mit dem Gesetz, das wir heute hier beschließen wollen, wird der Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates in nationales Recht umgesetzt. Es ist Zufall, dass wir nun gerade seit etwas mehr als einem Monat die Vorschläge der Kommission auf dem Tisch liegen haben, wie der Datenschutz in der EU harmonisiert werden kann. In der schon erwähnten Anhörung wurde von allen Sachverständigen das Auseinanderfallen von EU-rechtlichen Verpflichtungen zum Datenaustausch auf der einen und Datenschutz auf der anderen Seite beklagt. Während in der EU immer neue Verpflichtungen zum Austausch auch höchst sensibler Daten geschaffen, umgesetzt und auch durchgesetzt würden, fehle es an einem einheitlich hohen Datenschutzniveau. In der Entschließung der Koalitionsfraktionen im Innenausschuss haben wir diesen Punkt daher nochmals explizit aufgegriffen. Dort heißt es: „Dabei kann dieser Informationsaustausch nur unter strikter Wahrung der Grundprinzipien des Datenschutzes erfolgen. Diese Grundprinzipien sind ein gleichberechtigter Bestandteil eines Europas der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ In diesem Zusammenhang wird die Bundesregierung aufgefordert, sich auch weiterhin auf EU-Ebene für die Belange des Datenschutzes einzusetzen. Ein möglichst einheitliches und hohes Datenschutzniveau in Europa soll Ziel dieser Bemühungen sein. Von besonderer Bedeutung sind hier die derzeit laufenden Bemühungen der Kommission für eine Novellierung des Datenschutzes in der Europäischen Union auch im Bereich Justiz und Inneres. Aber auch schon im vorliegenden Gesetzgebungsverfahren konnten wir mit den Änderungsanträgen der -Koalitionsfraktionen den Datenschutz stärken. Datenübermittlung innerhalb der EU zur Verfolgung grenzüberschreitender Kriminalität und die Achtung des Datenschutzes sind immer zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb haben wir die Datenübermittlung auf Fälle begrenzt, in denen ein Zusammenhang besteht zwischen dem Zweck des Übermittlungsersuchens und der Person, auf die sich das Ersuchen bezieht. Diese Kopplung schützt vor der Übermittlung von Daten Unbeteiligter oder nur zufällig mitbetroffener Personen. Weiterhin werden Spontanübermittlungen auf Fälle begrenzt, in denen die Erwartung besteht, dass die Datenübermittlung zur Verhütung der Straftat beiträgt. Dabei haben wir mit der gesetzlichen Vorgabe, dass „konkrete Anhaltspunkte“ vorliegen müssen, die diese Erwartung stützen, unmissverständlich klargemacht, dass nur tatsachenbasierte Annahmen ausreichend sind. Diese höheren Anforderungen sind aus unserer Sicht geboten, weil gerade bei Spontanübermittlungen besonders strikte Hürden eingezogen werden müssen. In der zusammenwachsenden EU ist die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz notwendig und quasi die Kehrseite eines Europas ohne Grenzbäume. Es ist aber dann auch unverzichtbar, in der EU ein hohes Niveau an Datenschutz und rechtsstaatlichen Sicherungen zu wahren. Das Zusammenwachsen Europas ist längst viel mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Europa ist auch der von gemeinsamen Werten und dem gemeinsamen Bekenntnis zur Grundrechtecharta getragene Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Darin liegen Herausforderungen, aber auch viele Chancen für die europäischen Bürgerinnen und Bürger, die sich hier wie überall sonst in der EU sicher sein können, dass der Rechtsstaat zu ihrem Wohle arbeitet. Dazu gehört die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit – überall in Europa. Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Austausch von Daten der Polizei und Strafverfolgungsbehörden muss eingebettet sein in ein europaweit ebenso verlässliches Datenschutzrecht. Es ist deshalb gut, dass gerade jetzt von der EU-Kommission Vorschläge unterbreitet wurden, die dazu beitragen werden, den Datenschutz in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dass in den Entwürfen der Kommission noch nicht alles her-vorragend ist und dass gerade der vorgestellte Entwurf der Richtlinie für den Datenschutz im polizeilichen und justiziellen Bereich noch deutlich Raum für Verbesserung lässt, ist klar – wir stehen ja erst am Anfang der europäischen Diskussion. Klar ist das Ziel: ein hohes -Niveau beim Datenschutz und zwar überall in Europa. Wir setzen heute den Rahmenbeschluss zur Datenübermittlung um – und wir gehen damit ein Stück in Vorleistung, weil eben das gleichmäßig hohe Datenschutzniveau in der EU noch nicht erreicht ist. Aber Sie können sicher sein, dass uns das umso mehr Ansporn ist, aus den Vorschlägen der Kommission für den neuen Datenschutzrechtsrahmen der EU zügig etwas zu machen, das unserem Anspruch an den Grundrechtsschutz genügt. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zielt darauf ab, den Datenaustausch der Sicherheitsbehörden in der EU weiter zu erleichtern – gleichzeitig wird der Datenschutz weiter ausgehöhlt. Die Linke lehnt dieses Projekt ab. Wie so oft bei grundrechtsrelevanten Fragen beruft sich die Bundesregierung auf einen EU-Rahmen--beschluss. Die Methode ist immer die gleiche: Die Bundesregierung drängt auf der Ebene des EU-Rates, wo es keine demokratisch-parlamentarische Kontrolle gibt, auf Beschlüsse, um sie dann dem Bundestag vorzulegen. Das Parlament kann sie dann nur noch abnicken, wenn es nicht den Konflikt mit der EU riskieren will. Das ist Grundrechteabbau auf supranationalem Niveau, zu dem wir keine Zustimmung erteilen. Die geforderten Änderungen im BKA-Gesetz, dem Bundespolizeigesetz und einer Reihe weiterer Gesetze zielen darauf, aus der EU einen großen Datenraum zu machen. Wenn eine ausländische Polizei bei einer deutschen Polizeistelle nach Daten fragt, sollen die gleichen Regeln gelten wie bei Anfragen einer Polizeistelle aus einem deutschen Bundesland. In der Gesetzesbegründung der Bundesregierung heißt es, dieser Rahmen--beschluss sei „der erste vom Rat verabschiedete Rechtsakt zur Umsetzung des sogenannten Grundsatzes der Verfügbarkeit. Was nicht da steht, ist, dass dieser Grundsatz hochproblematisch ist, weil er im Kern besagt: Sämtliche Daten, die einmal erhoben worden sind, sollen zu jedem Zeitpunkt von jeder Stelle in Europa -abgefragt werden können. Mit Datenschutz hat das nichts zu tun. Natürlich sind viele Beispiele denkbar, in denen etwa die französische Polizei bei den deutschen Kollegen Daten anfordert und diese auch kriegen soll, gerade im Bereich der Strafverfolgung. Aber das ist auch jetzt schon möglich, dazu gibt es schon längst die notwendigen Rechtsgrundlagen. Die Mitgliedstaaten sind bereits zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet. Aber: Bislang konnten sie im nationalen Recht festlegen, wie diese Hilfe konkret geleistet wird. Das soll jetzt aufgegeben werden, in Zukunft wird das „harmonisiert“. Damit wird aber auch die Möglichkeit, Hilfeersuchen zu prüfen, um sie unter Umständen auch abzulehnen, bis auf wenige Ausnahmen ausgeschlossen. Bisher musste man begründen, -warum Daten ausgetauscht wurden, in Zukunft muss man begründen, wenn ein Austausch einmal nicht durchgeführt wird. Der Austausch wird also zur Regel, eine Prüfung ist praktisch nicht vorgesehen und in der vorgeschriebenen Eile des Datenaustausches – acht Stunden in sogenannten Eilfällen, wobei der Begriff Eilfall nicht definiert wird – auch gar nicht möglich. Wir müssen jetzt die Daten liefern, wenn wir nicht konkrete Zweifel daran anmelden können, dass die Partnerbehörden hier unverhältnismäßig vorgehen oder rechtswidrig handeln. Die voraussehbare Folge ist, dass noch mehr personenbezogene Daten frei durch europäische Polizeidatenbanken flottieren. Und die sind keineswegs alle gleich sicher, sodass in Zukunft noch öfter sensible persönliche Daten von Unbefugten eingesehen werden können. Dabei geht es ja keineswegs nur um Straftäter. Die Datenübertragung als Regelsatz umfasst auch den Bereich der Verhütung von Straftaten. Das ist ein weites Feld, da ist vieles Interpretationssache und Spekulation, und deshalb wäre gerade hier eine Einzelfallprüfung datenschutzrechtliche Pflicht. Aber das wird preisgegeben. Wir werden es erleben, dass in Zukunft noch mehr und noch schneller die Daten beispielsweise von Aktivisten gegen Wirtschaftsgipfel über die Grenzen ausgetauscht werden – mit der Begründung, die Demonstranten könnten ja Straftaten begehen. Erinnern möchte ich auch daran, dass es in mindestens drei Ländern der Europäischen Union in der allerjüngsten Vergangenheit Foltergefängnisse gegeben hat: In Rumänien, Polen und Litauen hat die CIA vermeintliche Terrorverdächtige heimlich festgehalten und misshandelt, ganz offenbar mit Zustimmung der jeweiligen Regierungen und mit Nutzung polizeilicher Daten über die Festgenommenen. Solange so etwas in Europa möglich ist, dürfen die Datenbanken der Polizei nicht als frei austauschbare Ware gehandelt werden. Ich möchte außerdem daran erinnern, dass es in Europa noch längst keinen gemeinsamen Datenschutzstandard gibt. Da sollten sich solche Rahmenbeschlüsse von selbst verbieten. Der Datenschutz, aber auch Grund- und Menschenrechtsstandards sprechen gegen die Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In meiner letzten Rede zum Gesetzentwurf über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatte ich Sie darum gebeten, dass wir uns gemeinsam und unter Hinzuziehung externen Sachverstands mit dem komplexen Gesetzentwurf kritisch auseinandersetzen. Rahmenbeschluss und Gesetzentwurf bezwecken den möglichst ungehinderten und schnellen Datenaustausch zwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Der Datenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmte Gefahrensituationen oder -bestimmte Verdachtstaten beschränkt. Der Kreis der Behörden, die untereinander – offenbar kreuz und quer – Daten austauschen sollen, ist sehr groß. Die Übermittlung von Daten von Stuttgart nach Györ oder Barcelona soll praktisch so behandelt werden wie die Übermittlung von Daten von Stuttgart nach Wiesbaden. Die dem -Rahmenbeschluss und dem Gesetzentwurf zugrunde liegende Fiktion und Funktion ist, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staaten zukünftig in etwa vergleichbar sind. Dass diese Fiktion mit der Realität jedoch rein gar nichts zu tun hat, war das erste wesentliche und klare Ergebnis der öffentlichen Sachverständigenanhörung des Innenausschusses im September 2011. Alle sieben der geladenen Sachverständigen haben bestätigt, dass das Datenschutzniveau im Bereich des Polizei- und Strafrechts sehr unterschiedlich ist, erst recht in außereuropäischen Staaten. Zweites klares und wesentliches Ergebnis der Sachverständigenanhörung, das sämtliche Sachverständige außer dem BKA-Vizepräsidenten Stock gestützt haben, war, dass der vorliegende Gesetzentwurf vor diesem Hintergrund als verfassungsrechtlich zumindest problematisch, wenn nicht gar verfassungswidrig anzusehen ist; denn das Bundesverfassungsgericht verlangt für einen solchen – praktisch ungehinderten – zwischenstaatlichen Datenaustausch ein wenigstens in etwa vergleichbares Datenschutzniveau in dem Staat, mit dem die Daten ausgetauscht werden sollen. Ist dies nicht sichergestellt, verstößt der Datenaustausch zwischen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden gegen das Grundgesetz. Drittens haben die Sachverständigen, mit Ausnahme von Herrn Stock, es so eingeschätzt, dass die Beamten in den verschiedensten Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, die auf der Grundlage des Gesetzentwurfs über den Austausch von Daten mit anderen Staaten in der EU zu entscheiden haben, in der Praxis gar nicht wissen können, was für ein Datenschutzniveau im Empfängerstaat herrscht; denn es gibt schlicht keine Zusammenstellung von verlässlichen vergleichenden Informationen über das Datenschutzniveau im Bereich des Polizei- und Strafrechts in allen 27 EU-Mitgliedstaaten. Allein Herr Stock konnte berichten, die Rechtstatsachensammelstelle des BKA verfüge über diese Informationen. Da es sich bei dieser Informationssammlung aber offenbar um eine handelt, die aus unerfindlichen Gründen geheim gehalten wird, wird sich das für den Datenschutz in der behördlichen Praxis wohl nicht niederschlagen. Auch von den anwesenden Spezialisten, einschließlich der Datenschutzbeauftragten, schien keiner von einer solchen Informationssammlung je gehört zu haben. So viel zu den schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Problemen des Rahmenbeschlusses und des Umsetzungsgesetzes. Einig waren sich die Sachverständigen während der Anhörung auch weitgehend darüber, dass der Gesetzentwurf – anders als es das Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen von uns fordert – die Umsetzungsspielräume des Rahmenbeschlusses nicht für eine grundrechtskonforme und grundrechtsfreundliche Umsetzung nützt. Zu diesem Problem habe ich Ihnen in meiner ersten Rede im März 2011 schon einige konkrete Punkte genannt und möchte mich hier an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholen. Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe mich gefreut, dass Sie dem Antrag auf Durchführung einer Sachverständigenanhörung zugestimmt haben. Nur, lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen: Eine Anhörung durchzuführen alleine bringt noch keine Verbesserung eines vorliegenden Gesetzentwurfs. Hierzu muss man in einem zweiten Schritt auch die Ergebnisse der Anhörung bei den weiteren Beratungen und der Formulierung von Änderungsvorschlägen berücksichtigen. Das ist von Ihrer Seite leider nur unzureichend geschehen. Die Anhörung war für uns alle erhellend, und Ihre Fragen an die Sachverständigen waren äußerst kritisch. Da wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob man den alten Rahmenbeschluss angesichts der verfassungsrechtlichen Bedenken überhaupt umsetzen dürfe bzw. ob und wann man das aus europarechtlichen Gründen tun müsse. Da wurden etwas krude Lösungsansätze wie die Aufstellung einer Liste von „Datenschutz-Schurkenstaaten“ diskutiert – und wieder verworfen. Von mehreren Seiten kam der Vorschlag, den Rahmenbeschluss zum -Informationsaustausch doch wenigstens gleichzeitig mit dem ebenfalls noch nicht umgesetzten Rahmenbeschluss zum Datenschutz umzusetzen. Es sei nicht legitim und grundrechtspolitisch untragbar, den Informationsaustausch auf der einen Seite zu regeln und zu fördern, den Datenschutz auf der anderen Seite dagegen außen vor zu lassen. Letzterer ist ein sehr wichtiger und richtiger Gedanke, der seine Gültigkeit nicht verlieren wird. Leider bleibt der Änderungsantrag der Koalition zum Gesetzentwurf, über den wir nun mit abzustimmen haben, weit hinter dieser Erkenntnis zurück. Da wurden an zwei Stellen – beim Personenbezug der Informationen und bei Spontanübermittlungen – ganz kleine Verbesserungen für den Datenschutz erreicht, die teilweise schon aus europarechtlichen Gründen zwingend notwendig waren. Die verfassungsrechtliche und datenschutzrechtliche Grundproblematik des Gesetzentwurfs – Datenaustauch ohne Datenschutz – blieb dagegen unverändert. Kein Aufschub der Umsetzung des Rahmenbeschlusses, keine zeitgleiche Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum -Datenschutz, keine Konkretisierung der Übermittlungsverbote aus Datenschutzgründen, keine Streichung der überschießenden Umsetzung im Hinblick auf den Datenaustausch mit Nicht-EU-Staaten. Stattdessen wurde die Problematik noch verschärft, indem die Steuerfahndung in den Datenaustausch einbezogen wurde. Es ist – und das sage ich ohne Häme – höchst bedauerlich, dass die FDP hier wieder einmal nur einen ganz kleinen Bruchteil ihrer Forderungen durchsetzen konnte. Und es ist höchst ärgerlich, dass dieser Gesetzentwurf zulasten des Datenschutzes verabschiedet wird, obwohl weder eine europarechtliche noch eine sicherheitspolitische Notwendigkeit dazu besteht. Der Informationsaustausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auf der Grundlage dieses Rahmenbeschlusses funktioniert selbst in den Staaten nicht, die ihn umgesetzt haben – das belegen ein Bericht der Europäischen Kommission ebenso wie Berichte von Praktikern. Dies zur sicherheitspolitischen Notwendigkeit. Zur europarechtlichen Umsetzungspflicht möchte ich zweierlei sagen: Ein Vertragsverletzungsverfahren -wegen Nichtumsetzung eines Rahmenbeschlusses gibt es nicht, und das Bundesverfassungsgericht hat uns auf--gegeben, notfalls die Umsetzung zu unterlassen, wenn ansonsten der Grundrechtsschutz bedroht ist. Die Umsetzung des alten Rahmenbeschlusses zum jetzigen Zeitpunkt ist völlig absurd und überflüssig: Das gesamte Informationsmanagement im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird derzeit ebenso reformiert wie der Datenschutzrahmen der EU. So liegt beispielsweise der offenbar von der Bundesregierung pauschal abgelehnte Entwurf einer Richtlinie zur Schaffung von Standards des Datenschutzes bei Polizei- und Strafverfolgungsbehörden vor, der im Ansatz die einzig richtige Fortführung der Frage verbesserten Datenschutzes angesichts des verstärkten Datenaustausches sein dürfte, auch wenn wir hier derzeit dringenden Verbesserungsbedarf im Hinblick auf den insgesamt zu erreichenden Schutzstandard sehen. Wieso setzen wir ein Relikt aus Maastrichter Zeiten um und schaffen damit einen verfassungsrechtlich unhaltbaren Freibrief zum Datenaustausch, wenn das noch nicht einmal sicherheitspolitischen Nutzen bringt? Und was soll Ihr windiges und vages Bekenntnis zum Datenschutz in Europa im beigefügten Entschließungsantrag, wenn Sie tatsächlich einen Datenaustausch ohne Datenschutz mit EU-Staaten in einer Weise fördern und legalisieren, die das Europarecht gar nicht verlangt? Noch einmal möchte ich ganz ausdrücklich ein klares Ja zu Europa formulieren, und zwar zu einem Europa, in dem sich Freiheit, Sicherheit und Recht, in dem sich -Datenaustausch und Datenschutz die Waage halten. Um das zu erreichen, braucht es mehr als Lippenkenntnisse. Dafür brauchen wir einen starken politischen Einsatz für hohe EU-Datenschutzstandards und die Wahrung höchster Grundrechtsstandards im Umgang mit Daten und Informationen, die unsere Bürgerinnen und Bürger betreffen. Vor allem die Bundesregierung ist gefragt, wenn mit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie, PNR-Abkommen und PNR-Datenrichtlinien oder dem SWIFT-Abkommen die Vorgaben nicht nur unseres Grundgesetzes, sondern auch des europäischen Grundrechtsschutzes unterlaufen werden. Den Respekt vor den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts müssen wir als Politiker ebenso nach Europa tragen wie unsere Kritik an der -widersprüchlichen Politik von Kommission und Rat, die einerseits den Sicherheitsstaat ungehemmt weiter aufbauen und gleichzeitig beanspruchen, als glaubwürdige Vertreter einer Datenschutzreform für die Bürgerinnen und Bürger anerkannt zu werden. Einen Ausverkauf von Datenschutzstandards über die europäische Hintertür wird es mit uns Grünen nicht geben. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8870, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5096 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Februar 2007 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Kuwait über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Drucksache 17/7601 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Februar 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Drucksache 17/7602 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kroatien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten und der schweren Kriminalität – Drucksache 17/7603 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Drucksache 17/7604 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kosovo über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich – Drucksache 17/7605 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. August 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerkabinett der Ukraine über die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung – Drucksache 17/7606 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) – Drucksache 17/8820 – Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Wolfgang Gunkel Gisela Piltz Ulla Jelpke Wolfgang Wieland Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Clemens Binninger (CDU/CSU): Terroristische und kriminelle Netzwerke agieren zunehmend international, über Landesgrenzen hinweg – ein Aspekt der Globalisierung, der vor 20 Jahren vielleicht so noch nicht absehbar gewesen ist. Dieser internationale, grenzüberschreitende Bezug zeigt sich auch in Deutschland deutlich. Deutschland ist Rückzugs- und Planungsraum für -islamistische Terroristen. Das wissen wir spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Deshalb -setzen unsere Sicherheitsbehörden alles daran, den Ak-tionsradius von Terrorverdächtigen und islamistischen Gefährdern so gering wie möglich zu halten und den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Deutschland ist aber nicht nur Rückzugs- und Planungsraum, sondern islamistische Terrororganisationen -rücken unser Land auch immer wieder in den Fokus ihrer Anschlagsdrohungen. Deutschland ist mittlerweile auch zum Zielland geworden. Welche Rolle dabei internationale Netzwerke spielen, zeigen etwa Drohvideos in deutscher Sprache aus dem Ausland, verdeutlichen Reisebewegungen von Terrorverdächtigen aus Deutschland oder unterstreichen die Finanzierungswege des internationalen Terrorismus. Solche grenzüberschreitenden Netzwerke sind auch in der Organisierten Kriminalität von großer Bedeutung. OK-Gruppierungen haben laut aktuellem BKA-Lagebild im Jahr 2010 mehr als 1,6 Milliarden Euro Schaden -verursacht. Die Gewinne dieser Gruppierungen lagen dabei bei 900 Millionen Euro, die oft sofort ins Ausland transferiert werden. Dabei wies ein Großteil, nämlich 511 OK-Ermittlungsverfahren, internationale Bezüge auf; das sind fast 85 Prozent der Ermittlungsverfahren im Bereich Organisierter Kriminalität. Diese internationalen Bezüge erstreckten sich auf 130 Staaten. Das verdeutlicht noch einmal die internationale Dimension, mit der wir es zu tun haben. Genau an dieser Entwicklung muss sich auch unsere Sicherheitspolitik orientieren. Wenn wir diese Entwicklung ernst nehmen, müssen wir erkennen, dass ein einzelner Staat allein oft nicht mehr viel ausrichten kann. Vielmehr müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern wirksame Lösungen finden – wie es auch in der Vergangenheit schon geschehen ist. Wir müssen unsere Kooperation – davon bin ich überzeugt – ausbauen, um auch in Zukunft gegen den internationalen Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität effektiv vorgehen zu können. Deutschland hat dazu in der Vergangenheit mit zahlreichen Staaten Abkommen geschlossen, die die Kooperation in Sicherheitsfragen verbessern und dazu beitragen, dass die Menschen sicherer leben können. Solche internationalen Kooperationen gehen wir mit den vorliegenden -Abkommen auch mit Kuwait, Katar, Kroatien, Saudi-Arabien, dem Kosovo und der Ukraine ein. Mit den Abkommen – die weitgehend inhaltsgleich sind – schaffen wir die Rechtsgrundlage für die Kooperation in allen wesentlichen Bereichen. Unter anderem geht es um Terrorismus und Terrorismusfinanzierung, Waffenschieberei, Drogenhandel, Geldwäsche, Falschgeld, Menschenhandel und Zuhälterei, Steuer- und -Zolldelikte, Urkundenfälschung – allesamt Straftaten von erheblicher Bedeutung. Dabei bezieht sich die Zusammenarbeit nicht nur auf den Austausch von Informationen über Straftaten und Netzwerkstrukturen, sondern auch auf operative Zusammenarbeit, die Entsendung von Verbindungsbeamten, den Austausch von Erfahrungen und Forschungsergebnissen sowie Unterstützung bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitspersonal. Mit anderen Worten: Wir geben unseren Sicherheits--behörden die notwendigen Instrumente an die Hand, -damit sie ihre Arbeit erfolgreich erledigen können. Wichtig ist dabei ein weiterer Punkt: Die Zusammenarbeit richtet sich nach innerstaatlichem Recht. Das heißt: Wenn wir Beamte entsenden oder Daten weitergeben, dann auf Grundlage unserer Gesetze und Vorschriften. Das ist deshalb wichtig, weil in der Sicherheits--zusammenarbeit auch die Kooperation mit Ländern geboten ist, die ein anderes Rechtssystem haben. In diesem Zusammenhang unterstreichen wir als Koalition noch einmal mit unserem Entschließungsantrag, dass die -Abkommen klare Datenschutzklauseln sowie Bestimmungen zur Wahrung der Menschenrechte enthalten, die Grundlage für jede Entscheidung zur operativen Zusammenarbeit oder Datenweitergabe sind. Da weder Organisierte Kriminalität noch Terrorismus an Grenzen haltmachen, muss die Sicherheitszusammenarbeit auch mit Drittstaaten gestärkt und fortentwickelt werden. Dies gilt gerade für Regionen von herausgehobener Bedeutung wie den arabischen Raum, den Balkan und Osteuropa. Dafür sind die vorliegenden Abkommen eine wichtige Grundlage. Sie werden einen maßgeblichen Beitrag zu mehr Sicherheit in allen Vertragstaaten leisten. Deshalb stimmt die Union den vorliegenden Gesetzen zur Ratifizierung der Abkommen zu. Wolfgang Gunkel (SPD): Es besteht kein Zweifel: Der Kampf gegen internationalen Terrorismus und Organisierte Kriminalität kann sich nicht nur auf die Europäische Union beschränken. Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb der EU ist notwendig und wesentlicher Bestandteil der deutschen Sicherheitspolitik. Die hier vorliegenden Gesetzentwürfe betreffen Abkommen über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich, welche von der Bundesrepublik Deutschland mit den Regierungen des Staates Kuwait, des Staates Katar, der Republik Kroatien, des Königreichs Saudi-Arabien, der Republik Kosovo und dem Ministerkabinett der -Ukraine abgeschlossen wurden. Mit den Abkommen soll die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Organisierten Kriminalität und des Terrorismus verbessert werden. Dabei geht es auch um den Austausch von Informationen und personenbezogenen Daten. Das Abkommen mit Saudi-Arabien sieht darüber hinaus eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Sicherheitstrainings vor. Auch wenn sich das auf den ersten Blick ganz vernünftig anhört, sollte man sich die einzelnen Kooperationspartner doch etwas genauer anschauen. Ich möchte in diesem Zusammenhang gar keinen Hehl daraus machen, dass vier der zur Diskussion stehenden Abkommen unter Beteiligung der SPD im Rahmen der Großen Koalition geschlossen wurden, aber – und das sage ich Ihnen hier ganz deutlich – schon damals mit gravierenden Vorbehalten im Hinblick auf die Abkommen mit Saudi-Arabien, Katar und Kuwait! Und heute? Heute ist die politische Situation in diesen Ländern – auch durch die Auswirkungen des arabischen Frühlings – eine andere. Gerade im Lichte dieser Veränderungen sind auch die Gesetzentwürfe der Bundesregierung zu den hier vorliegenden Sicherheitsabkommen zu sehen. Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass der Antifolterausschuss der Vereinten Nationen im November 2011 Deutschland wegen der geheimdienstlichen Zusammenarbeit mit Drittstaaten gerügt hat. So hat der Ausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen ernsthafte Bedenken geäußert, da sich die Bundesrepu-blik nicht von der Verwendung von Informationen, welche durch ausländische Geheimdienste unter Folter erlangt wurden, distanziert hat. Zwar ist der UN-Antifolterausschuss, dessen einzige „Waffen“ Bemerkungen und Empfehlungen sind, ein zahnloser Tiger; ein politisches Signal sendet er aber allemal. In diesem Sinne möchte ich nun im Folgenden auf die einzelnen Abkommen eingehen. Gerade die Zusammenarbeit mit dem Königreich Saudi-Arabien steht ja bereits seit längerem in der öffentlichen Kritik. Auch im Innenausschuss des Deutschen Bundestages haben wir etwa die Ausbildungstätigkeit der Bundespolizei in Saudi-Arabien diskutiert und als SPD-Bundestagsfraktion deren sofortige Beendigung gefordert. Es ist unverantwortlich, dass deutsche Polizeikräfte unter dem Deckmantel der Sicherheitszusammenarbeit ihren saudi-arabischen Kolleginnen und Kollegen polizeiliche Fähigkeiten vermitteln, die etwa der Niederschlagung der Oppositionsbewegungen dienen können. Dass saudi-arabische Sicherheitskräfte immer wieder gewaltsam gegen Demonstrationen, vor allem der schiitischen Minderheit, vorgegangen sind, und dabei – wie etwa im März 2011 – auch gerne mal den Nachbarstaat Bahrain unterstützen, ist hinlänglich bekannt. Berichte über willkürliche Festnahmen, Inhaftierungen ohne Anklage sowie Folter und Misshandlungen in saudi-arabischen Gefängnissen machen das Bild komplett. Zudem ist Saudi-Arabien einer der wenigen Staaten, die gegen die Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium gestimmt haben. Allein die Vorstellung, dass saudi-arabische Ermittler mithilfe deutscher Informationen zu Verdächtigen geführt werden, diesen unter Folter ein Geständnis abpressen, das dann zu einem Todesurteil führt, ist nicht hinnehmbar. Aufgrund dieser politischen Entwicklungen und der menschenrechtlichen Situation im Land haben wir große Bedenken gegen das Sicherheitsabkommen zwischen der Bundesrepublik und dem Königreich Saudi-Arabien. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Hinblick auf die Staaten Katar und Kuwait. Auch in diesen beiden Ländern steht die Todesstrafe auf der Tagesordnung. Die beiden Regierungen scheinen dies auch in keinster Weise ändern zu wollen; denn auch sie reihen sich in die unrühmliche Liste der wenigen Staaten ein, die gegen das UN-Hinrichtungsmoratorium votiert haben. Darüber hinaus sind in diesen Ländern Haft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren ebenso üblich wie die Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Einer Kooperation im Sicherheitsbereich mit den Staaten Kuwait und Katar kann man daher nur mit großen Bedenken begegnen. Auch in der Ukraine hat sich die politische Situation nach der Abwahl der früheren Regierungschefin Julija Timoschenko im Jahr 2010 verschlechtert. Unter der neuen Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch wird Menschenrechtsfragen kein hoher Stellenwert zugemessen. So wurde der ehemalige Innenminister Jurij Luzenko ohne Anklage inhaftiert, und auch die spätere Verurteilung von Julija Timoschenko erfolgte unter mehr als fadenscheinigen Gründen. Diese politische Justiz ist mit demokratischen Vorstellungen nicht vereinbar. Dies sieht wohl auch die EU so und hält aus Protest gegen diese politisch motivierten Verfahren ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zurück. Das Sicherheitsabkommen zwischen Deutschland und der Ukraine muss daher aufgrund der politischen Entwicklungen kritisch gesehen werden. Im Unterschied zu den oben genannten Verträgen kann ich die Abkommen zwischen Deutschland und der Republik Kosovo beziehungsweise Kroatien nur befürworten. Die Republik Kroatien hat ihre Hausaufgaben gemacht und soll nun zum 1. Juli 2013 der 28. Mitgliedstaat der EU werden. Hier ist es wichtig, bereits vorab Fachwissen und Erfahrungen auszutauschen und die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten und schweren Kriminalität zu intensivieren. Im Hinblick auf die Republik Kosovo ist es nach wie vor notwendig, die lokalen Sicherheitskräfte zu unterstützen. So ist es auch im Interesse Deutschlands, die bestehende rechtsstaatliche Verwaltung weiter aufzubauen. Eine Kooperation mit diesen beiden Staaten ist erforderlich und aufgrund der rechtsstaatlichen Bestrebungen vertretbar; den entsprechenden Gesetzentwürfen der Bundesregierung kann ich nur zustimmen. Ich habe deutlich gemacht, dass wir bilaterale Abkommen zur Bekämpfung von grenzüberschreitender Organisierter Kriminalität und Terrorismus auch mit Staaten außerhalb der EU brauchen. Sie sind ohne Zweifel ein wichtiger Baustein der deutschen Sicherheitspolitik. Dennoch sollte man sich seine Kooperationspartner etwas genauer ansehen und auch aktuelle politische Veränderungen in diesen Staaten berücksichtigen. Eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten in sensiblen Bereichen wie Informations- und Datenaustausch darf es nicht um jeden Preis geben – auch nicht im Interesse der Sicherheit. Gisela Piltz (FDP): Meine Rede zum vorigen Tagesordnungspunkt der heutigen Plenardebatte habe ich damit geschlossen, dass unser Ziel ist, Datenübermittlungen von Polizei und Justiz innerhalb Europas mit einem europäischen Datenschutzrechtsrahmen zu flankieren, der unseren Ansprüchen an den Schutz der Grundrechte genügt. Von einem weltweiten Rahmen dieser Art sind wir weit entfernt. Selbst mit unseren engen Partnern, den Vereinigten Staaten, ist es nicht immer einfach, einen gemeinsamen Nenner im Bereich des Datenschutzes zu finden. Umso mehr gilt dies dann natürlich für Staaten, die unseren Wert- und Rechtsvorstellungen ferner stehen. Zugleich müssen wir aber feststellen, dass in unserer globalisierten Welt schwere Kriminalität und Terrorismus die Zusammenarbeit mit anderen Staaten immer wichtiger werden lassen. Daran ändert sich auch nichts, wenn man zugleich feststellt, dass für einen liberalen Innenpolitiker derartige Abkommen nicht unbedingt geeignet sind, Glücksgefühle auszulösen. Denn es ist selbstverständlich wichtig, auch auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit mit Partnern in anderen Staaten zusammenzuarbeiten. Nicht nur macht Kriminalität nicht an Grenzen halt, sondern es ist auch unser Anliegen, durch diese Zusammenarbeit rechtsstaatliche Grundlagen zu schaffen, die für beide Vertragspartner bindend sind. Ein gemeinsamer Mindeststandard und die gegenseitige Zusicherung, sich daran zu halten – sei es bei der Übermittlung von Daten, sei es bei der Unterstützung der Polizeiausbildung oder sei es bei der Vermittlung von Know-how –, dient dazu, alle Maßnahmen mit dem Ziel, gemeinsam schwere Kriminalität und Terrorismus zu bekämpfen, auf ein ordentliches rechtsstaatliches Fundament zu stellen. Dass weltweit betrachtet der kleinste gemeinsame Nenner nicht das deutsche Datenschutzrecht ist, erschließt sich dabei wohl von selbst – auch wenn es natürlich, quasi in einer idealen Welt, schön wäre, wenn der weltweite Standard dem entspräche. „Zweck von bilateralen Abkommen ist es, den Sicherheitsbehörden bei der Zusammenarbeit Konturen zu verleihen, wie zum Beispiel Deliktfelder und den Rahmen der Zusammenarbeit festzulegen. Es wird quasi der Boden bereitet für eine gute bilaterale Zusammenarbeit.“ Das sagte der Kollege Frank Hofmann für die SPD in der letzten Legislaturperiode zum Sicherheitsabkommen mit Vietnam. Er sagte weiterhin: „Die datenschutzrechtlichen Regelungen dieser Abkommen sind alle … nach einem mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten abgestimmten Muster eingefügt. Für die Polizei werden keine neuen Befugnisse geschaffen. Grundlage bleibt das innerstaatliche Recht, insbesondere die §§ 14 und 15 des BKA-Gesetzes. Nach Abs. 7 des § 14 wird das BKA veranlasst, darauf hinzuweisen, dass die personenbezogenen Daten nur zu dem Zwecke genutzt werden dürfen, zu dem sie übermittelt worden sind. Ferner ist der beim Bundeskriminalamt vorgesehene Löschungszeitpunkt mitzuteilen. Die Übermittlung personenbezogener Daten unterbleibt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass mit der Übermittlung gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes verstoßen wird. Die Übermittlung unterbleibt außerdem, wenn durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden, insbesondere wenn im Empfängerland ein angemessener Datenschutzstandard nicht gewährleistet ist.“ Interessanterweise hat die SPD jetzt aber bei den heute zur Debatte stehenden Sicherheitsabkommen behauptet, quasi datenschutzrechtliche „Bauchschmerzen“ zu haben. Das muss man nicht verstehen, nach diesen Zitaten erst recht nicht. Zu dem eben erwähnten Sicherheitsabkommen mit Vietnam habe ich damals für meine Fraktion gesagt: „Aus unserer Sicht ist die internationale Zusammenarbeit, gerade im Bereich der Inneren Sicherheit, angesichts der grenzüberschreitenden Kriminalität und des internationalen Terrorismus unabdingbar. Wir sind davon überzeugt, dass die Probleme in einer globalisierten Welt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden können. Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Beziehungen mit internationalen Partnern von herausragender Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen dann nicht zustimmen, wenn Regelungen enthalten sind, die wir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen.“ Nun könnten Sie natürlich fragen, warum wir die heute zur Beratung stehenden Abkommen nicht ablehnen. Die Antwort lautet: Wir haben gemeinsam mit dem Koalitionspartner im Innenausschuss eine Entschließung verabschiedet, die einfordert, welche Rahmenbedingungen zu beachten sind. Der Bundesregierung haben wir mit der Entschließung aufgegeben, dafür Sorge zu tragen, dass erstens Daten nicht übermittelt werden, wenn Menschenrechtsverletzungen für die betroffenen Personen drohen, dass zweitens Bedingungen für die Nutzung etwa übermittelter Daten zu setzen sind, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, dass drittens stets strikt innerstaatliches (deutsches) Recht beachtet wird, wenn Daten übermittelt werden sollen, und dass viertens Menschenrechte und rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze Bestandteil jedweder Schulungs- und Ausbildungstätigkeit sind. Damit haben wir flankierend zur Ratifizierung der Abkommen noch einmal verdeutlicht, dass die notwendige internationale Zusammenarbeit nicht zu einem Schleifen rechtsstaatlicher Standards in Deutschland führen darf. Wir werden möglicherweise nicht alle Staaten auf der Welt davon überzeugen können, das deutsche Datenschutzrecht in ihrem nationalen Recht zu implementieren. Aber wir werden jedenfalls dafür Sorge tragen, dass strikte Anforderungen beachtet werden, wenn Daten von unseren Sicherheitsbehörden an andere Länder übermittelt werden. Das ist unser Beitrag zum Datenschutz und zu den Menschenrechten in diesem Zusammenhang in dieser Legislaturperiode. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es das in den vorigen Legislaturperioden gegeben hätte. Das zeigt: Wir nehmen unsere Aufgabe als Parlamentarier bei der Ratifizierung solcher Abkommen ernst. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung beantragt die Zustimmung zu einer Reihe von Verträgen mit anderen Staaten über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Diese beinhaltet umfassenden Datenaustausch. Die Linke wird diesen Verträgen nicht zustimmen. In Ländern wie Kuwait, Katar und Saudi-Arabien werden die Menschenrechte aufs Schwerste missachtet, wie aus Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch hervorgeht. In Saudi-Arabien sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Gerichte verhängen dort grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen, die auch ausgeführt werden, vor allem Auspeitschungen. Zur Rettung des feudalen Regimes im Nachbarland Bahrain vor einer demokratischen Protestbewegung war im Frühjahr 2011 die saudi-arabische Armee in Bahrein einmarschiert. In Kuwait werden Kritiker des Präsidenten schikaniert und verfolgt. Frauenrechte werden in allen diesen Ländern extrem missachtet. Migranten und Staatenlosen werden grundlegende politische und soziale Rechte wie etwa der Zugang zu Gesundheitswesen und Bildung verweigert. Menschenrechtler und Regierungskritiker werden eingeschüchtert, bedroht, eingesperrt und mit politisch motivierten Prozessen überzogen. Mit solchen Staaten auf dem Sicherheitssektor zu kooperieren, ohne sich zum Komplizen von Folterern zu machen, ist eine Gratwanderung, welche die Bundesregierung nicht meistert. Die Problematik fängt schon bei der Beschreibung der Delikte an, deretwegen die deutschen Sicherheitsbehörden mit jenen der anderen Staaten kooperieren sollen. Sie ist nicht abgeschlossen, im Prinzip kann es also um alles gehen, was in einem der Staaten verboten ist. Ganz oben steht der Terrorismus. Wer ist nicht gegen Terrorismus? Der Teufel steckt aber im Detail: Es gibt keine Definition dieses Begriffs. Wir können davon ausgehen, dass diese Regime jede Freiheitsbewegung für „terroristisch“ erklären. Zudem ist bekannt, dass in etlichen dieser Staaten Verhaltensweisen, die hierzulande vollkommen legal sind, für kriminell erachtet werden. So werden in Katar beispielsweise Personen wegen Vergehen im Zusammenhang mit „unerlaubten sexuellen Beziehungen“ oder Alkoholkonsum zu 30 bis 100 Peitschenhieben verurteilt. Dort ist eben kriminell, wer als Schwuler oder Lesbe gleiche Rechte fordert oder einfach nur in der Öffentlichkeit ein Bier trinken will. In der Aufzählung der Delikte fehlt natürlich auch nicht der Punkt der „unerlaubten Einschleusung von Ausländern“. Das ist ebenfalls ein weites Feld: Damit kann man berufsmäßige, skrupellose Schleuser treffen, die das Schicksal von Flüchtlingen ausbeuten und nur allzu oft deren Leben gefährden, damit kann man aber auch das humanitäre Engagement von Helfern kriminalisieren, die Flüchtlinge retten. Dazu braucht man gar nicht die diktatorischen Regime im Nahen Osten zu betrachten, auch Italien bringt so etwas fertig. Die pauschale Kriminalisierung der „Einschleusung“ ist absolut unangebracht. Das sage ich auch im Blick auf die Verträge mit der Ukraine und Kroatien, beides Anrainerstaaten der EU. Deswegen lehnt es die Linke auch ab, vertraglich festzulegen, dass den ausländischen Vertragspartnern „alle interessierenden Informationen“ zu den jeweiligen Delikten übermittelt werden sollen. Die Sicherungsklauseln in den Vertragstexten sind völlig unzureichend. So „kann“ die Bundesrepublik die Kooperation verweigern, wenn ein bestimmtes Delikt in Deutschland gar nicht strafbar ist oder wenn Grund zur Annahme besteht, dass der Partnerstaat mit den Informationen aus Deutschland missbräuchlich umgeht. Aber: Die richtige Reihenfolge wird hier umgedreht. Notwendig wäre eine Einzelfallprüfung. Nur dann, wenn man sicherstellen kann, dass eine Datenübermittlung angebracht und notwendig ist, sollte sie stattfinden. Doch stattdessen wird hier der Datenaustausch zur Regel und die Austauschverweigerung zur Ausnahme. Die Beamten, die im Innenministerium oder im BKA Anfragen prüfen, sind immer auf der sicheren Seite, wenn sie Informationen rausrücken, aber rechtfertigungspflichtig, wenn sie das nicht tun. Und das ist falsch; denn das bedeutet, Menschenrechte und Datenschutz auf den Kopf zu stellen, und deswegen lehnt die Linke diese Abkommen ab. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Zusammenarbeit im Sicherheitssektor, über die wir heute sprechen, gibt es längst, auch wenn die vorliegenden Verträge noch nicht ratifiziert waren. Die Abkommen, die wir heute ratifizieren sollen, sind teilweise ein halbes Jahrzehnt alt, die Mehrheit hat noch der Bundesinnenminister Schäuble paraphiert. Muntere Kooperation ohne geordnete Rechtsgrundlage – da fragt man sich schon, was für ein Verständnis von ordnungsgemäßem Vorgehen das sein soll. Und es zeigt, wie wenig Wert diese Regierung – und auch die Große Koalition zuvor – in manchen Fragen auf die korrekte Beteiligung des Deutschen Bundestages legt. Wir haben hier sogar schon heftig darüber gestritten, im Plenum und im Innenausschuss, wie diese Zusammenarbeit aussieht. Bestes – oder wohl doch eher: schlimmstes – Beispiel ist Saudi-Arabien. Da läuft seit Jahren ein Ausbildungseinsatz der Bundespolizei, parlamentarisch kaum zu greifen, festgelegt in einem Vertrag zwischen einem Rüstungskonzern und einem Regime, das Freiheit und Menschenrechte nicht gerade hoch schätzt. Das hat man alles ohne das heute vorliegende Abkommen gemacht, und es kann nun keiner behaupten, dass mit dem Abkommen nun alles besser würde; denn das gibt der Text nicht her. Und wenn es im Interesse der Bundesregierung gewesen wäre, den Ex-Bundespolizisten Hansen – auch bekannt unter seinem Kampfnamen Udo von Arabien – und sein fragwürdiges Ausbildungsprojekt für saudische Polizeitruppen im Sold von EADS durch ein Abkommen zu stoppen, dann hätte man dieses Abkommen schon längst ratifizieren können. Im Grunde sind solche Verträge ja der richtige Gedanke – die Zusammenarbeit auf einem so sensiblen Sektor wie dem der Sicherheit bedarf der klaren rechtlichen Regelungen. Und, ja, wir sind beispielsweise bei der Bekämpfung des Terrorismus auf internationale Zusammenarbeit angewiesen, und diese Zusammenarbeit muss eine feste Basis haben. Aber genau das leisten diese Abkommen eben gerade nicht. Sie sind gekennzeichnet von zu unklaren menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Bindungen, zu diffusen Anwendungsbereichen und zu laxen Kontrollen und Standards. Schon die Fundamentaldaten stimmen nicht: Menschenrechtliche Standards werden eher blumig und am Rande erwähnt – und sie sind keineswegs immer gewahrt, wenn Kuwait oder Saudi-Arabien nach ihrem innerstaatlichen Recht verfahren. Die feste Bindung an Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit muss man mit der Lupe suchen, und auch dann wird man nur teilweise fündig. Und das darf uns bei einigen der Staaten, um die es hier geht, nicht ausreichen. Man kann nicht annehmen, dass Katar und Kuwait, Saudi-Arabien, aber auch die Ukraine immer Standards anlegen, wie wir es tun – im Gegenteil, man hat genug Belege, dass in allzu vielen Fällen eben nicht die rechtsstaatlichen Standards gelten, die wir einfordern. Das gilt auch für die Fragen des Rechtsweges und der Datenweitergabe. Der Austausch von Informationen ist wichtig, das steht ja gar nicht infrage. Aber es kann nicht sein, dass der individuelle Rechtsschutz quasi nicht durchsetzbar ist, dass also die Kautelen und Bedingungen für die Datenweitergabe für die Betroffenen überhaupt nicht durchsetzbar sind. Das ist deswegen von so großer Bedeutung, weil das Abkommen sich ja nicht nur auf die Strafverfolgung bezieht, sondern vor allem auf die Gefahrenabwehr. Hier ist das Treiben von Schindluder mit Daten und Erkenntnissen vorprogrammiert. Eine weitere Problematik steckt in den Katalogen der Straftaten, zu deren Bekämpfung kooperiert werden soll; denn es handelt sich ja eben nicht nur um Terrorismus und um schwerste Straftaten oder Organisierte Kriminalität, sondern um fast die komplette Bandbreite der Kriminalität. Bisweilen müssen die Taten von erheblicher Bedeutung sein, bisweilen muss es sich um schwere Kriminalität handeln, bisweilen werden „insbesondere“ schwere Verbrechen bekämpft, aber damit eben auch weit weniger schwerwiegende Delikte. Eine klare Linie ist hier nicht zu erkennen, und aus unserer Sicht ist der Rahmen hier viel zu weit gesteckt und zu undeutlich gekennzeichnet. Auch hier ist ausgerechnet das Abkommen mit Saudi-Arabien am weitestgehenden: Danach bezieht sich die Kooperation sogar auf Taten, die in einem Drittland vorbereitet oder begangen werden. Schließlich wird die Zusammenarbeit in der Ausbildung vereinbart. Das klingt vielversprechend, da mag man sich auch Hoffnungen machen, so rechtsstaatliche Standards zu verbessern. Nur, die Realität ist eine -wesentlich traurigere, wie in Saudi-Arabien schon zu besichtigen ist. Da werden reichlich Fähigkeiten vermittelt, die auch zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung dienen können. Zu niedrige Standards, unklare Reichweite, zu wenig Rechtsschutz und all das bei rechtsstaatlich unzuverlässigen Partnern: diese Abkommen müssen wir ablehnen. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des Staates Kuwait. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/7601 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des Staates Katar auf Drucksache 17/7602 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Republik Kroatien auf Drucksache 17/7603 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien auf Drucksache 17/7604 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820 empfiehlt der Innenausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Regierung der Republik Kosovo auf Drucksache 17/7605 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8820, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit dem -Ministerkabinett der Ukraine auf Drucksache 17/7606 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Biobanken als Instrument von Wissenschaft und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz prüfen und Missbrauch genetischer Daten und Proben wirksam verhindern – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz von Patientinnen und Patienten bei der genetischen Forschung in einem Biobanken-Gesetz sicherstellen – Drucksachen 17/3868, 17/3790, 17/8873 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Feist René Röspel Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dr. Petra Sitte Krista Sager Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates „Humanbiobanken für die Forschung“ vom Juni 2010 hat eine Diskussion über die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für Humanbiobanken angestoßen. Humanbiobanken enthalten von Menschen stammende erbsubstanzhaltige Materialien mit den dazugehörigen Daten, welche wiederum mit personenbezogenen Angaben und gesundheitsbezogenen Informationen verknüpft sind. Diese Datenbestände werden für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung gesammelt oder aufbewahrt. Dabei handelt es sich beispielsweise um DNA-, Blut- oder Gewebeproben, die zusammen mit Hintergrundinformationen der Spender verwaltet werden. Humanbiobanken erlangen wachsende Bedeutung für die biomedizinische Forschung. Sie eröffnen wichtige Möglichkeiten für die Aufklärung der Ursachen von Krankheiten und die Entwicklung von Therapien. Im Hinblick auf die damit verbundenen ethischen und rechtlichen Herausforderungen ist der Deutsche Ethikrat zu dem Schluss gekommen, dass rechtlicher Reglungsbedarf bestehe. Den Umgang mit genetischen Proben und Daten zu den wesentlichen anderen Zwecken außerhalb der Forschung, Arbeitgeber, Versicherungen etc., regelt seit Februar 2010 das Gendiagnostikgesetz. Dort war auf einen ausdrücklichen Forschungsteil jedoch bewusst verzichtet worden. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der rechtliche Rahmen, bestehend aus Landes- und Bundesdatenschutzgesetzen, standesrechtlichen Bestimmungen und Ethikkommissionen sowie internationalen Empfehlungen etwa der OECD für den Forschungsbereich ausreichend sei. Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme festgestellt, dass der Bereich neue Dynamik gewonnen hat. Die Nutzung nimmt immer neue Formen an, es werden immer mehr Daten mit größerem Informationsgehalt gespeichert, eine Anonymisierung ist teilweise nicht mehr möglich oder gewollt. Dazu kommen Trends zur Vernetzung, Internationalisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung. Daher müssten neue gesetzliche Regelungen gefunden werden. Ziel der Empfehlungen ist es, für den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Spender einen adäquaten Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen und für die Forschung mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Der Deutsche Ethikrat hat daher ein Fünf-Säulen-Modell vorgeschlagen: Erstens die Etablierung eines Biobankgeheimnisses, zweitens die Festlegung der zulässigen Nutzung, drittens die Einbeziehung von Ethikkommissionen, viertens die Qualitätssicherung beim Datenschutz und fünftens die Transparenz der Ziele und Verfahrensweisen einer Biobank. Ich habe bereits in der ersten Beratung der vorliegenden Anträge dem Ethikrat ausdrücklich für seine Stellungnahme gedankt und möchte dies noch einmal betonen. Neben der fachlichen Expertise hat die Stellungnahme zu einer kritischen Reflexion der bestehenden Praxis unter Fachleuten und in der Politik geführt. Diese Reflexion und die öffentliche Auseinandersetzung war nötig. Alle Beteiligten – sowohl Biomaterialspender als auch Forschungseinrichtungen – brauchen Verlässlichkeit und Sicherheit. Voraussetzung für die Nutzung von Humanbiobanken sind daher Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, das wissenschaftliche Potenzial von Humanbiobanken auch im Rahmen vernetzter und internationaler Zusammenarbeit zu nutzen. Dabei müssen gleichzeitig die Rechte des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes und die informationelle Selbstbestimmung der Spender gewährleistet werden. Bei allen Diskussionen, die wir seitdem geführt haben, hatten alle Beteiligten stets das Ziel, einerseits den Forschungsstandort Deutschland auf dem humanbiologischen Sektor wettbewerbsfähig zu gestalten und gleich-zeitig die Persönlichkeitsrechte der Spender hinreichend zu schützen. In allen Diskussionen und persönlichen Gesprächen wurde ein Punkt von Praktikern immer wieder betont: Biomaterialien und Daten werden schon seit Jahrzehnten für Forschungszwecke gesammelt, ohne dass in Deutschland ein einziger Fall ernsthaften Missbrauchs bekannt geworden wäre. Das Vertrauen der Menschen ist hoch. Die Mehrzahl der Angesprochenen stellt ihre Daten zur Verfügung, eine Vielzahl sogar mehrmals. Diesen wichtigen Punkt kann ich nur bestätigen. Die Universität Leipzig hat in meinem Wahlkreis ein Forschungsprojekt im Kampf gegen Volkskrankheiten begonnen, mithilfe einer Biobank. Beim Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen, LIFE, werden mehr als 100 Ärzte und Wissenschaftler der Universität sowie der Universitätsmedizin bis 2013 rund 25 000 Leipziger klinisch und bioanalytisch untersuchen. Die knapp 40 Millionen Euro teure Bevölkerungs- und Patientenstudie soll die Zusammenhänge zwischen genetischer Anlage, Stoffwechsel und individueller Lebensführung in großem Umfang erforschen. Ziel ist es, Erkenntnisse über Ursachen und die unterschiedliche Ausprägung der wichtigsten Zivilisationserkrankungen zu gewinnen und neue Ansätze für eine frühzeitige Prävention und Therapie zu finden. Die Resonanz ist groß. 1 200 Teilnehmer haben seit dem Start im Februar 2011 umfangreiche Befragungen und Untersuchungen absolviert. Bis Ende 2014 sollen es 26 000 Teilnehmer werden, und die Verantwortlichen sind optimistisch, das zu erreichen. Das Vertrauen der Menschen in Humanbiobanken ist also groß. Im Gegensatz dazu besteht unter den Experten keine Einigkeit darüber, ob eine gesetzliche Regelung von Humanbiobanken nötig ist. Weder die geladenen Experten während der Anhörung im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung noch die Fachleute, die auf Einladung des Deutschen Ethikrates und der TMF, Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., über den gesetzlichen Regelungsbedarf diskutiert haben, konnten sich darüber einig werden. Vielmehr argumentieren die Praktiker, dass die bestehenden Rahmenbedingungen bereits ausreichend und international vorbildlich sind. Der Probandenschutz wird über verschiedene Regelungen im Arzneimittelgesetz, dem Datenschutzgesetz und verschiedene Leitlinien geregelt. Grundsätzlich gelten für alle Spender die grundgesetzlich garantierten Grundrechte, ihre Rechte auf Würde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf Persönlichkeit und informationelle Selbstbestimmung. Demgegenüber besteht aber auch ein berechtigtes Interesse der Forscher und Forschungseinrichtungen an den Materialen und den daraus zu gewinnenden Ergebnissen, kurzum an der Freiheit der Forschung und Berufsausübung. Diese verfassungsrechtliche Forschungs-freiheit gibt jedem Forscher das Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, vorbehaltlich der Verfassungstreuepflicht. Diese ist vorbehaltlos gewährleistet und kann nur durch andere geschützte Rechtsgüter mit Verfassungsrang beschränkt werden. Die grundsätzlichen datenschutzrechtlichen Bestimmungen finden sich im Bundesdatenschutzgesetz wieder. Hier werden die Erhebung, Nutzung und Verarbeitung geregelt. Hier einige Beispiele, die nicht abschließend sind: Bei Entnahme durch einen Arzt zu medizinischen Heilzwecken fallen alle Informationen unter das Arzt-Patienten-Verhältnis und damit unter das Standesrecht für Ärzte und die ärztliche Schweigepflicht, eine Weiternutzung durch eine Biobank ist nur nach einer ausdrücklichen Willenserklärung durch den Patienten möglich, jede Entnahme rein zu Forschungszwecken ohne medizinischen Heilzweck unterliegt zwingend einer Einwilligung, da sie sonst eine Körperverletzung darstellt, es muss jeweils eine datenschutzrechtliche und persönlichkeitsrechtliche Aufklärung erfolgen (Zweck, Art und Weise der Durchführung, Gefahren, Komplikationen etc.). § 40 BDSG schreibt für die wissenschaftliche Forschung vor, dass diese Daten nur für diesen Zweck verwendet werden dürfen und anonymisiert werden müssen. Bei der Verwendung zu Forschungszwecken muss sich der Arzt von einer Ethikkommission beraten lassen. Biobanken unterliegen der grundsätzlichen Aufsicht eines eigens zu bestellenden Beauftragten für Datenschutz. Jedes Unternehmen muss die beteiligten Personen auf das Datengeheimnis verpflichten. Die Betreiber von Humanbiobanken werden darüber hinaus ein glaubhaft hohes Eigeninteresse daran haben, gesetzliche Standards und darüber hinaus allgemein akzeptierte wissenschaftliche Standards und Empfehlungen einzuhalten, da sie maßgeblich an dem Vertrauen der Patienten interessiert sind. Der Erfolg der Biobanken wird durch das Vertrauen der Probanden bestimmt, da diese als aktive Partner im Forschungsprozess benötigt werden. Von vielen Experten wurden die Empfehlungen des Ethikrates zur Festlegung der zulässigen Nutzung, zur Einbeziehung von Ethikkommissionen, zur Qualitätssicherung und Transparenz nicht nur begrüßt, sondern als zum Teil bereits gängige Praxis beschrieben. So erklärte Professor Dr. Wichmann vom Helmholtz-Zentrum München, dass die Empfehlungen des Ethikrates in vielen Punkten den „goldenen Standard“ für Biobanken darstellen. Es sei aber bereits jetzt für große bestehende und geplante Biobanken möglich, diese Forderungen auch ohne gesetzliche Regelung zu erfüllen. Herr Professor Wichmann und Expertengremien wie die beiden lebenswissenschaftlichen Senatskommissionen der Deutschen Forschungsgemeinschaften schlagen daher vor, dass derzeit auf eine allgemeine und umfassende gesetzliche Regelung in Form eines Forschungs-Biobankgesetzes verzichtet werden sollte, da dies zu -einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand führen würde. Der Verwaltungsmehraufwand würde insbesondere kleine und projektbezogene Datensammlungen an Universitäten überfordern. Für das Biobankgeheimnis bestehen im Ausland keine vergleichbaren Schutzvorschriften, sodass hieraus negative Auswirkungen in Bezug auf die zunehmende Zahl internationaler Kooperationen resultieren könnten. Stattdessen sollten auf der bestehenden Rechtsgrundlage für große Biobanken die Einhaltung der in der Empfehlung des Deutschen Ethikrates enthaltenen Prinzipien gefordert werden. Dies könnte wirkungsvoll dadurch geschehen, dass deren Einhaltung zur Voraussetzung für die öffentliche Förderung von Biobanken gemacht wird und ferner die Datenschutzbeauftragten und Ethikkommissionen die Einhaltung der Vorgaben fordern und überprüfen. Ein weiteres Argument gegen eine gesetzliche Regelung ist die Tatsache der Verteilung der Gesetzgebungskompetenz. Besonders interessant ist in diesem Fall die Einschätzung von Professor Dr. Jochen Taupitz, Mitglied des Deutschen Ethikrates und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim, dass der Bund überhaupt keine Kompetenz für ein Biobankgesetz hat und es damit zwangsläufig zu einer weiteren Rechtszersplitterung durch verschiedene Ländergesetze kommen muss. Diese wäre meiner Meinung nach nicht im Interesse oder der Forschung. Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung aller Argumente bin ich daher zu dem Schluss gekommen, dass eine gesetzliche Regelung von Humanbiobanken zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erforderlich ist und die vorliegenden Anträge daher abzulehnen sind. Die öffentliche Anhörung und das Expertengespräch haben das heterogene Meinungsbild der Experten bezüglich einer gesetzlichen Regelung aufgezeigt. Aus meiner Sicht sind die Argumente gegen eine gesetzliche Regelung überzeugender. Die Experten haben das hohe Datenschutzniveau in der Praxis auf Basis der geltenden Datenschutzgesetze von Bund und Ländern dargestellt. Es gibt bisher keine – ich wiederhole das immer wieder, weil es so wichtig ist – Hinweise auf Fälle missbräuchlicher Verwendung von Proben und Daten in Biobanken. Insgesamt können die Empfehlungen des Ethikrates auf der Grundlage der bestehenden allgemeinen und speziellen gesetzlichen Regelungen umgesetzt werden. Es gibt ein hohes Interesse, das in Biobanken liegende wissenschaftliche Potenzial ausschöpfen zu können, um die medizinische Forschung voranzubringen. Hierzu gehört es eben auch, dass die Verwendung der Proben und Daten nicht auf spezifische Forschungsvorhaben beschränkt bleibt und die Weitergabe im Wissenschaftsbereich möglich ist. In diesem Zusammenhang ist besonders die von den Grünen angestrebte unverzügliche Löschung der in Biobanken enthaltenen Daten kritisch zu betrachten. Diese steht, wie schon der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme bemerkte, oftmals in direktem Widerspruch zur Forschungspraxis, da die zugrunde liegenden Daten mitunter auch nach dem Erreichen des angestrebten Forschungsziels als wichtige Informationsquelle, gerade auch für die Evaluierung und Weiterführung von im Forschungsprozess aufgetauchten Fragestellungen, von hoher Relevanz bleiben können. In diesem Rahmen gilt es auch zu bedenken, dass eine zu enge Eingrenzung der Verwendung im Zuge der informierten Einwilligung der Probanden die Forschungsarbeit erheblich beeinträchtigt. Was nutzen dem Forscher Daten, die er nicht verwenden kann, weil sie einem zu spezifischen Zweck zugeordnet sind? Daher ist eine qualifizierte und einsichtige Information der Spender und ein hoher Grad an Transparenz nötig, um die Interessen sowohl der Spender als auch der Forscher zu wahren. Professor Dr. Dabrock von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat in seiner Stellungnahme Folgendes zum Antrag der Grünen formuliert: „Der Antrag scheint die eigentlichen Besonderheiten und Ziele von Biobanken gar nicht zu berücksichtigen.“ Die erhobenen Forderungen „nach strikter Zweckbindung, Anonymisierung und vor allem nach Vernichtung der Proben und Löschung der Daten nach Erreichung des Forschungszieles steht dem Aufbau und der Nachhaltigkeit der Forschungsinfrastruktur von Biobanken diametral entgegen. Wie […] dargelegt sind offene oder erweiterbare Zweckbestimmungen, Datensammelleidenschaft, Pseudonymisierung und Verzicht auf Vernichtung der Proben und Löschung der Daten Grundprinzipien groß angelegter Biobankeninfrastrukturen. Schon die Rede, all dies nur als Ausnahme zuzulassen, verkennt absichtlich oder unabsichtlich den Sinn dieser Forschungsrichtungen. Wer Biobanken wirklich für sinnvoll und notwendig erachtet, muss mit ihren Leitideen konstruktiv umgehen und darf sie nicht einfach umdefinieren.“ „Man kann den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vertreten, man sollte dann aber nicht gleichzeitig behaupten, man halte diese Forschung für sinnvoll und notwendig. Eine Konsequenz dieser Haltung wäre wohl, dass sich Deutschland nach Umsetzung dieser Forderungen aus dem „Emerging Field“ Biobanken verabschieden müsste“, lautet das Fazit von Professor Dabrock. Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen. Ich lehne den Antrag daher ab! Der Antrag der SPD hat eine „behutsame und ergebnisoffene Debatte“ gefordert. Diese wurde meines Erachtens geführt. Allerdings zeigt die heterogene Meinung der Experten über eine Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen deutlich die Gefahr, dass die Politik mit einem Gesetz möglicherweise ein funktionierendes System der Selbstregulierung negativ beeinflussen und damit die Forschung beeinträchtigen könnte. Dies betrifft zum einen den höheren Verwaltungsaufwand und zum anderen die Erschwerung internationaler Kooperationen deutscher Biobankenforschung. Erste Schritte, um die seitens des Deutschen Ethikrates geforderte Qualität und Transparenz von Biobanken in Deutschland sicherzustellen, hat die Bundesregierung, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits unternommen. Hier ist zum Beispiel die Förderung des nationalen Biobankenregisters zu nennen. Es soll Kerninformationen über alle für die medizinische Forschung relevanten Biobanken in Deutschland enthalten und dadurch einen effektiven und strukturierten Zugang zu dieser Ressource gewährleisten. Darüber hinaus wurde die Nationale Biobankenmaterial Initiative gestartet, die zum Aufbau übergeordneter Strukturen an Standorten mit bereits vorhandenen Biomaterialbanken führen wird. Der Antrag der SPD ist daher ebenfalls abzulehnen. René Röspel (SPD): Vor ein paar Monaten haben in mehreren Regionen Deutschlands Bürgerinnen und Bürger Post von einem Netzwerk deutscher Forschungseinrichtungen bekommen, unter anderem der Helmholtz-Gemeinschaft. In dem Schreiben wurden sie gebeten, an der sogenannten Nationalen Kohorte teilzunehmen. In dieser Kohortenstudie sollen circa 200 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer medizinisch untersucht und nach Lebensgewohnheiten wie körperliche Aktivität, Rauchen, Ernährung und Beruf befragt werden. Darüber hinaus werden allen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern Blutproben entnommen und für spätere Forschungsprojekte in einer zentralen Bioprobenbank gelagert. Die -beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhoffen sich durch diese Informationen neue Erkenntnisse über die Entstehung von Krankheiten. Später sollen aus den gewonnenen Daten und Proben Strategien für eine bessere Vorbeugung und Behandlung der wichtigsten Volkskrankheiten abgeleitet werden, ein nachvollziehbares und gutes Ziel, das hoffentlich erreicht werden wird. Diese Nationale Kohorte wird damit die größte Kohorte Deutschlands sein und soll mindestens über einen Zeitraum von 20 Jahren laufen. Da bei dieser Kohorte Blutproben genommen und verwahrt werden und diese bestimmten Personen anonymisiert zugeordnet werden können, handelt es sich hierbei um eine sogenannte Humanbiobank – allgemein auch als Biobank bezeichnet. Unter Biobanken werden Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstanzen wie Gewebe, Blut oder DNA verstanden, die mit -personenbezogenen Daten und sonstigen Informationen verknüpft sind und medizinischen oder wissenschaft--lichen Zwecken dienen. Der Großteil der existierenden Biobanken wird derzeit zu Forschungszwecken genutzt. Würden Sie an der Nationalen Kohorte teilnehmen, wenn Ihnen nicht klar wäre, was mit diesen sehr persönlichen Informationen bzw. den Blutproben genau passiert? Würden Sie teilnehmen, wenn Sie nicht genau wüssten, ob zum Beispiel Straf-verfolgungsbehörden Zugriff auf diese Informationen haben oder was mit den Proben nach Ende des Projekts passiert? Genau das sind die Themen, mit denen sich die beiden uns hier vorliegenden Anträge beschäftigen. Im Mai letzten Jahres hat im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Grundlage dieser Anträge eine öffentliche Anhörung statt--gefunden. Vorangegangen waren Stellungnahmen des -Nationalen Ethikrates, des Deutschen Ethikrates und des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag. Während der Anhörung wurde neben der Bedeutung von Biobanken für die Wissenschaft auch darüber diskutiert, ob für diese eine rechtliche Regelung in Deutschland notwendig sei und, wenn ja, welche -Aspekte dabei reguliert werden sollten. Am Ende wurde noch einmal deutlich, welche Bedeutung Biobanken für die Wissenschaft und Medizin zur Bekämpfung von komplexen Erkrankungen haben. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die erfolgreiche Biobankenforschung eine große freiwillige Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger benötigt. Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass etwa die Hälfte der Befragten -Biobanken keine Proben und persönlichen Daten zur Verfügung stellen wollen. Das mag am Mangel an Informationen oder der grundsätzlichen Skepsis der Deutschen gegenüber der Weitergabe von persönlichen -Daten liegen. Fakt bleibt aber, wie es der Sachverständige Professor Peter Dabrock für die Anhörung formuliert hat: Ohne freiwillige Probanden keine Biobankforschung! Aufgabe von Wissenschaft und Politik muss es also sein, die Informationslage zu verbessern und die allgemeine Skepsis zu verringern, aber auch Defizite oder Unsicherheiten zu beheben. Dafür sind Transparenz und Glaubhaftigkeit enorm wichtig. Kontraproduktiv wirken hingegen die durch die Experten dargestellten Regelungslücken bzw. Unklarheiten zum Beispiel beim Zugang der Daten für Dritte. Professor Dabrock verwies in seiner Stellungnahme darauf, dass die klassischen Prinzipien des Datenschutzes – die Datensparsamkeit, die Zweckbindung und die informierte Einwilligung – aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Biobanken kaum umgesetzt werden können. Daraus zieht er den Schluss, dass gerade dann, wenn man Vertrauen in -Biobanken aufbauen will, neue rechtliche Regelungen nicht auszuschließen sind. Genau diese Prüfung hat die SPD-Bundestagsfraktion ebenfalls im hier vorliegenden Antrag gefordert. Im Ausschuss meinten die Vertreter der Bundesregierung, dass die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates nach einer spezifischen gesetzlichen Regelung von Biobanken bzw. zur Biobankforschung bereits heute auf Grundlage der bestehenden gesetzlichen Regelungen umgesetzt werden könnten. Wenn dem denn so ist, dann frage ich Sie: Welche Empfehlungen hat denn die Bundesregierung seit der Veröffentlichung der Stellungnahme im Jahre 2010 beim Thema Biobanken umgesetzt oder wenigstens auf den Weg gebracht? Gar keine. Insofern verstehe ich nicht, warum CDU/CSU und FDP nicht auf die vielen Expertinnen und Experten hören und endlich im Sinne der Wissenschaft und der Forschung tätig werden. In unserem Antrag haben wir weitere Forderungen im Bereich der Biobanken gestellt. So verlangen wir zum Beispiel ein umfassendes Förderkonzept für den Aus- und Aufbau von Biobanken sowie eine regelmäßige -Unterrichtung des Bundestages zur Forschungsinfrastruktur im Bereich Biobanken. Was genau, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, ist denn gegen diese Forderungen einzuwenden? Was hält Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, davon ab, mindestens diese Minimalforderungen umzusetzen? Für uns als SPD-Bundestagfraktion sind Biobanken ein wichtiges Instrument für die Wissenschaft und Forschung. Es besteht aber die Gefahr, dass die aktuellen datenschutzrechtlich aufgeworfenen Fragen sowie die ungeregelte Einbindung von Ethikkommissionen und Verfahrensregelungen die notwendige Akzeptanz und Teilnahme durch die Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Es wäre schade, wenn Projekte wie die Nationale Kohorte nicht die nötige Resonanz erhalten würden, nur weil die aktuelle Bundesregierung nicht bereit ist, die bereits auf dem Tisch liegenden Lösungen mindestens zu prüfen, geschweige denn umzusetzen. Es wäre jetzt endlich an der Zeit dafür! Dr. Peter Röhlinger (FDP): Die Forschung an genetischen Daten und Biomaterialien hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt und ist für die Wissenschaft zu einer wichtigen Ressource geworden. Es handelt sich nicht mehr um -einzelne kleine Probensammlungen in irgendwelchen Instituten, die von Wissenschaftlern zu begrenzten Forschungszwecken verwendet werden, sondern die Sammlungen werden immer größer, und sie werden auch elektronisch vernetzt. Prinzipien wie Datensparsamkeit oder Dezentralität von Datenspeicherung können im Bereich von Biobanken für die Forschung gar nicht aufrechterhalten werden, weil es darauf ankommt, möglichst viele Daten zu sammeln und zu vernetzen, um neue Erkenntnisse für den medizinischen Fortschritt zu gewinnen. Eine Anonymisierung der Daten und Proben ist in diesem Zusammenhang auch nicht immer möglich und auch nicht gewünscht! Humanbiobanken sind zu einem unverzichtbaren -Instrument der krankheits- und patientenorientierten Forschung geworden. Völlig zu Recht hat sich der Deutsche Ethikrat dieses Themas 2010 noch einmal vertiefend angenommen. Ich habe großes Verständnis dafür, dass es ein gesteigertes Interesse gibt, das in den Biobanken liegende wissenschaftliche Potenzial auszuschöpfen, um die medizinische Forschung voranzubringen. Ich bin mir dessen bewusst, dass die Verwendung der Proben und Daten nicht auf spezifische Forschungsvorhaben beschränkt bleiben kann und die Weitergabe von Proben und Daten im Wissenschaftsbereich möglich sein muss. Daher muss das besondere Augenmerk bei der Bewertung der in Biobanken gespeicherten Informationen auf dem Spenderschutz liegen. Ich bin mir sicher, dass die Forschung ein vitales Eigeninteresse daran hat, ein hohes Maß an Probandenschutz zu gewährleisten. Nur so kann sie die Kontinuität ihrer Arbeit gewährleisten. Die in den Anträgen von SPD und Grünen vertretene Auffassung, dass hier zusätzliche gesetzliche Regelungen erforderlich sind, kann ich nach all dem, was ich in der Anhörung erfahren habe, nicht teilen. Die Sachverständigenanhörung im Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen--abschätzung am 25. Mai vergangenen Jahres zum Thema Humanbiobanken hat mich in meiner Auffassung bestärkt, derzeit keine gesetzgeberischen Initiativen für die genetische Forschung und für die Forschung mit Humanbiobanken zu starten. Seitens der Experten aus der Biobankforschung wurde überzeugend das hohe Datenschutzniveau in der Praxis auf der Basis der -geltenden Datenschutzgesetze von Bund und Ländern dargestellt. Auch liegen keine Hinweise auf Fälle einer missbräuchlichen Verwendung von Proben und Daten in Biobanken vor. Ich bin daher der Auffassung, dass die Empfehlungen des Deutschen Ethikrates auf der Grundlage der bestehenden allgemeinen und speziellen gesetzlichen Regelungen gut umgesetzt werden. Im Übrigen wurde meine Auffassung auch durch das vom Deutschen Ethikrat -zusammen mit der TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. durchgeführte Expertengespräch mit ganz überwiegender Mehrheit gestützt. Ich glaube schon, dass weitere spezielle gesetzliche Anforderungen Hemmnisse für die internationale Kooperationsfähigkeit deutscher Biobankforschung darstellen können. Mit Bezug auf die Vertraulichkeit von Daten gegenüber Dritten müssen wir natürlich genau hinschauen, welches Instrumentarium uns heute bereits zur Verfügung steht. Einigkeit besteht offensichtlich darüber, dass in den zentralen Bereichen Arbeitsleben und Versicherungen das 2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz bereits den Schutz vor dem Zugriff durch private Dritte hinreichend gewährleistet. Ich kann Ihnen daher empfehlen, der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu folgen und damit die beiden Anträge abzulehnen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Sensibilität der persönlichen Daten, die in Biobanken gesammelt werden, erfordert einen besonderen Schutz durch eine verbindliche gesetzliche Regelung. Das war der Tenor der Anhörung zu Biobanken, die wir im Ausschuss für Forschung und Technikfolgenabschätzung im Mai letzten Jahres durchgeführt haben. In Biobanken werden Gewebe-, Zell- und Blutproben gesammelt, die dann zur krankheits- wie patientenorientierten klinischen Forschung zur Verfügung stehen. Im Verlauf von Forschungsprojekten werden diese Proben mit persönlichen Daten zur Krankheitsgeschichte oder Lebensweise der Probanden verknüpft. Ein prominentes Beispiel für eine vielschichtige Datensammlung in Deutschland ist die Nationale Kohorte, ein auf 20 Jahre angelegtes Forschungsprojekt eines großen Netzwerks aus Forschungseinrichtungen und Universitäten. Im Rahmen des Projekts wird eine Datenbank angelegt, die für immerhin 200 000 Menschen detaillierte Angaben über gesundheitlichen Zustand, körperliche Aktivität, Rauchen, Ernährung und Beruf sammelt und Blutproben aufnimmt. Während für die Nationale Kohorte, die als Pres-tigeobjekt der deutschen Forschung gilt, eigens ein -Datenschutz- und Qualitätskonzept entwickelt worden ist, unterliegen bisher die an Uniklinika oder in gen-diagnostischen Labors vorhandenen Probensammlungen keiner Qualitätskontrolle und keiner Regelung des Zugriffs auf die Daten. Das Vertrauen von Spenderinnen und Spendern, die der Forschung ihre persönlichsten Daten zur Verfügung stellen, kann dadurch leicht aufgebrochen werden. Lediglich zwei der sechs Sachverständigen erklärten die momentane Praxis für zufriedenstellend. Darunter war ein Vertreter des Pharmaunternehmens Bayer Health Care, dessen Beruf es ist, eine solche Position zu vertreten, und von dem nichts anderes zu erwarten war. Der stets wiederkehrende Verweis auf den hervorragenden allgemeinen Datenschutz in Deutschland, der von Gegnern einer Extraregelung für Biobanken angeführt wird, macht an den Landesgrenzen halt. Dabei ist es -bekannt, dass der wissenschaftliche Austausch der in Biobanken eingelagerten Zell- und Gewebeproben -bereits weit über Europa hinaus erfolgt. Die Mehrheit der Sachverständigen benannte wichtige Regelungslücken, die geschlossen werden müssen, und unterstützte den Vorschlag des Deutschen Ethik-rates für ein Biobankengesetz. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur enttäuschend, sondern aus meiner Sicht auch unverantwortlich, dass die Koalitionsfraktionen keine Konsequenzen aus der Anhörung ziehen. Sie -haben die beiden Anträge der Oppositionsfraktionen weg-gestimmt ohne eine einzige Aussage dazu, ob sie die offenen Fragen bei dem Thema weiterverfolgen wollen bzw. eine eigene Initiative planen. Aus der Anhörung und den Stellungnahmen vom Ethik-rat und dem Büro für Technikfolgenabschätzung wissen wir, dass in Deutschland bis dato in der Regel hohe Sicherheitsstandards mit Blick auf Persönlichkeitsrechte in Biobanken vorherrschen. Allerdings haben die ebenfalls existierenden Ausnahmen das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein, ULD, bereits 2007 dazu veranlasst, in einem vom BMBF geförderten Gutachten für eine gesetzliche Regelung zu plädieren. Thilo Weichert vom ULD hat bei der An-hörung bestätigt, dass die Sorge nach wie vor berechtigt ist und teilweise große Defizite hinsichtlich der Pseudonymisierung von Gewebeproben und Datensätzen in der Praxis bestehen. Gesetzliche und damit verbindliche Regelungen für Humanbiobanken sind auch vor dem ethisch besonders heiklen Problem der nichteinwilligungsfähigen Probanden notwendig. Nach heutiger Praxis vieler Biobanken willigen Spender und Spenderinnen darin ein, zu welchen Zwecken oder für welchen Zeitraum ihre Daten verwendet werden dürfen. Doch auch Menschen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder jungem -Alter nicht über die Risiken der Abgabe von Proben aufgeklärt werden können, müssen die Chance haben, in Forschungs- und Therapieprojekte aufgenommen zu werden. Spätestens für diese Fälle muss der Staat seiner Fürsorgepflicht nachkommen und den Probandenschutz für alle verbindlich regeln. Ich sehe nach wie vor viele triftige Gründe für ein Biobankengesetz und fordere die Koalitionsfraktionen dazu auf, hier nicht untätig zu bleiben. Und ich bleibe dabei, dass wir eine nachholende gesetzliche Regelung genetischer Untersuchungen zu Forschungszwecken brauchen. Denn der Bereich der Forschung ist bei der Schaffung des Gendiagnostikgesetzes ausgespart worden. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den zurückliegenden Beratungen, insbesondere in der Anhörung des Forschungs- und Bildungsausschusses, haben wir uns ausführlich mit der Sammlung von Bioproben in Humanbiobanken, mit Biobankforschung und den damit verbundenen Herausforderungen beschäftigt. Biobanken gewinnen rasant an Bedeutung für die Lebenswissenschaften. Auch international sind sie ein wichtiges Thema. Umso dringlicher ist daher die Verständigung auf hohe ethische und qualitative Standards und transparente Regelungen zum Umgang mit dem in Humanbiobanken gesammelten Biomaterial. Biobankforschung kann ohne Vertrauen nicht funktionieren. Verlorenes Vertrauen wegen unsachgemäßen Umgangs mit hochsensiblen Daten oder sogar deren Missbrauch ist hingegen schwer wiederherzustellen und mit Sicherheit mit negativen Folgen für Spendenbereitschaft und Akzeptanz solcher Forschung verbunden. Spenderinnen und Spender, die Biomaterialien für Forschungszwecke freiwillig zur Verfügung stellen oder stellen wollen, müssen sich in jedem Fall darauf verlassen können, dass hohe Standards zum Schutz ihrer persönlichen, medizinischen und genetischen Daten verbindlich eingehalten werden. Eine gute Basis für Vertrauen wären übergreifende, institutionelle Sicherungsmaßnahmen. Wir Grünen plädieren daher für einen Regelungsrahmen, der die Forschung mit diesen Proben und Daten ermöglicht, ihre Ziele und Vorgehensweise gegenüber betroffenen Personen transparent macht und den Schutz von Daten und Persönlichkeitsrechten in solchen Forschungsprojekten sicherstellt. Bislang gibt es keine spezifischen gesetzlichen Regelungen über Biobankforschung oder Biobanken, die den Herausforderungen Rechnung tragen, die sich hier stellen. Der Ethikrat hat 2010 vor diesem Hintergrund ein „Fünf-Säulen-Konzept“ vorgeschlagen. Dieses enthält als eine wesentliche Komponente die Verankerung eines Biobankengeheimnisses, das Spenderinnen und Spender vor dem Zugriff Dritter auf Biobanken schützen soll. Wir meinen: Es ist an der Zeit, bestehende Regelungslücken zu schließen; denn Standards für den Umgang mit Bioproben können nicht allein über die Festlegung von Regelungen in Zuweisungsbescheiden geschehen. Schließlich würde das nur staatlich finanzierte Biobanken betreffen. Kommerzielle Biobanken werden damit nicht erfasst. Es ist aber nicht einzusehen, warum unterschiedliche Maßstäbe für privatwirtschaftliche und öffentlich finanzierte Biobanken gelten sollen. Der Antrag, in dem wir uns für ein Biobankengesetz stark machen, liegt Ihnen vor. In der Anhörung wurde von einigen Experten auch von Regelungslücken beim Umgang mit Bioproben von nicht einwilligungsfähigen Menschen berichtet. Es wurde problematisiert, dass viele der großen Arzneimittelunternehmen parallel zur Durchführung von klinischen Studien entsprechende Proben für hauseigene Biobanken und für vom Zweck her nicht genau definierte medizinische Forschung nutzen. Weder das Gendiagnostikgesetz noch das Arzneimittelgesetz sind in diesen Fällen einschlägig. Auch hierfür brauchen wir aus rechtlichen und ethischen Gründen eindeutige Regelungen. Abschließend ein paar Worte zur europäischen Biobankforschung: Andere Länder stehen dabei vor ähnlichen Fragen und Herausforderungen, wie wir sie hierzulande diskutieren. In der Anhörung wurde gesagt, dass eine entsprechende nationale Regelung eine Blaupause für eine europäische Regelung abgeben könnte. Wir haben auch gehört, dass die internationale Vernetzung im Bereich der Biobankforschung zunimmt. Ich bin überzeugt, dass Fragen hoher qualitativer und ethischer Standards an Bedeutung gewinnen, je mehr Nationen in internationale Forschungskooperationen involviert sind, je intensiver solche Kooperationen werden und je mehr sich die internationale Biobankforschung entwickelt. Schließlich stellen uneinheitliche Verfahrensweisen auch Hindernisse für Forschungskooperationen und den Austausch von Ergebnissen dar. In diesem Zusammenhang könnte ein nationales Biobankengesetz eine wichtige Pilotfunktion haben. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/8873. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3868. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3790. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Diplomatische Beziehungen zu Palästina aufwerten – Drucksache 17/8375 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Joachim Hörster (CDU/CSU): Der hier heute zu beratende Antrag der Linken ist nicht mehr aktuell, weil der Bundesaußenminister bei seinem Besuch im palästinensischen Ramallah am 1. Februar 2012 bekannt gab, dass die Generaldirektion Palästinas in Berlin rückwirkend zum 1. Januar 2012 als diplomatische Mission geführt wird. Sie untersteht dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde sowie dessen Außenministerium und übernimmt, ohne den Status einer Botschaft in Deutschland zu haben, in weiten Teilen die Funktionen und Aufgaben einer offi-ziellen Gesandtschaft. Diese Aufwertung hat aber in der Praxis einen eher symbolischen Charakter so wie es auch in Frankreich und Großbritannien der Fall ist, da die Entsendung eines Botschafters nur völkerrechtlich anerkannten Staaten vorbehalten ist. Deutschland erkennt die palästinensischen Autonomiegebiete noch nicht als eigenständigen Staat an, da dies – auch gerade durch den Antrag auf Mitgliedschaft Palästinas bei der UNO vom September 2011 – der Zwei-Staaten-Lösung und damit einer möglichen Beendigung des Konflikts zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten entgegenwirken würde. Die Gründung eines Staates Palästina kann nur ein Resultat direkter Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern sein, welches die gegenseitige Anerkennung beider Staaten beinhaltet. Die internationale Gemeinschaft kann hier nur als Vermittler agieren. Die am 27. April 2012 in Kairo unterzeichnete Vereinbarung zwischen der im Westjordanland regierenden Fatah und der im Gazastreifen dominierenden Hamas stellt einen begrüßenswerten Schritt in Richtung auf Versöhnung innerhalb der Führung der palästinensischen Gebiete dar, die seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas 2007 im Gazastreifen eine tiefe Spaltung erfahren hat. Basis der Vereinbarung sind der seit 10. September 2009 vorliegende ägyptische Versöhnungsvorschlag, ein Protokoll der Verständigung zwischen Fatah und Hamas und die Vorschläge von Präsident Abbas zu einer Einheitsregierung. Aufgabe der Regierung soll die Vorbereitung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innerhalb eines Jahres sein, der Wiederaufbau sowie die Zusammenführung der verschiedenen Behörden und Ministerien. Jedoch kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den beiden Verhandlungspartnern. Als Beispiel sei hier der schon erwähnte Antrag bei der UNO auf Anerkennung und Mitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen aufgeführt. Die islamistische Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, unterstrich ihren Widerstand gegen das Vorgehen des Palästinenserpräsidenten Abbas. Die Palästinenser sollten nicht vor den Vereinten Nationen um einen Staat betteln, sondern ihr Land befreien, sagte Hamas-Führer -Ismail Hanija. Auch sind viele im Versöhnungsplan vorgesehene Punkte bisher noch nicht umgesetzt worden, zum Beispiel die Vorbereitung von Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen. Ein Hauptstreitpunkt liegt in dem Bekenntnis der Fatah zum Friedensprozess mit Israel, den die Vertreter der Hamas grundsätzlich ablehnen. Die palästinensische Führung steht aber auf der anderen Seite vor einem Dilemma, dass durch den israelischen Siedlungsbau zunehmend Tatsachen vor Ort geschaffen werden, die sich auf eine Situation hinbewegen, die die Schaffung eines zusammenhängenden, lebensfähigen palästinensischen Staates zunehmend unmöglich erscheinen lassen. Im Interesse der palästinensischen Seite müsste an einer raschen Verhandlungslösung gearbeitet werden. Gleichzeitig leidet das Ansehen der palästinensischen Führung bei der Bevölkerung angesichts fehlender greifbarer Ergebnisse im Friedenspro-zess unter – aus Sicht der Bevölkerung zu weitgehenden – Zugeständnissen an Israel. Der nach dem Ende des Siedlungsmoratoriums rasch und umfangreich wieder aufgenommene Siedlungsbau hat die Aussichten auf Fortsetzung der Gespräche verschlechtert – das Verhältnis zwischen der palästinensischen Führung und ihren israelischen Pendants ist von tiefem gegenseitigen Misstrauen geprägt. Die internationale Gemeinschaft hat den Siedlungsbau der Israelis nachhaltig kritisiert, und auch bei den Treffen zwischen der Bundesregierung und dem Staat Israel ist von deutscher Seite unmissverständlich ein Siedlungsstopp verlangt worden. Die palästinensische Führung hat bislang aus inhaltlichen Gründen ein Junktim zwischen Siedlungsbaustopp und Verhandlungen hergestellt: Die Einstellung des Siedlungsbaus ist eine Forderung an Israel aus früheren Abkommen, unter anderem der sogenannten Roadmap des Nahostquartetts. Israel seinerseits fordert die Anerkennung des Staates Israels durch die palästinensische Führung, um damit die Sicherheit des Landes gewährleisten zu können. Seit dem letzten Besuch des Bundesaußenministers im palästinensischen Ramallah konnte bei den Versöhnungsgesprächen zwischen der Fatah und der Hamas in Katars Hauptstadt Doha ein gewisser Durchbruch auf dem Weg zu einer palästinensischen Einheit verzeichnet werden. In der sogenannten Doha-Deklaration haben sich die beiden Parteien auf eine Einheitsregierung unter Führung von Mahmud Abbas geeinigt, die die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nun vorbereiten soll. Ob der Versöhnungsprozess weiter vo-rankommt, hängt aber auch von der Basis der beiden Parteien ab. Verabredete Schritte, wie die beidseitige Freilassung inhaftierter politischer Gefangener, wurden bisher nicht umgesetzt. Die Liste der Vorschläge zur Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern ist lang. Im Hinblick auf eine mögliche Lösung des Nahostkonflikts erscheinen aber nur zwei Abkommen bzw. Initiativen als die praktikabelsten: zum einen die Roadmap des Nahostquartetts, mit ihrer Zwei-Staaten-Lösung und zum anderen die im März 2002 durch den saudischen Kronprinzen Abdullah eingebrachte arabische Friedensinitiative, die von einer Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten ausgeht, wenn es sich aus allen besetzten Gebieten zurückzieht. Selbst Israel und die Palästinenser sehen bis heute darin eine Verhandlungsgrundlage. Seine grob skizzierten Gedanken, wie aus der damaligen – und auch gegenwärtigen – Spirale von Gewalt und Gegengewalt herauszufinden wäre, basieren auf der Grundidee, dass Israel für die Herausgabe von besetzten Gebieten Frieden bekommt. Das war damals nicht neu. Neu war jedoch, dass bei einem Frieden die gesamte arabische Welt Israel und damit die Existenz des jüdischen Staates anerkennt. An diese Punkte gilt es weiter anzuknüpfen. Aufgrund des Streites um die UNESCO-Mitgliedschaft Palästinas war das aktuelle Engagement der Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahostquartett erstmals seit mehr als 15 Monaten wieder gemeinsame Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern in Jordanien initiieren konnte, ein wichtiges Signal, um den Friedensprozess wieder zu beleben und die Verhandlungspartner wieder an einen Tisch zu bekommen. Dass auch diese Gespräche scheiterten, lag zum einen an der Weigerung Israels, den von den Palästinensern geforderten Baustopp jüdischer Siedlungen im besetzten Westjordanland zu verlängern und zum anderen an der Vorbedingung der Palästinenser, dass sie nicht verhandeln könnten, solange Israel Siedlungen auf Gebieten errichtet, auf denen sie ihren eigenen Staat gründen wollen. Deklarationen wie sie jedoch in dem Antrag der Linken vorhanden sind, helfen in der Sache wenig weiter und bilden keinen Beitrag zu einer Förderung des Friedensprozesses. Nur durch stete Bemühungen, die Palästinenser und Israelis zu gemeinsamen Gesprächen zu bewegen – wie es sich die Bundesregierung zur Aufgabe gemacht hat –, können zu der von allen Seiten gewünschten Zwei-Staaten-Lösung führen. Einseitige Erklärungen und unrealistische Forderungen helfen nicht weiter. Daher werden wir den Antrag der Linken ablehnen. Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Auf Antrag der Fraktion Die Linke beschäftigen wir uns heute mit den diplomatischen Beziehungen zu den palästinensischen Gebieten. Wir lehnen diesen Antrag aus folgenden Gründen ab: Zum einen hat Deutschland bereits zum 1. Januar dieses Jahres den Status der palästinensischen Delegation in Deutschland zu einer diplomatischen Mission mit einem Botschafter aufgewertet. Diese Aufwertung der palästinensischen Delegation kündigte Außenminister Westerwelle rückwirkend bei seinem Treffen mit dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Machmud Abbas, am 1. Fe-bruar in Ramallah an. Sie ist Teil des Bemühens der Bundesregierung, sich auch in Zeiten der Krise in -Europa klar zum Aufbau eines palästinensischen Staates mit lebensfähigen, effizienten Strukturen zu bekennen. Die Aufwertung der palästinensischen Delegation ist -einerseits eine wichtige Anerkennung der in dieser Hinsicht bereits erfolgten Fortschritte, andererseits aber auch eine Aufforderung an die palästinensischen Vertreter, sich engagiert und aktiv in die politischen Prozesse einzubringen. Zum anderen lehnen wir eine von der Fraktion Die Linke geforderte Aufwertung der deutschen Vertretung in Ramallah zum jetzigen Zeitpunkt ab. Denn eine derartige Aufwertung setzt eine Staatlichkeit Palästinas vo-raus, die aber unserer Meinung nach derzeit noch nicht gegeben ist. Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen: Wir sind und bleiben Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung, mit -einem souveränen palästinensischen Staat Seite an Seite mit einem demokratischen Staat Israel. Denn ein eigenständiger palästinensischer Staat ist auch im Interesse Israels. Ohne einen solchen eigenständigen palästinensischen Staat können die Sicherheit Israels und der Frieden in der Region nicht gesichert werden. Wir sind der Meinung, dass vor dem Hintergrund der Umwälzungen in der arabischen Welt und des seit längerem stagnierenden palästinensisch-israelischen Friedensprozesses die Zeit jetzt reif für Fortschritte in Bezug auf einen eigenständigen palästinensischen Staat ist. Um signifikante Fortschritte in dieser Hinsicht zu -erreichen, ist es nötig, die laufenden direkten Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern unter Vermittlung des Nahost-Quartetts und Jordaniens voranzutreiben. Direkte Verhandlungen auf der Grundlage des Fahrplans des Nahost-Quartetts sind der beste Weg zu einer umfassenden und gerechten Zwei-Staaten-Lösung. Deutschland steht bereit, um die palästinensische -Behörde bei dem Aufbau dieser staatlichen Strukturen zu unterstützen, so zum Beispiel durch die Gründung des deutsch-palästinensischen Lenkungsausschusses im Jahr 2010 zur Unterstützung des palästinensischen -Regierungsprogramms zum Aufbau staatlicher Strukturen oder durch finanzielle Unterstützung des Staatsaufbaus. So trägt Deutschland als einer der größten bilateralen Geber zum Aufbau von Infrastruktur, zur Verbesserung der Bildung, zu Beschäftigungsprogrammen und zum Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft in den palästinensischen Gebieten bei. In der bilateralen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit liegt der Fokus auf nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und Regierungsführung. Hierfür hat Deutschland allein letztes Jahr mehr als 40 Millionen Euro veranschlagt. Ferner unterstützt Deutschland das UN-Hilfswerk für palästinen-sische Flüchtlinge, UNRWA, jährlich mit mehr als 10 Millionen Euro. Auch ist Deutschland einer der -bedeutendsten Geber für die palästinensischen Gebiete im Rahmen der Entwicklungshilfe der EU. Darüber hinaus steht Deutschland jederzeit auf dem diplomatischen Parkett parat, um den Parteien bei ernsthaften Verhandlungen unter die Arme zu greifen und diese im Rahmen der internationalen Vermittlungsbemühungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die derzeitigen Anstrengungen des Nahost-Quartetts sollen die Parteien bis Ende 2012 schrittweise zu einem Abkommen verpflichten, das alle offenen Fragen, einschließlich der Endstatusthemen „Sicherheit“ und „Grenzen“, abschließend regelt. Diesen Bemühungen gilt im Sinne einer dauerhaften Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts unsere uneingeschränkte Unterstützung. Günter Gloser (SPD): Die Ereignisse der letzten Monate haben den Kernkonflikt des Nahen Ostens zwischen Israel und Palästina fast in den Hintergrund treten lassen. Die israelischen Überlegungen zu einem präventiven Luftschlag gegen iranische Atomanlagen, die blutige Gewalt in Syrien und die Umbrüche in vielen anderen Ländern bestimmten die aktuellen Meldungen in unseren Medien mehr als der völlig ins Stocken geratene Nahostfriedensprozess, der diesen Namen leider schon längst nicht mehr verdient. Die einzige positive Meldung war die über die Einigung zwischen Hamas und Fatah über die Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung. Doch auch diese Meldung bietet Licht und Schatten: zum einen, weil die israelische Regierung sich von Beginn an kategorisch gegen eine solche Einheitsregierung unter Beteiligung der Hamas stellte, zum anderen, weil seit der grundsätzlichen Einigung Ende April 2011 – also vor fast einem Jahr – bis heute keine Regierung gebildet wurde. Immerhin konnte aber vereinbart werden, dass Mahmud Abbas bis zu den geplanten Neuwahlen als Präsident und -Ministerpräsident in Personalunion fungieren soll. Die Bildung einer Einheitsregierung bedarf noch weiterer Schritte zu ihrer Umsetzung. Doch auch hier gilt: Egal wie lange es dauert, es gibt keine Alternative zu einer Lösung. Die demokratische Legitimation der palästinensischen Führung bröckelt mit jedem Tag. Neue Wahlen sind nötig, um weitere Reformen umzusetzen. Nur neue Wahlen könnten auch die nötige Legitimation herstellen, die eine palästinensische Regierung braucht, um wieder in ernsthafte Gespräche mit Israel einzutreten. Wir sollten in allen Gesprächen mit Partnern in der Region darauf dringen, dass genau dies -geschieht: demokratische Wahlen in Gaza und im -Westjordanland, eine gemeinsame Regierung für alle palästinensischen Gebiete und so bald wie möglich neue Verhandlungen mit Israel. Ich denke, es ist uns allen klar, dass die Wiederbelebung des Friedensprozesses nur gelingen kann, wenn alle Teile der Regierung und der sie stützenden Parteien der Gewalt abschwören und das Existenzrecht Israels anerkennen. Gleichzeitig kann Israel kein Vetorecht haben, wenn möglicherweise nach solchen demokratischen Wahlen auch Vertreter der Hamas an einer palästinensischen Regierung beteiligt sein sollten. Nun diskutieren wir heute einen Antrag der Linken, der die Aufwertung der diplomatischen Beziehungen zu Palästina fordert. Dies fordern wir in der SPD-Fraktion bereits ebenfalls seit langem. Nun ist es ja so, dass die Bundesregierung die palästinensische Generaldelegation mit Wirkung vom 1. Januar zu einer palästinensische diplomatische Mission aufgewertet hat. Damit ist eine zentrale Forderung des Antrages bereits erfüllt. Die Aufwertung des Vertretungsbüros der Bundesrepublik Deutschland Ramallah zu einer diplomatischen Mission harrt dagegen noch der Umsetzung durch die Bundes-regierung, und wir warten darauf. Doch bedeuten Neutitulierungen von diplomatischen Missionen für sich genommen noch nicht die Überwindung des Nahostkonfliktes. Insofern schließe ich mich zwar mit den besten Wünschen – aber auch einer gewissen Skepsis – dem letzten Satz Ihres Antrages an, der da lautet: „Der Prozess der internationalen Anerkennung Palästinas dient dem Frieden mit den Nachbarn Israels und damit dem Frieden im Nahen Osten.“ Vor dem Frieden in der Region steht ein erfolgreicher innerpalästinensischer Aussöhnungsprozess, insbesondere eine erfolgreiche Regierungsbildung durch Fatah und Hamas, eine Rückkehr zu den Prinzipien der Roadmap for Peace des Nahostquartetts, deren Anerkennung durch Israel und Palästina und vor allem eine Gewaltverzichtserklärung – insbesondere durch die Hamas. Darüber hinaus ist die Festlegung einer völkerrechtlich verbindlich vereinbarten Grenze zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten für eine tragende Friedenslösung ganz wesentlich. Diese Akzeptanz dafür, dass diese Friedensbedingungen erfüllt werden, sind derzeit weder auf israelischer noch auf palästinensischer Seite ausreichend vorhanden. Insofern müssen wir alle bei den Partnern vor Ort weiter beharrlich für die Umsetzung der Roadmap werben; denn am Ende wird ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten nur durch die Konfliktparteien vor Ort erreichbar sein. Zum Schluss frage ich, weshalb wir in der Vergangenheit nicht mehr solche vernünftigen Anträge wie diesen von der der Linksfraktion gesehen haben? Wir können Sie daher nur animieren, in Zukunft öfter von ideologischen Prämissen der Vergangenheit abzusehen und -außenpolitisch-pragmatische Anträge wie diesen zu -formulieren und vorzulegen. Birgit Homburger (FDP): Gerade kürzlich bei seiner letzten Reise in den Nahen Osten hat der Bundesaußenminister die Beziehungen zu den Palästinensern aufgewertet. Er hat die bis im letzten Jahr unter Generaldirektion firmierende Vertretung der Palästinenser in Berlin rückwirkend zum 1. Januar als diplomatische Mission anerkannt. Damit hat er einen wichtigen Schritt in der diplomatischen Aufwertung der Palästinenser vorgenommen und ein klares politisches Zeichen gesetzt. Dadurch hat er auch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sowie Ministerpräsident Salam Fajjad gestärkt. So gibt Deutschland den gemäßigten palästinensischen Kräften Rückendeckung mit dem Ziel, möglichst bald wieder direkte Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina zu erreichen und zu einem Erfolg zu bringen. Die Bundesregierung hält an ihrer hinreichend bekannten Haltung fest, eine Zwei-Staaten-Lösung erreichen zu wollen. Auf diesem Weg hat Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle für die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland das nötige Signal gesetzt. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist überholt. Daher wäre es folgerichtig, wenn die Kolleginnen und Kollegen sich dazu entschließen könnten, den Antrag zurückzuziehen. Andernfalls werden wir ihn im weiteren Verfahren ablehnen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Die Kriegsrhetorik, die wir zurzeit von israelischer Seite bezüglich eines möglichen militärischen Angriffs auf den Iran erleben, zeigt, wie explosiv die Situation im Mittleren und Nahen Osten ist. Die Fraktion Die Linke lehnt jegliche militärische Intervention gegen Iran oder Syrien ab und fordert die Bundesregierung auf, dies auch ganz deutlich und unmissverständlich zu formulieren. Die Kriegsdrohungen ermöglichen der israelischen Regierung, sowohl von eigenen innenpolitischen Problemen als auch von der menschenverachtenden Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung abzulenken. Die Linke setzt sich seit Jahren für eine Zweistaatenlösung ein, die aber immer unrealistischer wird, je mehr Fakten die israelische Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten durch Landraub schafft. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, nicht länger zuzusehen, wenn die israelische Militärbehörde ihre Besatzungspolitik jeden Tag ausweitet, palästinensische Häuser und lebenswichtige Infrastruktur abreißen und gleichzeitig neue israelische Siedlungen bauen lässt und damit einer systematischen Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern Vorschub leistet. Dazu gehört auch zum Beispiel die geplante Zerstörung von Solaranlagen in den Bergen von Hebron durch die israelische Militärbehörde. Zudem soll das international bekannte Friedensprojekt „Tent of Nations“ der evangelischen Palästinenserfamilie Nassar enteignet werden. Gerade dieses Projekt zieht mit seinem Motto „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ jährlich viele Freiwillige aus aller Welt an und leistet einen wichtigen Beitrag zur Versöhnung. Seine Zerstörung müssen Sie verhindern, Herr Westerwelle! Solch ein Vorgehen der israelischen Militärbehörde ist entwicklungsfeindlich, zerstört gezielt Zukunftsperspektiven und produziert weiteren Hass. Und diese Politik führt noch weiter weg von einem kaum noch existierenden Friedensprozess im Nahen Osten. Genau deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, konkrete außenpolitische Schritte für einen ernstzunehmenden Friedensprozess zu unternehmen: Statt regelmäßig vor „einseitigen Schritten“ seitens der palästinensischen Autonomiebehörde zu warnen, ist eine Aufwertung der diplomatischen Vertretung Palästinas ein überfälliges Signal für das angestrebte Ziel der zwischen den Konfliktparteien auszuhandelnden Zwei-Staaten-Lösung. Eine Aufwertung der diplomatischen Vertretungen entspricht geltendem Völkerrecht und ist durch internationale Verträge gedeckt. Seit dem Jahr 2007 wurde vom Nahostquartett – USA, EU, Russland, UNO – der Aufbau von Staatlichkeit als zentrale Voraussetzung für eine Anerkennung des Staates Palästina gefordert, und dieser stand im Zentrum internationaler Unterstützung für die Palästinenser. Auch die Europäische Union hat die Fortschritte der Palästinenser auf dem Weg, einen eigenen Staat aufzubauen, gewürdigt. Im Juni 2011 unterstützte die Verantwortliche für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, vor dem Europaparlament den Aufbau eines palästinensischen Staates und betonte, dass die Grundlagen, unter anderem eine funktionierende Regierung, ausreichten. Aufgrund dieser Fortschritte beim Aufbau der palästinensischen Staatlichkeit haben zahlreiche EU-Mitgliedstaaten (Spanien, Frankreich, Irland, Italien, -Portugal, Dänemark, Griechenland, Norwegen, Großbritannien) die diplomatischen Beziehungen mit der palästinensischen Autonomiebehörde aufgewertet, die bisherigen Vertretungen in den Rang von diplomatischen Missionen erhoben und als Missionsleiter Botschafter gesandt und anerkannt. Darüber hinaus wurden in einem weiteren Antrag die europäischen Mitglieder des UN--Sicherheitsrates aufgefordert, einer Vollmitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen zuzustimmen. Wir fordern die Bundesregierung also dazu auf, sich den Bemühungen vieler EU-Staaten und der UNO endlich anzuschließen und unverzüglich mit der palästinensischen Autonomiebehörde Verhandlungen über die gegenseitige Aufwertung des Status der Generaldelegation Palästinas in Deutschland und der deutschen Generaldelegation in Ramallah aufzunehmen, die bisherigen -diplomatischen Vertretungen beider Länder in den Stand regulärer diplomatischer Missionen aufzuwerten und der jetzigen Generaldelegation Palästinas in Deutschland den Rang einer „Mission Palästinas“ zu verleihen, sich dafür einzusetzen, dass der Generaldelegierte -Palästinas künftig den Rang eines „Botschafters, Leiters der Mission Palästinas“ erhält, die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ramallah in eine „Diplomatische Mission“ sowie deren Leiter in den Rang eines „Botschafters, Leiter der Mission“ aufzuwerten. Dieser Schritt wäre genau jetzt ein wichtiges, hoffnungsvolles Zeichen für einen gerechten Frieden im -Nahen Osten. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Stand des israelisch-palästinensischen Konfliktes ist dramatisch. Nach dem Abbruch der israelisch--palästinensischen Gespräche vom Januar dieses Jahres finden keine Verhandlungen mehr statt. Gleichzeitig dauert die israelische Besatzung fort, und die Besiedlung der palästinensischen Gebiete wird fortgesetzt. -Außerdem haben die gerade in Washington stattgefundenen Gespräche des israelischen Ministerpräsidenten und vor allem seine Rede vor den Delegierten des -AIPAC-Kongresses gezeigt, dass es diesem erfolgreich gelungen ist, den israelisch-palästinensischen Konflikt mit dem Verweis auf das in der Tat große Problem eines möglichen iranischen Atomwaffenprogramms völlig von der politischen Tagesordnung zu entfernen. Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in der schwierigen Situation, dass eine Zwei-Staaten-Regelung inzwischen international als die einzige mögliche -Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes -anerkannt ist, aber gleichzeitig die Chancen ihrer Realisierung im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr verbaut werden. Es gibt im israelisch-palästinensischen Konflikt eben keine Stagnation, sondern die asymmetrische Situation wird durch die stärkere der beiden Konfliktparteien bestimmt. Der Stärkere ist Israel – Israel mit einer Regierung, die den Siedlungsbau forciert und damit für alle sichtbar signalisiert, dass es nicht bereit ist, die Besatzung zu beenden, Israel mit einer Gesellschaft, in der viele eine Regelung des Konfliktes nicht mehr für möglich halten und die mit innenpolitischen Konflikten befasst ist, und Israel mit einer innenpolitischen Machtkonstellation, bei der jene Gruppen und -Organisationen, die die Besatzung und die damit verbundenen Folgen kontinuierlich und mutig thematisieren und kritisieren, parlamentarisch und außerparlamentarisch immer stärker unter Druck gesetzt werden. In dieser Situation ist es richtig, nach allen möglichen Wegen zu suchen, um die Zwei-Staaten-Regelung im politischen Diskurs zu halten und zu unterstützen. Denn welches sind die Alternativen? Eine Ein-Staaten-Konzeption, in der Juden und Palästinenser gleich-berechtigt sind, ist vor dem Hintergrund der Konflikt-geschichte eine Illusion. Und ein Weiter-so wie bisher darf es nicht geben; denn dadurch würden die Voraussetzungen für eine Zwei-Staaten-Regelung immer weiter verschlechtert. Bei dieser Suche nach Wegen zur Unterstützung des Konzeptes der Zwei-Staaten-Regelung hat auch symbolische Politik eine Rolle und Funktion, wie etwa jüngst der Gang der palästinensischen Seite zur UNO, um dort die Mitgliedschaft zu beantragen und damit die Anerkennung eines palästinensischen Staates zu fordern, -gezeigt hat. Allerdings sollte sie auch in sich stimmig und folgerichtig sein – und das sind die in dem Antrag der Linken erhobenen Forderungen nicht. Sie sind es nicht, denn sie sind zum einen bereits realisiert. Bei seinem letzten Besuch in Ramallah hat Außen-minister Westerwelle dem palästinensischen Präsidenten Abbas mitgeteilt, dass die Bundesregierung mit Wirkung vom 1. Januar 2012 den Status der Generaldelegation Palästinas zur diplomatischen Mission aufgewertet hat, die nun von einem Botschafter geführt wird. Damit folgt sie dem Schritt, den zahlreiche andere EU-Staaten, -darunter auch Frankreich, Großbritannien und Italien, bereits vollzogen haben. Somit ist der eine Teil der Forderungen des Antrages, den wir auch in der Vergangenheit unterstützt haben, bereits erfüllt. Der andere Teil der Forderungen wendet sich an die falsche Adresse. Die Bundesregierung kann weder den Status der deutschen Vertretung in den palästinen-sischen Gebieten noch den Status des Vertreters bestimmen. Das kann nur die Palästinensische Autonomie-behörde entscheiden, und sie müsste das im Lichte der Regelungen der Prinzipienerklärung von Oslo aus dem Jahr 1993, auf deren Grundlage sie arbeitet, tun. Also noch einmal: Es muss alles getan werden, um die Zwei-Staaten-Regelung im politischen Diskurs zu halten und weiter nachdrücklich einzufordern. Aber die Forderungen müssen stimmig und umsetzbar sein, was beim Antrag der Linken nicht der Fall ist. Ansonsten sind sie schlicht unseriös und daher abzulehnen. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8375 an den Auswärtigen Ausschuss vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen – Drucksache 17/8902 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): In regelmäßigen Abständen lesen wir, dass beispielsweise ein 14-jähriger Schüler Schwierigkeiten beim Schulwechsel von einem zum anderen Bundesland hat: In Bremen, wo er herkommt, war man in Mathematik noch nicht so weit im Schulstoff vorangeschritten, wie es nun in seinem neuen Zuhause, in Bayern, der Fall ist. Auch bei der ersten Fremdsprache oder in Deutsch werden signifikante Unterschiede deutlich. Die Standards sind nicht vergleichbar und damit letztendlich auch später nicht die Abschlüsse. Warum ist das so? Weil wir mittlerweile 96 verschiedene Schulformen in Deutschland haben, weil bei jeder Wahl auf Landesebene Bildung zu den Hauptthemen zählt. Nach einer gewonnenen Wahl wird das Schulsystem daraufhin allzu oft umgekrempelt. Hinzu kommt, dass nicht alle Länder finanziell in der Lage sind, ausreichend in Bildung zu -investieren und junge Menschen deshalb weniger von Bildung profitieren. Wozu führt das alles? Zu unein-heitlichen Anforderungen, zu Verunsicherung und im schlimmsten Falle zu eingeschränkter Mobilität von Familien. Das alles zeigt, wie wichtig es ist, dass wir über das Thema Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildung sprechen, aber wir müssen eine solche Zusammenarbeit differenziert betrachten und genauso differenziert auch darüber sprechen. Wir dürfen uns auch nicht dem Drängen hingeben, nur ein Problem anzugehen, ohne eine dauerhaft zufriedenstellende Lösung zu finden. Wir haben erst vor sechs Jahren im Zusammenhang mit der Föderalismusreform II eine umfangreiche Grundgesetzänderung vorgenommen. Die Kompetenzen für den Bildungsbereich wurden richtigerweise aufgrund der regionalen Unterschiede vollumfänglich den Bundesländern zugeschrieben. Ein neuer Anlauf zur -Gestaltung des Kompetenzgefüges sollte jedoch mit dem Ziel verbunden sein, nicht erneut Unruhe zu schaffen. Vielmehr geht es darum, den derzeitigen Flickenteppich der Bildungslandschaft durch einen hochwertigen -Teppich zu ersetzen – zwar einheitlich, aber doch so, dass er jedem Bundesland gefällt. Wenn wir über Kooperation von Bund und Ländern in der Bildung debattieren, sind damit zwei Bereiche gemeint: zum einen die Kooperation im Hochschul- und Wissenschaftsbereich, zum anderen jene im Schul--bereich. Für den Hochschulbereich erscheint eine Änderung des Grundgesetzartikels 91 b mittlerweile ein gangbarer Weg, da hier ein breiter Konsens besteht. So könnte der Artikel in der Art geändert werden, dass der Bund die Möglichkeit hat, nicht nur Projekte, sondern auch Einrichtungen zu fördern. Darüber hinaus regen wir als Union eine Vereinbarung an, die es dem Bund ermöglicht, sich stärker zu engagieren, und dies auch finanziell. Doch jegliche Finanzierungszusage muss an eindeutige, transparente Konditionen geknüpft sein. Der Bund muss die Möglichkeit haben, die Verwendung seiner Finanzmittel zu überprüfen. Gleichfalls bietet dies die Chance, gezielt zu fördern. Zuschüsse nach dem Gießkannenprinzip sind auch hier nicht förderlich. Die Konditionen einer Förderung müssen so ausgestaltet werden, dass für die Länder kein Anreiz besteht, sich aus ihrer Verantwortlichkeit zurückzuziehen. In diesem Zusammenhang sollte über weitere Maßnahmen nachgedacht werden, die Privatwirtschaft stärker in die Finanzierung des Hochschulsystems einzubinden. Einige Initiativen -wurden hier bereits initiiert. Von einer Förderkultur wie in den angelsächsischen Staaten sind wir jedoch weit entfernt. Nicht nur für die Hochschulen und die Wissenschaft, sondern auch für die allgemeine Bildung an Schulen besteht Handlungsbedarf, sogar ein weitaus dringenderer. Zuletzt wurden verschiedenste Ansätze öffentlich diskutiert. Auffällig ist, dass die Opposition vor allem darauf drängt, den Ländern unkonditioniert mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Doch das ist der falsche Weg. Mehr Geld allein löst keine Probleme. Die Einführung eines Bildungszentralismus kann ebenfalls nicht unser Ziel sein. Wichtig erscheint mir, die Kooperation zwischen Bund, Ländern und Wissenschaft zu stärken. Ein Bildungsrat oder eine Bildungskommission könnten zur besseren Verständigung beitragen: Probleme können vorgetragen, wissenschaftliche Erkenntnisse eingebracht und gemeinsam nach Lösungen gesucht werden. Und bitte, ich möchte das noch einmal hervorheben: Sich der Illusion hinzugeben, mit einer Aufhebung des Kooperationsverbots und einer starken finanziellen Beteiligung des Bundes wäre eine abschließende Lösung gefunden, ist leichtgläubig. Ein weiteres großes Problem besteht im Schulbereich. Auch hier wird seitens der Länder über finanzielle -Probleme geklagt. Diese führen zu unterschiedlichen Bildungsergebnissen von Bundesland zu Bundesland. Darüber hinaus fällt es einzelnen Ländern schwer, die Qualität der Bildung sicherzustellen und für eine angemessene Ausstattung zu sorgen. Es muss unser Ziel sein, einheitliche Standards zusammen mit den Ländern und den Experten zu definieren, die dann vor allem auch durchgesetzt werden können. Damit würde gewährleistet werden, dass die Bildungsabschlüsse tatsächlich gleichwertig wären und ein Umzug innerhalb der Bundesrepublik ohne Probleme hinsichtlich des Schulunterrichts möglich wäre. Die Länder müssen hier die Bereitschaft zeigen, zu kooperieren; denn auch wenn die Länder gerne auf die Finanzmittel des Bundes zurückgreifen möchten, beharren sie auf ihrer uneingeschränkten Gestaltungsmacht, eine Sichtweise, die wohl nur in einem politischen System für längere Zeit sanktionsfrei durchsetzbar ist. Als Möglichkeit erscheint hier, analog zum Wissenschaftsrat einen „Bildungsrat“ einzurichten, der hinsichtlich der Lehrerausbildung, der Lernzielkataloge und der Abschlussprüfungen gemeinsame Standards formuliert. Diese Idee wird unter anderem auch von Bundesministerin Schavan befürwortet, die in der „Süddeutschen Zeitung“ äußerte: „Ich präferiere einen solchen unabhängigen Bildungsrat, um die offenen Fragen zu beantworten.“ Darüber hinaus müssten dann die Länder bereit sein, diese zu übernehmen und eine unabhängige Evaluierung zu ermöglichen. Zudem dürfen die Gelder, wie auch im Hochschulbereich, nicht ohne Zweckbestimmung verwendet werden. Klare Zielvereinbarungen sind hier dringend notwendig. Dies würde ebenfalls zur Transparenz beitragen. Gleichzeitig entsteht hier die Möglichkeit, den Wett--bewerbsföderalismus mit Leben zu füllen. Bildungssysteme, die funktionieren, werden Nachahmer finden. Dabei verbleibt die Zuständigkeit für die strukturelle Gliederung bei den Ländern. Es ist also keineswegs so, dass der Bund in die Länder hineinregieren will. -Verständnis für das Bedürfnis, über die Mittelverwendung zu entscheiden, sollten dabei alle Beteiligten aufbringen. Mit diesen Vorschlägen begeben wir uns jedoch auf den richtigen Weg, einerseits die finanzielle Not zu lindern und andererseits zur konzentrierten Verbesserung des Systems beizutragen. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Zur 100. bildungs- und forschungspolitischen Debatte in dieser Legislatur hätte ich mir einen niveauvolleren Antrag der Grünen gewünscht, als den der ganz -offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt wurde. Solche Papiere sollten die Grünen in ihren Mitgliederversammlungen im kleinen Kreis besprechen, aber nicht im Deutschen Bundestag. Auf vier Seiten sammeln die Grünen Einzelbeispiele, bei denen sie meinen, dass die Kooperationskultur zwischen Bund und Ländern in -unserer Bildungsrepublik noch nicht ausgeprägt genug ist. Die Antragsteller blicken undifferenziert in die Vergangenheit und verklären rot-grüne Misswirtschaft in den Jahren der Regierung Schröder. Immerhin haben sie sich anscheinend vom wissenschaftlichen Dienst die gegenwärtige Verfassungslage erklären lassen, ziehen daraus aber die falschen Konsequenzen. Die Opposition muss endlich einmal verstehen, dass Kooperationskultur auch die Übernahme von Verantwortung bedeutet und nicht nur Kofinanzierung oder gar alleinige Finanzierung durch den Bund. Reduzieren Sie Kooperationskultur nicht immer nur auf Finanzströme. Es geht vielmehr um Gestaltungswillen und -Mitverantwortung. Zuletzt haben wir im März 2010, im Dezember 2010, im Juni 2011 sowie zu Beginn dieses Jahres Plenardebatten zum kooperativen Bildungsföderalismus geführt. Im Gegensatz zu den wiederholt wenig durchdachten Schnellschüssen der Opposition – siehe Antrag der SPD zur Schaffung eines Art. 104 c Grundgesetz oder den heutigen Antrag der Grünen – hat die Union einer ausführlichen innerparteilichen Debatte Vorzug vor populistischen Schaufensteranträgen gegeben. Nach dem -Abschluss dieser Debatte haben wir auf unserem Leipziger Parteitag einen Beschluss für eine begrenzte Grundgesetzänderung im Wissenschaftsbereich gefasst. Daraufhin hat unsere Ministerin dann Anfang -Februar einen klaren Fahrplan für eine weitere Ausgestaltung der Kooperationskultur und die damit verbundene Grundgesetzänderung vorgelegt. Diesem Fahrplan liegt die Absicht zugrunde, frühzeitig Planungssicherheit für unsere Hochschulen nach dem Auslaufen der Pakte zu schaffen. Für die Wissenschaftspolitik soll eine leichte Änderung des Art. 91 b Grundgesetz noch in dieser Wahlperiode sicherstellen, dass der Bund sich künftig nicht mehr nur zeitlich begrenzt an der Finanzierung von Projekten beteiligen darf, sondern auch Einrichtungen dauerhaft mitfinanzieren kann. Anders als im Wissenschaftsbereich gibt es zwischen den beteiligten Akteuren im Bereich der Schulen keinen Konsens zwischen A- und B-Seite. Bei uns Bundespolitikern verstärkt sich der Eindruck, dass aufseiten der SPD-geführten Länder nur über einen Finanztransfer vom Bund hin zu den Ländern nachgedacht wird, nicht aber über eine damit einhergehende Neuordnung der Verantwortlichkeiten. In der Schulpolitik soll deshalb eine Kommission unter der Mitwirkung von Kommunen, Ländern und Bund eingerichtet werden, um so rasch wie möglich einen Konsens zwischen den verschiedenen Gebietskörperschaften zu erzielen. Mit diesem Vorgehen reagieren wir auf die Realitäten in unserer Bildungsrepublik, die da lauten: Einigkeit im Wissenschaftsbereich, Uneinigkeit in der Schulpolitik. Aufgrund dieser Fakten wäre eine Entkopplung der beiden Politikfelder der richtige Weg. Es wäre unverantwortlich, die Hochschulen aufgrund der Uneinigkeiten in der Schulpolitik über ihre finanzielle Zukunft im -Unklaren zu lassen. Die von Ministerin Schavan vorgeschlagenen Reformen bestätigen einmal mehr: Die Meinungsführerschaft in Fragen des Bildungsföderalismus liegen bei Union und FDP. Da kann die Opposition noch so oft den Kollegen Steinmeier in die Debatte rufen, neue Worte wie „Reformkonvent“ erfinden oder Begriffe wie „Kooperationskultur“ von uns kopieren. Auch Sie werden eines -Tages sehen, dass wir einen Wissenschaftsrat haben und einen Bildungsrat haben werden, wobei hoffentlich beide bei unserem Bundespräsidenten angesiedelt sind und somit ein Stück aus der parteipolitischen Profilierung ausgeklammert werden. Im Übrigen darf ich die Kollegen der Grünen darauf verweisen, dass die CDU den Bildungsrat bereits auf ihrem Parteitag in Leipzig beschlossen hat. Solche Gremien schafft man aber nicht über Nacht. Es ist ein langer Weg, weil wir uns hier im verfassungsrechtlichen Kernbereich der Bundesländer befinden. Da hilft kein Alleingang des Bundestages, nein, es bedarf kluger Verhandlungen mit dem Bundesrat. Mit derartigen Anträgen verprellen Sie die Bundesländer und gewinnen sie nicht für eine im Kern richtige Idee. Mir ist wichtig, zu betonen, dass mehr Engagement des Bundes keinesfalls dazu führen darf, dass sich die Länder aus der Hochschulfinanzierung zurückziehen. Vielmehr wollen wir noch mehr Kooperation zwischen Bund und Ländern und auch zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung. Deshalb haben wir den Wissenschaftsrat beauftragt, sich grundsätzliche Gedanken über die Zukunft unseres Wissenschaftssystems allgemein und über die damit einhergehende Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern im Besonderen zu machen. Ihr Antrag geht über eine Analyse nicht hinaus. -Machen Sie doch einmal konstruktive Vorschläge, wo der Bund unterstützen oder koordinieren kann. Ich erkenne an und freue mich, dass nunmehr immerhin ein Oppositionsantrag vorliegt, der klar zwischen der Ausgestaltung der Kooperation im Bereich der Wissenschaft und im Bereich der Bildung unterscheidet. -Inhaltlich kann ich hier aber auf meine Rede aus der letzten Debatte verweisen. Leider bringt Ihr Antrag keinen einzigen neuen Impuls. Auch freue ich mich, dass Sie nun auch die Kommunen als Bildungspartner neben Bund und Ländern erkennen – ein Fakt, den die christlich-liberale Koalition bereits seit 2010 umfänglich ausgestaltet. Ihr Rundumschlag bezüglich Schulabbrechern und Fachkräftebedarf bis hin zu PISA, Ganztagsschulen, Kieler Ifm-GEOMAR-Institut und das Bildungs- und Teilhabepaket, was alles unsystematisch wie Gedankensplitter aneinandergereiht wurde, zeugt von der Konzeptlosigkeit dieses Antrags. Folgerichtig lehnen wir ihn ab. Sie sollten sich zukünftig eine andere Art der Öffentlichkeitsarbeit überlegen. Es wird nämlich zunehmend ermüdend, wenn die Opposition die immer gleichen, -wenig inspirierenden Texte in neuen Anträgen hervorbringt. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag ist ein weiterer guter und wichtiger Beitrag in der -Debatte über den Bildungsföderalismus. Zum einen greift er den vor kurzem eingebrachten SPD-Vorschlag für einen neuen Art. 104 c Grundgesetz auf, zum anderen macht er einen weiteren Vorschlag für eine Änderung des Art. 91 b Grundgesetz. Mit diesem Antrag liegt eine weitere Initiative für die Diskussion um eine Verfassungsänderung in Bildung und Wissenschaft vor. Aus unserer Sicht ist eines ganz besonders wichtig: Wir alle müssen aufeinander zugehen und offen diskutieren, welche Lösung im Interesse von Bildung und Wissenschaft die beste ist. Zu diesem Zweck haben wir im Konsens aller Fraktionen eine Sachverständigenanhörung zu diesem Thema angesetzt. Umso bedauerlicher ist, dass die Regierungskoalition offenkundig bereits ihren Blick verengt hat und einzig und allein auf die Erweiterung der bestehenden Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Wissenschaft abhebt. Während SPD, Grüne und auch Linke den Bereich Bildung mit in ihre Überlegungen einbeziehen, diese Perspektive auch von verschiedenen und unterschiedlich regierten Ländern wie Schleswig-Holstein und Hamburg geteilt wird, versteift sich die Koalition auf Vorschlag von Bundesministerin -Schavan auf die Förderung von Einrichtungen der Wissenschaft mit überregionaler Bedeutung. Nach der -Methode „Friss Vogel oder stirb“ wird eine Teilmaßnahme, für die es zweifelsohne viel Zustimmung auch in unserer Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre und machbare Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkommen außer Acht gelassen, dass die Fixierung auf eine solche Teillösung möglicherweise die Gesamtbalance zerstören und alles zum Scheitern bringen kann. Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemeinsamen Nenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir dann“ sieht nur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges, realpolitisches Vorgehen aus. In Wahrheit wäre es der Kotau vor dem Starrsinn einiger Länder, insbesondere vor Bayern und dort vor der CSU. Wer sich nur um die Wissenschaft kümmert, hilft dort, wo Hilfe bereits geleistet wird. Denn für diesen Bereich hatte die SPD-Fraktion bereits Möglichkeiten der Kooperation durchgesetzt. Auf dieser -Basis werden etwa die Exzellenzinitiative und der Hochschulpakt realisiert. Der jetzt in Rede stehende Änderungsvorschlag der schwarz-gelben Koalition würde zwar darüber hinaus die institutionelle Förderung von Einrichtungen der Wissenschaft mit überregionaler Bedeutung ermög-lichen. Gegen diese zusätzliche Handlungsoption ist soweit nichts einzuwenden. Aber es geht doch wohl nicht an, dass im Endeffekt einige wenige Einrichtungen vom Bund finanziert und Forscherstellen geschaffen werden, während nicht einmal darüber nachgedacht wird, wie gemeinsam von Bund und Ländern nur eine einzige -zusätzliche Ganztagsschule eingerichtet oder mehr -Pädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt werden können. Auch die Bildung an den Hochschulen, die Lehre, würde außen vor gelassen. Mehr Kooperation ist für Wissenschaft und Hochschule sinnvoll. Für die Bildung, für die Lehre an den Hochschulen und insbesondere für die Schulen ist sie -jedoch vordringlich nötig: Wir müssen endlich überhaupt damit anfangen! Ich kenne kein Bundesland, das das Ganztagsschulprogramm der Regierung Schröder heute noch für schlecht hält. Die einzige – und berechtigte – Kritik ist, dass es auf bauliche Investitionen -beschränkt war. Doch anders ging es damals nicht. -Darum muss ein ganz neuer Kooperationsartikel ins Grundgesetz, der die Bildung in ihrer gesamten Breite im Blick behält. Die von der Koalition geforderte Teil-lösung aber würde eine solche Verbesserung für die Bildung auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben. Darum: Dank an die Grünen für diesen hilfreichen Beitrag zur Debatte. An die Regierungsfraktionen richten wir den Appell, sich vom Koalitionsausschuss zu emanzipieren und den Blickwinkel offen zu halten auch für die Bildung. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Um es gleich vorweg zu sagen: Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag unter der Überschrift „Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen“ ist ein sehr gründlicher, ein weiterführender und damit hilfreicher Antrag. Er ist damit auch zugleich das Gegenteil zu den mehr als windigen, kleinmütigen Beschlüssen, die kürzlich vom Koalitionsausschuss der CDU/CSU und FDP gefasst worden sind. Diese Beschlüsse des CDU/CSU-FDP-Koalitionsausschusses sind dann ja auch in der interessierten Öffentlichkeit, ganz entgegen den Fanfarenrufen, die aus einschlägigen Quellen diesen Vorstoß als vermeintlich großen Durchbruch kennzeichnen wollten, harsch kritisiert worden. Es leuchtet den Menschen in Deutschland eben nicht ein, weshalb Bund und Länder gemeinsam Geld bereitstellen dürfen, wenn es um Eliteunis geht, während dieses bei den Schulen per Grundgesetz strikt untersagt werden soll. Es leuchtet den Menschen nicht ein, weshalb Deutschland Schulen im Ausland durch bundespolitische Entscheidungen und Mittel fördern darf, während dies im eigenen Land strikt verboten ist. Es leuchtet den Menschen schlechterdings auch nicht ein, weshalb es an den Hochschulen zum Glück eine wachsende Zahl von Studierenden gibt, der Bund die große Masse der Studierenden und der Hochschulen aber nicht in nachhaltiger Weise und dauerhaft unterstützen darf. Und wenn der konservativ-liberalen Seite die elementaren Einsichten und Wünsche der vielen Betroffenen in den Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland nicht wichtig sind, gibt es ja auch ausreichend Expertise von Wissenschaftlern und hochrangigen Experten, wie dem von der Bundesregierung selbst eingesetzten EFI-Gutachter-Kreis, der Expertenkommission zu Forschung, Innovation und technischer Leistungsfähigkeit Deutschlands, oder wie dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die alle zusammen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass exzellente Wissenschaft und Forschung eben auch das Fundament exzellenter Bildung in der Breite – von den vorschulischen bis zu den schulischen und den hochschulischen Einrichtungen – brauchen und hierfür keine Kooperationsverbote existieren dürfen. Dass diese Zusammenhänge seinerzeit in der Föderalismuskommission von 2006, die an dieser Stelle keinesfalls sachkundig und ruhmreich gearbeitet hat, nicht gesehen wurden, muss ja nicht heißen, dass einmal gemachte Fehler auf Dauer weitergeführt werden. Nicht umsonst hat deshalb auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier kürzlich in mutiger Klarheit davon gesprochen, welchen „Unsinn“ damals das deutsche Parlament aus der Zwangsgemeinschaft einer großen Koalition heraus und der ungenügenden Bewertung des Kooperationsschwerpunktes Bildung beschließen musste. Wir alle wissen, dass der unselige Roland Koch seinerzeit als Reflex gegen das Ganztagsschulprogramm von Gerhard Schröder und Edelgard Bulmahn das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in Bildungsfragen brutalstmöglich durchsetzen musste, wozu ihm Stoiber als Sekundant dann die Hand gereicht hat. Das war keinesfalls eine kluge, vorausschauende und sachdienliche Politik. Auch die jetzige Bildungsministerin, Frau Schavan, stand hier einmal mehr auf der falschen Seite und musste sich erst langsam zu einer aufgeklärteren, kooperationsfähigeren Position hinarbeiten. Wie widersinnig die damalige Regelung war, sollte sich dann ja auch schnell in der Praxis erweisen. Nicht nur, dass die Bildungspolitiker der SPD noch in der Föderalismusreform 2006 durch penetrante Intervention in letzter Minute erreichen konnten, dass die Förderung von Vorhaben der Wissenschaft ermöglicht wurde, wovon jetzt alle nachträglich noch immer zehren bis in die Hochschulsonderprogramme I und II und den Pakt für Lehre etc. hinein. Auch an anderen Stellen sollte die Praxis ein schlecht gemachtes Grundgesetz an dieser Stelle schnell widerlegen. Im Antrag der Grünen ist in wirklich sehr sachkundiger, minutiöser Weise nachgezeichnet, wie diese Reformen des Grundgesetzes sich in der Praxis sehr schnell als eine Fehlentscheidung herausgestellt haben, die mit gutem Willen doch jetzt nicht noch auf Dauer verlängert werden sollte. Oder war es ein Ruhmesblatt der Verfassungsgesetzgebung, im laufenden Konjunkturprogramm II noch schnell das Grundgesetz im Art. 104 anpassen zu müssen, um nicht jeweils am einzelnen Projekt nachweisen zu müssen, ob es denn nun an einer Schule vorrangig um energetische Sanierung oder Verbesserung der schulischen Lernbedingungen geht? Und wem kann man in Wirklichkeit erklären, dass der Bund mit den Ländern zusammen die Bildung dann fördern darf, wenn die Deutsche Bank zusammenbrechen sollte oder ein Tsunami in der Nordsee ausbricht, sprich, wenn es eine außergewöhnliche Notsituation oder Naturkatastrophe geben sollte, aber der Bund eben dieses unter normalen Umständen nicht tun darf, obwohl Bildung doch als die Zentralaufgabe für die Zukunft, als die große Verpflichtung der hoffentlich ernstgemeinten Bildungsrepublik Deutschland anzusehen ist? Auch die Verrenkungen beim Bildungs- und Teilhabepaket stehen für diese Auswirkungen eines schlecht gemachten Grundgesetzes. Und dass Initiativen wie der Qualitätspakt Lehre oder die Exzellenzinitiative Lehrerbildung, die von der Bundesregierung aktuell ins Gespräch gebracht worden sind, sich letztlich nur über eine Grauzone vor dem Fallbeil der Grundgesetzeinschränkungen retten können, kann doch auch nicht die Antwort auf die Zukunft sein. Gleichzeitig wissen wir alle, dass die Verbesserung von Bildung, egal in welchem deutschen Landesteil, nicht nur das Menschenrecht auf Bildung einlösen hilft, sondern auch das Fundament für ökonomische und soziale Wohlfahrt in Deutschland darstellt. Dieses Fundament kann aber nicht abhängig gemacht werden von der deutlicher werdenden Finanzschwäche der Länder einerseits, der zunehmenden Disparität in der Finanzierung der Länder andererseits und einer Konzentration des Bundes auf ausschließlich die Spitze und eben nicht das Fundament des Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems in Deutschland. Gegen alle bildungspolitische Vernunft will die schwarz-gelbe Koalition am Kooperationsverbot im Bildungsbereich festhalten. Anders als der Vorschlag der SPD – und jetzt auch von Bündnis 90/Die Grünen –, einen neuen Bildungsartikel im Grundgesetz einzufügen, will die Koalition im Grundgesetz nur im Hochschulbereich eine institutionelle und zugleich höchst selektive Bundesförderung zulassen, und zwar nicht für alle Hochschulen, sondern nur für solche mit überregionaler Bedeutung. Das hat aber mit einer Aufhebung des Kooperationsverbotes nichts zu tun. Am Ende bedeutet es vor allen Dingen, dass insbesondere die Schulen trotz deren offenkundigen Bau- und Personalbedarfs vor Ort weiter abgehängt werden. Mit dem Schulbereich bleibt damit nach dem Willen der Koalition weiterhin das für erfolgreiche Bildungsbiografien entscheidende und mit Abstand die meisten Menschen direkt betreffende Bildungsfeld außen vor. Ohne moderne Schulen sind ein leistungsfähiges und nachhaltiges Bildungssystem ebenso wenig denkbar wie weitere Fortschritte bei der Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen. Angesichts der steigenden Anforderungen an eine wirksame individuelle Förderung, dem weiteren Ganztagsschulausbau oder auch der inklusiven Bildung ist dies politisch höchst fahrlässig. Hinzu kommt ein erheblicher baulicher Modernisierungsstau an den Schulen sowie die in den Regionen sehr unterschiedlichen Auswirkungen etwa des demografischen Wandels. Nach dem Willen der Koalition sollen dem Bund hier weiterhin die Hände gebunden bleiben. Der Vorschlag der SPD für einen neuen Art. 104 c wird den Anforderungen gerecht, indem er das Kooperationsverbot für alle Bereiche aufhebt. Offenbar ist die Begrenzung auf wenige Spitzenhochschulen dem Widerstand der B-Länder geschuldet. Die Schulen sollen offenbar von der Union nach der Verfassungsreform 2006 ein zweites Mal für den parteiinternen Kompromiss geopfert werden. Den Schaden werden die Kinder und Jugendlichen, ihre Eltern und die Lehrkräfte an den Schulen in Deutschland haben. Dabei hatte es schon hoffnungsvolle Zeichen nicht nur bei der FDP, sondern auch bei der CDU gegeben; denn nimmt man den letzten Parteitagsbeschluss der CDU zu ihrem bildungspolitischen Zukunftsprogramm, so ist dort ja nicht umsonst eine bessere Kooperation von Bund und Ländern explizit im Schulkapitel mit angesprochen worden. Es bleibt rätselhaft, aus welchen Gründen die CDU von diesen Einsichten und neuen Perspektiven abgerückt ist. Oder sollte hier der bayerische CSU-Minister Spaenle das Wort für die CDU gleich mit geführt haben, wenn er kürzlich im Bundestag trotzig und uneinsichtig erklärte, das Kooperationsverbot sei eben kein Fehler gewesen, sondern ausdrücklich darauf bestand, dass dies eine wegweisende, gute Entscheidung gewesen sei? Und wie stellen sich eigentlich CDU und FDP zu der Initiative der CDU/FDP-Landesregierung von Schleswig-Holstein, die erst kürzlich einen weitreichenden Antrag in den Bundestag eingebracht hat, der sicherlich als höchst konstruktiver Vorschlag zur Aufhebung des unseligen Kooperationsverbotes anzusehen ist? Gute Einsichten sind also an vielen Stellen gewachsen. Wir als Sozialdemokraten gehen davon aus, dass diese Einsichten auch noch weiter wachsen können und werden. Es besteht jedenfalls kein Grund, sich angesichts eines fundamentalen Fehlers, wie er seinerzeit in der Föderalismusreform 2006 beschlossen worden ist, jetzt vorschnell auf den kleinsten Nenner einzulassen, um mit einer Als-ob-Reform wieder „halbe Sachen“ zu machen, wie man an der Küste sagen würde. Im Gegenteil: Alle Kräfte sind jetzt aufgefordert, ohne dogmatische Vorfestlegung in einen offenen Diskurs einzutreten, was in der modernen Bildungs- und Wissenschaftsgesellschaft der Zukunft notwendig und möglich ist und welche Hilfestellung die Verfassung hierzu liefern sollte; denn eine Verfassung, zumal wenn es eine gute Verfassung ist, ermöglicht politische Gestaltung und schränkt sie nicht ein. Sie schafft einen echten Zukunftsrahmen und verlängert nicht Fehler der Vergangenheit. Sie bindet die positiven Energien von Bund und Ländern zusammen und -untersagt nicht Kooperation und wechselseitige Unterstützung. Sie respektiert besondere Verantwortlichkeiten, aber lässt die verantwortlichen Instanzen nicht in ihren Aktionsmöglichkeiten allein. Bei den gemeinsamen Beratungen, die jetzt anstehen, kann es deshalb auch nicht um ein Diktat des kleinsten gemeinsamen Nenners gehen. Es geht auch nicht an, dass die Regierung von der Opposition erwartet, dass diese einseitig-politischen Konzepte des Regierungslagers, die sich vor allen Dingen auf Eliteförderung und die Unterstützung weniger Spitzeninstitute setzen, den Verfassungsweg bahnen und die Regierung gleichzeitig vollkommen undemokratisch den Weg versperrt für mögliche andere Konzepte, wie sie alternativ dazu auch vertreten werden können und dürfen, nämlich Bildung insgesamt in Deutschland zu stärken. Deshalb ist eine Verfassungsreform auch kein Schachspiel, bei dem es am Ende darum geht, welche Seite die jeweils andere Seite matt setzt; denn dieses kann bestenfalls zu einem Patt führen. Ein Reformkonvent für Bildung und Wissenschaft, wie er von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen wird, ist sicherlich nicht die schlechteste Idee. Als Bildungspolitiker können wir zusammen mit unseren Kollegen aus anderen Fachausschüssen über eine sehr intensive Anhörung im Bildungsausschuss, wie sie für den 19. März vorbereitet ist, hierzu schon einen Baustein setzen. Nur, das muss auch der Regierung klar sein: Verfassungen werden auch deshalb nur mit Zweidrittelmehrheit geändert, damit es einseitige Diktate nicht geben kann. Heiner Kamp (FDP): Derzeit liegen dem Bundesrat zwei Anträge vor. Beide Initiativen verfolgen das Ziel, die sehr engen Grenzen in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bildungsbereich zu weiten und die Förderung unseres Bildungssystems außerhalb des starren Korsetts, welches uns seit dem Jahr 2006 einschnürt, zu ermög-lichen. Die Länder Schleswig-Holstein und Hamburg haben dabei sehr unterschiedliche Wege gewählt, um das engmaschige Geflecht der verfassungsrechtlichen Vorgaben aufzudröseln. Während die SPD-geführte Hamburger Regierung einen wenig erfolgversprechenden, dafür aber Aufmerksamkeit heischenden unterkomplexen -Ansatz des „Alles-wird-möglich-und-der-Bund-zahlt“ verfolgt, hat die christlich-liberale Regierung in Kiel -einen etwas differenzierteren, möglicherweise auch -intellektuell anspruchsvolleren Antrag eingebracht. Dieser wird sehr wahrscheinlich die Grundlage dafür bilden, um den so dringend benötigten Kompromiss der bislang unvereinbaren Haltungen zu schmieden. Während nun A- und B-Länder im Bundesrat um -besagten Kompromiss ringen, gibt sich der grüne Oberlehrer Kretschmann als in „Wolle gefärbter Föderalist“ wenig engagiert. Eine eigene Positionierung Baden-Württembergs ist jedenfalls ausgeblieben. Und so -obliegt es den Grünen im Bundestag, dieses landesseitige Versagen mit einem – zugegeben wenig einfallsreichen – Papierchen vergessen zu machen. Während die Darstellung des Status quo und die Ausführungen zur Genese des sogenannten Kooperationsverbotes durchaus als gelungen bezeichnet werden können, erscheinen dem geneigten Leser die in puddingweicher Handschrift formulierten Forderungen als überaus peinlich. Denn dort, wo es tatsächlich einmal etwas konkreter wird, kann man sich nicht des Gefühls entziehen: „Das habe ich doch schon einmal außerhalb der grünen Gedankenwerkstatt gelesen – Copy and Paste sei Dank!“ Die FDP-Bundestagsfraktion hat der Einführung des Kooperationsverbotes seinerzeit wohlweislich ihre -Zustimmung verweigert. Gesamtstaatliche Herausforderungen mit überregionaler Wirkung erfordern gesamtstaatliches Handeln. Das gilt besonders für den Wissenschaftsbereich, in dem es nicht nur auf eine überregionale Sichtbarkeit, sondern auf internationale Sichtbarkeit und Exzellenz ankommt. Das ist eine Aufgabe, bei der man den Bund nicht ausklammern darf. Wir -benötigen einen Handlungsrahmen, der Möglichkeiten schafft und nicht zerstört. Wir müssen Zusammenarbeit und einfache Lösungen befördern und die rechtlich -erzwungenen Umgehungsstraßen obsolet werden lassen. Es geht um den effektiven Mitteleinsatz und die Maximierung von Potenzial im Wissenschaftsbereich, nicht der Transaktionskosten. Deswegen können wir die -gegenwärtige Verfassungslage nicht einfach hinnehmen. Wir müssen die Veränderung suchen und neue Wege -beschreiten. Beim Status quo kann es jedenfalls nicht bleiben. Aktuell erlaubt das Verfassungsrecht dem Bund nur ein eingeschränktes Engagement im Hochschulbereich. Und das ist die Förderung von gemeinschaftlichen Projekten im Rahmen des Art. 91 b Grundgesetz. Davon wird rege Gebrauch gemacht: Exzellenzinitiative, Hochschulpakt und Qualitätspakt Lehre. Gleichzeitig generiert der Projektcharakter, die zeitliche Beschränkung der Vorhaben, neue Problemlagen. Wissenschaft und Forschung brauchen Nachhaltigkeit und lassen sich nur schwerlich in Fünf-Jahres-Zyklen pressen. Das derzeitige Verbot einer institutionellen Förderung von Wissenschaftseinrichtungen, insbesondere Hochschulen, durch den Bund ist problembehaftet. Das müssen wir ändern. Es ergibt keinen Sinn, dass Bund und Länder einerseits Hochschulforschung und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen finanzieren dürfen, andererseits aber eine gemeinschaftliche Finanzierung zum Beispiel von Hochschulen nicht erlaubt ist. Diese Schieflage gilt es zu -begradigen. Mit dieser Begradigung erreichen wir, dass die einzelnen Länder in den Genuss einer institutionellen Förderung ihrer Hochschulen durch den Bund kommen können. Dass dieses Verfahren wissenschaftsgeleitet sein muss, sei an dieser Stelle nochmal betont. Der Koalitionsausschuss hat am Sonntag einen sehr sinnvollen und zielführenden Vorschlag beschlossen. In Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz soll eine kleine -Ergänzung mit großer Wirkung erfolgen: „Einrichtungen und“ würde eingefügt. Mit dieser Ergänzung würde die soeben geschilderte Problematik bereinigt und die verfassungsrechtlich saubere Grundlage für ein langfristig angelegtes Engagement des Bundes geschaffen. Ein solches ist aufgrund der weitreichenden Wirkung der Hochschulen gerechtfertigt und erforderlich – außerdem wird es von einer großen Vielzahl an Akteuren ausdrücklich gewünscht. Diesem berechtigten Anliegen sollten wir nachkommen. Mit der nun in Rede stehenden Veränderung kehren wir nicht zur Zeit vor der Föderalismusreform 2006 -zurück. Nein, wir werden mehr Möglichkeiten zur -Kooperation haben als vor der Reform. Wir geben dem Wissenschaftsbereich einen echten Schub nach vorn und bekommen die Gelegenheit, die Fachhochschulen und Universitäten erheblich zu stärken. Davon wird nicht nur die Forschung, sondern vor allem auch die Lehre -etwas haben. Das heißt, von der Veränderung werden gerade auch die Studenten profitieren. Natürlich brauchen wir Spitzenforschung – aber eben auch Spitzenlehre: Beides unterstützen wir nachhaltiger, wenn wir dauerhaft Einrichtungen und nicht bloß befristet angelegte Projekte fördern können. Ich setze mich seit Beginn meiner Zeit im Bundestag für ein besseres Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bildungsbereich ein. Das Kooperationsverbot steht zielgerichteten, pragmatischen Lösungen im Wege und lässt den Bund in einem zentralen Zukunftsfeld -außen vor. Ja, sperrt ihn aus. Deshalb habe ich mich frühzeitig für eine Aufhebung des Kooperationsverbotes stark gemacht. Mit dem Beschluss des Koalitionsausschusses vom Sonntag machen wir einen ersten wichtigen und richtigen Schritt hin zu einer echten Bildungspartnerschaft der staatlichen Ebenen in unserem Land. Ich bin überzeugt, dass wir mit dem auf dem Tisch liegenden Vorschlag unsere Bildungslandschaft entscheidend voranbringen. Nun gilt es, diese wichtige Änderung nicht aus Parteitaktik zu torpedieren. Vielmehr müssen wir gemeinsam im Gespräch von Bund und Ländern eine möglichst breite Mehrheit hier im Deutschen Bundestag und im Bundesrat organisieren. Es freut mich sehr, dass wir mit der nun zur Dis-kussion stehenden Kompromissformulierung für den -Wissenschaftsbereich einen Vorschlag beraten, den -unser bayerischer Wissenschaftsminister Dr. Wolfgang Heubisch bereits im Mai 2011 unterbreitet hat. Manchmal dauert es etwas, bis sich gute Vorschläge durchsetzen. Doch das Bohren dicker Bretter lohnt. Über das Für und Wider des Kooperationsverbotes haben wir uns in diesem Hause schon zu zahlreichen -Gelegenheiten ausgetauscht, sei es im Ausschuss oder hier im Plenum. Die Argumente sind bekannt, und nun kommt es darauf an, das als richtig Erkannte umzusetzen. Für die Ergänzung des Art. 91 b sehe ich eine breite Mehrheit. Die grüne Bundestagsfraktion versucht mit dem vorliegenden Antrag zu signalisieren, dass sie nicht allein und außen vor bleiben will. Fast noch wichtiger wäre es jedoch, wenn sich die Grünen der Unterstützung ihrer in föderaler Wolle gewandeten „Gallionsfigur“ versichern würden. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Eigentlich weiß man gar nicht mehr, was man noch sagen soll. Alle Oppositionsfraktionen haben seit 2010 wenigstens je zwei Anträge zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Bildung in den Bundestag eingebracht, drei Bundesländer haben sich dezidiert für mehr Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der Bildung ausgesprochen – es werden weitere folgen –, und nun hat sich der Koalitionsausschuss tatsächlich bewegt: Die Regierung soll noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf für eine Grundgesetzänderung vorlegen, nach der der Bund mit den Ländern in Bildungsfragen wieder gemeinsame Sache machen kann. Doch halt: „In der Bildung“ ist nicht ganz richtig, lediglich um die Zusammenarbeit bei Vorhaben an den Hochschulen soll es gehen. Doch auch hier steckt der Fehler im Detail: Frau Schavan geht es hierbei leider nicht um die flächendeckende institutionelle Förderung der Hochschulen, sondern wieder einmal nur um ausgewählte exzellente Standorte oder Institute. Nicht dass eine Förderung der Hochschulen falsch wäre und nicht dass sie über diesen Weg besser finanziert werden könnten: Aber der gesamte Bereich der schulischen Bildung bleibt wieder außen vor. Dabei fordern inzwischen 75 Prozent der Bevölkerung, dass die Zuständigkeit für Bildung insgesamt künftig beim Bund liegen soll. Wer darum den Bildungsföderalismus erhalten will, der muss sich bewegen. Die Koalition kann sich offensichtlich nicht auf eine Grundgesetzänderung in Sachen Schulbildung einigen. Dabei ist seit langem klar, dass Länder und Kommunen die anstehenden Probleme gar nicht mehr ohne Bundesbeteiligung lösen können. Nehmen wir nur den Schulbau. Jede, aber auch jede Kommune greift auf alle möglichen Finanzierungsprogramme aus dem Bund und der EU zu, die es ermöglichen, Geld für die nötigen Schulsanierungen zu bekommen. Ohne die Verfassungsschranken könnte der Bund direkt in den Schulbau investieren. Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung für Kinder aus armen Familien ist zwar das falsche Instrument, um für bessere Bildung und Teilhabe für Kinder zu sorgen, aber selbstverständlich nehmen die Länder das Geld gern in Anspruch. Immer lauter wird die Kritik am Auseinanderdriften der Qualität schulischer Bildung zwischen den Ländern trotz der vollmundig vereinbarten gemeinsamen Bildungsstandards in den Kernfächern. Sie führen aber offensichtlich noch nicht dazu, dass die Bildungsabschlüsse ohne Wenn und Aber gegenseitig anerkannt werden. Lehrerinnen und Lehrer werden längst in den Ländern unterschiedlich bezahlt, obwohl sie die gleiche Arbeit leisten. Die Studienabschlüsse für Lehrerinnen und Lehrer werden zwischen den Bundesländern nicht ohne Weiteres anerkannt. Neben dem Geld und bürokratischen Hürden gibt es eben auch derart unterschiedliche Bildungsstrukturen, dass der Umzug von Familien in ein anderes Bundesland zum Wagnis für den Schulerfolg der Kinder wird. Die Liste der Unzulänglichkeiten beim derzeit praktizierten Wettbewerbsföderalismus ließe sich noch weiter fortsetzen. „Kleinstaaterei“ nennt der Volksmund das. Nicht, dass es innerhalb des föderalen Systems keine Lösung für diese Probleme geben könnte: Aber die derzeit Agierenden sind offensichtlich unfähig, und unwillig, welche zu finden. Sie achten eitel darauf, dass ihnen keine Entscheidungskompetenz abhanden kommt, und riskieren dabei das weitere Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Mit einem „Bund“ hat das schon nichts mehr zu tun, eher mit einem „bunten Strauß von Blüten“, die sich in der Vase nicht vertragen. In Sachsen-Anhalt gab es – Zu- und Fortzüge zusammengerechnet – im Jahre 2010 etwa 80 000 Menschen, die das Bundesland gewechselt haben. Aus der Bundesstatistik kann man entnehmen, dass im Jahr 2008 bundesweit mehr als 1 Million Menschen über die Grenze des eigenen Bundeslandes umgezogen sind. Wenn nur jeder zehnte Mensch davon ein Kind im schulpflichtigen Alter war, dann sind mehr als 100 000 Kinder in einem Jahr von einem Schulwechsel betroffen gewesen. Wenn die Wanderungsbewegung so bleibt, wechseln im Laufe eines Bildungsweges von zehn Jahren mindestens 1 Million Schülerinnen und Schüler in ein anderes Bundesland. Wer das ignoriert, handelt verantwortungslos. Es ist schon ein Kreuz mit den Bildungspolitikerinnen und -politikern aller Parteien und aller Bundesländer, dass sie sich nicht auf Lösungen verständigen können, die die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in der Bildung sicherstellen, ohne die Bildungshoheit der Länder zu gefährden. Warum kann man nicht wie vor 48 Jahren beschließen, dass die Bildungsabschlüsse aus anderen Bundesländern anerkannt werden? Punkt. Warum kann man nicht sichern, dass bei einem Umzug nicht noch einmal teure Schulbücher gekauft werden müssen? – Eine grundgesetzlich garantierte Lernmittelfreiheit könnte da helfen. – Warum kann man in Fragen der Schülerbeförderung nicht für alle Kinder gleichwertige Bedingungen schaffen, wie es für einen stark benachteiligten Kreis von Kindern durch das Bildungs- und Teilhabepaket jetzt geschieht? Warum kann man nicht soziale Mindeststandards – etwa Schülerbeförderung, Lernmittel und Schulessen – setzen, die Geleichwertigkeit garantieren, von denen die Länder wie beim Kinder- und Jugendhilferecht nur nach oben abweichen können? Wenn man mittels Bildungsföderalismus eine Vielfalt in der Bildungslandschaft zulässt: Warum kann man dann nicht die eingrenzenden Regelungen und bürokratischen Anerkennungsvoraussetzungen einfach fallen lassen und Vielfalt auch anerkennen? Gäbe es eine Gemeinschaftsschule in allen Bundesländern, gäbe es sicher nicht weniger Vielfalt. Aber dann wäre ein Schulwechsel ein viel geringeres Problem. Denn wären diese Schulen inklusive Schulen, wäre auch genügend Möglichkeit zur individuellen Förderung vorhanden, um eventuelle Unterschiede in den Bildungsinhalten auszugleichen. Aber das braucht ja noch eine ganze Weile. So wie die Sache jetzt läuft, müssen junge Menschen und ihre Familien ausbaden, was die Kultusbürokratien und die Länder nicht regeln wollen. Darum ist der Stadt Hamburg sowie den Ländern Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein zu danken, dass sie die Debatte im Bundesrat angestoßen haben. Frau Kraft aus Nordrhein-Westfalen hat auch ihre Bereitschaft signalisiert. Wir hoffen, es kommen noch mehr Landesregierungen und Länderparlamente zu dieser Einsicht, und wir hoffen, es kommt dann auch zu einer Einigung über Ländergrenzen hinweg, die dem Bildungschaos endlich ein Ende bereitet. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als bildungs- und hochschulpolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion freue ich mich, dass unser Antrag zur Modernisierung des Bildungsföderalismus hier und heute diskutiert wird. Damit bringen wir eine weitere Vorlage für die Anhörung des Bildungsausschusses am 19. März zur Abschaffung des Kooperationsverbots in den Bundestag ein. Unsere konkreten Vorschläge, wie das verfassungsrechtliche Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich und die Kooperationshürden in der Wissenschaft endlich überwunden werden können, kommen dabei genau zur richtigen Zeit. Denn in den letzten Monaten ist endlich Bewegung in die Debatte über neue Kooperationswege gekommen. CDU, CSU und SPD haben in der Föderalismusreform 2006 den Bund aus der Mitverantwortung und Mitfinanzierung des Schul- und Bildungsbereichs herausgedrängt. Während die SPD diesen Fehler nun dankenswerterweise einsieht und zu korrigieren versucht, muss die Einsicht bei der Unionsfraktion noch reifen. Dabei gibt es zahlreiche wissenschaftliche Belege, dass zum Beispiel das Ganztagsschulprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ Kindern und Jugend--lichen – gerade aus bildungsfernen Familien – vielfältig unterstützt: Schulfreude, Motivation und Lernleistungen steigen in guten Ganztagsschulen. Seit der Verfassungsänderung 2006 sind solche wichtigen Initiativen für Chancengleichheit nicht mehr möglich. Stattdessen wird der Bund zu absurden Umwegen gezwungen. Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund auferlegt, die Teilhabe von Kindern aus Hartz-IV-Familien zu unterstützen. Was dabei herauskam, ist mit „Bürokratiemonster“ leider weitaus besser beschrieben als mit „Bildungs- und Teilhabepaket“. Weil die Bundesmittel den Schulen nicht direkt zufließen dürfen, müssen die Eltern zum Jobcenter und dort immer wieder die Leistungen beantragen. Die Schulen wiederum bekommen nicht etwa Mittel, um verstärkt individuelle Förderung anbieten zu können. Im Gegenteil: Lehrerinnen und Lehrer müssen stattdessen Bescheinigungen über die Notwendigkeit der Förderung ausstellen. Weil zwischen Bund und Ländern nichts geht, fließen öffentliche Bundesmittel an private Träger – anstatt das öffentliche Schulwesen der Länder zu stärken. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir im Bereich der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler im PISA-Vergleich nur kleine Fortschritte -machen. Die entscheidenden Fragen in unserer Debatte müssen doch sein: Wie erhöhen wir die Bildungs- und -Teilhabechancen aller Kinder und Jugendlichen? Wie lösen wir gemeinsam die großen bildungs- und wissenschaftspolitischen Herausforderungen und bauen eine echte Bildungsrepublik? Welche verfassungsrechtlichen Grundlagen brauchen wir, um die notwendige strategische und gesamtstaatliche Kooperation bei den großen Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftsfragen zu ermöglichen? Wie muss unser Grundgesetz ausgestaltet sein, damit es weder umgangen wird noch Bildungsblockaden bewirkt? Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat müssen endlich die Konsequenzen daraus ziehen, dass sich das Kooperationsverbot nicht bewährt, sondern geschadet und dazu geführt hat, dass das Grundgesetz umgangen wurde und wird. Als Antwort auf diese Fragen fordern wir mit unserem Antrag die Aufhebung des Kooperationsverbots bei Bildung und Wissenschaft. In beiden -Bereichen sind dringend neue Kooperationswege und eine Vertrauenskultur zwischen Bund und Ländern erforderlich. Die immensen sozialen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen machen doch überdeutlich, dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und Wirtschaft von der Leistungsfähigkeit und Qualität unseres Bildungs- und Wissenschaftssystems abhängt. Denken Sie nur an Fachkräfte- und Akademikermangel, an Schulabbruch- und Analphabetismusquoten, an Integrations- und Inklusionsdefizite. Wir brauchen eine Debatte über die Wege, wie wir Zusammenarbeit ermöglichen wollen. Das geht einerseits über eine Änderung des Art. 91 b Abs. 2 Grundgesetz, dergestalt, dass Bund und Länder zur „Sicherstellung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklung des -Bildungswesens und zur Förderung der Wissenschaft auf der Basis von Vereinbarungen zusammenarbeiten“ können. Daneben, alternativ oder besser additiv, ist ein neuer Art. 104 c sinnvoll, der Finanzhilfen ermöglicht und zwar dergestalt, dass der Bund den Ländern „auf der Basis von Vereinbarungen befristete oder dauerhafte -Finanzhilfen zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklung des Bildungswesens sowie der Wissenschaft gewähren“ kann. Diese Grundgesetzänderungen sind aus unserer Sicht so auszugestalten, dass die auf deren Grundlage jeweils zwischen Bund und Ländern zu treffenden Vereinbarungen der Zustimmung einer Dreiviertelmehrheit der Länder bedürfen. Denn wir wollen nicht zurück zum Zustand, dass ein Land alle anderen ausbremsen kann. Es gibt diesbezüglich Stimmen, die warnen, dass es der Bildung und Wissenschaft nicht nützen werde, wenn die Verfassung wieder Vereinbarungen von Bund und Ländern ermögliche, weil dann wieder ausufernde Verhandlungsrunden der Exekutive anstehen. Dem halte ich entgegen, dass wir alle aus diesen Jahren des Verbotes gelernt haben sollten. Der Reform- und Finanzierungsdruck haben zugenommen. Wir haben Jahre verloren, in denen andere Bildungssysteme sich weiterentwickelt -haben. Außerdem setzen wir Grüne ja gerade auf das Mehrheitsprinzip bei den Vereinbarungen, sowohl auf Bundes- wie auf Länderseite. Vetospieler, die allen anderen ihren Willen aufzwingen, wollen wir nicht. Deswegen kein Einstimmigkeitsprinzip auf Länderseite. Und zu denen, die meinen, dass eine Umwidmung von Umsatzsteuerpunkten nach Art. 106 Grundgesetz die Lösung bringen werde: Zeigen Sie mir den Landeshaushalt, der auch nur für die nächsten fünf Jahre gewährleisten kann, dass Umsatzsteuerpunkte, die der Bildung zugutekommen sollen, nicht letztlich in Schlaglöchern, Haushaltslöchern oder in Lehrerpensionen landen. Der Vorschlag des schwarz-gelben Koalitionsausschusses ist dagegen kleinmütig und reicht nicht aus. Bundesbildungsministerin Schavan springt mit ihrem Vorschlag, nur klitzekleinen Ergänzung des Art. 91 b lediglich um „Einrichtungen“ der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen vorzunehmen, viel zu kurz. Die Herausforderungen der Zukunft liegen nicht nur im -Bereich der Wissenschaft, sondern gerade auch in der Bildung. Anstatt die Bund-Länder-Zusammenarbeit auf die Wissenschaft zu begrenzen, muss jetzt die historische Chance auf eine neue Kooperationskultur auch im Schul- und Bildungsbereich genutzt werden. Eine echte „Bildungsrepublik“ braucht eine breite und gute Basis vor allem in den Schulen, damit die Wissenschaft überhaupt leistungsfähig sein kann. Wir unterstreichen daher unsere jahrelange Forderung: Das Grundgesetz muss so geändert werden, dass gemeinsames Handeln von Bund und Ländern auch in der Bildung ermöglicht wird. Es ist eine geradezu -bizarre Situation, dass wir Schulen in Jakarta und -Washington (ko)finanzieren dürfen, nicht aber in Bremen oder Bochum. Eine Basta- oder Verweigerungshaltung der Koalition wäre politisch unvernünftig. Wer eine breite Zustimmung im Parlament und Bundesrat erreichen muss, sollte jetzt einen Prozess für eine breit getragene Verhandlungslösung in Gang setzen. Ministerin Schavan muss jetzt auf die Opposition und auf die -Länder zugehen und ein transparentes Verfahren organisieren, um kluge und konsensfähige Lösungen zu erarbeiten, die im Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit finden können. Wir schlagen dafür vor, einen Reformkonvent einzuberufen, der den Bildungs- und Wissenschaftsbereich gleichermaßen in den Blick nimmt. Es ist an der Zeit, -einen großen Wurf für mehr Kooperation zu wagen, anstatt auf dem kleinsten gemeinsamen Koalitionsnenner zu verharren. Für uns ist klar: Ein Ergebnis, dass der Bund Milliarden in die Nachfolgefinanzierung von -Eliteunis schiebt, aber weiter keinen Cent in Schulen in -sozialen Brennpunkten investieren darf, überzeugt nicht. Auch die Förderung der Wissenschaft braucht mehr: Sie muss auch Studienplatzaufbau, Infrastruktur- und Hochschulbau sowie Hochschulgrundfinanzierungsprobleme angehen, nicht allein internationale Leuchttürme herausputzen. Eine gesamtstaatliche Anstrengung für eine bessere individuelle Förderung aller Kinder und -Jugendlichen heute bringt uns die Bildungsgerechtigkeit und die Innovationskraft von morgen. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8902 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Niemand widerspricht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Fristen für die Feststellung der Behinderung und die Erteilung des Ausweises – Drucksache 17/6586 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) – Drucksache 17/8445 – Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Molitor Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor. Maria Michalk (CDU/CSU): Im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke wird gefordert, die aktuell geltenden Fristen für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft von Menschen mit einer oder mehrfachen Behinderungen, die erwerbstätig sind, auf alle Feststellungen der Schwerbehinderteneigenschaft auszudehnen. In der Tat erreichen uns immer wieder Beschwerden über zu lange Bearbeitungszeiten. Auch ich kenne -Beispiele, wo die Entscheidung erst nach 14 oder 15 Wochen den Antragsteller erreicht hat. Das ist für die -Betroffenen kaum akzeptabel; denn der Schwerbehindertenausweis ist als Nachweis notwendig, um Nachteilsausgleichsregelungen in Anspruch nehmen zu können. So ist zum Beispiel auch die Inanspruchnahme des besonderen Kündigungsschutzes von der Vorlage der Schwerbehindertenbestätigung kausal abhängig. Die Initiatoren des Gesetzentwurfes wollen nunmehr eine Frist von fünf Wochen für die Ausstellung des -Dokuments festschreiben. Dem Bund wird dabei aufgetragen, die entsprechenden Ressourcen zu schaffen, und zwar mit der Begründung, die Gesamtverantwortung für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu haben. Aktuell sind die Fristen für die Entscheidung über Anträge erwerbstätiger Personen in § 14 SGB IX beschrieben. Danach ist die Behinderung innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang festzustellen, wenn die Situation klar ist und ein Gutachten für die Feststellung nicht erforderlich ist. Ist aber ein Gutachten eines Sachverständigen notwendig, hat das Versorgungsamt unverzüglich einen geeigneten Sachverständigen zu beauftragen. Dieser hat innerhalb von zwei Wochen nach der Beauftragung durch das Versorgungsamt das Gutachten zu erstellen. Das Versorgungsamt entscheidet dann innerhalb von zwei Wochen nach Vorlage des Gutachtens. Diese geltende Regelung ist ein Ergebnis des Vermittlungsverfahrens zum Gesetz zur Förderung der Ausbildung und -Beschäftigung schwerbehinderter Menschen aus dem Jahr 2004. Die Bundesregierung hat damals eigentlich die Fristen so vorgeschlagen, wie es jetzt die Fraktion Die Linke fordert. Aber der Bundesrat hat sich gegen diese Frist ausgesprochen, und das vor allem aus haushaltswirtschaftlichen Erwägungen. Das Argument war damals, dass die tatsächlichen Fristen weit über den geforderten liegen und eine Veränderung nur mit erheblichen Personalaufstockungen möglich sei. Wie gesagt, im Vermittlungsverfahren wurde dann also eine Einigung auf Fristen allein für erwerbstätige schwerbehinderte Menschen erzielt. So ist sichergestellt, dass schwerbehinderte Menschen in einem Arbeitsverhältnis alle erforderlichen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten können. Das ist nicht nur eine Klarstellung der Rechtsposition des Arbeitnehmers, sondern ist auch mit sicheren Vorgaben für den Arbeitgeber verbunden, der damit seine Beschäftigungspflicht kennt, klare Erkenntnisse zur Ausgleichsabgabe bzw. bei der Anrechnung auf die Zahl der Pflichtarbeitsplätze hat und den Zusatz--urlaub sowie den besonderen Kündigungsschutz kennt. Aber immer wieder war diese Regelung Gegenstand von Anfragen und politischen Diskussionen. In diesem Zusammenhang fanden auch Abfragen bei den Ländern über die Bearbeitungsdauer statt. In der Summe werden rund 10 Wochen Bearbeitungszeit angegeben. Lediglich in Berlin mit 22 Wochen, in Sachsen mit 24 Wochen und in Thüringen mit 26 Wochen sind die Fristen unakzeptabel länger. Hier liegt also nicht die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung vor, sondern hier sind Vollzugsprobleme in den Ländern zu hinterfragen. Wir können dem vorliegenden Gesetzesvorschlag aus diesen ordnungspolitischen Gründen nicht zustimmen. Unabhängig davon ist es der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein großes Anliegen, in Zeiten guter wirtschaftlicher Entwicklung insbesondere auch Menschen mit -einer Behinderung die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ihren Gunsten angedeihen zu lassen. Dafür sind vielfältige Förderinstrumente vorgesehen, die vor Ort entsprechend der individuellen Situation der betroffenen Menschen zum Einsatz kommen sollten. Dafür brauchen wir das Verständnis und die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen. Dafür brauchen wir aber auch eine schnell und unbürokratisch arbeitende Verwaltung in den jeweiligen Institutionen. Und deshalb werden wir vor Ort weiterhin diese Entwicklung kritisch und kon-struktiv begleiten. Ulrich Lange (CDU/CSU): Der ernst gemeinte Einsatz für die Belange von -Behinderten ist sehr ehrenwert und zu begrüßen. Die -gesellschaftliche Teilhabe von Behinderten in unserer Gesellschaft ist sehr weit fortgeschritten. Die christlich-liberale Koalition will die Inklusion. Wir wollen, dass auch der Behinderte in seiner Individualität von der -Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzuhaben und teilzunehmen. In diesem Bemühen sind wir schon weit gekommen, aber noch lange nicht am Ende. In meinem Wahlkreis kämpfen wir im Moment für die barrierefreie Sanierung des Bahnhofes in Donauwörth. Dies ist auch mit erheblichen Kosten verbunden. Die DB AG und unser Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer sind bereit, für diese Sanierungsprogramme viel Geld in die Hand zu nehmen. Dies zeigt, dass wir nicht nur die Inklusion fordern, sondern auch bereit sind, dafür die nötigen Gelder zu geben. Es gibt noch viele Punkte und Bereiche, wo es Veränderungsbedarf gibt. Aber wir verbessern aktiv die Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft. Im Zen-trum steht das Ziel, die gleichberechtigten Chancen der Behinderten zur gesellschaftlichen Teilhabe in allen -Lebensphasen zu realisieren, bei Reisen, auf der Arbeit, in der Schule, bei Arzt- und Krankenhausbesuchen etc. Bei diesem Ansatz begrüßen wir jede hilfreiche -Unterstützung. Der Antrag der Linken ist jedoch kontraproduktiv. Ihre Forderung nach einer endgültigen Bearbeitung der Behindertenanträge in höchstens fünf -Wochen widerspricht jeder gründlichen und medizinisch begründeten Bearbeitung. Sicherlich gibt es eindeutige Fälle, in denen die Behinderung und auch der Grad der Behinderung sehr schnell festgestellt werden können. Aber das ist nicht immer der Fall. Wir müssen den Sachbearbeitern die Möglichkeit geben, die notwendigen Gutachten bei den Ärzten anzufordern und dann auch medizinisch auszuwerten. Im Zweifelsfall muss sich der Sachbearbeiter auch persönlich mit den Antragstellern unterhalten und sich vor Ort ein Bild machen. Diesen sensiblen Vorgang unnötig unter einen Zeitdruck zu stellen, ist sicherlich nicht im Sinne der Betroffenen, ist -sicherlich nicht im Sinne der Behinderten. Nachprüfenswert ist in diesem Zusammenhang, -warum die Bearbeitung der Behindertenanträge in den neuen Bundesländern erheblich länger dauert als in den alten Bundesländern. Hier sollte nachgeforscht und eine einheitliche Verfahrensweise mit ähnlichen Bearbeitungszeiten in ganz Deutschland herbeigeführt werden. Aber auch da hat der Bund kein Weisungsrecht. Für Voll-zugsprobleme der Kommunen sind die Länder die entsprechenden Ansprechpartner. Das sollten auch die Kolleginnen und Kollegen der Linken wissen. Es handelt sich also mal wieder um einen Scheinantrag. Zur Weiterentwicklung des inklusiven Ansatzes haben wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die im Rahmen des SGB IX Veränderungsvorschläge erarbeitet, die den Behinderten die gesellschaftliche Teilhabe erleichtern. Ich fordere Sie deshalb auf: Werfen Sie Ihren Antrag in die Tonne und arbeiten Sie konstruktiv an dem inklusiven Ansatz mit. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der Gesetzentwurf der Linksfraktion, über den wir heute zu befinden haben, hat das Ziel, die Bearbeitungszeit für die Feststellung des Grades der Behinderung und die Erstellung des Ausweises zu verringern. Das Ziel begrüßen wir ausdrücklich; denn Menschen mit -Behinderung warten mitunter Monate auf die Ausstellung des Ausweises, der ihnen die Nachteilsausgleiche erst gewährt. Bisher wird nur für die Feststellung der Schwer--behinderteneigenschaft erwerbstätiger Personen eine Frist im Sozialgesetzbuch IX gesetzt. Diese bestimmt aber noch nicht, bis wann der Ausweis tatsächlich ausgestellt werden muss. Daher schlagen die Autoren des Gesetzentwurfs vor, diese Frist auf alle Vorgänge zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft auszuweiten und zudem eine Frist von fünf Wochen zur Ausstellung des Ausweises einzuführen. Ob die Einführung einer starren Frist jedoch geeignet ist und auch tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen führt, sehe ich durchaus kritisch. Was wir brauchen, ist eine umfassende Revision der Instrumente des Sozialgesetzbuches IX und eine Wirkungsforschung, die den Namen auch verdient. Letztlich hat die Regierung in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auch angekündigt, das SGB IX einer solchen Überprüfung zu unterziehen. Warum man damit aber bis zur kommenden Legislaturperiode warten will, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung. Ich kann Ihnen nur raten, keine weitere Zeit zu verlieren, sondern endlich zu handeln! Es ist nicht nur wie auch im Aktionsplan angekündigt wichtig, die Versorgungsmedizinverordnung anzupassen, die Begutachtung zu vereinheitlichen und den Schwerbehindertenausweis auf Bankkartenformat anzupassen. Es muss eben auch die Wirkung des gesamten Systems unter die Lupe der UN-Behindertenrechtskonvention gelegt werden. Es gibt weitere bekannte Missstände in der Versorgungsverwaltung, wie bundesweit unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe, geringe Honorare für Entscheidungen nach Aktenlage und für die -Betroffenen intransparente Verfahren. Man sollte daher das Anliegen des Gesetzentwurfs aufnehmen und prüfen. Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Ursachen für die lange Bearbeitungsdauer, die sehr unterschiedlich sein können. Die Regierung ist hier gefordert, einen Prüfauftrag in den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK aufzunehmen und eine umgehende Umsetzung bzw. eine Beschleunigung der bereits enthaltenen Vorhaben in die Wege zu leiten. Gabriele Molitor (FDP): Menschen mit Behinderungen wollen ein selbstbestimmtes und freies Leben führen. Dies zu ermöglichen, ist eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Schwerbehindertenausweis, der sich in Deutschland auf eine lange Tradition stützt, ist ein wichtiges Instrument, um Menschen mit Schwerbehinderung die Teilhabe zu erleichtern. In ihm wird der Grad der Behinderung festgehalten. Er ist Voraussetzung für die Gewährung von Nachteilsausgleichen und Rechten wie zum Beispiel dem Kündigungsschutz. Der Ausweis muss beantragt und eine Schwerbehinderung muss festgestellt werden. Zuständig für dieses Verfahren sind die Länder. Leider zieht sich die Bearbeitungsdauer in einigen Regionen in die Länge. Der Schwerbehindertenausweis wird beim zuständigen Versorgungsamt beziehungsweise Landesamt beantragt. Hier müssen in einigen Regionen Deutschlands Verbesserungen erreicht werden. Bei der Bearbeitungsdauer zeigt sich ein deutliches Ost-West-Gefälle. Während in Thüringen die Bearbeitung 26 Wochen dauert und in Sachsen 24 Wochen, erhalten im bundesweiten Durchschnitt Menschen mit Behinderung nach 10 bis 12 Wochen ihren Ausweis. Die kritisierte Bearbeitungsdauer betrifft also weder alle Bundesländer noch alle Menschen, die einen Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis stellen. Nach geltendem Recht ist über Anträge erwerbstätiger Personen innerhalb von drei Wochen zu entscheiden. Nur wenn ein Gutachten für die Feststellung der Schwerbehinderung notwendig ist, verlängert sich die Frist. Die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen ist für Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen gedacht. Diese müssen eingehend geprüft werden. Dafür werden ärztliche Gutachten und weitere Dokumente benötigt. Eine gewissenhafte Prüfung ist notwendig und im Sinne unseres Solidaritätsprinzips. Die Probleme der langen Bearbeitungsdauer gilt es also vor Ort in den Ländern zu beheben. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die „Schwerbehinderung“ rückwirkend feststellen zu lassen. So entsteht zum Beispiel auch ein rückwirkender Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Arbeitnehmer. Die Fraktion Die Linke fordert nun die Bundesregierung auf, eine Fünfwochenfrist im SGB IX einzuführen. Verantwortlich für die Ausweiserstellung sind aber einzig und allein die Bundesländer und die Kommunen. Es bestehen keine Aufsichts- oder Weisungsrechte seitens des Bundes. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist schlicht falsch adressiert. Für die FDP-Bundestagsfraktion besteht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Wir sehen auch keine Möglichkeit zur gesetzlichen Einführung einer Fünfwochenfrist durch den Bund. Es ist Aufgabe der Länder, auf die Beschleunigung des Ausstellungsverfahrens hinzuwirken. Der Antrag der Linken verfolgt lediglich das Ziel, den Ländern klare Verantwortlichkeiten abzunehmen. An den dafür anfallenden Kosten will die Fraktion Die Linke den Bund in unbekannter Höhe beteiligen und beruft sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Ein Menschenrechtsdokument sollte nicht dazu missbraucht werden, mit falsch adressierten und dazu nicht umsetzbaren Forderungen Wählerstimmen zu erhaschen. Hinzu kommt, dass die Einführung einer allgemeinen Frist im Gesetzgebungsverfahren bereits 2004 am Bundesrat mit dem Hinweis auf dadurch entstehende zusätzliche Personalkosten gescheitert ist. Diese politischen und organisatorischen Wahrheiten lässt die Linke einfach unter den Tisch fallen. Wir Liberale treten dafür ein, dass Menschen mit Behinderung schnell und unbürokratisch Hilfe erhalten. Wir sind mit dem Nationalen Aktionsplan, NAP, ein großes Stück vorangekommen. Der NAP ist mit seinen insgesamt 213 Projekten ein Motor für Veränderungen, der einen inklusiven Prozess anstößt. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland mit der Umsetzung der UN-Konvention und dem Nationalen Aktionsplan eine Vorreiterrolle ein. Selbstverständlich werden wir auch weiterhin mit großem Einsatz an der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention arbeiten, um Inklusion und eine umfassende Teilhabe zu verwirklichen. Dabei befassen wir uns im Deutschen Bundestag mit Fragen, die in unserem Verantwortungsbereich liegen. Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention braucht es jedoch die Mitwirkung aller. Eine inklusive Gesellschaft lebt von der Vielfalt der Menschen. Viele Menschen mit Behinderung wollen nicht, dass allein ihre Behinderung wahrgenommen wird. Menschen mit Behinderung sind in erster Linie Menschen. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Der Bundestag entscheidet heute über eine Frage, die jedes Jahr Hunderttausende Menschen betrifft. Wir haben in Deutschland fast 10 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Das ist im Durchschnitt jeder neunte Einwohner bzw. jede neunte Einwohnerin. Wenn diese ihren Schwerbehindertenausweis beantragen oder den Grad ihrer Behinderung neu feststellen lassen wollen, müssen sie auf einen neuen Ausweis oft sehr lange warten. Vor Jahren machten mich betroffene Bürgerinnen und Bürger auf dieses Problem aufmerksam. Vielfach gibt es für die Ausstellung von Ausweisen und Dokumenten klare Bearbeitungsfristen, nicht aber für die Ausstellung von Schwerbehindertenausweisen. Deshalb machte ich dieses Problem zum Gegenstand einer Anfrage an die Bundesregierung. Diese veranlasste daraufhin eine Umfrage bei den Ländern. Das Ergebnis war schockierend: In Sachsen warteten 2009 Menschen mit Behinderung durchschnittlich 24 Wochen, bis sie ihren Ausweis ausgestellt bekamen. Damit bildete Sachsen gemeinsam mit Thüringen den traurigen Spitzenreiter bei den Wartezeiten. Doch auch in anderen Bundesländern müssen die Betroffenen sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Bundesweit waren es nach den Ergebnissen der damaligen Länderumfrage im Schnitt knapp 14 Wochen. Und wie gesagt, es handelt sich hierbei um Durchschnittswerte. Mir wurden noch extremere Fälle überliefert, etwa der einer 80-jährigen Bürgerin aus Zwickau, die ein Jahr auf ihren Schwerbehindertenausweis warten musste. Mir ist sogar ein Fall bekannt, bei dem ein Antragsteller bereits verstarb, bevor der Ausweis nach etlichen Monaten ausgestellt wurde. Auch viele Berufstätige, die Anträge auf Neufeststellungen der Behinderung bzw. des Behinderungsgrades stellen, haben mit dem Problem zu kämpfen. Solche Zustände dürfen nicht hingenommen werden. Menschen benötigen diesen Ausweis dringend, um alltägliche Hindernisse wenigstens etwas abzumildern. Die Bundesregierung nimmt die Haltung ein, sie sei für die Lösung des Problems nicht verantwortlich, und verweist auf die Zuständigkeit der Länder. Diese wiederum sehen sich selbst nicht verantwortlich, und so wird bis heute das Problem zwischen Bund, Land und Kommunen hin- und hergeschoben – zulasten der Betroffenen. Deshalb ist eine gesetzliche Regelung unabdingbar. Der heute von der Linken eingebrachte Gesetzentwurf schlägt vor, bundeseinheitlich eine Bearbeitungsfrist von fünften Wochen festzuschreiben. Die Betroffenen hätten damit einen Rechtsanspruch, den sie geltend machen könnten. Wir wollen im Neunten Sozialgesetzbuch eine Frist von fünf Wochen festschreiben, innerhalb derer der Antragsteller nach Eingang des Antrags über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. des Grades der Behinderung schriftlich informiert wird und den Schwerbehindertenausweis erhält. Ähnlich ist es derzeit schon bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit im Elften Sozialgesetzbuch geregelt. Dieses sieht eine Fünfwochenfrist vor, innerhalb derer der Antragsteller eine schriftliche Mitteilung der Pflegekasse erhalten muss. Mit dieser gesetzlichen Änderung entstände politischer Handlungsdruck für die verschiedenen Ebenen von Bund, Land und Kommune, obwohl sie das Problem auch sehen. Es ist traurig, dass Union und FDP in den Ausschüssen gegen unseren Gesetzentwurf gestimmt haben, und dies wahrscheinlich auch heute tun werden. Kein Verständnis habe ich auch für die angekündigte Stimmenthaltung der SPD. Hat diese dazu keine Meinung? Für mich und die Linke ist klar: Es geht hier auch um die Frage gesellschaftlicher Teilhabe. Die 2009 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention zielt in ihren Grundsätzen darauf ab, Menschen mit Behinderungen nicht zu diskriminieren und ihnen eine volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die schnelle und zügige Ausstellung von Schwerbehindertenausweisen ist ein ganz konkreter Punkt, an dem diese Forderung umgesetzt werden kann. Der Bundestag kann nun zeigen, ob er nur allgemeine Erklärungen verabschieden oder wirklich etwas ändern will. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer aufgrund einer Beeinträchtigung Unterstützung braucht, um beispielsweise bei der Bahnfahrt in den Zug zu gelangen, kann nicht zu jeder Zeit mit der Bahn fahren. Früh morgens an einem kleinen Bahnhof stehen die Chancen schlecht, dass Mitarbeiter der Bahn vor Ort sind. Menschen mit Behinderungen müssen, weil sie immer wieder auf Barrieren stoßen, häufig einen hohen Organisationsaufwand betreiben und haben auch erhöhte finanzielle Aufwendungen. Aus diesem Grund gibt es in verschiedenen Bereichen Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen. Im Zusammenhang mit der Bahn ist das beispielsweise das Recht auf die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr. Beim Nachteilsausgleich handelt es sich weder um ungerechte Vergünstigungen noch um Subventionen oder gar Privilegien. Der Staat federt damit lediglich die erhöhten Aufwendungen von Menschen mit Behinderungen teilweise ab. Damit Menschen mit Behinderung diese Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen können, müssen sie ihre Behinderung mit einem Schwerbehindertenausweis nachweisen. Um diesen Ausweis zu bekommen, können sie auf Grundlage von § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch, SGB IX, einen Antrag auf Feststellung des Grads der Behinderung und Ausstellung eines Schwerbehinderten- bzw. Behindertenausweises stellen. Die in § 14 SGB IX festgelegten Fristen müssen allerdings nur eingehalten werden, wenn eine erwerbstätige Person einen Antrag stellt. Menschen mit Behinderungen, die nicht erwerbstätig sind, müssen unter Umständen lange auf die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises warten. Es gibt Fälle, in denen die Bearbeitung ein halbes Jahr dauert. Das ist nicht überall der Fall, eine zeitnahe Bearbeitung ist im Prinzip also möglich. Die Linksfraktion möchte mit ihrem Gesetzentwurf eine Frist von fünf Wochen zur Ausstellung des Ausweises festschreiben. Diesem Anliegen stimmen wir als Grünen-Fraktion gerne zu. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses lehnen wir dementsprechend ab. Vizepräsident Eduard Oswald: Wir kommen damit gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8445, den -Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6586 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Wolfgang -Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste – Drucksache 17/8797 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) Innenausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir hier vor. Bernhard Kaster (CDU/CSU): Einzelne Abgeordnete der Fraktion Die Linke werden von Verfassungsschutzbehörden unter verfassungsschutzrechtlichen Gesichtspunkten offen beobachtet. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt dies zum Anlass, ein totales Zerrbild zu zeichnen und die für jede Demokratie wichtige Aufgabe des Schutzes der eigenen Verfassung zu diskreditieren und in Kernbereichen infrage zu stellen. Die Verfassungsschutzbehörden sprechen zu Recht von offener Beobachtung. Das heißt, es geht nicht um die deutschen Geheimdienste allgemein. Das heißt, es geht nicht um Überwachung, also persönliche Überwachung von Abgeordneten. Dass heißt, es geht auch nicht um das Immunitätsrecht. Ich wiederhole: Der Antrag zeichnet bewusst ein politisches Zerrbild. Warum ausgerechnet die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den öffentlichen Versuch unternimmt, sich schützend vor mehrfach durch Verfassungsschutzbehörden und Gerichte festgestellte kommunistische, marxistische und antidemokratische Bestrebungen von Teilen der SED-Nachfolgepartei Die Linke zu stellen, ist für mich in keiner Weise nachvollziehbar. Gemäß § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist es Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über Bestrebungen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, zu sammeln und auszuwerten. Dieser gesetzliche Auftrag gilt selbstverständlich auch mit Blick auf die Linkspartei und ihre Führungsspitze. Diese Aufgabe ist Ausfluss des Grundsatzes der wehrhaften Demokratie, ein tragendes Prinzip unseres Grundgesetzes. Und dieser Grundsatz richtet sich gleichermaßen gegen rechts- und linksextremistische Verfassungsfeinde. Die in die Partei PDS und danach in die Partei Die Linke umbenannte SED wird seit langem vom Verfassungsschutz beobachtet, auch schon unter der rot-grünen Bundesregierung. Es ist auch bekannt, dass zu den Beobachteten auch Abgeordnete dieser Partei gehören. Zudem ist es juristisch eindeutig geklärt, dass eine solche offene Beobachtung auch von Abgeordneten rechtens ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat folgerichtig festgestellt, dass es keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz gibt, dass Maßnahmen gegen Abgeordnete nur mit Zustimmung des Parlaments zulässig seien. Soweit Abgeordnete von der Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz betroffen seien, -bedarf diese Konkretisierung keines Gesetzes, das ein Tätigwerden gerade gegenüber Abgeordneten erlaube. Mit dem Immunitätsrecht hat es zudem gar nichts zu tun. Das Immunitätsrecht erstreckt sich auch nach dem Wortlaut des Grundgesetzes auf zwei Fallgruppen: Genehmigungspflichtig durch den Deutschen Bundestag sind erstens die Verfolgung einer mit Strafe bedrohten Handlung und zweitens alle anderen Beschränkungen der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten. Aber nochmals zum eigentlichen Thema des Tätigwerdens des Verfassungsschutzes gegenüber Vertretern der Partei Die Linke. So hat zum Beispiel das OVG Münster in einer Entscheidung ausführlich und überzeugend dargelegt, dass – Zitat – „die Parteien PDS, Linkspartei.PDS und heute Die Linke Bestrebungen verfolgten und weiterhin verfolgen, die darauf gerichtet sind, die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung sowie das Recht des Volkes, die Volksvertretung in allgemeiner und gleicher Wahl zu wählen, zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen“. Weiterhin gibt es auch nach Auffassung des Gerichts Hinweise, dass einflussreiche Parteiorganisationen wie die kommunistische Plattform, das marxistische Forum und die Linksjugend, Solid, weiterhin die – verfassungswidrige – Diktatur des Proletariats im klassisch marxistisch-leninistischen Sinne anstreben. Es liegen nach wie vor zahlreiche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen in der Partei Die Linke vor, insbesondere die umfassende Akzeptanz von offen extremistischen Zusammenschlüssen in ihren Reihen. Da ist es die legitime Aufgabe des Verfassungsschutzes, sich darüber die notwendigen Erkenntnisse zu verschaffen. Noch jüngst fabulierte die Vorsitzende der Linkspartei über die Wege zum Kommunismus und veröffentlichte ihre Vorstellungen darüber ausgerechnet in der Zeitung „Junge Welt“. Diese Zeitung versteht sich als marxistische Tageszeitung, die der Klassenkampfidee und – so der Verfassungsschutzbericht 2010 des Bundes – der Symbolik von Hammer und Sichel nicht abgeschworen hat. Sie propagiert die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, wobei die politische und moralische Rechtfertigung der DDR und die Diffamierung der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen. Nach alledem besteht weder rechtlich noch tatsächlich ein Anlass, den Immunitätsausschuss des Bundes-tages mit der Möglichkeit des Verfassungsschutzes zur offenen Beobachtung und Informationssammlung zu befassen. Der Antrag geht rechtlich wie auch politisch total ins Leere. Manfred Grund (CDU/CSU): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Beobachtung und Überwachung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages durch deutsche Geheimdienste ist überflüssig und von wenig Kenntnissen in Bezug auf unsere Rechtsordnung geprägt. Art. 38 des Grundgesetzes garantiert das freie Mandat des Abgeordneten, stellt ihn aber nicht über das Gesetz. Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist an Recht und Gesetz ebenso gebunden wie jeder andere Bürger in unserem Land auch. Gott sei Dank, möchte man sagen. Wenn ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages Rechtsverstöße oder gar Verbrechen begeht, so ist er natürlich und zu Recht nicht vor Vorermittlungen der Polizei geschützt. Anders könnte ein Rechtsverstoß auch gar nicht entdeckt werden. Erst wenn die Staatsanwaltschaft tätig wird und zum Beispiel Hausdurchsuchungen anordnet, muss zuvor die Immunität eines Abgeordneten durch den Deutschen Bundestag und den dafür zuständigen Immunitätsausschuss aufgehoben werden. Ein Verfahren zur Aufhebung der Immunität kann aber nicht auf „blauen Dunst“ hin erfolgen, sondern muss gut begründet sein. Würde man den Weg der vorherigen Informationsbeschaffung „abschneiden“, würde es zu einem Verfahren zur Aufhebung der Immunität gar nicht erst kommen. Man würde die Abgeordneten des Deutschen Bundestages quasi über das Gesetz stellen, sie wären vor Strafverfolgung nahezu sicher. Was für die Abgeordneten in Bezug auf einfachgesetzliche Regelungen wie das Strafgesetzbuch gilt, muss erst recht für das Grundgesetz gelten. Das Grundgesetz bildet das Herz unserer Rechtsordnung. Es bildet den Kernbestand unserer verfassungsrechtlichen Ordnung; dies begründet sogar ein erhöhtes Schutzbedürfnis. Gemäß § 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes hat das Bundesamt für Verfassungsschutz, gemeinsam mit den Landesbehörden für Verfassungsschutz „Auskünfte, Nachrichten und sonstige Unterlagen“ zu sammeln und auszuwerten, unter anderem über Bestrebungen, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten. Das gilt natürlich auch dann, wenn diese Bestrebungen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages ausgehen würden. Man stelle sich vor, Abgeordnete aus dem Bundestag oder aus den Landtagen würden davon ausgenommen. Dann wäre der Staat nahezu wehrlos gegenüber Verfassungsfeinden, die aus dem Parlament heraus agierten. Notwendige Ermittlungen, wie die Sichtung öffentlich zugänglicher Quellen, die die Grundlage dafür bilden, überhaupt einen Anfangsverdacht zu begründen, könnten nicht mehr stattfinden. Das ist juristisch nicht nur absurd, auch aus unserer Geschichte heraus sollten wir wirklich schlauer sein. Betrachten wir zum Beispiel das Verbot der Sozialistischen Reichspartei, SRP, 1952; diese zutiefst verfassungsfeindliche Partei hat auch aus den Parlamenten heraus gegen die Verfassung und die demokratische Grundordnung agiert; einige ihrer wichtigsten Funktionäre waren Mitglieder des Bundestages und des Landtages von Niedersachsen. Da der Bundestag und die Landtage in Fragen der Immunität weitgehend auf gleicher Höhe sind, fragt man sich, wem eine solche Regelung nützen würde, wenn unsere Nachrichtendienste öffentlich zugängliche Quellen im Hinblick auf verfassungsfeindliche Tendenzen nicht mehr sichten, auswerten und sammeln dürften, ohne dass zuvor die Immunität des Abgeordneten aufgehoben wird. Es würde Leuten wie Holger Apfel und Udo Pastörs nutzen, die hohe Funktionäre der NPD und zugleich Abgeordnete in Landtagen sind. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es das ist, was die Grünen wollen. Im Übrigen wäre eine bloße Änderung im Bereich der Verfahrensregeln und gegebenenfalls der Geschäftsordnung des Bundestages, wie im Antrag gefordert, angesichts der gesetzlichen Legitimation der Tätigkeit der Nachrichtendienste und der Ermittlungsbehörde auch unwirksam. Wenn man den Antrag liest, dann stellt man sich schon die Frage, in welchem Interesse Bündnis 90/Die Grünen hier eigentlich handeln. Einzig Abgeordnete der Fraktion Die Linke sind in den vergangenen Jahren von nachrichtendienstlicher Beobachtung betroffen. Hierzu hat das Bundesinnenministerium erst kürzlich auf Anfrage des Parlamentarischen Kontrollgremiums einen Bericht geliefert und öffentlich erklärt, dass bei der Beobachtung von Abgeordneten der Linken durch das Bundesamt für Verfassungsschutz nur öffentlich zugängliche Quellen verwendet worden sind. Und dass die Beobachtung der Linken rechtmäßig und geboten ist, das wird in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2009 überdeutlich. In der Urteilsbegründung stellt das Gericht fest – ich zitiere –: „Diese Beobachtung bezweckt, die bestehenden tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen der Partei Die Linke weiter aufzuklären und mit den gewonnenen Informationen die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise zu begegnen.“ Ich teile diese Urteilsbegründung des Oberverwaltungsgerichts ausdrücklich. Die Beobachtung von verfassungsfeindlichen Tendenzen, von wem auch immer sie ausgehen, auch von Abgeordneten, ist ein wichtiger Bestandteil unserer wehrhaften Demokratie. Sonja Steffen (SPD): Über das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde in letzter Zeit sehr viel geredet. Gerade hat der Unter-suchungsausschuss „Terrorgruppe nationalsozialis-tischer Untergrund“ seine Arbeit aufgenommen. Er wird sich mit der Arbeits- und Vorgehensweise des Verfassungsschutzes beschäftigen. Ich bin froh, dass der Bundestag auch diese Möglichkeit wahrnimmt, um seine Kontrollfunktion gegenüber den Nachrichtendiensten des Bundes auszuüben. Denn das Bundesamt für Verfassungsschutz ist ein vom Gesetzgeber legitimiertes Organ, das der Kontrolle durch das Parlament unterliegt. Und eine der wichtigsten Aufgaben der Legislativen ist es, die Exekutive zu kontrollieren und nicht umgekehrt. Spätestens seit Ende Januar wissen wir, dass 27 der 76 Abgeordneten der Fraktion Die Linke unter Beobachtung stehen. Dass Teile bzw. Flügel der Partei Die Linke beobachtet werden, da die vertretenen Positionen teilweise als linksextremistisch eingestuft werden, wussten wir bereits. Wenn man sich aber anschaut, welche -Namen sich auf der Liste der beobachteten Abgeordneten wiederfinden, gibt dies schon zu denken. Bedenklich ist es zum Beispiel, wenn ein vom Parlament gewähltes Mitglied des Vertrauensgremiums, das die Wirtschaftspläne des Bundesnachrichtendienstes, des Verfassungsschutzes und des militärischen Abschirmdienstes genehmigt, beobachtet wird. Wenn ein Mitglied, das vom Deutschen Bundestag mit der Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes -betraut wurde, selbst vom Verfassungsschutz beobachtet wird, wird die parlamentarische Kontrolle ad absurdum geführt. Vor diesem Hintergrund haben die Grünen nun einen Antrag eingebracht, der die Erarbeitung von Verfahrensregelungen bei Informationssammlungs-, Beobachtungs- und Überwachungsmaßnahmen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegenüber Bundestagsabgeordneten fordert. Als Erstes möchte ich hierzu sagen, dass ich es sehr begrüßen würde, wenn wir die zu diesem Thema geführten Debatten insgesamt versachlichen könnten. Den krampfhaften Versuch insbesondere der Linkspartei, aus diesen Vorgängen eigenen politischen Nutzen zu ziehen, halte ich für unangemessen. Wir sollten stattdessen als Parlamentarier konstruktiv zusammenarbeiten. Denn wir sind uns in diesem Hause doch darüber einig, dass unser wichtigstes Gut die Freiheit des Mandats ist. Dieses gilt es zu schützen. Dabei macht es einen Unterschied, ob nur eine Beobachtung anhand öffentlich zugänglicher Quellen oder eine Überwachung mit geheimdienstlichen Mitteln stattfindet. Es macht meiner Meinung nach auch einen -Unterschied, ob der betroffene Abgeordnete darüber -informiert ist oder nicht. Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss seiner Aufgabe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, nachkommen können, allerdings muss es sich dabei an klare gesetzliche Grenzen halten und die Verhältnismäßigkeit wahren. Ich denke deshalb, dass wir uns in der Tat noch einmal das Verhältnis zwischen dem freien Mandat und der Beobachtung von Abgeordneten in der Praxis anschauen sollten, um sicherzustellen, dass eine Überwachung mit geheimdienstlichen Mitteln durch das Bundesamt für Verfassungsschutz auch in Zukunft nicht stattfindet und die vom Parlament gesetzten Grenzen tatsächlich eingehalten werden. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Behauptung der Grünen, mit der Freiheit des Abgeordnetenmandats vertrage sich im Grundsatz eine geheimdienstliche Beobachtung nicht, weise ich zurück. Genausogut könnte man die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Person dann zum Anlass nehmen, geheimdienstliche Beobachtungen sämtlicher Personen für ungerechtfertigt zu erklären. Eine solche Logik würde auf eine generelle Abschaffung von Geheimdiensten hinauslaufen. Wer das politisch will, soll das dann auch so fordern. Aber so zu tun wie die Grünen, als gäbe es da ein juristisches Verbot, ist Unfug. Vielmehr gibt es zu dieser Frage seit 2010 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Damals wurde die Beobachtung von Linken-Parlamentariern erlaubt. Die Freiheit eines Abgeordneten wird keineswegs – ebensowenig wie die jeden anderen Bürgers – automatisch durch „Beobachtung“ unzulässig eingeschränkt. Da muss das Wie und Warum schon näher betrachtet werden. Eine konkrete Prüfung der aktuell diskutierten Frage findet gerade statt. Die Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz ist kein Urteil über ihre Verfassungswidrigkeit. Sie ist lediglich ein Instrument, um darüber Erkenntnisse zu erlangen. Solange Bundestagsabgeordnete – wie etwa die Linken-Chefin Gesine Lötzsch – offenbar verfassungsfeindliche Ziele propagieren, muss das Bundesamt für Verfassungsschutz leider auch hier seiner Pflicht Genüge tun und entsprechende Bestrebungen im Blick behalten. Gesine Lötzsch hat in ihrem Kreisverband mehrfach Veranstaltungen mit früheren Staatssicherheitsmitarbeitern durchgeführt. Das hat ihr sogar aus Reihen der Grünen den Vorwurf eingetragen, die Vergangenheit unter den Tisch kehren zu wollen und sich als „heilige Johanna der Alt-Tschekisten“ zu präsentieren. Und vor einem Jahr hat Frau Lötzsch sogar öffentlich über „Wege zum Kommunismus“ schwadroniert – und das ausgerechnet in der Alt-Stasi-Postille „junge welt“, die sich im vergangenen Sommer auf der Titelseite für den Bau der Berliner Mauer bedankt hat. Weshalb die Grünen ihr nun zur Seite springen zu müssen glauben, ist mir schleierhaft. Auch die Wahl in ein Parlament ändert nicht automatisch die Gesinnung des Gewählten – glücklicherweise! Schließlich wollen die Wähler, dass ihr Volksvertreter seine Botschaften vor der Wahl auch danach im Parlament nicht vergisst. Dann allerdings ist es aber auch nicht zulässig, die demokratische Wahl quasi zum Persilschein zu machen. Es scheint mir nicht angemessen, hier auf parlamentarische Privilegien zu pochen. Ich bin sicher: Hätten wir hier im Bundestag eine NPD-Fraktion wie im sächsischen Landtag, hätten die Grünen diesen Antrag kaum gestellt. Egal ob Holger Apfel oder Gesine Lötzsch: Der Verfassungsschutz muss solche Umtriebe im Auge behalten. Genau dafür ist er gegründet worden. Dass den Betroffenen das nicht gefällt, ist klar. Man mag über die eine oder andere Beobachtungsmaßnahme taktisch unterschiedlicher Auffassung sein. Doch der Verfassungsschutz ist Teil des Konzepts der wehrhaften Demokratie. Dieses Konzept hat Extremisten verständlicherweise immer gestört. Wir Liberalen dagegen bekennen uns dazu mit Nachdruck. Ich würde es begrüßen, wenn Demokraten jeglicher Couleur gemeinsam gegen Extremisten jeglicher Couleur zusammenstünden und die gleichen Maßstäbe auf alle Gegner unserer Verfassung, egal ob innerhalb oder außerhalb eines Parlaments, anwendeten. Unsere Demokratie muss und wird eine wehrhafte bleiben. Dazu steht die FDP. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Für ihn sei es „kein Stein des Anstoßes“, wenn linke Abgeordnete durch den Verfassungsschutz beobachtet würden. So beschied der künftige Bundespräsident Joachim Gauck den Fragesteller während seiner Vorstellung in der Fraktion. „Kein Stein des Anstoßes“? Das sagt derjenige, dem Freiheit angeblich über alles geht! Wie ist es dann mit der Freiheit des Mandats? Immerhin im Grundgesetz, Art. 38, gesetzlich verankert. Im Januar wurde bekannt, dass nicht nur einige Mitglieder der Linken durch den Inlandsgeheimdienst überwacht werden, sondern mindestens 27 Mitglieder der Linksfraktion des Bundestages vom Bundesamt und weitere über die Landesämter. Ein ungeheuerlicher Vorgang! Mit Blick auf inzwischen vorliegende Akten bzw. Bescheide erfolgt die Beobachtung offenkundig auch nicht ausschließlich auf der Grundlage offen zugänglicher Unterlagen, Reden, Artikel etc., sondern auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Damit wird die politische Arbeit der Abgeordneten erheblich eingeschränkt. Eine freie und unabhängige Mandatsausübung ist nicht mehr gewährleistet. Das Wissen um eine Beobachtung könnte Bürgerinnen und Bürger daran hindern, Kontakt zum Abgeordneten aufzunehmen, bzw. sie dazu veranlassen, den Kontakt so zu gestalten, dass er möglichst unbeobachtet stattfindet. Der ungehinderte Austausch des Abgeordneten mit Wählerinnen und Wählern ist aber eine wesentliche Voraussetzung für den politischen Willensbildungsprozess, für den Abgeordnete nun einmal zuständig sind. Was vertrauen Bürger noch „ihrem“ oder „ihrer“ Abgeordneten an, wenn sie nicht sicher sein können, dass nicht noch Dritte mitlesen oder -hören? Besonders absurd erscheint die Beobachtung eines Bundestagsabgeordneten aber vor allem dann, wenn man bedenkt, dass die Kontrolle des Verfassungsschutzes gerade dem Bundestag und seinen Abgeordneten obliegt. Da verkehren sich die Verhältnisse, und das ist nicht zu akzeptieren. Bereits 2006 hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag vorgelegt, der eine „konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zu Beobachtungen von Abgeordneten durch Geheimdienste“ vorsieht. Der 1. Ausschuss sollte mit der Vorbereitung entsprechender Regelungen befasst werden. Ich kann mich allerdings nicht an herausragende Vorschläge der Fraktion im Ausschuss erinnern. Nun liegt erneut ein solcher Antrag vor. Für die Linke geht es nicht um die Frage, welches Gremium gegebenenfalls eine Beobachtung von Abgeordneten genehmigt. Die Linke ist für die Abschaffung von Geheimdiensten. Sie ist grundsätzlich gegen die Überwachung von Abgeordneten, mit welchen Mitteln auch immer. Diese ist mit der parlamentarischen Demokratie unvereinbar. Weder dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung noch dem Parlamentarischen Kontrollgremium sollte die Macht gegeben werden, mit Mehrheitsentscheidung eine Beobachtung von Abgeordneten zu legitimieren. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Beobachtung und Überwachung von Opposi-tionspolitikerinnen und -politikern kennen wir sonst vor allem aus autoritären Staaten, wo wir dies bisher immer scharf kritisiert haben. Diese Geheimdiensttätigkeit ist eine Gefahr für das freie Mandat und die parlamentarische Demokratie als Ganze. Wir fordern deshalb ein Verfahren, das Abgeordnete vor nicht gerechtfertigten Übergriffen des Verfassungsschutzes schützt. Als genehmigendes Gremium kommen hier das Parlamentsprä-sidium oder die Obleute des Immunitätsausschusses -infrage. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind nach Art. 38 Abs. 1 des Grundgesetzes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen -unterworfen. Mit diesem freien Mandat verträgt es sich nicht, dass Behörden heimlich Informationen über -Abgeordnete sammeln und diese planmäßig über-wachen. Derartige Maßnahmen stellen eine Kontrolle der Exekutive gegenüber der Legislative dar. Die Verfassung kennt nur den umgekehrten Fall. So schützt das Immunitätsrecht das freie Mandat der Abgeordneten vor jeder Beschränkung. Jede strafrechtliche Ermittlungs- und Verfolgungsmaßnahme, aber auch jede andere Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten muss daher vom Deutschen Bundestag vorab genehmigt werden. Der Geist des Grundgesetzes in den Art. 38, 46 und 47 sagt uns doch, dass das Parlament zumindest informiert werden müsste, wenn Mitglieder des Bundestages überwacht werden. Es kann gute Gründe geben, warum ein Abgeordneter von Geheimdiensten beobachtet oder überwacht werden sollte, sei es wegen des Verdachts der Arbeit für einen ausländischen Geheimdienst oder aber auch wegen -eines tatsächlichen Eintretens für die Beseitigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Verkürzte Kapitalismuskritik oder plumper Antiimperialismus aus dem Hause Da?delen und Co. gehören zwar zu den unreflektierten Ausprägungen linker und zum Teil auch rechtsextremer Kultur, doch eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung kann ich da nicht erkennen. Schon gar nicht rechtfertigt es die Überwachung eines großen Teils einer Fraktion. Die Überwachung und Beobachtung von Abgeordneten muss ein Einzelfall bleiben und geht nicht ohne parlamentarische Kontrolle. Da es hier offenbar einen Wildwuchs der -Informationssammlungs-, Beobachtungs- oder Über-wachungswut deutscher Geheimdienste gibt, besteht dringender Handlungsbedarf. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf, die notwendigen Veränderungen zur Ausgestaltung des Immunitätsrechts von Abgeordneten zu erarbeiten. Schon der böse Schein, dass die Regierung hier die Geheimdienste missbraucht, um den politischen Gegner öffentlich in eine vermeintliche Ecke zu stellen, schadet der Demokratie. In was für einem Land leben wir eigentlich, in dem durch das Aushorchen und Ausspionieren von Oppositionellen die Regierung womöglich an strategische Planungen einer Partei gelangt? Das klingt für mich mehr nach Watergate. Zudem verkehren wir hier grundsätzliche Prinzipien der Demokratie; denn das Parlament muss die Geheimdienste überwachen, nicht umgekehrt! Dem Verfassungsschutz gelingt selbst die Quadratur des Kreises, -indem er Steffen Bockhahn beobachtet, der im Vertrauensgremium für den Verfassungsschutz sitzt. Sagen Sie einmal: Geht’s noch? Hier werden wichtige Ressourcen blockiert, die im Kampf gegen Neonazis benötigt werden. Und das Traurige ist: Manche Menschen könnten vielleicht noch am Leben sein, würde der Verfassungsschutz nicht seine Kräfte mit der Linkspartei vergeuden. Mit diesem -Antrag wollen wir die Bundesrepublik demokratisch wieder zurechtrücken, dort, wo sie vom Recht ab-gerutscht ist. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8797 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermöglichung der privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare – Drucksache 17/8377 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Kultur und Medien Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind uns hier bekannt; sie liegen dem Präsidium also vor. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare versucht es die Linke einmal mehr mit Staatsdirigismus. Dabei hat sie doch über 40 Jahre eigentlich eindrücklich gezeigt, dass das nicht funktioniert. Leider sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wohl unverbesserlich. Ich will es trotzdem noch einmal versuchen, auch der Linken das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft näher zu bringen. Zunächst zur sozialen Marktwirtschaft und zum Urheberrecht. Die soziale Marktwirtschaft beruht auf dem freien Markt, der zugunsten sozialer Aspekte eingeschränkt wird. Entsprechend gelten auch im Urheberrecht grundsätzlich die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie der Urheber. Die sogenannten Schranken des Urheberrechts berücksichtigen die Interessen der Allgemeinheit. Es gilt also ein sorgfältiges Regel-Ausnahme-Verhältnis, das die berechtigten Interessen von Urhebern und Nutzern in einen Ausgleich bringt. Die Linke ignoriert mit ihrem Gesetzentwurf die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit der Urheber, ihre Werke zu ihren Bedingungen auf dem Markt anzubieten, und schreibt ihnen auch gleich ihr Geschäftsmodell vor. Damit beweist die Linke vor allem eines: dass sie das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft leider immer noch nicht verstanden hat. Zum Inhalt des Gesetzentwurfs. In dem ersten Satz der Problembeschreibung behauptet die Linke, es sei rechtlich nicht geklärt, ob digitale Werke weiterverkauft werden können. Ich sage Ihnen: Das ist es doch! Wer einem anderen etwas verkaufen möchte, der muss auch berechtigt dazu sein. Und wenn er das Recht dazu nicht -positiv besitzt, dann darf er das auch nicht. Sie stellen ja sogar selbst fest, dass die Weiterveräußerung im Regelfall durch die AGB sogar ausdrücklich ausgeschlossen ist. Es geht hier also nicht um eine Klärung, sondern um eine Änderung. Rechtliche Begründung: Lizenz. Das geltende Recht sieht vor, dass der Rechteinhaber an einem digitalen Werkstück, also beispielsweise einer Musikdatei oder einem Softwareprogramm, einem Nutzer Rechte einräumen kann. Anders als bei einem materiellen Werkträger wie einer CD oder einem Buch, können Dateien ohne Weiteres vervielfältigt werden. Deswegen räumt der Rechteinhaber dem Nutzer in der Regel vertraglich ein einfaches Nutzungsrecht ein. Es handelt sich daher auch nicht um einen Kaufvertrag, wie bei körperlichen Werkträgern, sondern um einen Lizenzvertrag. Der Rechteinhaber gibt dem Nutzer damit eben nicht die Erlaubnis, die Datei weiterzuveräußern oder gar über den privaten Gebrauch hinaus zu vervielfältigen. Wirtschaftliche Begründung: Amortisierung. Die -Lizenzierung eines immateriellen Werkstückes, also einer Musikdatei, entspricht auch den wirtschaftlichen Gegebenheiten; denn der Rechteinhaber tätigt Investitionen, die er amortisieren muss, um wiederum neue Werke schaffen zu können. Er ist darauf angewiesen, seine Werke verkaufen zu können, und er kalkuliert den Preis dafür auf der Grundlage der angenommenen Verkaufszahlen. Ein Weiterveräußerungsrecht würde eine angemessene Preiskalkulation erschweren und so möglicherweise zu deutlich höheren Preisen führen. Die Preisbildung würde damit willkürlich und intransparent. Dies aber ist weder im Sinn der Kreativen noch der Nutzer. § 34 Abs. 1 UrhG. Deswegen kann nach geltendem Recht gemäß § 34 Abs. 1 UrhG ein Nutzungsrecht auch nur mit Zustimmung des Urhebers übertragen werden. Und nach ganz herrschender Meinung kann die Übertragbarkeit des Nutzungsrechts natürlich auch ausgeschlossen werden. Dies hat nicht nur schuldrechtliche Wirkung zwischen den vertragschließenden Parteien, sondern auch eine dingliche. Es liegt entsprechend § 399 BGB eine absolute, gegenüber jedermann wirkende Verfügungsbeschränkung vor. Ein gutgläubiger Erwerb ist damit auch ausgeschlossen. Grundsätzlich kann vertraglich sogar bestimmt werden, dass die Übertragung nur an bestimmte Empfänger zulässig ist. § 34 Abs. 2 UrhG gemäß § 34 Abs. 2 UrhG darf der Urheber die Zustimmung zu einer Übertragung wider Treu und Glauben aber auch nicht verweigern. Dementsprechend ist eine Übertragung von Nutzungslizenzen grundsätzlich auch heute schon zulässig. Das setzt aber voraus, dass der Lizenzgeber gefragt wird – und in der Regel muss die Übertragung natürlich auch noch einmal vergütet werden. Urheberpersönlichkeitsrecht. Dieser Absatz macht deutlich, worum es hier eigentlich geht: Der Rechte-inhaber muss gefragt werden. Er muss die Hoheit über sein Recht behalten können. Gemäß § 12 hat nämlich der Urheber das ausschließliche Recht, zu bestimmen, ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist (Urheberpersönlichkeitsrecht). Ansonsten kann sein Werk beliebig weiterverbreitet werden. Missachtung des Urheberpersönlichkeitsrecht. Letztendlich ist die Rechtslage also, anders als von der Linken behauptet, vollkommen klar. Ein pauschales Weiterverkaufsrecht für immaterielle Werke ist nicht mit dem Urheberpersönlichkeitsrecht vereinbar. Demgegenüber missachtet der Gesetzentwurf der Linken das Urheberpersönlichkeitsrecht und nimmt dem Lizenzgeber die Möglichkeit, zu bestimmen, ob und wie sein Werk genutzt wird. Allein dies ist schon ein Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen. Verwertungsrecht. Der Gesetzentwurf missachtet aber auch das ausschließliche Verwertungsrecht des Urhebers nach § 15 UrhG. Vor allem das Vervielfältigungsrecht nach § 16 UrhG ist die wirtschaftliche Grundlage des kommerziellen kreativen Schaffens. Dieses Verwertungsrecht wird durch ein Weiterveräußerungsrecht zumindest eingeschränkt, wenn nicht sogar entwertet. Im Gegensatz zur Weiterveräußerung körperlicher Werke ist die Weiterveräußerung ohne Vervielfältigung technisch gar nicht möglich. Der vorgeschlagene § 17 a Abs. 1 Satz 2 UrhG geht damit an den technischen Realitäten vorbei. Jede digitale Weiterveräußerung ist ein Kopiervorgang – auch wenn das ursprüngliche Werkstück gelöscht wird. Missbrauch. Technisch setzt das gesetzlich unabdingbare Recht zur Weiterveräußerung auch voraus, dass -jedes immaterielle Werk auch vervielfältigt werden können muss. Ansonsten ist die Weiterveräußerung technisch ja gar nicht möglich. Damit würde ein Digitales Rechtemanagement, DRM, gesetzlich verboten und den Rechteinhabern eine der letzten verbliebenen Möglichkeiten genommen, ihre Werke gegen illegale Vervielfältigungen im Internet zu schützen. Vorgegebenes Geschäftsmodell. Der Gesetzentwurf hebelt aber nicht nur das Digitale Rechtemanagement aus, sondern legt den Rechteinhaber faktisch auch darauf fest, wie er sein Werk verwerten darf. „Das Recht zur Weiterveräußerung kann nicht vertraglich abbedungen werden“. Mit diesem Passus wird dem Urheber sein Geschäftsmodell vorgeschrieben. Er verliert dadurch die Gestaltungsmöglichkeit bei der Verwertung seines Werkes. Das hat nichts mehr mit Marktwirtschaft zu tun – hier handelt es sich um Staatsdirigismus. Das hat die CDU schon seit 63 Jahren abgelehnt und wird dies auch heute tun. Burkhard Lischka (SPD): Die Fraktion Die Linke hat heute einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem die Weiterveräußerung digitaler Werkexemplare im Urheberrechtsgesetz ermöglicht werden soll. Um was geht es dabei? Der Vertrieb von Werken der Literatur, Musik etc. hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Er hat sich vor allem „verlagert“. Immer seltener gehen Bücher und CDs „über den Ladentisch“. Die Bedürfnisse vieler Verbraucherinnen und Verbraucher gehen heute dahin, einzelne Musikstücke oder ganze Musikalben, literarische Werke in Form von EBooks, aber auch Computerspiele und Software über die Portale verschiedener Onlineanbieter legal herunterzuladen. Die Frage, ob Werke, die nicht in körperlicher Form, sondern als Download vertrieben werden, in gleicher Weise weiterveräußert werden können wie beispielsweise gebrauchte Bücher, Musik-CDs etc. wird lebhaft diskutiert. Die Problematik ist unter dem Stichwort „Handel mit gebrauchter Software“ zudem bereits im Rahmen der Beratungen zum Zweiten Korb Urheberrecht thematisiert worden. Zum Hintergrund: Nach geltendem Urheberrecht ist der Weiterverkauf unkörperlicher Werkexemplare ausgeschlossen, es sei denn, der Rechteinhaber hat entsprechende Nutzungsrechte eingeräumt. Der für körperliche Werkstücke geltende sogenannte Erschöpfungsgrundsatz findet keine Anwendung. Dieser besagt, dass ein mit Zustimmung des Urhebers in Verkehr gebrachtes körperliches Werkexemplar frei handelbar ist. Dass für immaterielle Werke etwas anderes gelten soll, ergibt sich schon aus Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG zur „Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“, wo es heißt, dass sich die Frage der Erschöpfung bei Onlinediensten nicht stellt. Folglich finden sich in den Vertragsbedingungen kommerzieller Downloadportale wie zum Beispiel iTunes.de, libri.de etc. regelmäßig Klauseln, die den Weiterverkauf unkörperlicher Werkstücke ausschließen. Dass der Frage eine hohe wirtschaftliche Bedeutung zukommt, kann man am Softwarebereich erkennen. Hier erwerben die Unternehmen – mengenmäßig gestaffelte – Volumenlizenzen, in der Regel in größerem Umfang, als Arbeitsplätze auszustatten sind. Das wirtschaftliche Interesse am Weiterverkauf der nicht benötigten, überschüssigen Lizenzen ist dementsprechend groß. Das zeigt, dass es sich hier um kein neues Problem handelt. Auch in der Rechtswissenschaft wird die Diskussion an diesem Punkt kontrovers geführt. Es gibt nahezu ebenso viele Stimmen, die eine analoge Anwendung des Erschöpfungsgrundsatzes ablehnen, wie solche, die die Schaffung einer entsprechenden Regelung befürworten. Auch die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat in ihrem Dritten Zwischenbericht mehrheitlich empfohlen, die Möglichkeit zum Weiterverkauf von legal erworbenen, immateriellen Werkstücken (Musik-, Film- und sonstige Mediendateien sowie Computerprogramme) zu schaffen. Die Rechtsprechung lehnt aber weit überwiegend eine analoge Anwendung des Erschöpfungsgrundsatzes auf unkörperliche Werke ab. Auch wenn die Interessenlage der Verbraucherinnen und Verbraucher für eine Gleichbehandlung körperlicher und unkörperlicher Werke spricht, sollte man die denkbaren negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Änderung auf die kommerziellen Downloaddienste für den Vertrieb von E-Books und Musik etc., die in beträchtlichem Umfang Investitionen in die Entwicklung und den Ausbau ihrer Plattformen tätigen, nicht aus den Augen verlieren. Eine Differenzierung zwischen Buch und E-Book erscheint daher plausibel. Im Gegensatz zum körperlichen Werk kann das immaterielle beliebig und ohne Qualitätseinbußen vervielfältigt werden. Der Weiterverkauf der Datei, zum Beispiel die „Punkt-zu-Punkt“-Übermittlung der Datei per E-Mail, ist eine Vervielfältigungshandlung, die das „Original“ unberührt lässt. Auch wenn der Entwurf der Fraktion Die Linke vorsieht, dass die Weiterveräußerung nur zulässig ist, wenn der Verkäufer keine weitere Vervielfältigung des veräußerten Exemplars zurückbehält, stellt sich doch die Frage, wie dies kontrolliert werden soll. Die Missbrauchsgefahr ist offenkundig. Hier bliebe dem Rechteinhaber nur die Möglichkeit, die Anzahl der zulässigen Vervielfältigungen bei per Download erworbenen Dateien durch technische Schutzmaßnahmen zu begrenzen oder gänzlich zu unterbinden. Im Ergebnis würde damit auch die Möglichkeit beschränkt, für den eigenen persönlichen Gebrauch Privatkopien herzustellen. Daher stehen wir dem Vorschlag eher kritisch gegenüber. Ob angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass der Vertrieb physischer Werkexemplare am Markt zunehmend durch den Vertrieb unkörperlicher Werkstücke ersetzt wird, mittelfristig über Veränderungen nachgedacht werden muss, werden wir in den weiteren Ausschussberatungen klären müssen. Stephan Thomae (FDP): Die Linken fordern, dass digital erworbene unkörperliche Werkexemplare privat weiterveräußert werden dürfen. Zur Begründung ziehen sie einen Aspekt des -Urheberrechts aus der analogen Welt heran: den Erschöpfungsgrundsatz. Dieser besagt, dass sich das Recht des Urhebers, die Weiterverbreitung eines von ihm in Verkehr gebrachten körperlichen Werkes zu kon-trollieren, dann erschöpft, wenn er das Werk in Verkehr gebracht hat. Dies soll nach Vorstellung der Linken nun auch für die digitale Welt gelten. Allerdings übersehen sie dabei ein wesentliches praktisches Problem: Die Linke erklärt nicht, wie sie vermeiden will, dass es dadurch zu einer unkontrollierten und unbezahlten Vervielfältigung von digitalen Werken kommt. In dem Antrag auf Drucksache 17/8377 heißt es dazu lediglich, dass eine Weiterveräußerung nur zulässig sei, wenn der Veräußernde „keine weitere Vervielfältigung des veräußerten Werkexemplars zurückbehält“. Hier scheint mir aber das größte Problem zu liegen: Wie soll das in der Praxis kontrolliert werden? Die Rechteinhaber haben keinerlei Handhabe zu überprüfen, ob der Weiterveräußernde nicht doch eine Kopie des Werkes auf seinem Computer behält. Der Weiterveräußernde hätte in diesem Fall einen doppelten Vorteil: Er wäre immer noch im Besitz des digitalen Werkes und hätte sogar noch einen Teil der Kosten, die ihm beim -Erwerb des Werkes entstanden sind, wieder herein--bekommen. In der analogen Welt stellt sich diese Frage nicht. Hier wird spätestens der Käufer, der ein Werk oder einen Gegenstand gebraucht kauft, auch darauf achten, dass er diesen Gegenstand auch tatsächlich erhält. Folglich ist in der analogen Welt denknotwendig ausgeschlossen, dass ein weiterverkaufter Gegenstand gleichzeitig im Besitz des Verkäufers und des Käufers ist. Wir müssen uns an dieser Stelle auch die Frage stellen, ob analoge und digitale Welt hier eins zu eins zu vergleichen sind. Die Linke führt in ihrem Antrag den Verbraucher an, der dadurch verunsichert ist, dass er eine analog erworbene CD weiterverkaufen kann, ein digital erworbenes Musikalbum aber nicht. Der Wiederverkaufswert von Musik-CDs liegt durchschnittlich irgendwo zwischen 50 Cent und zwei Euro. Ein besonderer wirtschaftlicher Anreiz ist dadurch nicht gegeben. In der Regel verkaufen die Menschen ihre CDs auch nicht deswegen, weil sie Geld benötigen, sondern weil sie Platz für andere Gegenstände gewinnen wollen. Körperlose Dateien nehmen jedoch keinen Platz weg, sodass sich schon die Frage stellt, ob beim Verbraucher überhaupt der Bedarf für eine Weiterverkaufsmöglichkeit besteht. Durch den Erschöpfungsgrundsatz soll in der analogen Welt erreicht werden, dass der Rechteinhaber an ein und demselben Werk nicht mehrfach verdient. Dies lässt sich auf digitale Dateien jedoch nicht eins zu eins übertragen. Hier ist die Datei ja nicht als das Werk als solches zu verstehen. Vielmehr ist die Datei das Träger--material, das zur Vermittlung des Werkes benötigt wird. Würde man dies anders einordnen, hätte der Urheber nur einmal die Möglichkeit, durch den Verkauf seines Werkes die angemessene Vergütung zu erzielen. Zudem stehen dem Antrag der Linken auch juristische Aspekte entgegen. Die Linke begründet ihren Antrag damit, dass in der Praxis Rechteinhaber den Käufern oftmals vertraglich das Recht absprechen, digital erworbene Werke weiterzuveräußern. Dies entspricht aber dem Grundsatz der Privatautonomie. Die Verbraucher haben ja das Recht und die Möglichkeit, Verträge nicht abzuschließen, deren Konditionen sie nicht tragen wollen. Gerade über solche Mechanismen entwickelt sich ein Markt. Es kann ja auch ein Geschäftsmodell sein, dass ein Rechteinhaber seinen Kunden die Möglichkeit anbietet, digital -erworbene Werke weiterveräußern zu können. Dies bedingt aber keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Die Linke erwähnt in ihrem Antrag selber Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29/EG. Darin heißt es: Die Frage der Erschöpfung stellt sich weder bei Dienstleistungen allgemein noch bei Online-Diensten im Besonderen. Dies gilt auch für materielle Vervielfältigungsstücke eines Werkes oder eines sonstigen Schutzgegenstandes, die durch den Nutzer eines solchen Dienstes mit Zustimmung des Rechtsinhabers hergestellt worden sind. Die Linke folgert daraus, dass der Erschöpfungsgrundsatz auf urheberrechtlich geschützte Werke gar nicht anwendbar sei, unabhängig von der Frage, ob sie körperlich oder unkörperlich vertrieben werden. Dieser Schluss ist jedoch verfehlt. Die Nichtanwendbarkeit des Erschöpfungsgrundsatzes auch auf materielle Vervielfältigungsstücke wird in Erwägungsgrund 29 ausdrücklich an die Zustimmung des Rechteinhabers geknüpft. Insofern ist hier keine unbegründete Abweichung zu erkennen. Vor diesem Hintergrund lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag ab. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Haben Sie schon mal ein E-Book gekauft, eine MP3-Datei heruntergeladen oder einen Film aus dem Netz -gesaugt? Legal, meine ich? Bestimmt, Sie haben ja alle Ihre Smartphones in der Tasche stecken oder Ihre Ta-blet-PC vor sich liegen. Dann gehören diese Dateien jetzt Ihnen, und Sie können damit machen, was Sie wollen – jedenfalls, so lange Sie nicht gegen das Urheberrecht verstoßen. Richtig? Können Sie Ihr Eigentum auch weiterverkaufen? Nicht ohne Weiteres. Denn während es gedruckte Bücher in Antiquariaten und gebrauchte CDs auf dem Flohmarkt zu kaufen gibt, werden Sie nirgends einen legalen Secondhandmarkt für Dateien finden. Die Anbieter, die Filme, Musik oder Bücher zum Download anbieten, schreiben ins Kleingedruckte hinein, dass ein Weiterverkauf solcher Waren verboten ist. Sie betrachten die Verträge, die sie mit den Nutzerinnen und -Nutzern schließen, nicht als Kaufverträge, sondern als Lizenzverträge. Mithilfe des Urheberrechts wird der Verbraucherschutz ausgehebelt. Der Kunde erwirbt kein Eigentum, sondern ein sogenanntes Nutzungsrecht. Das ist erstaunlich, denn um Bücher zu lesen, Musik zu hören oder Filme anzuschauen, braucht man ein solches Nutzungsrecht überhaupt nicht. Im Urheberrecht steht ausdrücklich: Der reine Werkgenuss ist frei. Man muss den Urheber nicht um Erlaubnis fragen. Heute werden Bücher, Musik oder Filme eben oft nicht mehr als materielle, sondern als immaterielle Güter verkauft. Nüchtern betrachtet, hat sich damit lediglich die Vertriebsform geändert. Statt in einen Laden zu gehen, klickt man auf eine Schaltfläche im Internet. Was man aber gekauft hat, sollte man auch weiterverkaufen dürfen. Wenn mein Musikgeschmack sich ändert, kann ich meine alten CDs verkaufen. Die Bibliothek meines Großvaters kann ich ins Antiquariat bringen, wenn ich möchte. Soll es im Bereich des Digitalen grundsätzlich keinen Gebrauchthandel geben? Ist -Secondhandhandel im Internet verboten? Das steht nirgends. Aber es ist dringend eine gesetzliche Klarstellung nötig, dass der private Weiterverkauf von Mediendateien auch tatsächlich legal ist. Das leistet der Gesetzentwurf, den wir heute hier behandeln. Soweit ich weiß, legen einige von Ihnen großen Wert darauf, dass es in diesem Land einen freien Verkehrsfluss von Waren gibt. Dann muss es auch einen freien Secondhandhandel geben. Uns ist im Vorfeld dieser Debatte entgegengehalten worden, wir wollten die Rechte der Urheber einschränken. Das stimmt nicht, im Gegenteil: Das Recht des -Urhebers, über sein Werk zu verfügen, wird von diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht berührt. Nach wie vor entscheidet der Urheber allein, ob er sein Werk drucken lässt, es auf CD veröffentlicht oder ins Internet stellt. Uns ist außerdem vorgehalten worden, wir wollten, dass alle ihre Privatkopien im Internet verscherbeln dürfen. Auch das ist nicht richtig: Privatkopien dürfen sowieso nicht weiterverkauft werden. Außerdem steht in unserem Gesetzentwurf ausdrücklich, dass die betreffende Datei, wenn sie verkauft wird, vom eigenen Rechner gelöscht werden muss und nicht öffentlich zugänglich gemacht werden darf. Was wir fordern, gibt es in den USA längst: Auf der Plattform ReDigi können Nutzer ihre Musik gebraucht weiterverkaufen. Eine einstweilige Verfügung dagegen ist erfolglos geblieben. Wir wollen erreichen, dass man auch in Deutschland über sein persönliches Eigentum frei verfügen kann. Das hätten Sie vielleicht von der Linken gar nicht erwartet. Nun, wir wollten Sie überraschen. Überraschen Sie nun auch uns und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Gesetzentwurf greift ein wichtiges Einzelproblem in der Diskussion um die dringend notwendige Modernisierung des Urheberrechts auf und versucht sich an -einer griffigen Lösung. Das ist mehr als anerkennenswert, und alle Bestrebungen in diese Richtung verdienen unsere ausdrückliche Unterstützung. Die Modernisierung des Urheberrechts ist überfällig, weil neben den weiter fortschreitenden technischen Wandel auch eine weitgehend veränderte Nutzung von IT-Technologie getreten ist. Insbesondere das Internet und die damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten haben geradezu revolutionäre Veränderungen herbeigeführt, die inzwischen fast alle Bevölkerungsschichten erreichen. Private wie kommerzielle Modelle des Austausches von Inhalten und Informationen, Werken und Gegenständen werden von diesem Wandel erfasst. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Veränderungen vor dem Hintergrund der bestehenden Rechts- und Grundrechtsordnung zu bewerten, Anpassungsbedarfe zu ermitteln und die oft gegenläufigen und komplexen Ziele der durch die Veränderungen berührten Gesetze und Rechtsbereiche auf ihre Bestandsfähigkeit und -notwendige Modifikationen hin zu untersuchen. Oft zeigt sich im Wandel auch mit besonderer Deutlichkeit, was als bleibender Kern einer Gesetzgebung gelten kann. Wir Grüne meinen, dass mit dem Urheberrecht insbesondere der gesellschaftliche Ausgleich zwischen den vielfältigen und unterschiedlichen Interessen der gesellschaftlichen Akteure in diesem Feld angestrebt werden muss. Die Idee des Ausgleichs zwischen den -förderungswürdigen individuellen Interessen von Urheberinnen und Urhebern auf der einen Seite und den wichtigen Interessen der Allgemeinheit an der möglichst breiten Verfügbarkeit und Nutzbarkeit von Inhalten, Kultur und Wissen steht im Mittelpunkt und hat in vielfältigen differenzierten Regelungen gesetzliche Ausprägung erfahren. Wir sind der Auffassung, dass leider in den vergangenen Jahren Gesetzesinitiativen auf den unterschiedlichsten Ebenen auch in Europa und international zu einseitig allein in eine Richtung gelaufen sind, nämlich in die der Verstärkung von Möglichkeiten der Rechteverfolgung durch die Rechteinhaber. Im Hinblick auf die Digitalisierung wird weitgehend einer zunehmend unüberschaubaren Rechtsprechung das Feld überlassen und mit Blick auf die Nutzerinnen und Nutzer leider ganz überwiegend auf Kriminalisierung und Verfolgung gesetzt. Das hat zu einer Polarisierung der Gesellschaft in Fragen des Urheberrechts geführt, die die Akzeptanz der gesetzlichen Regelungen schwächt und auch vonseiten der Wirtschaft nicht -gewollt sein kann, weil die Akzeptanz ihrer Geschäftsmodelle leidet und alle Beteiligten Rechtssicherheit verlieren. Vor diesem Hintergrund verdient der Antrag der Linken nähere Erörterung, weil er ein dringend zur Reform anstehendes, aus der Digitalisierung und zunehmenden Onlineverfügbarkeit von geschützten Werken und Inhalten entstehendes Teilproblem anspricht. Es ist beklagenswert, dass die Bundesregierung entgegen ihrer Ankündigung nicht selbst die notwendigen Initiativen ergreift. Die von ihr vollmundig angekündigte Reform in Gestalt eines „dritten Korbes des Urheberrechts“ steckt in den vielfältigen Fallstricken dieses von mächtigen Verbands- und Lobbyinteressen geprägten Regelungsumfeldes fest. Das deutlichste Zeichen, dass die Bundesregierung dabei den Kompass für eine sachgerechte Herangehensweise und Lösung verloren hat, zeigt das jüngst im -Koalitionsausschuss verabschiedete Leistungsschutzrecht. Denn keiner der bislang von der Bundesregierung ohnehin nur äußerst sparsam ins Spiel gebrachten Vorschläge ist ausreichend konkret, geschweige denn schlüssig. Geboten wird die Katze im Sack inklusive -Risiken und Nebenwirkungen. Als einseitiges Geschenk an die tradierte Medienindustrie bleibt dieser vage Vorschlag in seiner Rechtfertigung fragwürdig und fachlich neblig. Ob es deshalb jemals zu einem mit den Grundsätzen des Urheberrechts zu vereinbarenden Entwurf kommen wird, ist ungewiss. Beim Erwerb von unkörperlichen Werkexemplaren – das hat die eingehende Studie der Verbraucherzentrale Bundesverband vom April vergangenen Jahres gezeigt – besteht eine einseitig zulasten der Nutzer gehende -Situation. Sei es beim Download von Musikdateien, von E-Books oder anderen digital erfassten Inhalten, in -aller Regel erhalten die Erwerber kein dem analogen Erwerbsgeschäft vergleichbares Verfügungsrecht. Stattdessen werden diese im Wege der lizenzvertrag-lichen Bedingung auf das Urheberrecht verwiesen, das keine Weiterveräußerung des erworbenen Exemplars zulässt. Das bedeutet konkret: Die auf einer CD gekaufte Mozartarie kann ich gebraucht weiterveräußern, die online gekaufte, inhaltlich völlig identische Mozartarie jedoch nicht. Das führt also zu der grotesken Situation, dass ein und derselbe Erwerbsvorgang via eines körperlichen Werkstückes wie etwa einer CD den Wiederverkauf eröffnet hätte, nicht aber der Download, ein Widerspruch, für den die sachliche Begründung fehlt. Geschützt werden damit einseitig allein diejenigen großen Onlineanbieter wie zum Beispiel iTunes, aber auch viele bundesdeutsche Anbieter, die online vertreiben und sich eine entsprechende Privilegierung aufgrund der bestehenden Regelungsdiskrepanz ausbedingen, während innovative Geschäftsmodelle behindert werden. Dass damit eine zeitgerechte Regelung des -Onlinehandels vorliege, mag wohl niemand ernsthaft behaupten. Die gesamte Problematik beschäftigt bereits seit Jahren die Gerichte und mittlerweile auch im Fall usedSoft den Europäischen Gerichtshof. Ob etwa der Erschöpfungsgrundsatz bei immateriellen Gütern greift oder nicht, ist umstritten. Das Urteil des EuGH zu usedSoft wird entsprechend dringend erwartet. Gefragt ist deshalb völlig zu Recht der Gesetzgeber. Der vorgelegte Entwurf entscheidet sich in dieser Frage für eine pragmatische Minimallösung. Unabhängig von der Frage, ob dieser Lösungsansatz tatsächlich den komplexen Anforderungen des Urheberrechts standhalten könnte, wirft er praktische Fragen auf. Wenn lediglich die Bereitstellung in einem indivi-dualisierten Webspace oder die Einzelversendung per E-Mail sicherstellen kann, dass der Erwerber bei der Weiterveräußerung vor den Nachstellungen des Rechte-inhabers im Hinblick auf Verwertungsrechte sicher ist, so stellt sich die Frage der Akzeptanz und Praktikabilität angesichts einer sich völlig anders darstellenden Realität. Ob auf diese Weise der nach bestehendem Recht offenkundig urheberrechtswidrige Markt des Handels mit Werkstücken wieder eingefangen werden kann, ist zweifelhaft. Ebenfalls nicht besonders praktikabel erscheint die wohl kaum näher nachprüfbare Vorgabe, wonach der Erwerber bei der Weiterveräußerung kein Exemplar zurückbehalten darf. Weil man ersichtlich ein entsprechend dem Verfahren beim körperlichen Werkexemplar nachmodelliertes Rechtsmodell verfolgt, werden Vorgaben gemacht, die in ihrer Anlehnung an analoge Zeiten schief konstruiert wirken. Es stellt sich deshalb, bei aller Anerkennung für den Versuch einer pragmatischen Lösung, doch die Frage, ob es nicht einer grundlegenderen Herangehensweise des Gesetzgebers bedarf, um einen entsprechenden Ausgleich zwischen Urhebern, Verwertungsindustrie und Nutzern herbeizuführen. Dabei wären die Eigenheiten und Spezifika des netzgestützten Handels mit digitalisierten Werkstücken in ihrem Widerspruch zur überkommenen Urheberrechtsordnung umfassender zu benennen und so zu regeln, dass anbieter- wie nutzergerechte, speziell zugeschnittene Lösungen geschaffen werden. Hier sollte es, wie auch in der Debatte um Pauschalvergütungen, keine Denkverbote geben. Diese können von sicherlich vielen und auf unterschiedlichen Ebenen zu schaffende Lösungsansätze bieten, mit denen der Idee des gerechten Interessenausgleichs im Urheberrecht endlich Rechnung getragen wird. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea Steiner, Oliver Krischer, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sammlung und Recycling von Elektronikschrott verbessern – Drucksache 17/8899 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt. Michael Brand (CDU/CSU): Vieles an dem Antrag zur Wiedergewinnung wertvoller Wertstoffe aus Elektro- und Elektronikschrott ist allgemeine Ansicht hier im Deutschen Bundestag und bei vielen Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Und völlig zu Recht begrüßt der Antrag der Grünen die vielfältigen Initiativen der schwarz-gelben Koalition und ihres Bundesumweltministers in der Frage des Schutzes natürlicher und in der Tat immer wertvoller werdender Ressourcen. Diese Aufgabe wird von der Bundesregierung seit jeher als Querschnittsaufgabe wahrgenommen und von kommunaler Ebene bis hin zu EU-Ebene und globaler Ebene als eine der obersten -Prioritäten angepackt. Die ganz überwiegende Zahl der im Antrag genannten Punkte können wir als „Fleißarbeit“ loben. Hier ist viel aus den Papieren der Bundesregierung und der EU und von anderen Quellen abgeschrieben bzw. zusammengetragen worden. Von WEEE über Ökodesign-Richtlinie, Recyclingziele und Sammelquoten und der allfälligen Ressourceneffizienz sind nahezu alle notwendigen Stichworte aufgeschrieben. Mir fielen zwar noch ein paar mehr ein, aber es ist schon eine gute Sammlung der einschlägigen Schlagwörter, die genannt werden müssen. Nun ist es leider oft ein kurzer Weg von guten Absichten zu schlechter Umsetzung. Und prompt haben die Grünen wieder einen Beweis für diese These angetreten: Denn kaum haben die Grünen mal wieder eine Idee, von der sie behaupten, dass sie der Umwelt nutze, da überfällt die Grünen der politpsychologisch zwanghafte Druck, sofort irgendeine Zwangsmaßnahme vorzuschlagen; denn ohne Zwangsmaßnahmen, so das offensicht-liche Denkmodell der Grünen, geht nichts. Freie Bürger, freie Menschen, gar mit freiem Willen, das scheint den Grünen ein Graus zu sein. Oder sie können sich gar nicht vorstellen, dass es unideologische Menschen gibt, die verantwortungsvoll mit natürlichen Ressourcen -umgehen. Sprechen wir vom Highlight des grünen Antrags, vom – Überraschung, Überraschung – Zwangspfand. Das werden Sie ja nun gar nicht mehr los, dieses Zwangspfand. Es hat psychologisch und politisch tiefe Spuren bei den Grünen hinterlassen. Man könnte von einer vergifteten Trittin‘schen Schenkung sprechen. Historisch wissen wir, dass die andere Schenkung eine Fälschung war. Politisch wissen wir, dass der -Trittin‘sche Zwangsansatz zum Zwangspfand bei Dosen eine ganze mittelständische Branche an den Rand gedrückt hat, nämlich die Glas-Mehrweg-Branche. Auch der rote Nachfolger des grünen Täters hat den -Trittin‘schen Schaden nicht reparieren können, und heute tun wir uns schwer, die Struktur für Mehrweg zu stärken. Warum gehört dieser Exkurs genau hierher? Ganz einfach: weil die Grünen nach dem Dosenpfand nun ein Handypfand einführen wollen – zwanghaft, natürlich. Und das, obwohl uns das Dosenpfand bitter gelehrt hat, dass der Schaden zwanghafter Handlungen erheblich größer sein kann als der ökoideologisch versprochene Nutzen. Zwar ist es wichtig, wertvolle Rohstoffe aus den zirkulierenden Mobiltelefonen nicht sprichwörtlich „im Müll“, das heißt, in der grauen Tonne für Abfall zur -Beseitigung, landen zu lassen. Und auch ich werfe, wie Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, ein Handy ebenso wenig in den Müll wie einen PC, eine Spielkonsole oder andere technische Geräte. Um das einmal auch für Ökoideologen klar und einfach auszudrücken: So etwas tut man nicht; denn wir sind ja nicht blöd. Das ist also gar nicht der Fall. Es stimmt: Seit Jahren beklagen wir hier, die Wirtschaft und die Umweltverbände, dass zig Millionen ungenutzte, alte Mobiltelefone in den oft zitierten Schubladen herumliegen. Allerdings ist es so, dass diese Mobiltelefone von den Käufern mit teils sehr hohen Summen bezahlt wurden, also deren -Eigentum sind. Und so ist es auch heute: Wer ein Handy kauft, der zahlt für dieses kleine Teil einen meist hohen Preis. Das macht das Teil wertvoll, und wertvolle -Sachen wirft kaum einer weg. Aber selbst kleine, preiswerte Mobiltelefone werden nicht einfach ex und hopp weggeworfen. Große wie kleine Altteile werden, wie die Branche und jeder privat weiß, zumeist gut aufbewahrt. Oft, wie nicht nur in meinem Fall, werden die zumeist ja noch sehr nutzbaren Altgeräte übrigens direkt dem Kreislauf wieder zugeführt. Wie das geht, ganz ohne Zwang, das kann ich den „Zwanghaften“ von der -Grünen-Fraktion erläutern: Ein altes Handy, Kabel und anderes Altgerät habe ich auf dessen Nachfrage einem Freund schlicht überlassen – ohne Überlassungspflicht, stellen Sie sich vor, aus rein freiem Willen. Er nannte das Direktrecycling, und wir beide fanden: Besser geht es kaum. Und alles ohne Zwang, in Freiheit und in Verantwortung für die Umwelt. Die Grünen sollten auch hier von ihrem und unserem gemeinsamen zukünftigen Präsidenten Joachim Gauck lernen: Freiheit zur Verantwortung heißt sein Leitmotiv, nicht Zwang zur Verantwortung. Nun könnte man sagen: Es ist richtig, wir brauchen die Rohstoffe. Und weil wir die Rohstoffe brauchen, müssen wir ein Verfahren haben, wie wir die zurückgewinnen können. Und dazu wiederum braucht es Anreize. Stimmt alles. So weit, so gut. Hier aber findet die Gabelung statt, kommt der Unterschied zwischen phantasielos und kreativ, zwischen Zwang und Freiheit: Zwangspfand ist kurzsichtig, im Lösungsansatz primitiv und im Übrigen ordnungspolitisch repressiv. Für die Rücknahme und Rückgabe von ausgedienten Altgeräten mit wertvollen Wertstoffen gibt es nicht nur bereits kommunale und private Strukturen, die auch in Zukunft tragen und flexibel ausgebaut werden können. Es gibt auch zahllose Rückgabestellen im Handel, auch bei karitativen Organisationen und in Behörden und Institutionen, die aus Verantwortung für die Umwelt und aus anderen Anreizen sammeln, damit sorgfältig recycelt werden kann. Und das alles geht ökologisch wie ökonomisch effizient und sozusagen zwanglos. Wer will, dass die Menschen ihrer Verantwortung für die Umwelt nachkommen und ihren eigenen Nachkommen – so sie welche haben – eine bessere, gesündere Umwelt hinterlassen, der muss großes Interesse an -Verantwortung und Freiheit haben, und dafür kämpfen. Konkret bedeutet das im vorliegenden Fall: umsichtig für Umwelt eintreten, Ressourcenschutz hoch ansiedeln, Recycling, am besten direkte Wiederverwendung, befördern. Beim Thema ITK ist die Folge dieser Freiheit zur -Verantwortung, dass wir Produzenten und Abnehmer, Handel und Mobilfunkprovider und vor allem die Millio-nen Nutzer mit intelligenten Anreizen auf, ganz wichtig, freiwilliger Basis zur, wiederum wichtig, nachhaltigen Ressourcenschonung auffordern. Zwang schreckt ab, Repression ist Mittel gegen schweren Missbrauch. Das mag beim problematischen Export in Länder der sogenannten Dritten Welt mit all den Gesundheitsrisiken und Umweltschäden sehr sinnvoll sein. Und wir sind die Letzten, die dies nicht verhindern wollten, und nötigenfalls mit aller Macht. Dennoch muss die Debatte über den Kern der Ressourcenschonung geführt werden. Das beginnt bei der Produktion, betrifft im Übrigen am Ende die einzelne, verantwortliche Kaufentscheidung eines -jeden Konsumenten, auch derer, die Mitglied hier im Deutschen Bundestag sind, und es betrifft nicht nur ITK-Produkte, sondern auch Autos, viele andere Konsumgüter, Einrichtungsgegenstände und vieles mehr. Eine „Handypfand“-Debatte daraus zu machen, wie die Grünen es uns leider vorgeführt haben, ist ein -falscher Weg. Deshalb gehört der Antrag, trotz vieler richtiger abgeschriebener Punkte, politisch aufs Abstellgleis. Wir nehmen uns als CDU/CSU die Freiheit, aus Verantwortung diesen Antrag in dieser Form abzulehnen. Gerd Bollmann (SPD): Als zuständiger Berichterstatter für Abfallwirtschaft in der SPD-Bundestagsfraktion kann ich dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich zustimmen. Der Antrag greift ein Problem auf, dass auch wir Sozialdemokraten seit längerer Zeit thematisiert haben. Wenn Sie selber genau nachdenken, werden Sie feststellen, dass auch Sie ungenutzte, überholte oder defekte Elektrogeräte im Haushalt gelagert haben. Dies trifft, davon bin ich überzeugt, auf die meisten deutschen Haushalte zu. Die Sammel- und Recyclingquote für Elektroaltgeräte in Deutschland ist im europäischen Vergleich zwar Spitze. Die Umsetzung der europäischen WEEE-Richtlinie war zum damaligen Zeitpunkt angemessen und im europäischen Vergleich beispielgebend. Trotzdem ist gerade im Bereich des Elektroschrotts eine Verbesserung der Sammlung und des Recycling vonnöten. Gerade in diesem Bereich ist die Quote im Vergleich zu anderen Abfallarten geringer. Wie gesagt, dies liegt auch daran, dass viele Elektroaltgeräte vergessen in den Haushalten herumliegen. Viele Elektrokleingeräte werden auch immer noch in den Restmülltonnen entsorgt und gehen damit größtenteils der Kreislaufwirtschaft verloren. Angesichts dieser Realitäten ist eine Verbesserung durchaus machbar. Die Sammlung muss für den Bürger einfacher werden, dann wird auch die Sammlungsquote verbessert. In dem Antrag der Grünen-Fraktion wird ausführlich auf die Bedeutung der zurückgewonnenen Wertstoffe hingewiesen. Ich brauche dies daher nicht zu wiederholen. Ich verweise aber darauf, dass von einer unsachgemäßen Entsorgung von Elektroaltgeräten immer noch ökologische oder gesundheitliche Gefahren ausgehen. Die höhere Anzahl von gebrauchten und defekten Energiesparlampen im Abfall, insbesondere in Altglascontainern, gefährdet nach Untersuchungen aus Skandinavien die Mitarbeiter von Recyclingunternehmen. FCKW in alten Kühlschränken und heute bereits verbotene giftige Stoffe in Altgeräten gefährden immer noch die Umwelt. Wenige alte Batterien können die stoffliche Verwertung von Bioabfällen zu Kompost unmöglich machen. Sie -sehen, es gibt nicht nur wirtschaftliche und rohstoffpolitische Gründe für eine Verbesserung des Elektroschrottrecyclings, auch wenn diese sehr wichtig und momentan in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehen. Aus all diesen Gründen ist eine umgehende Verbesserung des Sammelns und des Recyclings von Elektroaltgeräten nötig. Ich begrüße daher auch, dass die Bundesregierung in einer Antwort auf meine Schriftliche Frage die Neuregelungen bei der Revision der europäischen Elektrogeräterichtlinie, WEEE, befürwortet und umsetzen will. Um dieses Ziel zu erreichen, muss aber am -Anfang, bei der Produktion, begonnen werden. Der Ressourcenverbrauch, sowohl der energetische als auch der stoffliche, muss gesenkt werden. Vor allem aber muss die Lebensfähigkeit, die Langlebigkeit und die Wiederverwendbarkeit von Elektro-, Elektronik- und IT-Geräten verbessert werden. Ich weiß, davon reden alle, auch die Wirtschaft. Noch sieht die Realität aber anders aus. Machen wir uns nichts vor: Immer noch werden Elektrogeräte so produziert, dass sie kurz nach Ablauf der Gewährleistungspflicht kaputtgehen. Technisch könnte die Lebensdauer der Geräte, Elektrogeräte, bereits heute viele Jahre länger sein. Aber genau dies geschieht oftmals nicht. Es wird so produziert, dass der Bürger nach einigen Jahren ein neues Gerät kaufen muss. Erhöhung des Umsatzes, nicht nachhaltiges Wirtschaften ist die Realität. Sogar in der Forschung, und dies halte ich für einen großen Skandal, werden Methoden erforscht, damit Produkte relativ schnell defekt werden. Hier muss sich vieles ändern, nicht nur wie bisher mit Worten, sondern auch mit Taten. Die Produktion muss sich ändern in Richtung Nachhaltigkeit. Aber nicht nur die Langlebigkeit muss verbessert werden, auch die Recyclefähigkeit der Produkte muss bei der Produktion berücksichtigt werden. Es müssen -recycelbare Materialen eingesetzt werden. Die leichte Zerlegung und anschließende Verwertung muss von -Beginn an berücksichtigt und ermöglicht werden. Das Verlöten, Verschweißen und Vermischen unterschiedlicher Materialien, mit der Konsequenz, dass sie nicht oder nur schwer stofflich verwertet werden können, müssen massiv verringert werden. Dazu sind auch politische Vorgaben und Anreize beim Produktdesign notwendig. Der vorliegende Antrag weist hier auf konkrete -Möglichkeiten, zum Beispiel die Umsetzung eines Top-Runner-Programms, hin. Die SPD fordert seit langem ein solches Programm. Auch die Verlängerung der Gewährleistungspflicht und konsequentere Herstellerverantwortung sind gute Ansätze. Eine Rücknahmepflicht des Handels für Elektrokleingeräte fordern auch wir. Ich halte das für eine sinnvolle, verbraucherfreundliche Möglichkeit, die Sammelquote, vor allem für Elektro-kleingeräte, zu verbessern. Diese Rücknahmepflicht sollte meiner Meinung nach umgehend eingeführt werden. Es ist nicht nötig, auf den Zeitpunkt zu warten, bis die EU die Umsetzung vorschreibt. Einige ergänzende Anregungen und kritische Nachfragen seien mir noch gestattet. Bei der damaligen -Umsetzung des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes hat die SPD Regelungen durchgesetzt, welche den -Behindertenwerkstätten und anderen sozialen Einrichtungen weiterhin einen Anteil am Recyclingmarkt gesichert haben. Dies hat zu meiner großen Freude auch gut geklappt. Zahlreiche Kommunen, Entsorgungs- und Elektrounternehmen haben Verträge mit Behindertenwerkstätten für das Elektroschrottrecycling abgeschlossen. Dort wird eine ökologisch und sozial sinnvolle -Tätigkeit geleistet. Bei allen notwendigen Reformen muss dies erhalten bleiben. Es wird hier vorgeschlagen, einen verpflichtenden Mindestanteil recycelter Rohstoffe bei der Produktion zu prüfen. Das ist sicherlich überlegens- und prüfungswert. Ich kann mir aber noch nicht vorstellen, wie eine solche Quote, vor allem bei Importprodukten, zu überprüfen ist. Heute haben wir auch über das Ressourcenschutzprogramm der Bundesregierung debattiert. Die Ziele und Grundsätze sind die gleichen wie in dem vorliegenden Antrag. Darüber hinaus hat die Bundesregierung öffentlich die Zustimmung zu der Novelle der WEEE deutlich gemacht. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diesem Antrag, der ihren Zielen entspricht, zustimmen werden. Horst Meierhofer (FDP): Die ungeregelte Ausfuhr von europäischem Elektroschrott in afrikanische Länder lässt mich nicht unberührt. Es ist nicht akzeptabel, dass wir unseren Dreck einfach anderswo abladen. Gleichwohl ist ein differenzierter Blick erforderlich: Es gibt schadstoffbelastete und kaputte Elektrogeräte, es gibt reparable Elektrogeräte und es gibt funktionstüchtige Geräte, die ihren Weg auf andere Kontinente finden. Ich sehe kein Problem -darin, wenn funktionstüchtige Altgeräte in anderen -Ländern genutzt werden. Deutschland hat sich auf europäischer Ebene für effektivere Exportregeln eingesetzt. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, diese auf nationaler Ebene im Alleingang einzuführen. Schließlich lebt unser Binnenmarkt von offenen Grenzen. Es kann nicht in unserem Interesse sein, dass Exportregeln ohne großen Aufwand umgangen werden. Der europäische Vorschlag der WEEE-Richtlinie ist deshalb hinsichtlich der Exportregeln voll und ganz zu begrüßen. Die Exporteure müssen zukünftig die Gebrauchsfähigkeit der Geräte nachweisen. Damit können die negativen Umwelt- und Gesundheitseffekte in afrikanischen Ländern wirksam werden. Diese Regelung der Richtlinie wollen wir zügig in nationales Recht umsetzen. An dieser Stelle will ich dem Antrag auch ausdrücklich beipflichten. Wenngleich dies in meinen Augen aufgrund der Verhandlungsführung der Bundesregierung eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist. Dennoch: An einigen anderen Stellen ist der Antrag der Grünen nicht zielführend bzw. spricht nicht alle relevanten Probleme an. Die Grünen fordern ein verbessertes System der haushaltsnahen sortenreinen Sammlung von Elektrogeräten. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich nichts anderes als eine weitere Elektroschrotttonne. Diese ist verbraucherunfreundlich, ohne Umweltnutzen und realitätsfremd. Wie Ihnen sicher bekannt ist, plant die Bundesregierung die Einführung einer Wertstofftonne. Allerdings soll diese die gelben Tonnen und gelben Säcke ersetzen. Der gesammelte Inhalt soll an die heutigen Standards der Sortierung und Verwertung angepasst werden. Bei der Wertstofftonne lohnt sich das auch. 600 000 Tonnen mehr werden wir jährlich an Plastik und Metallen dem Recycling zuführen. Aufgrund der Kontamination des restlichen Inhalts und Schwierigkeiten beim Recycling wird Elektroschrott voraussichtlich bei der Wertstofftonne nicht dabei sein. Eine Tonne nur für Elektroschrott allein lohnt sich nicht. Zwar landen in Deutschland pro Jahr 142 000 Tonnen an Elektrokleingeräten im Restmüll. Wir verlieren dadurch viele Wertstoffe, die wir anderweitig gut -gebrauchen könnten. Aber wenn Sie die Zahlen hochrechnen: Diese Tonne lässt sich niemals füllen! Ich wette, dass leere Tonnen mit großen Abholzeiträumen spätestens dann voll werden, wenn die sonstigen Tonnen im Hof voll sind. Allerdings nicht mit Elektroschrott, sondern allem möglichen anderen Mist. Damit können Sie den Elektroschrott nicht mehr sinnvoll nutzen. Nein, diese Tonne macht keinen Sinn. Ein anderer Vorschlag von Ihnen zielt auf die stärkere Einbeziehung des Effizienzgedankens beim Produkt--design und dabei insbesondere auf verbindliche Vorgaben für das abfallarme Design von Neugeräten. Oder, um es einfacher auszudrücken: Der Hersteller soll, wenn er heute für ein Handy 25 Milligramm Gold und 500 Gramm Gummi braucht, in Zukunft nur noch 15 Milligramm Gold und 350 Gramm Gummi verbrauchen. Genau darin steckt ihr Denkfehler. Dadurch, dass Sie das Einsparziel unter Zwangsandrohung in den -Vordergrund stellen wollen, üben Sie Druck auf die -Forschungsabteilungen der Unternehmen aus, Effi-zienzeinsparungen über alle anderen Forschungsprojekte zu stellen. Wir finden es reizvoller, einen Anreiz dafür zu setzen, bei der Handykonstruktion darauf zu achten, dass die Teile leicht auseinanderzubauen sind und wiedergenutzt werden können. Wenn das funktioniert, ist es auch egal, wie viel Material verwendet worden ist. Hier setzen Sie den Schwerpunkt, „weniger zu verbrauchen“. Wir setzen den Schwerpunkt, „mehr zu gebrauchen“. Aus diesem Grund widerspricht die von uns heute in erster Lesung zum Ressourceneffizienzprogramm beschlossene Regelung auch ihrem Vorschlag: Wir wollen bei Normungsprozessen neben dem Energieverbrauch auch andere geeignete Ressourcenaspekte vermehrt berücksichtigen. Dies soll die Anreize erhöhen, ressourceneffiziente Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und zur Marktreife zu führen. Noch in einem dritten Punkt muss ich ihrem Antrag widersprechen: Sie wollen einen verpflichtenden Mindestanteil recycelter Rohstoffe bei der Herstellung von IT- und Kommunikationsgeräten. Ist Ihnen eigentlich klar, was das bedeutet? Sie müssen für jeden Rohstoff regelmäßig die Marktsituation am Sekundärrohstoffmarkt analysieren, ob ausreichend Sekundärrohstoffe überhaupt verfügbar sein könnten. Für manche Stoffe sind noch keine geeigneten Recyclingverfahren gefunden. Sie brauchen Beamte, die Geräte kontrollieren, um -Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Wie kontrollieren Sie das, wenn wie beim Kunststoff die Eigenschaften von Sekundärrohstoffen und Primärrohstoffen verfließen? Die Gerätetypen unterscheiden sich – nicht zuletzt -dabei, wie Sie jeweils für den Einbau von Recyclingmaterialien geeignet sind. Sie brauchen dann für jeden -Gerätetyp eine unterschiedliche Quote. Hinter dieser Forderung steckt ein bürokratisches und planwirtschaftliches Monstrum. In der Sache ist es sehr viel vielversprechender, das System der Wiederverwendung und des Recyclings von Elektrogeräten zu optimieren. Insgesamt sehe ich im Antrag durchaus Ansätze, die die FDP so mittragen könnte. An einigen Stellen finden sich dennoch undurchdachte und auch fehlerhafte Positionierungen, die zwingend abzulehnen sind. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Bündnis 90/Die Grünen beantragen, die Sammlung und das Recycling von Elektronikschrott zu verbessern. Zur Verbesserung der Sammlung soll die haushaltsnahe Erfassung von Elektrogeräten ausgebaut und der Handel zur Rücknahme verpflichtet werden. Die Einführung einer Pfandpflicht soll Anreize für Verbraucherinnen und Verbraucher setzen, die zu entsorgenden Geräte zurückzugeben. Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Entschließungsantrag, Bundestagsdrucksache 17/7509, die Einrichtung von Pfandsystemen für technische Geräte bereits gefordert und unterstützt den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Die momentanen Erfassungsquoten sind längst nicht ausreichend und außerdem von der Größe der Produkte abhängig. Während Großgeräte meistens bei den kommunalen Sammelstellen abgegeben werden, landen kleinere Geräte vorwiegend im Restmüll und werden durch die Erfassung größtenteils zerstört. Es sind gerade die kleineren Produkte, mit denen hochwertige Rohstoffe durch die Nichterfassung einer Kreislaufwirtschaft entzogen werden. Zum erheblichen Teil belasten die verwendeten Stoffe wegen ihrer Toxizität aber auch massiv die Umwelt. Wegen der enormen Zahl der im Umlauf befindlichen Geräte ist die Erfassung daher kurzfristig möglichst auf 100 Prozent zu steigern. Die Einführung einer Pfandpflicht hält meine Fraktion für ein geeignetes Mittel auf dem Weg dahin. Die Antragsteller wollen das Pfand im Rahmen eines Pilotprojekts für Mobiltelefone und Smartphones in einer Größenordnung von 10 Euro je Gerät einführen. Dieser Preis ist so weit angemessen. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden weitere sinnvolle Forderungen aufgestellt. Es geht besonders um die Eindämmung illegaler Müllexporte, die Weiterentwicklung der Produktverantwortung besonders in Hinblick auf die Minimierung der verwendeten Stoffmengen und auf längere Haltbarkeiten, die Ausweitung der Garantiezeiten und um höhere Forschungsmittel zur Entwicklung innovativer Recyclingverfahren. In der Rede meines Kollegen Ralph Lenkert zum Kreislaufwirtschaftsgesetz wurden diese Problematiken bereits angesprochen und Lösungen vorgestellt. Die Wiederverwendung wird im Antrag angesprochen. Sie reduziert sich jedoch im Wesentlichen auf die Entwicklung eines Gebrauchsgütermarktes. Wegen der permanenten Weiterentwicklung und der kurzen Generationszeiten von Mikroelektronik sind andere Möglichkeiten auch aus Sicht meiner Fraktion in der Praxis nicht möglich. Diese Situation ist vor allen Dingen dem ausufernden globalen Wettlauf um die besten Produkte geschuldet. Sie verursacht systemisch den Verbrauch von Ressourcen und Energie. Die Medien sind weltweit auf das Anheizen des Konsums ausgerichtet und erzielen einen großen Teil ihrer Einnahmen durch Werbung. Die Abfallproblematik der Elektrokleingeräte ist unbedingt auch systembedingt. Eine Entschleunigung ist derzeit kaum möglich. Dazu bedürfte es einer Veränderung der Werte. Damit die endlichen Ressourcen wirkungsvoll geschützt werden können, bleiben momentan wenig Möglichkeiten offen. Eine der Möglichkeiten wäre die Einführung einer Steuer auf den primären Ressourcenverbrauch. Das fehlt aus unserer Sicht im Antrag. Da wir die gestellten Forderungen insgesamt für richtig halten, stimmt Die Linke für den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die diesjährige CeBIT setzt auf Wachstum im Elek-tronikbereich. Es wird gejubelt über hohe Zuwachsraten bei Smartphones und Tabletcomputern. Gerade anlässlich einer Messe wie der CeBIT wird aber auch erneut deutlich, dass dieses Wachstum in der IT-Kommunika-tionselektronik zu immer kürzerer Nutzungsdauer der Geräte führt und eine immer größere Menge an Elektronikschrott produziert wird. Nach aktuellen Schätzungen werden weniger als 25 Prozent der ausgedienten Mobiltelefone einer adäquaten Verwertung zugeführt. Millionen und Abermil-lionen von Geräten jedoch vergammeln in Schubladen. Fragen Sie sich mal, wie viele Althandys bei Ihnen ein trostloses Dasein in Schubladen fristen? In Deutschland sind es zwischen 60 und 120 Millionen Geräte. Dabei sind Mobiltelefone heute wahre Schätze. Wir alle horten zu Hause wichtige Ressourcen, insbesondere die in den letzten Jahren in den Fokus gerückten Seltenen Erden. Aber Elektronikgeräte insgesamt werden nicht ausreichend recycelt, obwohl allgemein bekannt sein sollte, welche Rohstofflager sie sind. Fernseher und Computer werden illegal nach Afrika oder Asien verschifft und dort unter erbärmlichen Bedingungen zerlegt. Damit exportiert Deutschland jährlich mindestens 1,6 Tonnen Silber, 300 Kilogramm Gold und 120 Kilogramm Palladium, wie eine Studie des Umweltbundesamtes belegt. Wir könnten noch Lithium und das seltene Coltan anführen; auch hier sind entsprechende Zahlen zu finden. Aber dies ist nicht alles: Wir sind über den illegalen Export auch mitverantwortlich für schlimmste gesundheitliche Schäden bei Menschen in Afrika und Asien -sowie für massive Verseuchung der Böden und des Wassers, die Folgen der unzureichenden Zerlegung unseres E-Schrotts sind. Die Sorge darum mag manch einer von der FDP als Gutmenschentum abtun, aber wir Grünen übernehmen hier Verantwortung auch für den Umwelt- und Gesundheitsschutz in anderen Ländern der Welt. Uns sind auch die internationalen Auswirkungen unseres Handelns – anders als den Liberalen – nicht egal. Wir alle kennen die eben skizzierten Tatsachen genau. Auch Umweltminister Röttgen betont in Sonntagsreden immer wieder gerne, wie wichtig Recycling ist und dass wir die Ressourcen daheim in der Schubladen erschließen müssen. Der Anteil der in Deutschland gesammelten und recycelten Elektronikgeräte bleibt jedoch weiterhin gering, und konkrete Maßnahmen, um diesen zu steigern, vermissen wir schmerzlich. Lieber macht die Kanzlerin Rohstoffdeals mit Diktatoren in Zentralasien und drückt alle Augen zu bei Menschenrechts- und -Demokratiefragen. Halten Sie sich vor Augen, wie viele wertvolle Ressourcen in dem Elektronikschrott zu finden sind, der es nicht zum Recycling schafft. Wir müssen das Problem endlich angehen und Lösungsstrategien entwickeln; deshalb unser Antrag zur Verbesserung der Sammlung und des Recyclings von Elektroschrott. Was ist der erste Schritt zu mehr Recycling? Die -Geräte müssen erst mal eingesammelt werden. Dies ist das Hauptproblem. Wir haben das Thema lange mit verschiedenen Fachleuten diskutiert, insbesondere die Fragen, wie mehr Altgeräte gesammelt werden können. -Geeignet dafür ist eine Rücknahmepflicht im Handel. Alleine von Bürgerinnen und Bürgern zu erwarten, dass sie aktiv danach suchen, wo sie ihre Geräte abgeben können, um zum Ressourcenreichtum des Landes beizutragen, reicht hier nicht. Die Motivation für sie muss -erhöht werden, und die Sammlung muss erleichtert werden. Wir sehen deshalb die Notwendigkeit, zusätzliche Impulse und konkrete finanzielle Anreize für eine bessere Sammlung zu setzen und fangen bei den Mobiltelefonen an. Einige werden jetzt wieder rufen: „Oh ein Pfand, muss das sein? Reichen nicht freiwillige Vereinbarungen mit dem Handel zur verbesserten Rücknahme?“ Die -Erfahrungen zeigen, das reicht nicht. Schon heute können Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn sie sich informieren und ein aktives Interesse an der Rückgabe haben, ihr Handy vergleichsweise unkompliziert zurückgeben. Das Sammeln ist nämlich lukrativ. Verschiedene Unternehmer sind schon unterwegs und verbinden das Handysammeln auch gern mit preiswerter Imagepflege für ihr Unternehmen: hier und da ein Euro pro Handy für die Elbe, den WWF, die Kindernothilfe oder andere. Ob die Geräte dann aber auch wirklich einem qualifizierten Recycling zugeführt werden, ist nicht immer klar, und in den letzten Jahren hat sich, trotz dieser -Angebote, die Menge der gesammelten Altgeräte nicht gesteigert. Noch immer liegen nach Schätzungen 40 bis 120 Millionen Althandys in den Schubladen. Wir wollen mit dem Pfand erreichen, dass das Sammelsystem verbessert wird. Gleichzeitig eröffnet sich für deutsche Unternehmen dadurch die Chance, auch tatsächlich ins hochwertige Recycling zu investieren, weil hier der regelmäßige Nachschub von Altgeräten gesichert ist. Das ist mit Pfand und Rücknahme durch den Handel sicher zu erreichen. Wenn man bares Geld für sein Gerät bekommt, holt man es schnell aus der Schublade und bringt es zurück. Funktioniert das Pilotprojekt Handypfand, dann können wir es leicht ausweiten auf die anderen Elektronikaltgeräte. Aber das Pfand ist nicht die einzige Maßnahme, die wir vorschlagen. Wir haben gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus dem Gebiet ein ganzes Bündel von Maßnahmen entwickelt, die die Sammlung und das Recycling von Elektroschrott verbessern sollen. Auch wenn sicher nicht alle hier im Haus sofort den von uns vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen werden, in einem sollten wir uns einig sein: Wir müssen jetzt handeln und massiv die Rücknahmequote von Altelek-tronik erhöhen. Ein Warten auf die Eigeninitiative der Verbraucherinnen und Verbraucher allein reicht nicht. Die Ressourcen müssen aktiv gehoben werden. Daher fordern wir Sie auf, mit uns gemeinsam zu diskutieren und energisch Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen. Vizepräsident Eduard Oswald: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8899 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit einverstanden? – Es widerspricht niemand. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es kaum glauben: Wir sind somit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. (Beifall) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. März 2012, 9 Uhr, ein. Ich hoffe, dass wir uns alle in Frische wiedersehen. Vielen Dank. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 20.49 Uhr) Berichtigung 163. Sitzung, Seite 19409 A, der zweite Absatz ist wie folgt zu lesen: Man kann es nicht schöner sagen als der Bundesgerichtshof, 5. Senat, in einer Entscheidung vom 9. Mai 2006, Randziffer 28, wo es heißt: „Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsausübung.“ Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 08.03.2012 Burchardt, Ulla SPD 08.03.2012 Dreibus, Werner DIE LINKE 08.03.2012 Fischer (Karlsruhe-Land), Axel E. CDU/CSU 08.03.2012 Friedhoff, Paul K. FDP 08.03.2012 Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter CDU/CSU 08.03.2012 Gerster, Martin SPD 08.03.2012 Granold, Ute CDU/CSU 08.03.2012 Gruß, Miriam FDP 08.03.2012 Hinz (Essen), Petra SPD 08.03.2012 Kelber, Ulrich SPD 08.03.2012 Koch, Harald DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Kofler, Bärbel SPD 08.03.2012 Lenkert, Ralph DIE LINKE 08.03.2012 Luksic, Oliver FDP 08.03.2012 Müller (Erlangen), Stefan CDU/CSU 08.03.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 08.03.2012 Pflug, Johannes SPD 08.03.2012 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 08.03.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 08.03.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 08.03.2012 Weinberg, Harald DIE LINKE 08.03.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 08.03.2012 Dr. Winterstein, Claudia FDP 08.03.2012 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 08.03.2012 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag hat das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – oder kurz KapMuG – im Jahr 2005 beschlossen. Auslöser für die Gesetzesinitiative war eine Prozesslawine im Jahr 2000 von knapp 15 000 Anlegern, die sich durch einen falschen Verkaufsprospekt der Deutschen Telekom AG zum Aktienkauf bewegt sahen. Bei den Klägern handelte es sich zu einem großen Teil um Menschen, die erstmals Aktien gekauft hatten, weil sie der „Volksaktie“ der Telekom vertraut hatten. Damals zeigte sich, dass das deutsche Verfahrensrecht für solche Massenverfahren kein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung stellte – die tatsächlich wie rechtlich außerordentlich komplexen Verfahren zogen sich über Jahre hin. Einige Kläger riefen daraufhin das Bundesverfassungsgericht an. Dieses sah zwar im Ergebnis das Recht der Kläger auf einen wirkungsvollen, nämlich in angemessener Zeit erfolgenden gerichtlichen Rechtsschutz nicht als verletzt an. Das Bundesverfassungsgericht machte aber deutlich, dass ein besonderes verfahrensrechtliches Instrument bei Massenverfahren zur Vermeidung überlanger Verfahrensdauern notwendig sein könnte. Das KapMuG war die Reaktion des Gesetzgebers auf diese Umstände. Es berücksichtigte vor allem die Erkenntnis, dass falsche Kapitalmarktinformationen oder unrichtige Börsenprospekte keineswegs nur wenige Großinvestoren schädigen können. Auch viele Kleinanleger mit vergleichsweise geringen finanziellen, sogenannten Streuschäden können betroffen sein. Aufgrund der Vielzahl der Geschädigten kann die Schadenssumme hier jedoch schnell im mehrstelligen Millionenbereich liegen. Das KapMuG wollte hier ein effektives kollektives Rechtsschutzinstrument zur Verfolgung individueller Schadensersatzansprüche zur Verfügung stellen. Die Kosten für den einzelnen Anleger sollten möglichst klein gehalten und die Gerichte von den massenhaften Klagen entlastet werden. Um das zu erreichen, stellt das KapMuG ein Musterverfahren zur Verfügung, in dem bestimmte tatsächliche und rechtliche Fragen einheitlich und verbindlich für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle entschieden werden können. Dieses Musterverfahren war ein Novum im deutschen Prozessrecht – der Gesetzgeber hat den Anwendungsbereich daher auf das Kapitalmarktrecht beschränkt und auch die Geltungsdauer des Gesetzes auf zunächst fünf Jahre befristet. In dieser Zeit sollte das Gesetz evaluiert werden. Nach einer Verlängerung der Geltungsdauer um weitere zwei Jahre tritt das Gesetz nunmehr am 31. Oktober 2012 außer Kraft. Wie sind nun die Erfahrungen mit dem KapMuG? Unter dem Strich können wir sagen: Das Gesetz hat sich bewährt. Die Evaluation hat ergeben, dass das Musterfeststellungsverfahren nach dem KapMuG ein taugliches Instrument zur Bewältigung von Massenklagen im Bereich des Kapitalmarktrechts ist. Kleinanleger können Schadensersatzansprüche damit besser bündeln, und die Gerichte sind entlastet worden. Die bisher recht geringe Anzahl der Verfahren zeigt aber auch, dass das Gesetz an einigen Stellen verbessert werden kann und muss. Der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung verbindet die positiven Erfahrungen mit den notwendigen Änderungen: Die Grundstruktur und die Prinzipien des bisherigen KapMuG werden beibehalten. Die zahlreichen Änderungen werden in einem neuen Stammgesetz zusammengeführt, das KapMuG also von Grund auf neu gefasst. Worum geht es im Einzelnen? Zunächst wird der Anwendungsbereich des KapMuG moderat ausgeweitet. Es bleibt zwar bei der Beschränkung auf kapitalmarktrechtliche Ansprüche; denn für ein allgemeines Instrument des kollektiven Rechtsschutzes für alle zivilrechtlichen Ansprüche ist es noch zu früh, es besteht auch nicht in gleicher Weise ein Bedarf. Das Gesetz soll zukünftig aber solche Schadensersatzansprüche erfassen, die aus einer fehlerhaften Anlageberatung und Anlagevermittlung resultieren. Es sollen also nicht nur diejenigen Fälle erfasst werden, in denen der Schadensersatz unmittelbar durch eine fehlerhafte Kapitalmarktinformation verursacht wird, sondern auch solche Fälle, in denen ein nur mittelbarer Zusammenhang besteht. Das ist sachgerecht. Die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Verursachung eines Schadens ist in der Praxis häufig schwierig und in der Sache auch nicht angemessen. Des Weiteren wird der Vergleichsabschluss im Musterverfahren erleichtert. Nach dem bisherigen KapMuG ist ein Vergleich nur dann möglich, wenn alle Beteiligten – Musterkläger, Musterbeklagte und alle Beigeladenen – diesem zustimmen. Das hat sich in der Praxis als kaum erfüllbar erwiesen. Der Gesetzentwurf führt daher nunmehr einen gerichtlich gebilligten Vergleich zwischen Musterkläger und Musterbeklagten mit Austrittsmöglichkeit ein. Dabei hört das Gericht die Beigeladenen lediglich an, ob der Vergleich eine angemessene Lösung darstellt. Zustimmen müssen sie hingegen nicht mehr. Billigt das Gericht den Vergleich, wird er grundsätzlich für alle Beteiligten verbindlich. Die Beigeladenen können allerdings innerhalb eines Monats ihren Austritt aus dem Vergleich erklären. Für die Ausgetretenen wird der Vergleich dann nicht verbindlich. Ich begrüße grundsätzlich, dass der Abschluss eines Vergleiches durch die Abkehr vom Zustimmungserfordernis erleichtert wird. Im parlamentarischen Verfahren prüfen müssen wir allerdings die Frage, ob ein bestimmtes Quorum als Voraussetzung für die Wirksamkeit des Vergleichs gesetzlich festgelegt werden muss oder ob es ausreicht, dass die Parteien ein solches vereinbaren können. Ziel der Reform ist schließlich, das Musterverfahren zu beschleunigen. Bislang konnten bis zum Beginn des Musterverfahrens viele Monate vergehen. Zukünftig sollen zulässige Musterverfahrensanträge von den Gerichten innerhalb von drei Monaten im Klageregister bekannt gemacht werden. Das soll für eine stärkere Entlastungswirkung der Gerichte und für einen effektiveren Rechtsschutz sorgen. Der vorgelegte Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Das KapMuG kann, wie ich meine, mit den vorgesehenen Änderungen entfristet werden. Einige wenige Kritikpunkte gibt es dennoch, die im parlamentarischen Verfahren genau zu prüfen sind: Das gilt zunächst für die Frage, ob eine sogenannte einfache Teilnahme am Musterverfahren ermöglicht werden kann. Dabei geht es darum, dass geschädigte Anleger unterhalb der Schwelle der förmlichen Klageerhebung am Musterverfahren beteiligt und insbesondere in die Wirkungen des Musterbescheids bzw. gegebenenfalls Vergleichs einbezogen werden können. Das könnte die Effizienz und die Breitenwirkung des Verfahrens möglicherweise verbessern. Möglicherweise muss auch dem OLG, das für die Entscheidung über die Feststellungsziele inhaltlich zuständig ist, mehr Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden. Die jetzt vorgesehene Bindung des OLG an den Vorlagebeschluss führt dazu, dass es unter Umständen die im Vorlagebeschluss aufgeführten Feststellungsziele prüfen muss, obwohl es diese nicht für entscheidungserheblich hält. Die Zulassung einer Modifizierung der Vorlageziele muss man daher prüfen. Schließlich sehe ich hinsichtlich der vorgesehenen Verschärfung der Voraussetzungen, unter denen ein Gericht nach § 145 ZPO mehrere in einer Klage erhobene Ansprüche trennen und gesondert verhandeln kann, noch Prüfbedarf. Bei dieser Änderung geht es nicht nur um eine Klarstellung im Rahmen des KapMuG, sondern um eine grundlegende Veränderung der zivilprozessualen Rechtslage. Das darf nicht leichtfertig geschehen. Das muss sorgfältig erwogen werden. Insgesamt – und hiermit komme ich zum Ende meiner Rede – hat die Bundesregierung einen durchaus gelungenen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich bin zuversichtlich, dass wir im parlamentarischen Verfahren eine Lösung für die aufgezeigten Kritikpunkte finden werden und das Gesetz schnell – vielleicht sogar wie das KapMuG im Jahre 2005 – einstimmig beschließen können. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, KapMuG, ist ein juristischer Testballon, der 2005 losgeschickt wurde und dem zum 31. Oktober 2012 die Luft auszugehen droht. Mit der angestrebten Reform des KapMuG wollen wir nun einige zusätzliche Instrumente an dieser Versuchsanordnung anbringen und sie wieder aufsteigen lassen, um weitere wertvolle Messwerte zu gewinnen und daraus Erkenntnisse für die zukünftige Gestaltung des deutschen Rechts zu ziehen. Nach Ablauf der Geltungsdauer des von Anfang an befristeten KapMuG bestünde zunächst die Möglichkeit, das Gesetz auslaufen zu lassen. Dann würde allerdings ein im Kern funktionsfähiges Modell der kollektiven Rechtsdurchsetzung aufgegeben. Eine bloße Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes ohne inhaltliche Änderungen erschiene jedoch ebenfalls nicht angemessen. Vielmehr sollten die Erfahrungen der vergangenen sieben Jahre zu einer Überarbeitung des Gesetzestextes genutzt werden, um im Interesse der Kapitalanleger einen noch effektiveren Rechtsschutz zu ermöglichen und die Durchsetzung des objektiven Kapitalmarktrechts weiter zu befördern. Die Befristung des KapMuG kann dabei aufgehoben werden. Die Überführung des Musterverfahrens in die allgemeine Zivilprozessordnung und damit seine Ausdehnung auf alle zivilrechtlichen Ansprüche streben wir hingegen nicht an. Eine Entwicklung hin zu allgemeinen Sammelklagen wie im US-amerikanischen Recht lehnen wir ab. Dies hat nicht nur den Grund, dass derartige Instrumente der Rechtsdurchsetzung dem deutschen Recht bisher fremd sind. Vor allem können uns diese Verfahren mit ihren Begleitumständen und ihren Ergebnissen nicht überzeugen. Das bestehende KapMuG soll so nachjustiert werden, dass die Schlagkraft des Gesetzes erhöht und seine Wirkungsweise verbessert wird. Dazu soll der Anwendungsbereich präzisiert und moderat erweitert werden. Künftig werden durch das KapMuG alle Prozesse erfasst, in denen eine falsche, irreführende oder unterlassene öffentliche Kapitalmarktinformation eine der entscheidungserheblichen Tatsachen ist. Damit können auch Ansprüche gegen Anlageberater oder Anlagevermittler wegen sogenannter uneigentlicher Prospekthaftung geltend gemacht werden, die nach ständiger Rechtsprechung des BGH bisher ausgeschlossen sind. Eine weitere wesentliche Änderung des KapMuG betrifft die Beschleunigung des Verfahrens, denn besonders hier hat sich gezeigt, dass Optimierungsbedarf besteht. Mit der Verfahrensbeschleunigung soll bereits vor Beginn des Musterverfahrens angesetzt werden. Die mitunter sehr lange Wartezeit bis zum Beginn eines Musterverfahrens wird durch Einführung einer Dreimonatsfrist zur Entscheidung über den Musterantrag gestrafft. Unsicherheiten über den Beginn eines Musterverfahrens sollen auch dadurch minimiert werden, dass Beschlüsse des Prozessgerichts, in denen Musterverfahrensanträge als unzulässig verworfen oder wegen Nichterreichen des Quorums zurückgewiesen werden, unanfechtbar werden. Darüber hinaus werden die Vorlagevoraussetzungen an das Oberlandesgericht modifiziert, wobei künftig ein Zeitraum von sechs Monaten für das Erreichen des Quorums eröffnet wird. Damit muss nicht mehr wie bisher zunächst abgewartet werden, ob eventuell bereits gestellte Musterverfahrensanträge vorliegen, die noch nicht bekannt gemacht wurden. Schließlich ist das Oberlandesgericht künftig anstelle des Landgerichts für die Erweiterung des Gegenstands des Musterverfahrens zuständig, um eine Befassung verschiedener Gerichte während eines Musterverfahrens und damit drohende zusätzliche Verfahrensverzögerungen zu vermeiden. Gerade in Verfahren mit vielen Beteiligten ist aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität der Einzelfälle eine rechtlich abschließende Bewertung oft zeit- und kostenintensiv. Die Möglichkeiten zur gütlichen Streitbeilegung sollen daher gestärkt werden. Der Vergleichsabschluss bietet sich als effizientes Mittel hierzu an, auch um die erhoffte Entlastung der Justiz zu erreichen. Bisher scheitern Vergleichsabschlüsse im Musterverfahren regelmäßig am Erfordernis der Zustimmung aller Beteiligten. Diese wird in der Praxis kaum zu erreichen sein. Zur Überwindung dieses Hindernisses sieht der Gesetzentwurf die Möglichkeit eines gerichtlich gebilligten Vergleichs zwischen Musterkläger und Musterbeklagtem mit der Besonderheit vor, dass eine Austrittsmöglichkeit geschaffen wird. Hat das Gericht nach Anhörung aller Beteiligten den Vergleichsvorschlag umfassend geprüft und ist der Vergleich geschlossen worden, dann haben die Beteiligten – mit Ausnahme von Musterkläger und Musterbeklagtem – die Möglichkeit, innerhalb einer bestimmten Frist aus dem Vergleich auszutreten. Damit wird die Wahrung der Interessen aller Beteiligten sichergestellt. Jenseits all dieser begrüßenswerten Vorschläge für die Reform des KapMuG dürfen wir jedoch auch die deutlich vernehmbaren kritischen Stimmen aus Literatur und Praxis nicht überhören. Wir müssen beispielsweise genauestens beobachten und sicherstellen, dass das Musterverfahren aufgrund seiner schieren Komplexität nicht zu einem „Monstrum“ mutiert und erwünschte Effektivitäts- und Synergieeffekte untergraben werden. Auch sollten wir zumindest kritisch hinterfragen, warum in den vergangenen sieben Jahren nur eine so geringe Zahl an Musterverfahren durchgeführt worden ist, wobei nach meiner Kenntnis bisher noch keine einzige rechtskräftige Sachentscheidung in einem Musterverfahren ergangen ist. Nicht zuletzt gilt es, sprachliche Unschärfen auszuräumen und durch präzisere Formulierungen zu ersetzen. Zudem müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie dem Umstand zu begegnen ist, dass das Kostenrisiko insbesondere dadurch immer weiter ansteigt, dass mittlerweile viele Rechtsschutzversicherer kapitalmarktrecht-liche Ansprüche vom Leistungsumfang ihrer Versicherungen ausschließen oder jedenfalls begrenzen. Im Rahmen der geplanten Sachverständigenanhörung werden wir uns mit derartigen Kritikpunkten und Fragestellungen noch einmal intensiv auseinandersetzen. Festzuhalten bleibt, dass die Kapitalanleger weiterhin besonderen Schutz erfahren werden und ihre Rechtsposition durch die Reform des KapMuG gestärkt werden wird. Ingo Egloff (SPD): Heute diskutieren wir ein Gesetz, bei dem schon der Titel sperrig ist, das aber gleichwohl in mehrerer Hinsicht von großer Bedeutung für den -Finanzplatz Deutschland ist. Einerseits soll es dem Anlegerschutz dienen und hat damit auch verbraucherschützende Wirkung, andererseits soll es die Attraktivität des -Finanzplatzes und des Rechtsstandortes Deutschland stärken. Gerade angesichts der Unsicherheit der Anleger aufgrund der Finanzkrise im Zuge der Lehman-Pleite ist es daher von großer Bedeutung, diese im Jahre 2005 geschaffene Regelung weiterzuführen und gleichzeitig aus der seit der Verabschiedung gewonnenen Rechtspraxis die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Deshalb begrüßt die SPD-Fraktion grundsätzlich die Vorlage dieses Gesetzentwurfs. Wir begrüßen auch, dass der Gesetzgeber hier zumindest teilweise die Konsequenzen aus der inzwischen erfolgten Evaluierung des Gesetzes und seines Vollzuges in der Praxis gezogen hat. Dieses Beispiel einer meiner Meinung nach gelungenen Evaluierung sollte uns im Hinblick auf zukünftige Vorhaben veranlassen, öfter eine derartige Überprüfung zu beschließen. Aus der Anwendung in der Praxis und der Entwicklung der Recht-sprechung Schlüsse zu ziehen, die in den zukünftigen -Gesetzgebungsprozess einfließen, macht Sinn. In der Sache selbst ist es richtig, bestimmte Irritationen zu beseitigen, die durch neue unbestimmte Rechtsbegriffe und deren Auslegung durch die Rechtsprechung entstanden sind. So ist die durch unterschiedliche Urteile aufgeworfene Frage, ob ein Musterverfahren mehrere Streitziele haben kann oder nur ein Generalziel, dem sich verschiedene Teilziele oder Streitpunkte unterzuordnen haben, jetzt durch den Gesetzgeber entschieden worden. Der Begriff Streitpunkt, der keine Wirkung in der Praxis entfalten konnte, ist durch die Feststellung, dass es mehrere Feststellungsziele im Verfahren geben kann, überflüssig und verschwindet. Es ist auch klar-gestellt worden, dass der Musterverfahrensantrag be-reits mit der Anhängigkeit der Klage und nicht erst mit Rechtshängigkeit gestellt werden kann. Auch der Kritik, dass Verfahren zu lange dauern, ist Rechnung getragen worden. Eine Verwerfung des Feststellungsziels oder eine Teilverwerfung bei mehreren Teilzielen ist endgültig und kann nicht angefochten werden. Dies dient der Beschleunigung, weil Streitigkeiten in Zwischenverfahren abgeschnitten werden und Rechtsklarheit hergestellt wird. Der Rechtsschutz der Anleger wird auch nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Es bleibt der Individualprozess, in dem um Rechtsschutz nachgesucht werden kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Re--gelung in § 3 Satz 1, die für die Bekanntmachung zulässiger Musterverfahrensanträge und damit auch für die Entscheidung über die Zulässigkeit des Musterverfahrensantrages eine Frist von drei Monaten als Sollvorschrift bestimmt. Damit ist ausdrücklich klargestellt, dass ein Gericht nicht mehr den konkreten Fall fortführen kann, um zusammen mit dem späteren Urteil den Musterverfahrensantrag für unzulässig zu erklären, weil es der Entscheidung ausweichen will. Eine Fristüberschreitung ist im Übrigen gemäß § 3 Abs. 2 zu begründen. In Ausnahmefällen kann das Gericht bei schwieriger Materie allerdings die Frist überschreiten, daher die Sollvorschrift, aber das ist auch sachgerecht. Am wichtigsten ist aber die Frage der Ausdehnung des Musterverfahrens gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 auf solche Tatbestände, in denen der Schadenersatzanspruch nicht nur auf die Verwendung von falschen öffentlichen Kapitalmarktinformationen gestützt wird, sondern in denen vertragliche Ansprüche wegen fehlerhafter Anlageberatung und Vermittlung erfolgt sind. Das ist angesichts der vom BGH getroffenen Entscheidung, dass der Anspruch nicht auf vertragliche Ansprüche gestützt werden kann, eine Klarstellung und Erweiterung, die im Verbraucherschutzinteresse notwendig ist. Zurecht war kritisiert worden, dass diese BGH-Rechtsprechung, mag sie dogmatisch aus der 2005 gefundenen Gesetzesformulierung so ableitbar gewesen sein, jedenfalls dazu führt, dass das KapMuG in der bisherigen Form dazu führt, dass Falschberatungen in Zusammenhang mit fehlerhaften Prospektangaben nicht abgedeckt waren und insoweit nicht musterverfahrensfähig waren. Die Kritik des Bundesrates an der neuen Regelung geht meines Erachtens an der Sache vorbei. Damit sind nunmehr auch die Fragen der erweiterten Prospekthaftung, in denen sich die Haftung aus der Verwendung eines -fehlerhaften Prospektes in Zusammenhang mit einer Falschberatung ergibt, in den Bereich der Musterklageverfahren einbezogen. Die im alten Gesetz enthaltene Vergleichsvorschrift hat sich in der Praxis nicht bewährt. Die Zustimmung aller Beteiligter hat sich als nicht realisierbar herausgestellt. Deshalb ist die gefundene Lösung, dass gemäß § 17 sich Musterkläger und Musterbeklagter vergleichsweise selbst einigen oder auf Vorschlag des Gerichts -einigen, die Beigeladenen die Möglichkeit der Äußerung haben, der Vergleich erst nach Genehmigung des Gerichts, § 18, geschlossen werden kann, dann unwiderruflich ist und den Beigeladenen ein Austrittsrecht, § 19, eingeräumt wird, eine Lösung, die interessengerecht ist. Damit wird die Möglichkeit verbaut, dass sich Musterkläger und Musterbeklagter zulasten Dritter einigen, und die individuellen Rechte der Prozessbeteiligten bleiben gewahrt. Auf den ersten Blick sind hier seitens der Bundes--regierung notwendige und sinnvolle Änderungen an dem bestehenden Gesetz vorgenommen worden. Wir werden sicherlich im Zuge der Ausschussberatung uns noch ausführlicher mit dem Evaluationsbericht befassen und auch noch über die weiteren Vorschläge der Sachverständigen diskutieren, die von der Regierung jetzt nicht berücksichtigt worden sind. Im Interesse der Verbraucher und des Anlegerschutzes sollten wir zügig über dieses Gesetz beraten. Denn in Zeiten krisenhafter Zuspitzung in der Euro-Zone, wo wir nach Ausführungen von Wirtschaftsforschern feststellen müssen, dass das Vertrauen in die Kapitalmärkte nicht vorhanden ist, müssen wir als Gesetzgeber dafür sorgen, dass ein Höchstmaß an Anlegerschutz realisiert wird und unlauteren Geschäftspraktiken auf allen Ebenen ein Riegel vorgeschoben wird. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Schon vor der Finanzkrise haben viele Anlegerinnen und Anleger durch unzureichende Beratung und windige Finanzprodukte auf dem Kapitalmarkt viel Geld verloren. Verantwortliche wurden selten zur Verantwortung gezogen, da oftmals Zeit- und Geldaufwand für eine gerichtliche Klage unverhältnismäßig hoch waren und zu den Verlusten der einzelnen Anlegerinnen und Anleger in keinem Verhältnis standen. Das Kapitalanleger-Musterverfahren, eingeführt im Jahr 2005, sollte ein schlagkräftiges kollektives Rechtsverfolgungsinstrument sein und dafür sorgen, dass kapitalmarktrechtliche Vorschriften eingehalten werden. Diese abschreckende Wirkung hat es wohl verfehlt. Falsche Informationen und Fehlberatung sind auch heute noch zu oft anzutreffen. Eine wesentliche Ursache für fehlerhafte und unzureichende Beratung liegt in den Finanzprodukten selbst begründet. Deshalb hatte die Linke bereits vor vier Jahren, Anfang 2008, einen Finanz-TÜV vorgeschlagen. Statt „alles ist erlaubt, was nicht verboten ist“ fordern wir, dass in den Finanzmärkten nur das erlaubt sein soll, was auch zugelassen ist. Daher sollen, wie beim Fahrzeug-TÜV, auch beim Finanz-TÜV nur die Produkte auf den Märkten gehandelt werden dürfen, die ausdrücklich eine Zulassung erhalten haben. Diesen Paradigmenwechsel gilt es zu vollziehen. Doch was tut die Koalition? Sie vereinnahmt den Namen Finanz-TÜV und verunstaltet das Konzept bis zur Unkenntlichkeit. Ihr Finanz-TÜV soll künftig Geldanlagen in Produktkategorien einordnen und überprüfen, wie Anbieter den neuen Informationspflichten nachkommen. Keine Spur von Zulassungsbeschränkungen für volkswirtschaftlich schädliche Finanzprodukte. Zudem ist die dafür veranschlagte Summe von 1,5 Millionen Euro völlig unzureichend, selbst für ihren Mini-TÜV. Aber der Finanz-TÜV löst nicht das Problem, wie Anlegerinnen und Anleger zu ihrem Recht kommen, wenn sie geschädigt wurden. Die Einführung des Musterverfahrens für das Kapitalmarktrecht und die Absicht, es dauerhaft beizubehalten, begrüßen wir. Aber die vorliegenden Änderungen zum Musterverfahren sind noch nicht ausreichend. Mit diesem Verfahren sollte das Kostenrisiko für die Einzelnen gesenkt werden, was sich in der Praxis als Schuss in den Ofen gezeigt hat. Zwar wird in dem vorliegenden Gesetzentwurf der zusätzliche Aufwand des Musterklägervertreters entlohnt und diese Entlohnung auf alle Kläger verteilt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass viele Rechtsschutzversicherer dazu übergegangen sind, kapitalmarktrechtliche Ansprüche vom Leistungsumfang auszunehmen oder diesen zu begrenzen. Somit bleibt das Kostenrisiko bei den Geschädigten. Auch wenn wir die Ausweitung des Musterverfahrens auf weitere Bereiche der Zivilprozessordnung begrüßen würden, fordern wir letztendlich die Umkehr der Beweislast und die Einführung einer Sammelklage. Diese hätte den Vorteil, dass das Kostenrisiko für alle beteiligten Kläger geringer wäre. Für die Zukunft wäre es besonders zielführend, wenn Schwarz-Gelb einen wirklichen Finanz-TÜV einführt, der die Finanzprodukte überprüft und zulässt. So wäre sichergestellt, dass viele Klagegründe erst gar nicht entstünden. Dann wären die Gerichte wirklich entlastet. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): I. Als im Jahre 2005 die damalige rot-grüne Koalition das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (Bundestagsdrucksache 15/5091) einführte, betrat sie zivilprozessuales Neuland. Vier Hauptziele sollten damit erreicht werden: die Effektivierung des individuellen Rechtsschutzes für Kapitalanleger durch Erleichterung der Geltendmachung ihrer Ansprüche, die Verbesserung der Durchsetzung objektiver kapitalmarktrechtlicher Vorschriften durch Einführung eines schlagkräftigen kollektiven Rechtsverfolgungsinstruments, die Entlastung der Justiz sowie die Stärkung des Justizstandorts Deutschland. Erstens. So bot vor dem Inkrafttreten des KapMuG die Zivilprozessordnung mit der Streitgenossenschaft in Fällen von Streuschäden mit vielen Geschädigten nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit einer Bündelung von Klagen. Insbesondere in diesen Fällen kommt es aber zu vergleichsweise geringen Schadensersatzsummen beim einzelnen Geschädigten, während der angerichtete Gesamtschaden im mehrstelligen Millionenbereich liegen kann. Ein Musterverfahren nach dem KapMuG erlaubt es, das Prozesskostenrisiko der geschädigten Kapitalanleger in den Fällen zu senken; in denen sich eine aufwendige Beweisaufnahme mit hohen Sachverständigenkosten zur Klärung komplizierter kapitalmarktrechtlicher Fragen für den Kläger im Einzelverfahren nicht lohnen würde. Zweitens. Darüber hinaus sollte das KapMuG durch Bündelung einer Vielzahl von gleichgelagerten Gerichtsverfahren die Gerichte merklich entlasten. Komplexe Tatsachen und Rechtsfragen sollten so nur noch einmal mit Bindungswirkung für alle geschädigten Anleger geklärt werden müssen, das heißt, es sollte nur einer Beweisaufnahme bedürfen. Drittens. Schließlich sollte durch die Ermöglichung eines Musterklageverfahrens auch der Justizstandort Deutschland gestärkt werden. Das deutsche Prozessrecht sollte mit dem Musterverfahren modernisiert werden, um Anleger zu veranlassen, vor deutschen Gerichten zu klagen und nicht im Wege des sogenannten Forum Shopping auf andere Staaten in Europa oder Amerika auszuweichen. Damit sollte dem staatlichen Interesse Rechnung getragen werden, deutsche Kapitalmärkte durch die inländische Justiz zu kontrollieren und eine extraterritorial ausgreifende Gesetzgebung anderer Staaten zu verhindern (vergleiche Gesetzesbegründung zum KapMuG, Bundestagsdrucksache 15/5091, Seite 17). II. Um zunächst Erfahrungen mit dem Musterverfahren sammeln und die Auswirkungen genau beobachten zu können, trat das KapMuG am 1. November 2005 zunächst befristet auf fünf Jahre in Kraft. Im Juli 2010 wurde die Geltung des Gesetzes bereits einmal für zwei Jahre, bis zum 31. Oktober 2012, verlängert. Wie von Beginn an vorgesehen, wurde die Wirkung des Gesetzes im Jahr 2009 im Auftrag des Bundesjustizministeriums evaluiert. Mit der Studie beauftragt waren Professor Dr. Axel Halfmeier, Professor Dr. Eberhard Feess (beide Frankfurt School of Finance & Management) und Professor Dr. Peter Rott (Universität Bremen). Der Abschlussbericht der Evaluation wurde am 14. Oktober 2009 vorgelegt. Fazit der Studie ist, dass sich das KapMuG bereits nach wenigen Jahren der Testphase im Grundsatz bewährt hat. Das KapMuG, so das wichtigste Ergebnis, stelle „ein neuartiges, aber insgesamt funktionsfähiges Modell der kollektiven Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht“ dar und solle „mindestens verlängert“ werden. Erstens. So konnten tatsächlich Anreize zur Geltendmachung von Ansprüchen von Kapitalanlegern geschaffen werden. Dennoch betrachtet hier die Evaluation die Fortschritte noch als zu gering; das Ziel einer breiten Geltendmachung von Streuschäden im Kapitalanlagerecht würde bei weitem verfehlt. Der Grund dafür wird darin gesehen, dass zwar eine Verbesserung im Prozesskostenrisiko des Einzelnen eingetreten ist, das verbleibende Risiko aber weiterhin zu hoch sei und die Erleichterungen des KapMuG nicht weit genug gingen. Sicher lässt sich allerdings sagen, dass die bei Einführung der Musterverfahrensregelung befürchtete untragbare Belastung potenzieller Beklagter nicht ersichtlich ist. Zweitens. Nur eingeschränkt erreicht wurde eine Entlastung der Justiz. Laut Evaluationsbericht (Seite 87) könne eine wirklich spürbare Entlastung nur erreicht werden, wenn man von dem Erfordernis Abstand nehmen würde, dass jeder Anspruchsteller auch eine Klage im Sinne der §§ 253 ff. ZPO erheben muss. Auch bei den Möglichkeiten, ein Musterverfahren durch Vergleich abzuschließen und somit unter anderem die Gerichte zu entlasten, sieht der Evaluationsbericht Verbesserungsbedarf (Seite 104 f.). Drittens. Bezüglich der Attraktivität des Justizstandorts Deutschlands käme es zukünftig stärker auf eine Kooperation der beteiligten Justizsysteme an als auf ein „Abblocken“ ausländischer Verfahren, so der Bericht (Seite 88). Ein wirksameres und in seinen Zugangsmöglichkeiten verbessertes KapMuG könne hier aber einen wichtigen Beitrag leisten. Insgesamt verweist der Evaluationsbericht immer wieder auf das Ergebnis der durchgeführten qualitativen Untersuchung, nach der Einigkeit darüber bestand, dass das KapMuG eine Verbesserung zum vorherigen Rechtszustand darstelle (zum Beispiel Seite 88). Für uns Grüne bedeutet dieses Ergebnis, dass wir an dem Instrument des Musterklageverfahrens festhalten und es ausbauen wollen. Essenziell ist für uns dabei aber eine Fortentwicklung des Instruments unter Berücksichtigung der Vorschläge des Evaluationsberichts. III. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierung geht diesbezüglich in die richtige Richtung. Doch reicht es, nach all den positiven Erfahrungen, die wir mit dem Gesetz in den letzten Jahren gemacht haben, nicht aus, einfach am alten Gesetz Nachbesserungen anzubringen. Hier ist mehr Mut und progressives Vorgehen gefragt. Erstens. So ist zu bezweifeln, dass der nun vorliegende Gesetzentwurf tatsächlich die notwendigen Erleichterungen bei Eintritt in das Musterverfahren schafft, da eine Möglichkeit der einfachen Teilnahme am Musterverfahren vorerst nicht geschaffen wird. Hier müssen Nachbesserungen folgen. Nach wie vor muss auch jeder Anspruchssteller für sich Klage erheben, was keine weitere Entlastung der Justiz herbeiführt. Lobenswert ist, dass die Koalition mit verbesserten Vergleichsmöglichkeiten in Verbindung mit der Möglichkeit eines Ausstiegs aus dem Verfahren für Beteiligte, die sich einer getroffenen Vergleichsvereinbarung nicht anschließen wollen, eine wichtige Verbesserung einführen will. Ob diese aber ausreichen wird, werden wir abwarten und kritisch begleiten müssen. Zweitens. Ganz generell empfiehlt der Evaluationsbericht eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Musterklagen auf sonstige zivilrechtliche Ansprüche und befürwortet ausdrücklich eine Aufnahme des Gesetzes in die ZPO (Seite 109). Eine solche Ausweitung – ob in der ZPO oder in einem eigenen Gesetz des kollektiven Rechtsschutzes – wird schon länger nicht mehr nur von uns Grünen gefordert. Bereits im Jahr 2005 hatte sich der Bundesrat dafür ausgesprochen (Bundestagsdrucksache 15/5091, Seite 40), und auch die Bundesrechtsanwaltskammer hält es in ihrer „Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes“ vom September 2011 (BRAK-Stellungnahme-Nr. 55/2011) für „überdenkenswürdig“, dass der Anwendungsbereich des KapMuG nicht auch auf andere Fälle, etwa Fälle der Produkthaftung oder die Haftung für Kartellverstöße, ausgedehnt würde, da auch hier Bedarf bestünde. Warum ist die Koalition hier so zaghaft? Es gäbe nichts zu verlieren. Drittens. Schließlich verweist der Evaluationsbericht darauf, dass die defizitäre Rechtsdurchsetzung im Kapitalmarktrecht nicht allein mit verfahrensrechtlichen Mitteln zu ändern sein wird. Insbesondere die Beweislastverteilung bei den im Anwendungsbereich des KapMuG stehenden Anspruchsgrundlagen sei problematisch. Mit dieser essenziellen Frage beschäftigt sich der vorgelegte Gesetzentwurf bedauerlicherweise nicht. Hier müssen weitere Taten folgen. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Das Kapitalanleger-Musterverfahren ist im Jahre 2005 unter dem Eindruck des Telekom-Verfahrens als Instrument zur Bewältigung von Massenklagen eingeführt worden. Der Gesetzgeber hat die Geltung dieses Gesetzes zunächst auf fünf, dann auf sieben Jahre befristet. Zugleich wurde der Bundesregierung aufgegeben, die Wirkung des Gesetzes zu eva-luieren, um eine fundierte Entscheidung über eine unbefristete Geltung treffen zu können. Das Ergebnis ist eindeutig: Wir schlagen dem Deutschen Bundestag vor, die bisherige Befristung aufzuheben. Denn die Evaluation ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das KapMuG grundsätzlich praxistauglich ist. Allerdings ist das Gesetz an einigen Stellen verbesserungsbedürftig. Wissenschaft und gerichtliche Praxis sehen dies ähnlich. Daher wird der Anwendungsbereich gegenüber dem bisherigen Recht moderat erweitert und auf Rechts--streitigkeiten mit mittelbarem Bezug zu einer öffent--lichen Kapitalmarktinformation ausgedehnt. Dadurch können zukünftig auch Prozesse gegen Anlagevermittler und -berater, in denen die Richtigkeit eines Anlagepro-spekts streitig ist, in einem Musterverfahren gebündelt und einheitlich entschieden werden. Die Einbeziehung dieser Verfahren wird die Entlastungswirkung des -KapMuG stärken und für eine einheitliche Entscheidungspraxis der Gerichte in Kapitalanlagesachen sorgen. Die Justiz bedarf hier in Zeiten permanenter Finanz- und Bankenkrise unserer besonderen Unterstützung. Darüber hinaus wird der Vergleichsabschluss im -Musterverfahren vereinfacht, um eine gebündelte gütliche Beilegung von Anlegerstreitigkeiten zu fördern. Mit einem Vergleichsschluss können Hunderte von Ausgangsverfahren erledigt werden. Dadurch wird das Musterverfahren für die Beteiligten attraktiver. Zugleich wird die Justiz entlastet. Aber auch im Vorfeld eines Musterverfahrens müssen wir den Zugang zum Recht für Kapitalanleger gewährleisten. Die meisten Kapitalanleger können weder auf eine Rechtsschutzversicherung noch auf Prozesskostenhilfe zurückgreifen; sie sind daher darauf angewiesen, ihr Prozesskostenrisiko durch einen Zusammenschluss mit anderen Anlegern zu einer Streitgenossenschaft zu senken. Die Zivilprozessordnung gestattet es den -Gerichten aber bisher ohne besondere Voraussetzungen, die gemeinsame Klage in Einzelprozesse aufzuteilen. Den Klägern wird damit ihr Kostenvorteil genommen. Der Gesetzentwurf sieht daher eine Präzisierung des § 145 ZPO vor, damit zukünftig eine Verfahrenstrennung nur zulässig ist, wenn es dafür einen gewichtigen Grund gibt. Die einfache Teilnahme am Musterverfahren wird im Verlauf der parlamentarischen Beratungen sicherlich erneut thematisiert werden, nachdem der Bundesrat hier Prüfungsbedarf angemeldet hat. Zusätzlich hat der -Bundesrat weitere Vorschläge sowie zwei Prüfbitten formuliert. Darüber werden wir in den Ausschussberatungen diskutieren. Ich begrüße aber ausdrücklich, dass der Bundesrat das neue KapMuG mit unbefristeter -Geltungsdauer im Grundsatz unterstützt. In die weitere Debatte sollten wir im Übrigen europarechtliche Aspekte einbeziehen. Die Bundesregierung ist überzeugt, dass am Ende der Beratungen das neue Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz den Kapitalanlegern einen effizienteren Rechtsschutz gewähren wird. Es wird daher dazu beitragen, die Wirksamkeit der kapitalen marktrechtlichen Regeln -sicherzustellen. Damit wird das Vertrauen der Anleger in den Finanzmarktstandort Deutschland erhöht werden. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Wirksame Anreize für klimafreundlichere Firmenwagen (Tagesordnungspunkt 14) Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute einen Antrag der Linken, welcher in ähnlicher Ausrichtung jüngst von den Grünen vorgelegt wurde. Ein rotgefärbter Antrag der Grünen. Zwar gibt rot und grün zusammen gelb, aber liberal ist der Antrag dann trotzdem nicht. Im Gegenteil – er ist ein weiterer Beleg dafür, dass die linke Seite dieses Hauses offenbar nur die Gängelung der Menschen im Kopf hat. Sie wollen die steuerliche Absetzbarkeit des Aufwandes für Personenkraftwagen über einem CO2-Ausstoß von 125 Gramm reduzieren. Zusätzlich wollen Sie die Besteuerung der privaten Nutzung von Firmenwagen – die bewährte und anerkannte 1-Prozent-Regelung – für Neufahrzeuge ab 2013 abändern und an der Kohlen-dioxidemission ausrichten. Die Fraktion Die Linke im grünen Gewand. Aber ich muss Ihnen bei aller noch folgenden Kritik zugutehalten, dass Ihr Antrag überraschenderweise auf den ersten Blick nicht ganz so populistisch geprägt ist, wie die bekannten Anträge der Grünen, die das gleiche Ziel verfolgen. Auf den zweiten Blick jedoch und nach genauer Durchsicht entpuppt sich Ihr Antrag als Trojanisches Pferd. Letztendlich läuft es wieder auf eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Selbständigen hinaus, welche hochpreisige, vor allem deutsche Firmenwagen anschaffen und nutzen wollen. Sie sagen es ja selber, wenn auch verklausuliert, in Ihrem Antrag, dass die Bezieher höherer Einkommen abkassiert werden sollen. Dabei müssten Sie doch eigentlich wissen, dass vor allem die von Ihnen angeführten mobilen Pflegedienste zwar oft Kleinst- und Kleinwagen, aber eben häufig auch ältere und daher verbrauchs- und emissionsintensive Fahrzeuge fahren. Diese kleinen Unternehmen können sich keine neue – meist teure und spritsparende – Fahrzeugflotte leisten. Sie belasten also neben den kleinen und mittleren Unternehmen auch deren meist nicht zu den Großverdienern zählenden Arbeitnehmer, welche aufgrund ihrer Tätigkeit das Firmenfahrzeug auch privat nutzen dürfen. Auch die Abkehr vom anerkannten Bruttolistenpreis als Bemessungsgrundlage ist nicht durchdacht. Große Unternehmen mit Massenbestellungen können viel niedrigere Anschaffungskosten beim Firmenwagen aushandeln als die vielen kleinen Handwerksbetriebe oder die kleinen mobilen Pflegedienste. Es wäre schlicht ungerecht, wenn diese Arbeitnehmer beim gleichen Fahrzeug nicht den gleichen vermögenswerten Vorteil zu versteuern hätten. Das System der Absetzbarkeit von Betriebsausgaben beim Firmenwagen mit einer ökologischen Ausrichtung zu versehen, widerspricht nicht nur den Grundprinzipien unseres Steuerrechts, sondern führt auch noch zu einer immensen Komplizierung. Wir aber wollen eine Vereinfachung des deutschen Steuerrechts und keine Verkomplizierung und haben hierzu bereits mit dem Steuervereinfachungsgesetz erste Schritte unternommen. Weitere werden folgen. Wir wollen nicht zwei in Anschaffungspreis und Nutzungsdauer gleiche Wirtschaftsgüter nur deshalb unterschiedlich behandeln, weil sie sich im CO2-Ausstoß unterscheiden. Wir wollen keine ideologisch geprägte Ungleichbehandlung der steuerlichen Abzugsfähigkeit des Aufwandes zu anderen abnutzbaren Wirtschafts-gütern. Ungleichbehandlungen im Steuersystem führen meist zu Fehllenkungen und Fehlanreizen, die letztendlich weder ökologisch noch wirtschaftlich sinnvoll sind. Kompliziert haben wir bereits, wir brauchen einfach. Auch bei der Abschreibung. Die Abschreibung zeichnet den jährlichen Wertverlust von Firmenvermögen nach. Dies gilt natürlich nach den jetzigen Regelungen auch für Firmenwagen. Das muss auch zukünftig so bleiben. Das System der Absetzbarkeit von Betriebsausgaben kann deshalb auch nicht mit einer ökologischen Ausrichtung einfach abgeändert werden. Würde man diesem Vorschlag folgen, müsste man in letzter Konsequenz sämtliche Maschinen, Heizungsanlagen etc. mit einem erhöhten CO2-Ausstoß und auch bei Gebäuden, die geltende Wärmedämmrichtwerte nicht einhalten, unterschiedlich bei der AfA behandeln. Eine vernünftige Grenze kann der Gesetzgeber hier nicht ziehen. Das Einkommensteuerrecht sollten wir von solchen Überlegungen verschonen. Sie gehen auch von falschen Annahmen bzw. veralteten Zahlen aus. Die neu zugelassenen Firmenwagen können nicht für den von Ihnen behaupteten erhöhten durchschnittlichen CO2-Ausstoß bei den neu zugelassenen Pkw verantwortlich sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Firmenwagen haben sich im Jahr 2011 im Vergleich zum Jahr 2010 um 5 Prozent und damit wesentlich stärker als bei den privaten Neuzulassungen mit 2,8 Prozent reduziert. Die ständige Erneuerung der Firmenfahrzeugflotte durch die Unternehmen trägt erheblich zur Reduzierung der Emissionen bei. Neue Fahrzeuge sind im Vergleich zu ihren Vorgängern meist sparsamer und auch klima-freundlicher. Im Zeitraum von 2008 bis Ende 2011 konnten die CO2-Emissionen von Firmenwagen um 25,1 Gramm CO2 pro Kilometer gesenkt werden. Bei den Privatfahrzeugen ist der CO2-Ausstoß lediglich um 17,3 Gramm CO2 pro Kilometer zurückgegangen. Es gibt im Übrigen bereits jetzt bestehende Lenkungselemente hin zu einem verbrauchs- und emissionsärmeren Fahrzeug. Größere Kraftfahrzeuge sind in der Regel aufgrund des höheren Kraftstoffverbrauchs bereits mit einer höheren Energiesteuer, bestehend aus der Mineralöl- und Ökosteuer, belastet. Aufgrund des größeren Hubraums werden auch regelmäßig höhere Kfz-Steuern fällig. Diese Anreize wurden mit der Umstellung der Kfz-Steuer in eine am CO2- und Schadstoffausstoß -orientierte Kfz-Steuer nochmal deutlich erhöht. Die am CO2- und Schadstoffausstoß orientierte Kfz-Steuer und die Energiesteuer sind die sachnäheren und steuersystematisch besseren Lenkungselemente als die von der Fraktion Die Linke gewollte CO2-basierende Firmenwagenbesteuerung. Ich warne auch davor, den Kfz-Markt mit steuerlichen Verkomplizierungen und letztendlich Steuererhöhungen zu verunsichern. Denn Ihr Antrag ist nichts anderes als eine versteckte Steuererhöhung mit Sanktions-charakter. Sie dürfen auch nicht nur an den Fahrer des Fahrzeuges denken, sondern müssen auch die 15 bis 20 Arbeitnehmer berücksichtigen, die mit dem Bau dieses Fahrzeuges ihre Familien ernähren. Die ständigen Angriffe auf die derzeit bestehende -Firmenwagenbesteuerung ist nichts anderes als ein Angriff auf die deutsche Automobilindustrie mit über 750 000 Beschäftigten. Die Deutsche Automobilindustrie investiert bereits zig Milliarden in verbrauchsarme und effizientere Fahrzeuge und im Übrigen auch in eine umweltfreundlichere Produktion. Die Fortschritte sind bemer-kenswert und weltweit anerkannt. Hören wir auf, unser Steuerrecht zu missbrauchen, und überlassen wir die Entscheidung über die Wahl des Fahrzeuges bitte den Menschen selbst. Der indirekten Verunglimpfung der deutschen Autobauer und der Gängelei der Autofahrer werden wir jedenfalls nicht die Hand reichen. Nicolette Kressl (SPD): In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke eine Ausrichtung der Firmen- und Dienstwagenbesteuerung an ökologischen Kriterien. Die Firmen- und Dienstwagenbesteuerung ist immer wieder Gegenstand parlamentarischer Debatten. Reformbedarf wird bei allen Parteien ausgemacht. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass die vom Verkehrssektor und insbesondere von den Personenkraftwagen verursachten Emissionen reduziert werden müssen. Die in der EU-Flottenverbrauchsverordnung vorgegebene schrittweise Reduzierung der Emissionswerte für Personenkraftwagen muss unbedingt umgesetzt werden. Nach Auffassung der SPD müssen dazu auch steuerrechtliche Anreize zur Anschaffung verbrauchsärmerer Fahrzeuge geschaffen werden. Die Firmen- und Dienstwagenbesteuerung muss deshalb ökologisch ausgerichtet werden. Wir dürfen es uns aber auch nicht zu einfach machen. Zunächst muss bei der Neuausrichtung der Firmenwagenbesteuerung das im Steuerrecht geltende objektive Nettoprinzip beachtet werden. Betrieblich bzw. beruflich veranlasste Aufwendungen sind danach grundsätzlich von den Einnahmen abziehbar. Der Betriebs- bzw. Werbungskostenabzug kann allerdings auf die angemessenen Ausgaben beschränkt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann der Betriebsausgabenabzug außerdem aufgrund von Lenkungszwecken, wie der Reduzierung klimaschädlicher Emissionen, eingeschränkt werden. Die steuerlichen Grundprinzipien stehen somit einer ökologischen Ausrichtung der Firmenwagenbesteuerung nicht entgegen. Die Abzugsbeschränkung muss aber immer durch eine zielgenaue -Lenkungswirkung, das heißt eine effektive Emissions-reduzierung, gerechtfertigt sein. Bei der Firmen- und Dienstwagenbesteuerung müssen über die ökologischen Gesichtspunkte hinaus auch noch wirtschaftliche und soziale Belange berücksichtigt werden. Die Begrenzung des steuerlichen Betriebsausgabenabzugs für Firmenwagen mit höherem Spritverbrauch muss so ausgestaltet werden, dass sie auch kleine Unternehmen, beispielsweise Handwerksbetriebe, nicht überfordert. Die Einführung der emissionsbezogenen Beschränkung des Betriebsausgabenabzugs für erstmals zugelassene Fahrzeuge erscheint mir ein gangbarer Weg zu sein. Dies würde es den Betrieben erlauben, sich bei ihren Neuanschaffungen an den strengeren Emissionsgrenzen zu orientieren, und würde es ihn somit ermöglichen, höhere Steuerbelastungen zu vermeiden. Auch bei der Dienstwagenbesteuerung müssen wir mit Augenmaß vorgehen und die Auswirkungen einer Reform auf die Dienstwagennutzer in den Blick nehmen. Fahrzeuge der Luxusklasse, die von Spitzenverdienern zum Vergnügen gefahren werden, sind die Ausnahme. Die Mehrheit der Dienstwagennutzer verfügt über ein mittleres Einkommen ist bei seiner täglichen Arbeit auf den Dienstwagen angewiesen. Eine emissionsabhängige Anhebung der Dienstwagenbesteuerung würde viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer empfindlich belasten. Diesen Aspekt berücksichtigt der Antrag der Linken immerhin. Schließlich muss die Neuausrichtung auch adminis-trierbar sein und darf zu keinen unverhältnismäßigen Bürokratiekosten führen. Durch die schrittweise Anhebung der Emissionsgrenzwerte entsteht bereits ein höherer Verwaltungsaufwand. Im Interesse der Unternehmen, der Dienstwagennutzer und der Finanzämter müssen wir die Besteuerungsverfahren möglichst einfach ausgestalten. Bei der Reform der Firmen- und Dienstwagenbesteuerung handelt es sich also um ein anspruchsvolles Unterfangen. Wir dürfen uns dabei weder hinter den Prinzipien des Einkommensteuerrechts verstecken noch einseitige Interessen verfolgen. Es kommt vielmehr auf eine umfassende Abwägung der ökologischen Zielsetzung mit den wirtschaftlichen und sozialen Belangen an. Dr. Daniel Volk (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion steht für eine Umweltpolitik der Generationengerechtigkeit und der Innovation. Beim Klimaschutz stehen wir zum Ziel, die CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Im Koalitionsvertrag haben wir uns in vielen Bereichen damit durchgesetzt, marktwirtschaftliche Elemente in der Gestaltung der Umweltpolitik verstärkt anzuwenden und den Unternehmen Planungssicherheit durch eine verlässliche Politikgestaltung zu geben. Wir stehen für eine vernünftige Umweltpolitik ohne ideologisch verblendete Flickschusterei und einseitige Belastung, wie Sie es vorschlagen. Ihr Antrag ist damit nicht in Einklang zu bringen, da er das bestehende Steuerrecht nur verkompliziert und für die Menschen noch unverständlicher macht. Ebenso durchbrechen Sie mit Ihrem Antrag eine Vielzahl von steuerrechtlichen Grundprinzipien, indem Sie den Beschäftigten vorschreiben, welche Autos sie fahren dürfen und welche nicht. Sie wollen das steuerliche Nettoprinzip ebenso beerdigen wie jegliche steuerpolitische Vernunft, und dabei schaffen Sie neue bürokratische Belastungen sowohl für die Unternehmen als auch für die Steuerzahler. So pluralistisch unsere Gesellschaft ist, so unterschiedlich sind auch die Bedürfnisse der Menschen. Ein Singlehaushalt kommt sicher mit einem kleinen Auto zurecht. Eine Großfamilie hingegen benötigt schon eher ein größeres Auto oder gar einen Kleinbus. Dass diese Autos dann erheblich teurer werden und so vor allem Familien belastet werden, nehmen Sie wieder einmal billigend in Kauf. Mit uns ist eine solche Politik aber nicht zu machen. Sie verteufeln jeden Dienstwagenfahrer als Umweltsünder und vergessen dabei völlig, dass der Dienstwagen mittlerweile auch im normalen Arbeitnehmermittelfeld angekommen ist. Diese Menschen denken eher praktisch und bevorzugen Modelle der Mittelklasse, die sie sich auch leisten können und die ihren familiären Bedürfnissen entsprechen; denn die private Nutzung müssen sie aus eigener Tasche bezahlen. Zudem verkennen Sie die Leistungen einer Branche mit mehr als 700 000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und unzähligen Auszubildenden. Die Automobilbranche hat damit einen wichtigen Anteil am deutschen Jobwunder. Im Jahr 2010 hat die deutsche Automobilindustrie circa 20 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert, um das Fahren sicherer und umweltschonender zu machen. Das Ende der Entwicklung umweltschonender Fortbewegungsmöglichkeiten ist längst noch nicht erreicht, aber die deutsche Automobilindustrie ist auf einem guten Weg und weltweit in vielen Bereichen als Innovationsführer geschätzt. Ihr Antrag würde nicht nur dem Wirtschafts- und Innovationsstandort Deutschland erheblich schaden, er würde auch den Unternehmen dringend benötigte Liquidität entziehen. Für die CO2-Reduzierung gehen wir Liberale einen anderen Weg, zum Beispiel mit der von uns eingeleiteten Liberalisierung des Busfernverkehrs. Wir werden damit insbesondere mittelständischen Unternehmern neue Chancen und Wettbewerbsmöglichkeiten eröffnen. Das wird außerdem zu vielfältigeren Angeboten und günstigeren Alternativen für die Kunden führen. Sie können sich künftig – ohne staatliche Bevormundung – frei zwischen Bahn und Bus entscheiden. Diese Öffnung im Fernbusverkehr haben wir Liberale angestoßen, und wir haben lange dafür gekämpft. Wir unterstützen mit dem Gesetz den Umstieg vom Auto zum Bus. Der Bus wird damit zu einer echten Alternative zum Auto. Positive Effekte auf die vollen Autobahnen und den CO2-Ausstoß sollten nur einige Folgen davon sein. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Wenn es uns in Deutschland gelingen soll, bis zum Jahre 2020 den CO2-Ausstoß um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, so sind vielfältige Maßnahmen nötig. Die Veränderung der steuerlichen Behandlung der Firmenwagen ist dafür ein wichtiger Baustein. Gerade im Verkehrssektor steigt der absolute Ausstoß von Emissionen an. Firmenwagen haben daran einen großen Anteil. Während noch 1995 der Anteil der Firmenwagen 38 Prozent betrug, waren es 2008 bereits 60 Prozent, Tendenz weiter steigend. Somit ist es entscheidend, welche Pkw von den Firmen eingekauft und gefahren werden. Bei 77 Prozent aller im Jahre 2008 neu zugelassenen Fahrzeuge lag der durchschnittliche Emissionswert über 200 Gramm CO2 pro Kilometer. Diese Entwicklung ist eindeutig das Ergebnis fehlerhafter steuerlicher Anreize, und diese gilt es zu beseitigen. Aktuell existieren keine verbindlichen Limits für den abzugsfähigen Aufwand von Firmenwagen. Die Kosten für diese Fehlentwicklung zahlen letztlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. So darf das nicht weitergehen, hier müssen wir umsteuern. Von uns und den Grünen liegen ja bereits Vorschläge auf dem Tisch, wie die Firmenwagenbesteuerung aussehen könnte. In einigen Punkten, wie zum Beispiel der Wirkung der Heranziehung der Anschaffungskosten bzw. des Listenpreises, steckt aber noch Diskussionsbedarf. Offene Fragen sollten wir ausführlich und unter Umwelt- sowie Anreizgesichtspunkten in der Anhörung mit Experten und Expertinnen diskutieren und gegebenenfalls Änderungen vornehmen. Notwendig ist daher erstens, die Ansetzung der Kosten für einen Firmenwagen CO2-abhängig zu gestalten. Zweitens ist die sogenannte 1-Prozent-Regelung neu auszugestalten und ebenfalls vom CO2-Ausstoß abhängig zu machen. Hier müsste unserer Meinung nach eine Differenzierung bei der Besteuerung des geldwerten Vorteils stattfinden. Im Vergleich mit dem Antrag der Grünen haben wir bei der 1-Prozent-Regelung eine soziale Komponente eingefügt, indem wir Kleinwagen mit geringem CO2-Ausstoß besserstellen wollen. Denn Kleinwagen werden insbesondere in der mobilen Altenpflege genutzt. Die Grenzwerte im Grünen-Antrag finden wir daher zu ambitioniert, denn nahezu alle derzeit vorhandenen Firmenwagen erfüllen nicht den zum 1. Januar 2013 geforderten Grenzwert. Wir müssen aufpassen, dass wir die Unternehmen nicht überfordern. Gerade im Beruf der Altenpflege, den ich ansprach, wird man nicht einfach so eine Erneuerung der Firmenwagenflotte vornehmen können. Der dortige Firmenwagen ist unserer Meinung auch nicht als Privileg anzusehen, sondern eher als Ausgleich für die schlechte Entlohnung. Meine Damen und Herren von der Koalition, geben Sie endlich Ihre Blockadehaltung gegenüber einer Neuregelung der steuerlichen Behandlung der Firmenwagen auf. Unsere Vorschläge sind letztlich auch eine Chance für den Autostandort Deutschland, weil durch ihre Umsetzung die Nachfrage nach ökologisch verträglichen Personenkraftwagen mit geringerem CO2-Ausstoß massiv steigen würde. Somit dürfte es sich auch für die Automobilindustrie lohnen, konsequenter und schneller genau solche Autos zu produzieren. Innovationen sind stets wachstumsfördernd. Schauen Sie sich nur an, wie viele Arbeitsplätze in den letzten Jahren in diesem Bereich entstanden sind. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Dienstwagenprivileg abbauen und Besteuerung CO2-effizient ausrichten“, so lautet der Titel des Antrags, den ich vor sechs Wochen für meine Fraktion eingebracht habe. „Wirksame Anreize für klimafreundliche Firmenwagen“ – so lautet der Titel Ihres Antrags. Das klingt erst mal gut. Ich freue mich, dass damit zumindest die Überschrift -Ihres Antrags unserem Anliegen entspricht. Da hören die Gemeinsamkeiten dann allerdings auch schon auf. Denn wenn man sich Ihre Forderungen genau anguckt, dann kann man eigentlich nicht glauben, dass Sie diesen Vorschlag ernst meinen. Sollte die Regierung Ihren Antrag tatsächlich umsetzen, dann wäre es eine Katastrophe für die Klimapolitik im Verkehrsbereich und dazu eine völlig absurde und unfaire Ausweitung des Dienstwagenprivilegs. Das Verwirrende ist: In der Begründung Ihres Antrags treffen Sie durchaus den Kern des Problems. Sie schreiben: „In der Europäischen Union darf der neu zugelassene Fuhrpark ab 2020 im Durchschnitt nicht mehr als 95 Gramm CO2 pro Kilometer verbrauchen.“ Zum Vergleich: Die deutsche Neuwagenflotte ist heute mit 151 Gramm CO2 je Kilometer noch weit von diesem Zielwert entfernt. Sie schreiben weiter, dass dieses Ziel eigentlich nicht ausreicht, und dass die Umweltverbände sogar einen Flottenwert von 80 Gramm im Jahr 2020 -befürworten. Auch hier sage ich: Ja, genau. Das ist auch unsere Position. Darauf aufbauend haben wir auch unseren Antrag geschrieben, weil wir überzeugt sind, dass man mit unserem Vorschlag für die Änderung der Dienstwagenbesteuerung das Ziel erreicht. Doch das, was Sie hier vorlegen, das passt vorne und hinten nicht zusammen. Wenn ich mir Ihren Vorschlag genauer anschaue, bekomme ich den Eindruck, dass Sie sich beim Antragschreiben auf dem Taschenrechner vertippt haben. Sie wollen, dass der geldwerte Vorteil, also der Pauschalbetrag, den ein Angestellter versteuern muss, weil er von seiner Arbeitgeberin einen Dienstwagen gestellt bekommt, nicht mehr nach dem Listenpreis des Autos berechnet werden soll, sondern nach den tatsächlichen Anschaffungskosten. Darüber kann man reden, da durch die heute gültige Regelung die Anschaffung von -Gebrauchtwagen als Dienstwagen benachteiligt wird. Doch dazu muss Ihnen auch klar sein: Kein Neu-wagen wird zum Listenpreis des Herstellers verkauft. Experten gehen davon aus, dass der tatsächliche Verkaufspreis von Neuwagen ungefähr 20 Prozent unter dem Listenpreis liegt, den der Hersteller empfiehlt. Um die Besteuerung des geldwerten Vorteils auf dem gleichen Niveau wie heute zu halten, muss dieser Schritt also unbedingt mit einer Anhebung des Prozentsatzes bei der sogenannten 1-Prozent-Regel verbunden werden. Wenn also der tatsächliche Anschaffungspreis 20 Prozent unter dem Listenpreis liegt, müsste man aus der -1-Prozent-Regel eine 1,25-Prozent-Regel machen, um die private Nutzung von Neuwagen genauso zu -besteuern, wie es heute der Fall ist. Sie aber schlagen genau das Gegenteil vor: Sie wollen die 1-Prozent-Regel zu einer 0,9-Prozent-Regel machen. Rechnet man Ihren Vorschlag sauber zu Ende, so führt das zu einem absurden Ergebnis: Wer von seiner Arbeitgeberin einen Dienstwagen gestellt bekommt, der 151 Gramm CO2 pro Kilometer ausstößt, der muss bis 2020 Jahr für Jahr weniger Steuern für die Nutzung des Dienstwagens bezahlen als heute. 151 Gramm CO2 pro Kilometer, wir erinnern uns, entspricht den Durchschnittsemissionen der heutigen Dienstwagenflotte. Ein Audi A6 etwa pustet heute so viel CO2 in die Luft. Meine Damen und Herren von der Linken, das ist ganz klarer umweltpolitischer Unsinn. Wie wollen Sie mit solchen Regeln erreichen, dass der durchschnittliche Emissionswert in acht Jahren, also 2020, bei 80 Gramm pro Kilometer liegt? Dazu ist Ihr Vorschlag natürlich auch völlig unfair. Schon heute genießen Dienstwagenfahrer große Privilegien gegenüber ihren Kollegen, die ihren Autokauf und die Kosten für Sprit, Versicherung und Reparaturen von ihrem Nettogehalt bezahlen müssen. Denn das Mehr an Steuern für den geldwerten Vorteil wiegt die realen Kosten, die ein Auto verursacht, nie auf. Ihr Vorschlag führt also dazu, dass das Fahren eines spritfressenden Audi A6 dauerhaft noch stärker subventioniert würde als bisher. Die Obleute des Finanzausschusses haben in der letzten Woche vereinbart, noch vor der Sommerpause ein Fachgespräch zur Besteuerung von Dienst- und Firmenwagen zu veranstalten. Ich glaube, dass dieser Entschluss sehr sinnvoll war. Denn „Wirksame Anreize für klimafreundliche Firmenwagen“ – das wollen wir auch. Ob man das mit -Ihrem Antrag erreichen kann, darüber sollten wir uns dann nochmal genau unterhalten. Zur Vorbereitung empfehle ich Ihnen die Lektüre unseres Antrags zur Reform der Dienstwagenbesteuerung. Denn im Gegensatz zu -Ihrem Antrag hält bei uns der Titel das, was er verspricht. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen stärken – Das Menschenrecht auf Gesundheit umsetzen – Zugang zu Medikamenten weltweit verwirklichen (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Anette Hübinger (CDU/CSU): Wir stellen heute ein Thema in den Mittelpunkt unserer Debatte, dessen Auswirkungen auf die Weltbevölkerung noch immer in weiten Teilen – innerhalb und außerhalb Deutschlands – unterschätzt werden. Ich spreche von den sogenannten tropischen und armutsassoziierten Krankheiten. Auf den ersten Blick haben die Schlagworte „tropisch“ und „armutsassoziiert“ nichts mit uns zu tun. Schaut man aber über den eigenen – deutschen – Tellerrand hinaus, wird schnell deutlich: Es handelt sich um ein international drängendes Problem! Mehr als 1 Milliarde Menschen weltweit leiden oder sterben an Krankheiten wie der afrikanischen Schlafkrankheit, an Chagas, an Leishmaniose oder dem Dengue-Fieber, um nur vier zu nennen. In die Begrifflichkeit müssen aber auch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose mit aufgenommen werden, da die Forschung zum großen Teil nicht den besonderen Herausforderungen und Anforderungen an die Behandlung der Erkrankten in Entwicklungs- und Schwellenländern Rechnung trägt. Diese Krankheiten werden aber noch mit einem weiteren Adjektiv in Verbindung gebracht. Man bezeichnet sie als vernachlässigte Krankheiten. Vernachlässigt deshalb, weil sich die Forschung diesen Krankheiten wenig widmet und weil demzufolge gar keine Medikamente, keine tropengeeigneten Medikamente oder keine Medikamente zu einem erschwinglichen Preis auf dem Markt sind. Der Grund hierfür ist die Armut der Betroffenen! Wo kein Geld zu verdienen ist, da halten sich die Forschungsanstrengungen von privaten Pharmaherstellern sehr in Grenzen. Dieser Umstand kann und darf uns nicht gleichgültig sein! Vielmehr sind wir aufgefordert, unser Wissen und unsere Fähigkeiten in den Dienst dieser Menschen zu stellen. Wir müssen dies aus humanitärer Verantwortung tun, aber auch damit diese Krankheiten und ihre Folgen nicht zum Entwicklungshemmnis für die Menschen und für die Länder, in denen sie leben, werden. Staatliches Engagement ist gefragt. Dieser Herausforderung stellen wir uns heute erneut mit unserem Antrag. Wir betreten damit nicht gänzliches Neuland, sondern wollen unsere Anstrengungen forcieren, um unserer Verantwortung für die globale Gesundheit auch gerecht zu werden. Klar ist angesichts einer solch großen Herausforderung, dass das deutsche Engagement nicht alle Probleme allein wird schultern können. Wir brauchen Partner. Das heißt, wir müssen mit anderen Ländern zusammenarbeiten, wir müssen die Pharmafirmen mit ins Boot holen und wir müssen private Initiativen – ein prominentes Beispiel ist auf diesem Gebiet die Bill & Melinda Gates Stiftung – einbinden. Eine sehr interessante Kooperationsform sind die sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften, abgekürzt PDP. PDP sind nichtprofitorientierte Organisationen, die Diagnostika, Impfstoffe oder Medikamente zur Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten entwickeln und – ganz wichtig – kostengünstig in Entwicklungs- und Schwellenländern zum Einsatz bringen. In PDP fließen privates, staatliches und unternehmerisches Engagement zusammen, und genau das wollen wir. Die Bundesregierung hat schon früh erkannt, dass dies ein sehr erfolgversprechender Weg zur Eindämmung von vernachlässigten, tropischen und armutsassoziierten Krankheiten ist und unterstützt diesen innovativen Forschungs- und Produktentwicklungsansatz. Die christlich-liberale Koalition begrüßt daher, dass für den Zeitraum von 2011 bis 2015 eine Summe in Höhe von 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wird. Um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen, haben wir den Titelansatz für das Jahr 2011 um weitere 2 Millionen Euro erhöht. Das Engagement der Bundesregierung zielt dabei auf die Medikamentenentwicklungen gegen die Afrikanische Schlafkrankheit, gegen Viszerale Leishmaniose, die Chagas-Krankheit und Wurmerkrankungen sowie auf die Entwicklung einer Diagnostikplattform für vier parasitäre Erkrankungen – Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria – und auf die Entwicklung eines Malariaimpfstoffes für Schwangere. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass 22 Millionen Euro finanzielle Unterstützung von PDP im internationalen Vergleich keine riesige Hausnummer darstellen und das nur ein Anfang sein kann. Aber genau das ist der springende Punkt. Wir befinden uns am Anfang eines – hoffentlich gemeinsamen – Weges. Deshalb war es vonseiten der Bundesregierung genau die richtige Entscheidung, einen abgrenzbaren und somit besser sichtbaren Bereich auszuwählen und dort gezielt Forschung zu unterstützen. Den Fokus auf die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele 4 – Verringerung der Kindersterblichkeit – und 5 – Verringerung der Müttersterblichkeit – zu legen, ist somit ein guter wie auch wichtiger Anfang. Für uns als christlich-liberale Koalition ist klar: Wenn sich die finanzielle Unterstützung der ausgewählten PDPs bewährt, wollen wir den jetzigen Ansatz weiterentwickeln. Für eine neue Förderrunde nach 2015 darf es dann auch keine Denkverbote hinsichtlich der Einbeziehung von HIV/Aids und Tuberkulose geben . Mit unserem Antrag streben wir für die zweite Förderrunde, die nach meiner Meinung kommen muss, eine höhere Förderung an. Dafür werde ich mich einsetzen. Im Gegensatz zu allen Oppositionsparteien hier im Hause tragen wir als christlich-liberale Koalition eine große Verantwortung für den Bundeshaushalt. So sehr wir für die Bekämpfung vernachlässigter und armuts-assoziierter Krankheiten „brennen“, können wir dennoch keine Fantasiesummen fordern. Das sagen wir ehrlich. Aber wir sagen auch, dass auf das einmal Zugesagte auch Verlass sein muss. Das deutsche Engagement im Bereich vernachlässigte Krankheiten geht über PDP hinaus. Es reicht von der Grundlagenforschung an deutschen Universitäten über die deutsche Beteiligung an der europäisch-afrikanischen Initiative EDCTP, European and Developing Countries Clinical Trials Partnership, bis hin zur Verbesserung der medizinischen Versorgung vor Ort durch Maßnahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit. Unser Antrag zielt darauf, dieses Engagement der Bundesregierung zu verstetigen und das deutsche Engagement im Bereich der globalen Gesundheit auszubauen. Dabei kommt es darauf an, ein ausgewogenes Verhältnis von Grundlagenforschung zu der Unterstützung von produktorientierter Forschung sicherzustellen, wobei auch Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern zu forcieren sind. Wir wollen, dass Förderstrategien künftig so ausgerichtet sind, dass erfolgversprechende Produkte konsequent bis zur breiten Anwendung in der Krankenversorgung entwickelt werden; denn wir wollen, dass den Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern geholfen wird. Ihr Schicksal und ihre Chancen auf Entwicklung sind eng mit unserem eigenen Schicksal verbunden. Ich freue mich auf den politischen Diskurs über das Thema im Laufe des anstehenden parlamentarischen Beratungsverfahrens. Ich denke, in dem verfolgten Ziel haben wir eine breite Übereinstimmung. Diese brauchen wir auch, um das Thema zukünftig noch mehr voranzubringen. René Röspel (SPD): Rückblickend kann festgestellt werden, dass die sogenannten vernachlässigten Krankheiten – bzw. die Erforschung von Behandlungsmöglichkeiten derselben – nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Politik in der Vergangenheit nur wenig Beachtung gefunden haben. Umso erfreulicher ist es, dass sich nach vielen Jahren der Untätigkeit nun endlich die Politik des Themas angenommen und es im parlamentarischen Raum Berücksichtigung gefunden hat. Allerdings wäre es wünschenswert, wenn das Thema auch im Plenum seine angemessene Wertschätzung finden würde: Mit Bedauern ist festzustellen, dass nicht nur am heutigen Tag, sondern zum wiederholten Mal die Debatte zu diesem Thema nicht im Plenum geführt wird, sondern zu Protokoll geht. Es sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob eine echte parlamentarische Wertschätzung dieses Themas – und letztlich der Respekt für die Menschen, die von diesen Krankheiten betroffen sind – nicht einen angemesseneren Umgang im Plenumsbetrieb erfordert? Der vorliegende, von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag verweist auf die Potenziale von Produktpartnerschaften – sogenannte PDP – bei der Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten. Leider muss mit Bedauern festgestellt werden, dass sich der Antrag im Wesentlichen auf Tatsachenbeschreibungen bzw. die Wiedergabe der derzeitigen Situation beschränkt. Der Appell nach einer Ausweitung der Förderung bzw. einer künftigen Fortführung derselben wird leider nicht mit der Forderung nach der Bereitstellung von konkreten Haushaltsmitteln für dieses Vorhaben unterfüttert. Zwar wird ein Mittelaufwuchs in den „kommenden Jahren“ angestrebt. Allerdings wird weder der Zeithorizont noch die notwendige Höhe dieses Mittelaufwuchses spezifiziert. Dies ist enttäuschend, zumal man von einem Antrag der Legislative doch erwarten könnte, dass er an die Exekutive konkrete Forderungen stellt. Ebenfalls merkwürdig ist die Forderung, dass PDP im Bereich der „Diagnose oder Behandlung“ der vernachlässigten Krankheiten gefördert werden sollen. Ist dies nicht per se Sinn und Zweck dieses Förderprogramms? Aber nicht nur das: Der Antrag weist noch weitere Forderungen auf, deren Sinnhaftigkeit sich dem geneigten Leser nur schwer erschließt. So wird etwa unter Punkt 10 gefordert, dass „die nationale Förderung im Bereich der Grundlagenforschung, präklinischen Forschung und der klinischen Forschung fortzusetzen“ sei. Droht diesen Formen der Forschung in Deutschland ein Ende? Und wenn ja, dann sei an dieser Stelle die (diabolische) Frage erlaubt, was denn die Alternative zu diesen Formen der Forschung im Gesundheitsbereich sein soll. Nach meinem Kenntnisstand hat es die moderne Medizin und Gesundheitsforschung bisher nicht geschafft, auf einem anderen Wege Behandlungsmöglichkeiten für erkrankte Patienten bereitzustellen. Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass ein Teil des Forderungskatalogs nicht konsistent ist: So wird in Forderung Nr. 5 explizit darauf verwiesen, dass bei der Förderung von PDP ein „ausgewogenes Verhältnis von Grundlagenforschung“ und „produktorientierter Forschung“ anzustreben ist. Doch schon in Forderung Nr. 6 findet sich der Verweis, dass bei der Unterstützung von PDP die „bedarfsorientierte […] Entwicklung […] von Medikamenten im Vordergrund“ stehen soll. Da fragt sich selbst der wohlgesonnene Leser „Was denn nun?“. Ausgewogene Grundlagenforschung oder doch eine schnelle und output- bzw. bedarfsorientierte Anwendungsforschung? Wie eine leere Hülse wirkt der in Nr. 11 gestellte Appell, die „Wissensbasis für die Verbesserung der medizinischen Versorgung in den Schwellen- und Entwicklungsländern zu verbreitern“. Stellt sich nur die Frage, wessen Wissensbasis verbreitert werden soll. Die unsrige zu den Verhältnissen vor Ort, oder die in den Zielländern? Lobend sei an dieser Stelle der Tatendrang der Forderungen Nr. 12 und 13 erwähnt. Hier wird vollmundig zu Capacity-Building-Maßnahmen aufgerufen. Eine solche Forderung lässt sich stets leicht aufstellen. Wenn man es jedoch ernst meint, dann muss dafür auch zusätzliches Geld bereitgestellt werden. Es ist fraglich, wie nachhaltige und substanzielle Maßnahmen zur Steigerung der Forschungskapazitäten in den betroffenen Zielländern geschaffen werden sollen, wenn für das jährliche Gesamtbudget der PDP-Förderung nur 5 Millionen Euro veranschlagt sind. Zudem bleibt offen, wie viel von diesem Geld tatsächlich in den Zielländern ankommen soll. Weiterhin wäre es wünschenswert, wenn geplante Maßnahmen im Bereich des Capacity Building – deren Wichtigkeit hier nicht infrage gestellt wird – nicht auf Kosten des PDP-Forschungsbudgets gehen würden. Beides, gute Forschung und nachhaltige Strukturen in den betroffenen Zielländern, sind nur durch adäquate Finanzmittel erreichbar. Inhaltliche Qualität beruht auch in diesem Fall maßgeblich auf finanzieller Quantität. Der Appell, die klinische Forschung der „Großen Drei“, also HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose über die EDCTP-Initiative weiter voranzutreiben, ist redlich. Warum setzt man sich aber vonseiten der Regierung nicht auf europäischer Ebene dafür ein, dass künftig auch die klinische Forschung für andere vernachlässigte Krankheiten über dieses Finanzierungsinstrument gefördert wird? Es wäre doch wünschenswert, wenn die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten in den Entwicklungsländern nicht nur eine nationale, sondern auch eine europäische Aufgabe wird, zumal es auf europäischer Ebene bereits erfolgversprechende Finanzierungsinstrumente gibt. Unter Nr. 16 wird die Forderung nach einer künftigen Fortführung der PDP-Förderung von einer positiven Evaluation der ersten Förderrunde abhängig gemacht. Zwar ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass förderpolitisches Handeln sich einer kritischen Prüfung zu stellen hat. Allerdings sollte man doch erwarten können, dass diejenigen, die die Forderung nach einer „positiven Evaluation“ stellen, auch spezifizieren können, was überhaupt Gegenstand einer solchen Evaluation sein soll. Soll bei einem solchen Begutachtungsverfahren die Grundlagenforschung oder die anwendungsorientierte Entwicklung von Medikamenten im Fokus stehen? Oder etwa das Vergabeverfahren des BMBF selbst? In letzterem Fall wäre es zu begrüßen, wenn das Schicksal der PDP nicht von der Leistungsfähigkeit des Ministeriums und seinen Projektträgern abhängig gemacht wird. Denn dies wäre eine unsachgemäße Bewertung eines an sich positiven Ansatzes. In der Gesamtschau wird deutlich, dass der vorliegende Antrag einer grundlegenden Überarbeitung bedarf. Eine vernünftige und nachhaltige Förderpolitik für PDP braucht ein klares Bekenntnis der Politik, welches sich auch in der Bereitstellung adäquater Haushaltsmittel widerspiegelt. Wenn die Exekutive es nicht vermag, diese Mittel in angemessenem Maße bereitzustellen, dann muss es die Aufgabe des Parlamentes mit seiner Haushaltshoheit sein, dies mit Nachdruck einzufordern. Leider vermag der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen dies nicht. Deshalb werden wir nicht zustimmen. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Wir sprechen heute über zwei Anträge, bei denen ich viel Übereinstimmung erkenne. Das ist gerade bei diesem Thema außerordentlich erfreulich. Es gibt Übereinstimmung bei den Zielen: In beiden Anträgen geht es darum, die Millen-niumsentwicklungsziele im Auge zu behalten und sich ihnen -anzunähern. Es gibt Übereinstimmung in der -Beurteilung des Istzustandes: Beide Anträge konstatieren, dass die Krankheiten, um die es hier geht, durch -Armut verursacht werden und ihrerseits wiederum die Ursache für Armut sind. Die Krankheiten sind teilweise behandelbar und wären in vielen Fällen vermeidbar, wenn, ja wenn die Lebensumstände der betroffenen Menschen andere wären. Beide Anträge beleuchten auch das Problem der sogenannten Großen Drei, HIV/Aids, Malaria und -Tuberkulose, die von der Welt-gesundheitsorganisation nicht zu den 17 vernachlässigten Tropenkrankheiten -gezählt werden, die aber ohne Zweifel armutsassoziiert sind und gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern sehr oft tödlich verlaufen. Selbst bei den vorgeschlagenen Maßnahmen gibt es viel Übereinstimmung: Es gilt, Forschungs- und Versorgungslücken zu schließen, und dazu können Produktentwicklungspartnerschaften, PDP, beitragen. Ich freue mich sehr darüber, dass auch im Antrag der Opposition die Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften eine große Rolle spielt und dass dieses neue Instrument bei den Forderungen der Grünen gleich an erster Stelle platziert ist. Wir Koalitionsfraktionen stellen für den ersten Förderzeitraum 20 Millionen Euro für PDP zur Verfügung. Die Grünen fordern 100 Millionen Euro – aber dafür sind sie ja auch in der Opposition und müssen nicht sagen, woher das Geld kommen soll. Umso erfreulicher ist, finde ich, dass die Bundes-regierung sich bereits für drei Organisationen entschieden hat, die PDP organisieren und dafür Förderung -erhalten sollen, nämlich für die Drugs for Neglected -Diseases, DNDi – diese Organisation entwickelt Medikamente gegen die Afrikanische Schlafkrankheit, Vis-zerale Leishmaniose, die Chagas-Krankheit und gegen Wurmerkrankungen –, die Foundation for Innovative New Diagnostics, FIND – hier wird eine Diagnoseplattform für die vier parasitären Erkrankungen Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria entwickelt – und die European Vaccine Initiative, EVI – diese Initiative entwickelt einen Malariaimpfstoff für Schwangere. Wenn diese Ansätze erfolgreich sind, werden in absehbarer Zeit Medikamente und Impfstoffe für die Betroffenen nicht nur zur Verfügung stehen, sondern auch erreichbar und zugänglich sein. Das wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es natürlich auch ein paar Unterschiede zwischen dem Antrag der -Koalitionsfraktionen und dem Antrag der Grünen gibt. Das zeigt sich schon in den Überschriften. Bei den -Grünen geht es um die ganz großen Ziele, das Menschenrecht auf -Gesundheit und den weltweiten Zugang zu Medikamenten. Da kommt unser Anliegen sehr viel -bescheidener -daher: Wir fangen klein an und wollen -– nur – Forschung und Produktentwicklung für vernachlässigte und armuts-assoziierte Erkrankungen stärken. Damit haben wir aber bereits angefangen, und wir haben für verschiedene Maßnahmen die Mittel auch bereitgestellt. Es könnte sein, dass das für die betroffenen Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern ein nicht unerheb-licher Unterschied, ja sogar der entscheidende Vorteil ist. Es stimmt, dass die Armen dieser Welt nur über -geringe Kaufkraft verfügen und deshalb für die Pharmaindustrie keinen besonders interessanten Markt darstellen. Die Grünen meinen, da müssten Zwangsmaßnahmen ergriffen werden, die allerdings – das sehen sie durchaus realistisch – schwer durchsetzbar seien. Wir Liberalen sind da pragmatisch. Wir sind der Meinung: Wenn die Pharmaindustrie sich auf Medikamente konzentriert, mit denen sich Gewinne erzielen lassen, ist das nicht irgendwie verwerflich, sondern das ist marktwirtschaftlich erfolgreiches Handeln. Wenn wir Politiker erreichen wollen, dass auch vernachlässigte Krankheiten erforscht und Behandlungen ermöglicht werden, wo keine Gewinne zu erwarten sind, dann müssen wir Anreize schaffen. Das BMBF schafft solche Anreize, indem es die Entwicklung von Produkten zur Prävention, Diagnose und Behandlung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten fördert und unterstützt – mit bis zu 28 Millionen Euro in den Jahren 2011 bis 2014. Wenn Sie meinen, dass das viel zu wenig ist, haben Sie sicher recht. Aber wir haben leider nicht die Möglichkeit, alles zu finanzieren, was erforderlich und wünschenswert wäre. Dass die Bundesregierung in diesen Zeiten dennoch so viel Geld lockermacht, um kranken Menschen in armen Ländern zu helfen, verdient Anerkennung. Wir glauben nicht, dass Zwangsmaßnahmen zum -Erfolg führen. Die Politik ist für die politischen Ziele -zuständig. Und wenn die Bundesregierung ein Förderprogramm startet, um ihre politischen Ziele zu verfolgen und in diesem Fall die Bekämpfung von vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten zu unterstützen, dann finden wir das richtig und leisten als Abgeordnete unseren Beitrag dazu, dass die ergriffenen Maßnahmen zum Erfolg führen. Deshalb möchte ich bis in die Reihen der Grünen hinein dafür werben, den Antrag der Koali-tionsfraktionen zu unterstützen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Koalition hat gekreißt und einen Zwerg geboren. Den „Forschungszwerg Deutschland“ nämlich. So bezeichnet die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ unser Land nach einer Analyse der deutschen Forschungsförderung zu vernachlässigten und armutsbedingten Krankheiten. Die Bundesregierung hat sich in den vergangenen Jahren zaghaft diesem Thema genähert und eine erste Initiative etwa zur Förderung von Produktentwicklungspartnerschaften mit NGOs und Industrie gestartet. Lang hat es gedauert, und ohne den Druck von uns und den anderen Oppositionsfraktionen wäre wohl gar nichts passiert. Diese begonnenen Maßnahmen sollen nun, so der Koalitionsantrag, verstetigt werden. Das ist gut und unterstützenswert, reicht aber angesichts der Problemdimension längst nicht aus. Der Forschungsreport von „Ärzte ohne Grenzen“ kommt denn auch in seiner Analyse zu einem ernüchternden Ergebnis, ich zitiere: Die Steigerung der Mittel ist zunächst einmal durchaus erfreulich, jedoch belegt sie leider keinen Politikwechsel. Sie liegen lediglich im Rahmen der derzeitigen Wachstumsraten der Forschungsaus--gaben in Deutschland. Diese Einschätzung lässt sich an Beispielen verdeutlichen. Die neue Förderung für die Produktentwicklungspartnerschaften etwa haben wir Linke immer unterstützt. „Ärzte ohne Grenzen“ lobt sie ebenfalls, stellt die 22 Millionen Euro für vier Jahre bis 2014 aber auch ins Verhältnis zu den 70 Millionen Euro, die etwa die Niederlande für diesen Zeitraum zur Verfügung stellen. Für die Tuberkuloseforschung gab Deutschland 2009 inklusive der EU-Mittel etwa 15 Millionen Euro aus, die USA hingegen 181 Millionen, Großbritannien immer noch 33,2 Millionen. Der deutsche Beitrag zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten steht in keinem Verhältnis zu unserer Wirtschaftskraft. Selbst das Niedrigsteuerland USA wendet gemessen am Bruttoinlandsprodukt zehnmal mehr auf! Vom europäischen Ziel, bis 2015  0,7 Prozent des BIP zur Förderung der Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, ist unser Land weit entfernt. Auch bei den nichtmonetären Maßnahmen bleibt die Koalition hinter dem Notwendigen zurück. Zum Umgang mit Patenten und anderen Wissensgütern, die in der Forschung erarbeitet werden, finden wir keine Aussage im Koalitionsantrag. Meine Fraktion hat vorgeschlagen, internationale Patentpools zu unterstützen sowie eine -gerechte Lizenzpolitik zur verbindlichen Voraussetzung einer öffentlichen Förderung zu machen. Wir haben Sie aufgefordert, EU-Handelsabkommen wie etwa ACTA oder das EU-Indien-Abkommen nicht zu unterzeichnen, wenn der Zugang zu Medikamenten dadurch beeinträchtigt werden könnte. Leider steht diese Regierung weiter zu ACTA. Wir wollen ärmere Länder beim Aufbau einer eigenen Generikaproduktion unterstützen. Auch zu dieser Frage haben Sie leider keine Antwort gegeben. So sehr ich das Engagement einzelner Kolleginnen, etwa von Frau Hübinger, auch schätze: diese Koalition tut nicht genug, um ihren Anteil zur Bekämpfung vernachlässigter und armutsbedingter Krankheiten beizutragen. Wir werden Ihren Antrag nicht ablehnen, aber um vom Forschungszwerg zum Forschungsriesen zu werden, müssen Sie nicht nur Schwerpünktchen, sondern einen echten Schwerpunkt setzen. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Recht auf Gesundheit ist ein Menschenrecht. Dennoch haben etwa 1,7 Milliarden Menschen keinen Zugang zu essenziellen Medikamenten. Krankheiten haben ernstzunehmende sozioökonomische Auswirkungen und blockieren eine positive gesellschaftliche Transformation. Einerseits sind viele Krankheiten in Entwicklungs- und Schwellenländern -armutsbedingt, andererseits fördern Krankheiten Armut, die nicht nur die Erkrankten und deren Familien trifft, sondern gesamtgesellschaftliche negative Auswirkungen hat. Diese Erkenntnis ist zwar ziemlich banal – es hat aber in der Entwicklungspolitik sehr lange Zeit gebraucht, bis diese so erkannt und konkret verankert wurde. Erst im Jahr 2000 wurde das Gesundheitsproblem durch die -Millenniumsentwicklungsziele als eine zentrale Größe der Entwicklungszusammenarbeit definiert. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir auch wirklich das Mögliche in -unserem Wirkungskreis tun, um dem berechtigten Gesundheitsbedürfnis der Menschen in Entwicklungsländern gerecht zu werden. Bei der Versorgung mit medizinischen Produkten gibt es mehrere Problembereiche, die wir in unserem Verantwortungsbereich hier in Deutschland und Europa lösen müssen. Ich möchte an dieser Stelle vor allem zwei Aspekte herausgreifen. Um den Zugang zu den notwendigen Präventions-mitteln, Impfstoffen, Diagnostika und Medikamenten wesentlich zu verbessern, muss sowohl die Forschungs- als auch die Versorgungslücke weitgehend geschlossen werden. Das heißt, dass wir einerseits die Forschungsagenda an den Bedürfnissen der Menschen in Ländern des Südens ausrichten müssen und die öffentliche Forschungsförderung für vernachlässigte und armutsbedingte Krankheiten auf nationaler wie auf europäischer Ebene deutlich ausbauen und neue Forschungsförderungsmechanismen prüfen und implementieren müssen. Andererseits müssen wir die Versorgung der armen Bevölkerung mit bereits existierenden medizinischen Produkten ermöglichen. Der Gesundheitsbereich ist aber ein von Gewinnstreben dominierter Billionenmarkt. Hohe Medikamentenpreise schließen viele Menschen in Entwicklungsländern vom Zugang aus. Besonders im Umgang mit geistigem Eigentum brauchen wir ein -Umdenken und eine faire Lizenzpolitik. Die Hälfte der Gelder im Bereich der medizinischen Forschung kommt weltweit aus staatlichen Mitteln. Hieraus ergibt sich eine klare gesellschaftliche Verantwortung, die wir nicht -weiter ignorieren dürfen. Öffentlich finanzierte Forschungsförderung muss zukünftig mit sozialen Kriterien verknüpft werden, um im Sinne einer gerechten Lizenzpolitik auch Menschen in ärmeren Ländern erleichterten Zugang zu Medikamenten, Impfstoffen und anderen -medizinischen Produkten zu ermöglichen. Wir müssen auch endlich zu einer kohärenten Politik im Gesundheitsbereich kommen. Es ist aber völlig inkohärent, wenn wir einerseits versuchen, vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit das Menschenrecht auf Gesundheit zu verwirklichen, und gleichzeitig über bilaterale Freihandelsverträge alles getan wird, die Privilegien der Pharmaindustrie nicht nur zu erhalten, sondern sogar mit den sogenannten TRIPS-Plus-Bestimmungen auszuweiten. Diese gehen über die international vereinbarten Standards zu geistigem Eigentum hinaus und schränken gravierend die Schutzklauseln ein. Dies ist nicht nur inkohärent, sondern eine Missachtung des Menschenrechts auf Gesundheit. In unserem Antrag versuchen wir, gerade diese Punkte aufzuzeigen, und stellen entsprechende Forderungen. Der Antrag der Koalition enthält zwar viele gute Forderungen, die wir selbstverständlich auch unterstützen. Aber ein Problem gibt es mit Ihrem Antrag: Er ist nicht ganz glaubwürdig. Wenn Sie es aber ernst mit den 17 Forderungen meinten, dann würden Sie auch klar sagen, dass diese nicht umsonst zu erhalten sind. Ich sehe keine einzige konkrete finanzielle Forderung in Ihrem Papier. Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sind in der Entwicklungspolitik aber nun mal zentrale Elemente. Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Wir beraten heute zwei Anträge, die sich demselben Ziel widmen: dem Kampf gegen armutsassoziierte und vernachlässigte Erkrankungen. Ich freue mich besonders, dass beide -Anträge anerkennen, dass unsere Politik eine Basis geschaffen hat, auf der aufgebaut werden kann und die es weiterzuentwickeln gilt. Mit dem Förderkonzept für vernachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen und der Verankerung im Gesundheitsforschungsprogramm hat diese Bundesregierung zum ersten Mal Forschung für die Gesundheit der Ärmsten in der Welt zum Regierungsziel erhoben. Die Elemente des Forschungskonzepts sind erstens Stärkung der relevanten nationalen Forschung, zweitens ein substanzieller Beitrag zur Entwicklung dringend benötigter Diagnostika, Impfstoffe und Medikamente und drittens Unterstützung von qualitativ hochwertiger und wettbewerbsfähiger Gesundheitsforschung in den Entwicklungsländern selbst. Armutsassoziierte und vernachlässigte Erkrankungen – das sind zwei Kategorien, die immer im selben Atemzug genannt werden, aber doch Unterschiede aufweisen. -Armut schränkt den Zugang zu Gesundheitsleistungen dramatisch ein. Das gilt weltweit, nicht nur in Entwicklungsländern. Deshalb sind die „Großen Drei“ – HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria – immer noch tödliche Seuchen und bleiben große Herausforderungen, trotz ihrer relativen Behandelbarkeit und trotz beträchtlicher Forschungsmittel, die zu ihrer Bekämpfung aufgewandt werden. Dagegen sind Krankheiten wie viele Wurm--erkrankungen, Dengue-Fieber oder die Chagas-Krankheit tatsächlich vernachlässigt. Für ihre Behandlung fehlen häufig adäquate Behandlungsmöglichkeiten, und Forschung findet wegen mangelnder Relevanz für die entwickelten Länder nicht oder kaum statt. In unserem Förderkonzept differenzieren wir deshalb auch zwischen den „Großen Drei“ und den „vernachlässigten“ Krankheiten. Forschung zu den „Großen Drei“, vor allem zu HIV und TB, unterstützt die Bundesregierung seit langem. Mit dem geplanten Deutschen Zentrum für Infektionskrankheiten werden wir hier ein neues Kapitel aufschlagen. Das Zentrum wird voraussichtlich Ende des Monats seine letzte Evaluation durchlaufen haben. Es setzt seinen Schwerpunkt gerade in die Erforschung von HIV, TB und Malaria im Armutskontext. Wir vereinen hier die namhaftesten deutschen universitären und außeruniversitären Forschungsstandorte. So sorgen wir dafür, dass der Transfer von Forschungsergebnissen zum Nutzen für die Patienten beschleunigt wird. Partnerinstitutionen des Deutschen Zentrums für Infektionskrankheiten, zum Beispiel in Tansania, Burkina Faso oder Gabun, garantieren, dass auch die Entwicklungsländer unmittelbar an der Forschung partizipieren können. Der Kampf gegen HIV, TB und Malaria steht im Fokus eines weiteren wichtigen Elementes unseres Förderkonzepts. Das ist der deutsche Beitrag zur EDCTP, der European and Developing Countries Clinical Trials Partnership. EDCTP ist ein Erfolgsmodell für die klinische Forschung in und mit Entwicklungsländern. Vor allem ist es ein Erfolgsmodell für eine wirkliche partnerschaftliche Zusammenarbeit von Forschern aus armen mit Forschern aus reichen Ländern. Deutschland war maßgeblich an der Gründung von EDCTP im Jahre 2003 beteiligt. Unser stetes Bekenntnis zu EDCTP hat dieser wertvollen Initiative über die ersten schweren Jahre geholfen. Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass EDCTP im neuen europäischen Programm für Forschung und Innovation eine wichtige Rolle spielt. EDCTP II wird – so sieht es nach heutigem Planungsstand aus – mit deutlich mehr Geld die klinische Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen die „Großen Drei“ weiter vorantreiben. EDCTP II wird aber auch seine Erfahrung und seine Kapazitäten zukünftig dem Kampf gegen andere vernachlässigte Erkrankungen zur Verfügung stellen. Eine Ihrer Forderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, haben wir also bereits erfüllen können. Zum ersten Mal geht eine Bundesregierung auch den Kampf gegen die „echten“ vernachlässigten Erkrankungen, wie etwa Flussblindheit, Afrikanische Schlafkrankheit oder Leishmaniose, programmatisch und gezielt an. Wir haben hier die nationale Forschungsförderung erheblich intensiviert. Vor allem haben wir mit der ersten großvolumigen Unterstützung von Produktentwicklungspartnerschaften oder PDP klare Zeichen gesetzt. In einem qualitätsgesicherten Verfahren wurden zunächst 20 Millionen Euro für vier Jahre zur Verfügung gestellt. Wenn jetzt Forderungen erhoben werden, sofort erheblich mehr Mittel bereitzustellen, dann sage ich: Gemach! Erst einmal müssen wir Erfahrungen mit dieser für uns neuen Förderlinie sammeln. Dann werden wir entscheiden, wie viele zusätzliche Mittel für welche PDP investiert werden müssen. Wir beraten uns mit anderen wichtigen Förderern, wie der Bill & Melinda Gates Stiftung oder anderen Geberländern, im Rahmen der multilateralen PDP-Funders Group oder bilateral mit den Gebern, die eine ähnliche Förderpolitik wie wir verfolgen, wie zum Beispiel den Niederlanden. Eins aber ist jetzt schon sicher: Auch mit den von Bündnis 90/Die Grünen geforderten 100 Millionen Euro würden wir nicht großflächig alle Produktentwicklungspartnerschaften unterstützten können. Wir müssen gezielt dort ansetzen, wo wir mit unserer Unterstützung den größtmöglichen Nutzen erzielen können. Eine Vorfestlegung schon jetzt auf Krankheiten oder bestimmte Produkte hilft nicht weiter. Investitionen in Forschung in den Entwicklungsländern sind der Schlüssel für eine nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn wir dabei helfen, in den armen Ländern wettbewerbsfähige Forschungsstrukturen der Biomedizin aufzubauen, wenn wir weiter dabei helfen, Forschung besser in die Ausbildung von Ärzten und medizinischen Fachberufen zu integrieren, wenn wir uns dafür einsetzen, die Forschung direkt und schnell nutzbar für die Versorgung vor Ort zu machen, erst dann verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Genau dies werden wir mit der geplanten Förderung von sogenannten Gesundheitsforschungsnetzen in Subsahara-Afrika tun. Wir haben dieses neue Element unseres Förderkonzepts mit internationalen Stakeholdern beraten. Alle deutschen Förderorganisationen sind eingeladen, hier mitzumachen. In Kürze werden wir mit afrikanischen Organisationen und Institutionen die wichtigsten Bedürfnisse vor Ort herausarbeiten. Unsere Förderung wird 2013 beginnen. Wir planen, ab 2014 hierzu bis zu 10 Millionen Euro jährlich zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregierung hat in recht kurzer Zeit viel bewirkt. Forschung für armutsbedingte und vernachlässigte Erkrankungen ist – im Gegensatz zu früher – kein unbeschriebenes Blatt mehr in der deutschen Forschungspolitik. Wir können uns, auch international, mit dem sehen lassen, was wir bewirkt haben. Auf diesem Weg werden wir weitergehen, und zwar gemeinsam und auf Augenhöhe mit unseren Partnern in den betroffenen Ländern. Deutschland ist im Hinblick auf seine Gesundheitsversorgung eines der privilegiertesten Länder der Welt. Deshalb ist es uns Verpflichtung, einen substanziellen und nachhaltigen Beitrag für diejenigen zu leisten, für deren Krankheiten aufgrund von Armut bis heute oft weder Diagnostika noch Therapieverfahren zur Verfügung stehen. Forschung ist dafür der beste Weg. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für eine Strategie zur europäischen Integration der Länder des westlichen Balkans (Tagesordnungspunkt 16) Sevim Da?delen (DIE LINKE): Vor fast genau 13 Jahren haben Sie dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien ihre Zustimmung gegeben. Damals haben Sie Ihre Zustimmung zum Krieg sogar perfiderweise mit der Gefahr eines „neuen Auschwitz“ begründet. Das war unerträglich und widerlich. In Ihrem nun zur europäischen Integration der daraus hervorgegangenen Länder und Entitäten vorgelegten Antrag fordern Sie – nur von Serbien, wohlgemerkt – eine weitere „Auseinandersetzung mit dem Zerfall Jugoslawiens“. Vielleicht sollten Sie sich selbst einmal damit auseinandersetzen, was Sie mit Ihrer Zustimmung zum NATO-Bombardement auf Jugoslawien zu diesem „Zerfall“ beigetragen haben. Und vielleicht sollten Sie sich auch einmal damit auseinandersetzen, was Ihre Politik der Unterstützung von Rebellen- und Separatistenbewegungen je nach Interessenlage für Folgen hat. Sie von den Grünen, besonders Frau Beck, sehen keine deutsche Verantwortung, keine Schuld. Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der deutschen Anerkennungspolitik gegenüber Kroatien und Slowenien, dem NATO-Überfall auf Jugoslawien und der Herauslösung des Kosovo und den anschließenden Konflikten in Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, dem Georgien-Krieg 2008 und den Konflikten im Südkaukasus, die kurz vor der Explosion stehen. In Ihrem Antrag fordern Sie, meine Damen und Herren der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, auf dem Balkan noch genau eine Grenze zu ziehen. Dieser Grenzposten zwischen Serbien und dem Kosovo wird gerade alltäglich von deutschen Soldaten und Polizisten gegen den Widerstand der im Norden des Kosovo ansässigen Bevölkerung durchgesetzt. Es kommt Tränengas zum Einsatz, und manchmal wird scharf geschossen. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass diese Grenze völkerrechtswidrig auch von den Staaten der EU anerkannt wird, die aufgrund eigener sezessionistischer Bestrebungen wissen, was das bedeutet. Das ist eine im wahren Sinne des Wortes imperialistische Politik. Diese Art des Rechtsnihilismus in der internationalen Politik legt die Axt an die Wurzel des friedlichen Zusammenlebens weltweit. Das müssen Sie endlich einmal einsehen. Ich fordere Sie auf: Kehren Sie endlich um auf diesem Weg! Kehren Sie zurück zum Völkerrecht! Es ist beinahe traurig, dass nur noch die Linke im Bundestag als einzige Fraktion für eine völkerrechtskonforme Außenpolitik steht. Diese Politik der neuen Grenzziehungen setzt sich bei Ihnen gerade so in Afrika fort – und hat auch dort schreckliche Folgen. Sie erkennen keinen Zusammenhang zwischen der Zerschlagung Jugoslawiens und den zunehmend sezessionistischen Bestrebungen der SPLM/A im Sudan. Ihre Kollegin im EP, Franziska Brantner, ließ sich vor diesem Hintergrund zu der Aussage hinreißen, man solle doch einmal die alten Kolonialgrenzen in -Afrika „überdenken“. Sehen Sie denn nicht die Folgen dieser Politik? Afrika erlebt eine neue Welle gewaltsamer Sezessionsbestrebungen, in Somalia wurde ein neuer Staat Khatumo ausgerufen; infolge des Libyen-Krieges wollen Tuareg-Kämpfer das Azawad von Mali abtrennen. Die Rebellen in Libyen selbst, die Sie unterstützt und anerkannt haben wollten, haben vor wenigen Tagen die Unabhängigkeit der Cyrenaika erklärt, und gegenwärtig eskalieren auch wieder die Kämpfe zwischen der senegalesischen Armee und den Casamance-Rebellen. Die EU-Außenpolitik nutzt diese Instabilität, indem sie wahlweise mit Rebellen, Sezessionisten oder Diktatoren zusammenarbeitet, um möglichst billig an Rohstoffe heranzukommen. Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, laufen ihr dabei applaudierend und von Menschenrechten faselnd hinterher. Entsprechend stilisieren Sie in Ihrem Antrag auch die EU zur „historischen Errungenschaft“ und fordern deren weiteren Umbau nach den Prinzipien des Imperialismus: Die Beitrittsstaaten – allen voran wird immer Serbien genannt – sollen Kriterien erfüllen, die innerhalb der EU längst für obsolet erklärt worden sind. Sie fordern „erhebliche Anstrengungen“ zur „wirtschaftlichen Transformation“ und schweigen zu den gesellschaftlichen Zerwürfnissen, die diese neoliberalen Reformprogramme mit sich bringen. Selbst wenn die Staaten des westlichen Balkans eines Tages in die EU aufgenommen werden sollten, sollen sie nicht dieselben Rechte haben wie die alten, „zentralen“ Staaten der EU. Sie sollen weitere Beitritte nicht „blockieren“ dürfen. Die Linke lehnt eine solche Politik der doppelten Standards ab. In Wirklichkeit zielt Ihr Antrag darauf ab, diese militärisch herbeigebombten Kleinstaaten dauerhaft als vollwertige Mitglieder aus der EU herauszuhalten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verhinderung von „Un-gleichzeitigkeiten der Länder bei der Annäherung“, gemeinsame „Übergangsregelungen“, werden ein willkommenes Werkzeug sein, diese Staaten – auch bei Erfüllung aller Kriterien – in einer peripheren Partnerschaft außen vor zu lassen. Auch aus diesem Grund lehnt die Linke den vorgelegten Antrag ab. Eine friedliche und solidarische Außenpolitik ist in Deutschland möglich. Anlagen 1 Anlage 2 2 Anlage 3 3 Anlage 4 4Anlage 5 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19601 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 19732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 165. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 8. März 2012 19733