Plenarprotokoll 17/168 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 168. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung Absetzung der Tagesordnungspunkte 6 und 30 b Nachträgliche Ausschussüberweisung Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Kauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Gerda Hasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz (Drucksache 17/9030) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes (Drucksache 17/7376) Volker Kauder (CDU/CSU) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) Rainer Brüderle (FDP) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Daniel Bahr, Bundesminister BMG Dr. Carola Reimann (SPD) Jens Spahn (CDU/CSU) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wolfgang Zöller (CDU/CSU) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Gabriele Molitor (FDP) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) Mechthild Rawert (SPD) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) Michael Brand (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbraucherpolitik neu ausrichten – Verbraucherpolitische Strategie vorlegen (Drucksache 17/8922) Ulrich Kelber (SPD) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV Caren Lay (DIE LINKE) Dr. Erik Schweickert (FDP) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) Mechthild Heil (CDU/CSU) Elvira Drobinski-Weiß (SPD) Hans-Michael Goldmann (FDP) Karin Binder (DIE LINKE) Dr. Erik Schweickert (FDP) Hans-Michael Goldmann (FDP) Carola Stauche (CDU/CSU) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Erik Schweickert (FDP) Dr. Erik Schweickert (FDP) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Alois Gerig (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 30: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Übereinkommen vom 25. November 2011 über die Errichtung des Sekretariats der Partnerschaft für öffentliche Gesundheit und soziales Wohlergehen im Rahmen der Nördlichen Dimension (NDPHS) (Drucksache 17/8981) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern (Drucksache 17/8988) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes – Einbeziehung von Kindertagesbetreuungseinrichtungen in die Schrankenregelungen (Drucksache 17/4876) d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der „Versorgungsehe“ bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den Ruhestand (Drucksache 17/7027) e) Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kein Bau der dritten Start- und Landebahn am Flughafen München (Drucksache 17/8607) f) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Euratom-Vertrag an die Herausforderungen der Zukunft anpassen (Drucksache 17/8927) Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts (Drucksache 17/9029) b) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurücknehmen (Drucksache 17/9036) Tagesordnungspunkt 31: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 17. März 1992 zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen (Drucksachen 17/8725, 17/8925) b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Dezember 2010 über die -Errichtung des Funktionalen Luftraumblocks „Europe Central“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (FABEC-Vertrag) (Drucksachen 17/8726, 17/8957) c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Marktwirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft (Drucksachen 17/8585, 17/9055) d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie – zu der Verordnung der Bundesregierung: Dreiundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung – zu der Verordnung der Bundesregierung: Einhunderteinundsechzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – (Drucksachen 17/8539, 17/8833 Nr. 2.1, 17/8324, 17/8510 Nr. 2.1, 17/9056) e) – l) Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersichten 404, 405, 406, 407, 408, 409, 410 und 411 zu Petitionen (Drucksachen 17/8904, 17/8905, 17/8906, 17/8907, 17/8908, 17/8909, 17/8910, 17/8911) Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Tarifrunde 2012 – Höhere Löhne durchsetzen, jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive bieten Klaus Ernst (DIE LINKE) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) Ottmar Schreiner (SPD) Pascal Kober (FDP) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Doris Barnett (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Heike Brehmer (CDU/CSU) Ullrich Meßmer (SPD) Paul Lehrieder (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG) (Drucksache 17/8986) Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin BMG Hilde Mattheis (SPD) Dr. Erwin Lotter (FDP) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lothar Riebsamen (CDU/CSU) Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Praxisgebühr abschaffen (Drucksache 17/9031) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluierung der Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht (Drucksache 17/8722) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) Jens Spahn (CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD) Lars Lindemann (FDP) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stephan Stracke (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Ewa Klamt, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung (Drucksachen 17/6504, 17/9024) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär BMBF René Röspel (SPD) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ewa Klamt (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Priska Hinz (Herborn), Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren – Nachtragshaushalt nutzen (Drucksache 17/8919) Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF Dr. Bärbel Kofler (SPD) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Otto Fricke (FDP) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Roland Claus (DIE LINKE) Ernst Hinsken (CDU/CSU) Johannes Kahrs (SPD) Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses – zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Internet-Telefonie in Afghanistan (Drucksachen 17/8895, 17/8795, 17/5908, 17/9057) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) Lars Klingbeil (SPD) Christoph Schnurr (FDP) Harald Koch (DIE LINKE) Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jürgen Hardt (CDU/CSU) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Weltwärts – Ein Freiwilligendienst mit Zukunft (Drucksache 17/8769) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Joachim Günther (Plauen), Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weltwärts wird Gemeinschaftswerk (Drucksache 17/9027) Dr. Bärbel Kofler (SPD) Klaus Riegert (CDU/CSU) Heike Hänsel (DIE LINKE) Helga Daub (FDP) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zusatztagesordnungspunkt 7: Vereinbarte Debatte: Hinrichtung der mutmaßlichen Metro-Attentäter von Minsk in Belarus Marina Schuster (FDP) Uta Zapf (SPD) Ronald Pofalla (CDU/CSU) Stefan Liebich (DIE LINKE) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Investitionen in -Antipersonenminen und Streumunition gesetzlich verbieten und die steuerliche För-derung beenden (Drucksachen 17/7339, 17/8016) Christoph Schnurr (FDP) Uta Zapf (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Inge Höger (DIE LINKE) Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Thomas Silberhorn (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare (Drucksache 17/1469) b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 98 a) (Drucksache 17/1468) Mechthild Dyckmans (FDP) Burkhard Lischka (SPD) Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) Jens Petermann (DIE LINKE) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Sevim Da?delen, Stefan Liebich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen und wiedergutmachen (Drucksachen 17/8767, 17/8971) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden (Drucksache 17/9033(neu)) Marina Schuster (FDP) Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) Niema Movassat (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Michael Kauch (FDP) Stefan Liebich (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters (Nationales-Waffenregister-Gesetz – NWRG) (Drucksache 17/8987) Günter Lach (CDU/CSU) Gabriele Fograscher (SPD) Serkan Tören (FDP) Frank Tempel (DIE LINKE) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen (Drucksache 17/8796) Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ehrlicher Dialog über europäische Grundwerte und Grundrechte in Ungarn (Drucksache 17/9032) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ungarische Mediengesetz – Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen (Drucksachen 17/4429, 17/8710) Michael Roth (Heringen) (SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stefan Liebich (DIE LINKE) Jens Ackermann (FDP) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karl Holmeier (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Presse-Grosso gesetzlich verankern (Drucksache 17/8923) Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Streichung des Begriffes „Rasse“ aus der deutschen Rechtsordnung und internationalen Dokumenten (Drucksache 17/4036) Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) Gabriele Fograscher (SPD) Christoph Strässer (SPD) Stephan Thomae (FDP) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheitlichen Nutzen von Medizinprodukten besser gewährleisten (Drucksache 17/8920) Dietrich Monstadt (CDU/CSU) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Jens Ackermann (FDP) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reisen für Kinder und Jugendliche ermöglichen – Förderung sicherstellen und „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterentwickeln (Drucksache 17/8924) Marlene Mortler (CDU/CSU) Ingbert Liebing (CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Helga Daub (FDP) Jörn Wunderlich (DIE LINKE) Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 21: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs (Drucksache 17/8921) b) Antrag der Abgeordneten Sevim Da?delen, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Europarecht beim Ehegattennachzug umsetzen (Drucksache 17/8610) Reinhard Grindel (CDU/CSU) Rüdiger Veit (SPD) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) Sevim Da?delen (DIE LINKE) Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Novelle des Bundesberggesetzes und anderer Vorschriften zur bergbaulichen Vorhabengenehmigung (Drucksache 17/9034) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) Rolf Hempelmann (SPD) Klaus Breil (FDP) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine engere Kooperation mit Georgien (Drucksache 17/8778) Manfred Grund (CDU/CSU) Florian Hahn (CDU/CSU) Franz Thönnes (SPD) Birgit Homburger (FDP) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding -(Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit – Behindertenrechtskonvention umsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv gestalten (Drucksache 17/8926) Klaus Riegert (CDU/CSU) Karin Roth (Esslingen) (SPD) Helga Daub (FDP) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung – Keine -finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts ITER (Drucksachen 17/3483, 17/9025) Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) René Röspel (SPD) Klaus Hagemann (SPD) Dr. Peter Röhlinger (FDP) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung des Antrags: Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1 : 1 an Kommunen weiterreichen (162. Sitzung, Tagesordnungspunkt 21) Pascal Kober (FDP) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes (Tagesordnungspunkt 3 a und b) Norbert Geis (CDU/CSU) Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Jelpke, Karin Binder, Heidrun Dittrich, Heike Hänsel, Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Dorothée Menzner, Niema Movassat, Richard Pitterle, Raju Sharma, Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Kathrin Vogler, Johanna Voß und Halina Wawzyniak (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: – Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – Internet-Telefonie in Afghanistan (Tagesordnungspunkt 9) Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 98 a) (Tagesordnungspunkt 11 a und b) Christoph Strässer (SPD) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen (Tagesordnungspunkt 15) Norbert Geis (CDU/CSU) Burkhard Lischka (SPD) Sebastian Edathy (SPD) Jörg van Essen (FDP) Halina Wawzyniak (DIE LINKE) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrag: Presse-Grosso gesetzlich verankern (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) Martin Dörmann (SPD) Ulla Lötzer (DIE LINKE) Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Inhaltsverzeichnis 168. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich sicher auch in Ihrem Namen den Handwerkern und den Technikern meine Bewunderung und Anerkennung zum Ausdruck bringen, (Beifall) die innerhalb weniger Tage den Plenarsaal gleich zweimal umgebaut haben. Ich habe noch einige technische Hinweise für die Gestaltung unserer Tagesordnung. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur Verwendung der Überschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung (siehe 167. Sitzung) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 30 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts – Drucksache 17/9029 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen zurücknehmen – Drucksache 17/9036 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Tarifrunde 2012 – Höhere Löhne durchsetzen, jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive bieten ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr abschaffen – Drucksache 17/9031 – ZP 5 Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluierung der Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht – Drucksache 17/8722 – ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Joachim Günther (Plauen), Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Weltwärts wird Gemeinschaftswerk – Drucksache 17/9027 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 7 Vereinbarte Debatte Hinrichtung der mutmaßlichen Metro-Attentäter von Minsk in Belarus ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden – Drucksache 17/9033(neu) – ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kleingruppenhaltung für Legehennen endgültig beenden – Drucksache 17/9028 – ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verordnung zur Kleingruppenhaltung unverzüglich in Kraft setzen – Drucksache 17/9035 – Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 6 und 30 g werden abgesetzt. Darüber hinaus gibt es zwei Änderungen im -Ablauf: Der Tagesordnungspunkt 11 wird nach Tagesordnungspunkt 12 und der Tagesordnungspunkt 13 wird nach dem Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen. Schließlich mache ich noch aufmerksam auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste: Der am 16. Dezember 2010 in der 81. Sitzung überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten – Drucksache 17/4190 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich darf Sie fragen, ob Sie damit einverstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Kauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Gerda Hasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz – Drucksache 17/9030 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Drucksache 17/7376 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Debatte folgende Struktur vorgesehen: Zunächst soll in einer ersten Runde aus jeder Fraktion einer der Initianten dieses Gesetzentwurfes eine Redezeit von 10 Minuten erhalten. Für die weitere Aussprache sind dann insgesamt 75 Minuten vorgesehen, die nach der üblichen Redezeitvereinbarung auf die Fraktionen aufgeteilt werden. Da eine große Anzahl an Redewünschen einer nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für die Aussprache gegenübersteht – was ja schon einmal vorkommt –, haben sich die Parlamentarischen Geschäftsführer darauf verständigt, dass die Reden derjenigen Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Sind Sie auch mit dieser Verfahrensvereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Volker Kauder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wir bringen heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag ein, der von einer großen Zahl von Kolleginnen und Kollegen direkt aus diesem Haus heraus formuliert wurde und heute der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf soll eine breite Mehrheit in diesem Deutschen Bundestag erhalten. Deswegen haben wir von der Koalition von Anfang an darauf verzichtet, nur einen Koalitionsgesetzentwurf einzubringen. Vielmehr haben wir uns in diesem Hause auf breiter Basis verständigt. Es geht darum, mit einem höchst sensiblen Thema so umzugehen, dass bei den Menschen die richtige Botschaft auch ankommt. Es geht um die Frage: Unter welchen Voraussetzungen können wir Regelungen schaffen, um in der Transplanta-tionsmedizin zu einem größeren Erfolg zu kommen? Von 1963 bis 2010 wurden in Deutschland etwa 103 000 Organe transplantiert. Wenn man sich die Zahlen anschaut, was so durchschnittlich im Jahr an Transplantationen erfolgt, ist man auf der einen Seite angenehm überrascht, dass es so viele sind, und doch auch wieder enttäuscht, dass es nur so viele sind. Etwa 1 300 bis 1 400 Transplantationen finden jährlich in Deutschland statt. Es warten aber etwa 12 000 Menschen auf ein Organ, darauf, dass sie – bei Nierenproblematik – von der Dialyse wegkommen können oder dass sie wieder eine Perspektive haben, die ihnen das Leben erleichtert. Wenn man die Diskussionen in den letzten Tagen verfolgte, hatte man manchmal den Eindruck, dass wegen der Forderungen, dass mehr Transplantationen stattfinden könnten und mehr Organe zur Verfügung stehen sollten, quasi ein Rechtsanspruch auf eine Transplantation besteht. Genau dies ist nicht der Fall. Wir haben in diesem Gesetzentwurf größten Wert darauf gelegt, dass niemand gezwungen werden kann. Es ist eine höchstpersönliche Entscheidung, ob jemand sein Organ zur Verfügung stellen will oder nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich heute von dem einen oder anderen, der sich auf diesem Gebiet – auch als Ethiker – betätigt, die Forderung lese, da müsse mehr gemacht werden, es müsse mehr Druck dahinter kommen, kann ich nur sagen: Das ist die völlig falsche Richtung. Wir wollen nicht mehr Druck, sondern wir wollen mehr dafür werben, dass Menschen freiwillig und aus Überzeugung ihr Organ spenden. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Das hat dazu geführt – fast ein Jahr diskutieren wir über dieses Thema –, dass wir von der Zustimmungslösung, die wir jetzt haben, zu einer Entscheidungslösung gekommen sind, allerdings zu einer, die auch beinhalten kann, sich nicht zu entscheiden, sondern offenzulassen, Ja, Nein oder auch gar nichts zu sagen. Da wird mancher einwenden: Was soll sich denn dann eigentlich an der jetzigen Situation verbessern? Ganz entscheidend ist, dass wir in dem Gesetzentwurf die Krankenversicherungen – und zwar die gesetzlichen und die privaten – dazu verpflichten, all ihre Mitglieder alle zwei Jahre anzuschreiben, zu informieren und dafür zu werben, Organspender zu werden. Frank Steinmeier und ich, die wir die Diskussion begonnen haben, haben uns natürlich vorgestellt, dass wir bei der Frage „Wie soll es dokumentiert werden, wie soll nachgewiesen werden, dass ich Organspender bin?“ einen Schritt weiterkommen würden, als wir jetzt im Gesetzentwurf sind. Wir haben uns vorgestellt, dass man die Zusage, Organspender zu sein, auf der Gesundheitskarte eintragen lassen kann, mussten dann aber feststellen, dass die technischen Voraussetzungen noch nicht so weit sind, dass wir das schon jetzt machen könnten, weil ein Extrafeld auf der Karte ausgewiesen werden muss. Es mag nun den einen oder anderen enttäuschen, dass wir noch nicht so weit sind. Andererseits sage ich: Wenn wir nicht jetzt mit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzung schaffen würden, würden wir auch in zwei Jahren, wenn es so weit sein könnte, nicht so weit sein, wie wir jetzt sind. Bis zu diesem Zeitpunkt, an dem die Gesundheitskarte auch für die Organspende zur Verfügung steht, werden wir das bisherige System mit dem alten Organspenderausweis weiter beibehalten. Ich glaube, das Entscheidende ist aber, dass wir die Menschen durch direkte Ansprache bewegen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Natürlich sind auch viele Fragen, Sorgen und Ängste mit der Organspende verbunden. Wir hören oft genug, dass die Menschen sagen: Muss ich früher sterben, wenn ich Organspender bin? Wird dann bei mir noch die Medizin wie bei den anderen angewandt, die sich nicht bereit erklärt haben? Genau darüber muss viel besser aufgeklärt und informiert werden. Wir haben uns für die Lösung entschieden, die freiwillige Entscheidung durch Information herbeizuführen. Wir haben uns gegen eine Widerspruchslösung entschieden. Es wird immer darauf verwiesen, dass die Zahl der Spenderorgane in den Ländern, in denen es die Widerspruchslösung gibt, beispielsweise in Österreich und Spanien, höher sei als bei uns. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass in den Ländern, in denen es die Widerspruchslösung gibt, die Angehörigen in fast allen Fällen, in denen es keine klare Aussage des Betroffenen gibt, gefragt werden. Deswegen ist dies nur scheinbar eine bessere Lösung. Wir, die wir diesen Gesetzentwurf vorlegen, sagen: Eine Widerspruchslösung entspricht nicht unserer Rechtsauffassung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]) Wir wollen nicht, dass der Staat sagt: Jeder Mensch ist zunächst einmal Organspender, und wenn er das nicht sein will, dann muss er widersprechen. Wir wollen nicht, dass die Menschen in einer solchen Frage einer staatlichen Entscheidung widersprechen müssen. Wir wollen eine positive Zustimmung erhalten. Deswegen plädieren wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, für die Entscheidungslösung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich finde es bemerkenswert, dass der Gesetzentwurf jetzt, auch wenn es lange gedauert hat, im Deutschen Bundestag eine so breite Unterstützung findet. In der Anhörung wird sicher noch die eine oder andere Frage vertieft behandelt werden müssen, beispielsweise die Frage, wie das in der Praxis, in unseren Kliniken ablaufen soll. Es ist zu fragen, ob in dem einen oder anderen Fall nicht doch ein bisschen mehr Spielraum eingeräumt werden muss. Aber schon heute können wir die positive Botschaft aussenden: Wir werben bei den Menschen intensiv dafür, sich als Organspender zur Verfügung zu stellen. In einer Bürgergesellschaft ist es doch für jeden, auch für jeden von uns, etwas Wunderbares, wenn er durch eine Fußgängerzone gehen und sagen kann: Eine ganze Reihe dieser Menschen ist bereit, mir zu helfen, wenn ich wirklich Hilfe brauche. Dass wir die Abläufe in unseren Kliniken verbessern müssen, zeigt sich im zweiten Gesetzentwurf, der vom Bundesgesundheitsminister vorbereitet und von der Bundesregierung eingebracht wurde, wofür wir dankbar sind. Wir wissen, dass der Erfolg nur durch ein gutes Zusammenwirken von Transplantationsgesetz, Aufforderung, Werben für die Organspende und verbesserten Abläufen in unseren Kliniken sichergestellt werden kann. All das gehört zusammen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Die Abläufe sollen durch die Einrichtung von Transplantationsbeauftragten in unseren Krankenhäusern verbessert werden. Dadurch wird deutlich, dass die Frage der Transplantation eine Aufgabe aller Ärzte in einem Krankenhaus ist. Aufgrund des neuen Gesetzes wird es nicht – vor dieser Hoffnung muss man warnen – von einem Tag auf den anderen zu einem sprunghaften Anstieg der Organspendebereitschaft kommen. Ich glaube aber, dass wir mittelfristig eine verbesserte Situation schaffen können. Dazu dient dieser Gesetzentwurf. Gleich in § 1 des Transplantationsgesetzes wird formuliert: Wir wollen, dass die -Bereitschaft der Menschen zur Organspende in Deutschland gefördert wird. Diesbezüglich befinden wir uns – das wird am heutigen Tag deutlich – auf einem guten Weg. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Frank-Walter Steinmeier. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine noch relativ junge Frau schrieb: Warum mache ich das durch? Diese Frage stellte sich mir häufig, während der Krankenhausaufenthalte und der Wartezeit auf meine neue Lunge. Warum mache ich das durch? Natürlich aus Liebe zu meiner Familie und zu meinen Freunden, mit denen ich zusammenbleiben möchte, aber auch, weil das Leben einfach spannend und toll ist! Dies sagte Claudia Kotter – sie ist manchen von Ihnen möglicherweise bekannt –, die junge, tatkräftige, lebenslustige, allerdings auch schwerkranke Initiatorin der -Organspendeinitiative „Junge Helden“. Das Leben ist spannend und toll. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Das war eine Art Lebensmotto für sie. Daraus hat sie Kraft geschöpft, nicht nur für sich selbst, sondern auch für -andere. Im letzten Juni ist sie verstorben. Sechs Tage vor -ihrem Tod hat sie noch hier im Deutschen Bundestag in einer Anhörung zum Thema Organspende ganz eindringlich und eindrucksvoll für Verbesserungen geworben. Ich will sagen: Es ist auch ihr Verdienst und das Verdienst ganz vieler solcher Initiativen, dass wir jetzt in der Lage sind, Verbesserungen in die Tat umzusetzen. Deshalb gehört der Dank auch ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich möchte auch Ihnen hier im Hohen Hause danken für unsere gute und, wie ich finde, am Ende erfolgreiche Zusammenarbeit, für die Bereitschaft aller, sich über Parteigrenzen hinweg zusammenzufinden und gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen. Ich glaube, -Gegenstand zum Streit bleibt für uns genügend; daran wird kein Mangel herrschen, nicht heute und auch nicht in Zukunft. Aber heute können wir miteinander zeigen, dass Politik Verantwortung für Menschen, die dringend der Hilfe bedürfen, ernst nimmt. Deshalb ist das heute ein wichtiges Zeichen für uns alle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der eine oder andere – Kollege Kauder hat das eben angedeutet – sagt durchaus zu Recht: Organspende ist nun wirklich nicht das einzige Problem der Gesundheitspolitik, es ist nicht einmal das Kernproblem der Gesundheitspolitik. Im Prinzip hat derjenige, der das sagt, durchaus recht. Trotzdem – auch das ist heute zu sagen –: Es geht um mehr als nur Einzelschicksale. Es geht um mehr als die 1 000 Menschen, die jährlich sterben, aber leben könnten, wenn genügend Organe zur Verfügung stünden. Es geht auch um mehr als die 12 000 Menschen, die auf der Warteliste stehen, die auf den rettenden Anruf warten, dass endlich ein passendes Organ gefunden ist. Es geht auch um mehr als die Tausende von Menschen, die nicht einmal mehr auf eine Warteliste kommen, weil es für sie völlig aussichtslos ist, mit einem Organ versorgt zu werden. Es geht auch nicht nur um die Angehörigen, die vielleicht in dem verzweifeltsten Moment, wenn -einer ihrer nahen Angehörigen gestorben ist, auch noch über dessen Haltung zur Organspende rätseln müssen. Um all das geht es natürlich, all das wäre sicherlich Grund genug für unsere Initiative heute Morgen, aber in Wahrheit geht es um noch mehr. Es geht um Verantwortung. Es geht um die Verantwortung, die wir für Menschen übernehmen, die unserer Hilfe bedürfen. Aus dieser Verantwortung – da hat Kollege Kauder recht – entsteht noch keine Pflicht zur Spendebereitschaft, aber ich finde, aus dieser Verantwortung entsteht die Erwartung an uns alle, dass wir uns entscheiden. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Organspende ist eine Frage der Mitmenschlichkeit, und Politik hat diese Mitmenschlichkeit möglich zu -machen, das heißt, Hürden da abzubauen, wo sie noch bestehen, und zu ermutigen, wo manche der Ermutigung bedürfen. Ich bin sicher: Heute wird der eine oder andere am Fernseher zuschauen oder oben auf der Tribüne sitzen, der selbst zu den Betroffenen gehört. Einige werden ihr Leben zurückgewonnen haben dank einer Entscheidung von Spendern, die sich noch vor ihrem Tod für eine Organspende nach ihrem Tod entschieden haben, oder dank des Mutes von Angehörigen, die sich für das Leben von Fremden entschieden haben, weil sie für das Leben des Ehemannes, der Ehefrau oder der Kinder nichts mehr tun konnten. Das ist Mitmenschlichkeit. Ich glaube, diese verdient an diesem Tage unseren großen Respekt. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wissen aus Umfragen, dass es in Deutschland noch viel mehr Bereitschaft gibt, diese Mitmenschlichkeit, zur Organspende bereit zu sein, zu zeigen. Mit den Gesetzentwürfen, die wir heute ins parlamentarische Verfahren einbringen, wollen wir es den Menschen in Zukunft leichter machen, tatsächlich eine Entscheidung zu treffen. Wir wollen nicht jeden automatisch zum -Organspender machen. Aber wir möchten, dass sich -jeder einmal in seinem Leben entscheidet: für oder -gegen die Bereitschaft zur Organspende. Ich möchte noch einmal Claudia Kotter zitieren, die etwas provokant geschrieben hat: Nicht der Mensch, der nicht spenden will, ist ein schlechter Mensch, sondern der, der sich keine Gedanken macht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Ich kann das alles individuell verstehen, meine -Damen und Herren. Nicht jeder beschäftigt sich gerne mit der Endlichkeit des Daseins, mit dem eigenen Tod. Das sind Fragen, die man gerne verschiebt. Deshalb wandert der Organspendeausweis, den man zufällig einmal bei einer Behörde oder bei der Krankenkasse mitnimmt, zunächst einmal auf den Stapel noch nicht erledigter Papiere. Dann wandert er ein Stückchen weiter hinunter, bis er ganz unten liegt. Am Ende wird er -unausgefüllt entsorgt. Weil das so ist und weil das ein höchst menschliches Verhalten ist, finden wir: Mit diesem Gesetzentwurf ist es an der Zeit, dass wir informieren – ja –, dass wir aufklären – ja –, dass wir aber auch nachhaken und bitten, eine Entscheidung zu treffen. Mindestens das ist notwendig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen, dass die Entscheidung dokumentiert wird. Solange das auf der elektronischen Gesundheitskarte noch nicht möglich ist, bleibt es bei der Praxis mit dem Organspendeausweis, den Sie kennen. Manche -haben uns in dieser Diskussion geraten, es nicht dabei zu belassen: nicht nur zu informieren, aufzuklären, zu werben und um eine Entscheidung zu bitten, sondern auch Anreize zu setzen, etwa darüber nachzudenken, ob wir Spendern Bonuszahlungen leisten sollten, ob wir sogar eine Senkung des Krankenkassenbeitragssatzes in -Betracht ziehen sollten oder ob es bevorrechtigte -Ansprüche für Spender geben sollte, wenn sie selbst krank werden und ein Organ brauchen. Meine Damen und Herren, für solches Nachdenken mag es gute Gründe geben. Wir haben uns in Gesprächen zwischen den Parteien nach dem Nachdenken und nach den Diskussionen gegen solche Anreize entschieden; denn die Organspende soll eine Spende bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen die Verantwortung füreinander stärken. Aber wir wollen nicht die Kommerzialisierung des eigenen Körpers, nicht durch Geldleistungen und nicht durch privilegierten Zugang zu Gesundheitsleistungen. Organspende bleibt freiwillig. Sie ist und bleibt auch nach diesem Gesetz im Kern eine altruistische Entscheidung. Das ist so gewollt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nicht weniger wichtig als Information, Aufklärung, nachdrückliches Werben und die Befragung sind in der Tat die organisatorischen Verbesserungen, die heute mit auf den Weg gebracht werden; sie sind genauso wichtig. Klare Verantwortlichkeiten in den Kliniken, die verpflichtende Bestellung von Transplantationsbeauftragten, die Pflicht der Entnahmekrankenhäuser zu aktiver Mitwirkung, all das ist dringend notwendig und muss jetzt mit auf den Weg gebracht werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bin froh, dass es in letzter Minute sogar noch eine Verständigung über die Verbesserung der Situation der Lebendspender gegeben hat. Es gibt nämlich unterschiedliche Praktiken der Krankenkassen und der -Arbeitgeber, was die Übernahme der Kosten für eine -Lebendspende, die Lohnfortzahlung und ähnliche Dinge angeht. Hier gibt es jetzt Einigkeit. Wir sind uns auch -einig, dass eine entsprechende Regelung im Laufe des Verfahrens in den Gesetzentwurf eingefügt wird. Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass wir nach einjähriger Debatte an diesem Punkt angekommen sind. Wir alle wissen um die Wirkung von Gesetzgebung. Wir hoffen und gehen davon aus, dass dieses Gesetz einen Beitrag dazu leisten wird, die Zahl der Organspender zu erhöhen. Das alles wird aber nicht ausreichen, wenn es uns nicht gelingt, eine offene und ehrliche öffentliche -Debatte zu führen und auch in Schulen dafür zu werben, dass dies ein Thema wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Rainer Brüderle erhält nun das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für 12 000 Menschen, die hoffen und bangen, dass sie ein Spenderorgan bekommen. Wenn man Gelegenheit hatte, mit Betroffenen zu sprechen, dann spürt man, welche Dramatik, ja Tragik damit verbunden ist. Der fraktionsübergreifende Gesetzentwurf zeigt, dass das Parlament die Fähigkeit hat, bei ethischen Fragen und bei Fragen der Existenz und des Miteinanders auch außerhalb des politischen Wettbewerbs, der zur Demokratie und zum Parlament gehört, solche Regelungen auf den Weg zu bringen. Das ist eine gute Übung des Parlaments und zeigt, dass wir auch die Fähigkeit zur -Gemeinsamkeit haben. Hier dominiert der Grundkonsens aller politischen Kräfte des deutschen Parlaments. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte mich bei Jens Spahn, Dr. Carola Reimann, Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Martina Bunge und, für meine Fraktion, Gabriele Molitor bedanken. Diese Kolleginnen und Kollegen haben konstruktiv und sachlich gemeinsam eine Lösung im Kern erarbeitet. Das ist vorbildlich und der Sache angemessen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Bundesgesundheitsministerium hat das Parlament bei der Formulierung tatkräftig unterstützt. Ich danke Bundesminister Daniel Bahr, der den Gesetzentwurf von Anfang an forciert und begleitet hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Daniel Bahr stellt sich damit in die gute Tradition von Regierungsmitgliedern, die die Ethik des medizinischen Fortschritts und die Ethik des Heilens immer wieder aufs Neue in Einklang bringen müssen. Als 1997 das Transplantationsgesetz verabschiedet wurde, hat Horst Seehofer, damals als Gesundheits-minister, sinngemäß gesagt, dass die Politik nicht entscheiden könne, wann ein Mensch tot ist. Wir können nur verantwortbare Kriterien suchen. – Der damalige Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig hat seinerzeit da-rauf hingewiesen, dass „ein Mensch noch im Sterben oder … am Rande des Todes einem anderen Menschen das Leben retten“ kann. Damit ist das Spannungsfeld für unsere politische Entscheidung, wie ich finde, treffend beschrieben. Das Thema Organspende rührt an der Urangst der Menschen vor dem Tod. Diese Angst wird gerne verdrängt; das ist menschlich und zu verstehen. Alle hier im Hause und am Bildschirm verstehen aber auch die Situation von Menschen, die sehnsüchtig auf ein Spender-organ warten. Bei ihnen ist die Sorge um das Leben sehr real und unmittelbar greifbar. Wer eine neue Niere oder ein neues Herz braucht, der verdient die Unterstützung der Gesellschaft. Selbstbestimmung, Freiheit und Würde des Einzelnen sind hohe Güter. Sie müssen respektiert werden und werden respektiert. Deshalb sollte es keinen staatlich verordneten Entscheidungszwang zur Organspende geben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für die Mitglieder unserer Fraktion war von Anfang an klar, dass es eine solche persönliche Entscheidung nur auf freiwilliger Basis geben kann. Eine Pflicht zur Beschäftigung mit dem Thema, eine Pflicht, dass man sich mit dem Thema auseinandersetzt, können wir aber schon verlangen, wobei es völlig legitim ist, dass Bürger auch keine Entscheidung treffen. Das gehört zur Selbstbestimmung. Es ist aber auch legitim für die Gesellschaft, nach einigen Jahren immer wieder nachzufragen und das Thema in Erinnerung zu bringen. So ist das Modell, das wir heute hier als Grundlage haben, angelegt. Jeder sollte sich mit dieser Frage intensiv auseinandersetzen. Das wird häufiger und eindringlicher als bisher geschehen. Neben den Krankenkassen werden auch Behörden verstärkt über die Organspende informieren. Wer einen neuen Pass bekommt, erhält gleichzeitig eine Information zur Organspende. Das ist ein Ansatz, der schon 1997 – damals auch von SchmidtJortzig – mit in die Debatte eingeführt wurde. Es ist eine sanfte Aufforderung, über dieses Thema nachzudenken und etwas zu tun. Es geht um Bürgerpflicht, nicht um Bürgerzwang. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist der Leitgedanke dieses Gesetzentwurfs. Ein weiteres sensibles Thema, das damit in Verbindung steht, ist der Datenschutz, Stichwort: elektronische Gesundheitskarte. Zur Selbstbestimmung gehört zwingend die Verfügbarkeit über persönliche Daten. Der mögliche Umgang der Krankenkasse mit sensiblen Daten, das sogenannte Schreibrecht, ist heikel. Es muss meines Erachtens ebenfalls klar sein: Die Speicherung der Daten darf nicht zum Ausgangspunkt für ein Organspenderregister werden. Ich denke, auch hier haben wir einen gangbaren Weg gefunden. Die Versicherten müssen persönlich zustimmen, bevor ein Sachbearbeiter sensible Daten auf die Gesundheitskarte übertragen darf. Außerdem müssen bei der technischen Umsetzung der Gesundheitskarte Verfahren gefunden werden, die höchsten Sicherheitsanforderungen genügen. Wir konfrontieren die Menschen künftig häufiger und systematisch mit dem Thema Organspende. Es geht auch darum, ihnen Folgendes bewusst zu machen: Wer die Entscheidung für eine Organspende trifft, nimmt auch Druck von seinen Angehörigen. Sie können beispielsweise im Falle des Gehirntods in die Lage geraten, Entscheidungen für den Verstorbenen treffen zu müssen. Ebenso wird Druck von den Ärzten genommen. Heute müssen sie mit den Angehörigen Gespräche über die Organspende führen, während die Patientinnen oder die Patienten um ihr Leben kämpfen. Auch dies ist eine Situation, die für alle Beteiligten unerträglich sein kann. Das neue Gesetz wird hoffentlich zu mehr Organspenden führen. In Deutschland sterben derzeit im Schnitt jeden Tag drei Menschen, weil sie keine Organspende erhalten können. Ich wiederhole: Es sind jeden Tag drei Menschen. Uns obliegt eine ethische und politische Verantwortung dafür, dass sich diese tragische Lage ändert. Gesundheitsminister Daniel Bahr legt gleichzeitig einen weiteren Gesetzentwurf vor. Dieser Gesetzentwurf zielt auf die tapferen Menschen ab, die zu Lebzeiten Organe spenden. Für den Spender bedeutet ein solcher medizinischer Eingriff immer ein Risiko; 100 Prozent risikofrei, das geht nicht. Für diese tapferen Menschen sollen die Ansprüche gegenüber den Kassen verbessert werden, etwa beim Krankenhausaufenthalt. Wer sich zu einem solchen mutigen Schritt entscheidet, muss entsprechend abgesichert sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Transplantationsmedizin wird heute von nahezu niemandem mehr infrage gestellt. Auch das Kriterium des Hirntodes wird meistens nicht infrage gestellt. Meine Damen und Herren, im Raume stehen viele Worte, die sperrig wirken – das sage ich gerade an die Zuschauerinnen und Zuschauer draußen im Land gerichtet –: Entscheidungslösung, Widerspruchslösung, enge bzw. erweiterte Zustimmungslösung. Entscheidend ist: Organspenden retten Leben. Die Erkenntnis ist einfach. Die Entscheidung für eine Organspende kann aus unterschiedlichen Gründen und Motiven nicht einfach sein. Wir können, sollen und dürfen die Menschen nicht aus der persönlichen Entscheidungsverantwortung entlassen, und wir dürfen sie ihnen auch nicht abnehmen. Wir können, sollen und dürfen sie aber mit diesen Themen beschäftigen: Selbstbestimmung, Nächstenliebe, Bürgerpflicht, Verantwortung. Damit muss sich eine offene Bürgergesellschaft auseinandersetzen. Die heutige Debatte ist ein wichtiger Beitrag. Viele Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte heute teilnehmen, tragen den Spenderausweis stets bei sich. Das Ganze ist ganz einfach. Ich will Ihnen diesen Ausweis kurz zeigen. – Er sieht wie eine Scheckkarte aus. Jeder kann ihn jederzeit in seiner Brieftasche mit sich tragen und damit Klarheit schaffen. Ich bitte alle Bürgerinnen und Bürger herzlich, das ernsthaft zu erwägen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile nun dem Kollegen Gregor Gysi das Wort. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In kaum einem anderen Bereich hängen Fragen von Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, Freud und Leid so eng zusammen wie bei der Organspende und der Organtransplantation. Es geht um grundsätzliche Fragen der Ethik, um moralische Maßstäbe, aber auch um Grundsätze der Religion. Im Gesundheitswesen gibt es zweifellos viele sehr grundsätzliche Probleme, um die es aber heute nicht geht. Heute sprechen wir über Organspenden und -transplantationen. Es gibt bei einigen Bedenken, dass Menschen, die Organe spenden, grob gesagt, als eine Art Ersatzteillager missbraucht werden. Ich frage mich: Was sagen solche Menschen Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau? Warum soll er nicht berechtigt sein, das Leben seiner Frau zu retten, die er liebt? Warum soll sie nicht berechtigt sein, diese Spende anzunehmen? Ich sehe dafür keinen Grund. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Aber selbst wenn man sagt: „Ich meine das nicht in Bezug auf Lebende, sondern nur in Bezug auf Tote“, frage ich mich: Was sagen diejenigen den jährlich etwa 1 000 Kranken in Deutschland, die mangels Organtransplantation sterben? Was sagen sie den 12 000 Personen, die auf Wartelisten stehen und noch nicht wissen, ob sie gerettet werden oder nicht? Meine ethische Überzeugung, meine Sicht der Solidarität besteht darin, dass die Medizin alles Mögliche zu tun hat, um das Leben von Menschen zu retten. Nach den Umfragen gibt es eine große Mehrheit, die bereit ist, Organe zu spenden. Aber nur wenige von ihnen teilen das auch schriftlich mit. Sie wissen, wie schwer es in Krankenhäusern ist, wenn jemand gestorben ist und die Angehörigen nach dem Willen des Verstorbenen gefragt werden. Ich möchte die Angehörigen vor dieser Befragung eigentlich schützen, indem ich die Menschen animiere, sich selbst zu entscheiden oder zu entscheiden, dass sie sich nicht entscheiden. Alles ist eine Art der Entscheidung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD) Woran liegt es, dass das so wenige mitteilen? Ich denke, das Hauptproblem liegt in unserer Kultur, in unserer Zivilisation. Wir verdrängen Fragen, die mit dem Tod zusammenhängen. Ein bisschen kann ich das verstehen. Für eine 25-Jährige oder einen 25-Jährigen liegen diese Fragen so weit weg, obwohl auch sie jeden Tag unangenehm überrascht werden können. Aber ich sagte es schon: Man verdrängt das. Man will sich damit gar nicht beschäftigen. Fragen Sie doch einmal eine 25-Jährige oder einen 25-Jährigen, wie sie oder er beerdigt werden will. Dann wird sie oder er sagen: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. – Das ist nachvollziehbar. Aber deshalb finde ich es nicht falsch, wenn die Gesellschaft den Menschen eine Frage stellt – um mehr geht es nicht – und sie bittet, sich zu entscheiden; nur darum geht es. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Persönlich – das will ich Ihnen ebenfalls sagen – bin ich für die Widerspruchslösung. Das bedeutet: Alle sind grundsätzlich zur Organspende bereit, es sei denn, sie widersprechen. Aber ich weiß: Ich habe gar keine Chance auf eine Mehrheit, wahrscheinlich nicht in der Gesellschaft, auf jeden Fall nicht im Bundestag. Deshalb führe ich darüber keine Diskussion. Aber ich wollte das der Ehrlichkeit halber gesagt haben. Nun also liegt ein Gruppenantrag vor. Über Krankenkassen sollen Befragungen stattfinden. Wichtig ist: Es bleibt vollständig beim Prinzip der Freiwilligkeit. Es ist ein Angebot an jede Bürgerin und jeden Bürger, für sich eine Entscheidung zu treffen oder bewusst keine Entscheidung zu treffen. Es geht nicht um mehr und nicht um weniger. Beigefügt wird dem Anschreiben der Krankenkassen ein Organspendeausweis aus Pappe, in den jeder und jede seine bzw. ihre Entscheidung eintragen kann oder eben sich verweigert, sie einzutragen. Auf den Organspendeausweis aus Pappe hat insbesondere unsere Fachpolitikerin auch nach der von uns abgelehnten, aber hier beschlossenen Einführung der elektronischen Gesundheitskarte bestanden. Das ist wichtig, weil nur mit dem Ausweis aus Pappe die völlige Anonymität gewahrt werden kann; denn das Stückchen Papier hinterlässt keinerlei Spuren: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nicht im Internet, nicht in Patientendateien, nicht in den Verwaltungen der Krankenkassen, schon gar nicht zentral. Ich entscheide, ob und wem ich es mitteile. Dennoch gibt es auch in meiner Fraktion größere Bedenken, dass das weitere, spätere Angebot, künftige Entscheidungen auch auf der elektronischen Gesundheitskarte vermerken lassen zu können, zu erheblichem Datenmissbrauch führen und das verfassungsrechtlich hohe Gut der informationellen Selbstbestimmung aushebeln könnte. Diese Bedenken sind aus mehreren Gründen berechtigt: Erstens. Wo Daten erhoben und zentral gespeichert werden, können sie auch kopiert, vervielfältigt und missbraucht werden. Zweitens. Wir haben zusätzlich das Problem, dass wir derzeit rund 200 gesetzliche und private Krankenkassen haben und dass es erlaubt ist, die Kassen zu wechseln. Das erschwert die Gewährleistung der Sicherheit der personenbezogenen Daten erheblich. Es gibt nicht nur eine Schwachstelle beim System der Datenerhebung, sondern Hunderte. Daher soll nach dem Gesetzentwurf bis Mitte nächsten Jahres geprüft werden, ob die Eintragung zugelassen werden soll. Sollte bei der Prüfung herauskommen, dass der datenrechtliche Schutz nicht möglich ist, wird es den Eintrag auf der elektronischen Gesundheitskarte nicht geben. Wichtig ist aber, dass durch unseren Einwand auch bei Zulässigkeit der Eintragung auf der elektronischen Gesundheitskarte dauerhaft die Alternative erhalten bleibt, den eigenen Organspendeausweis in Gestalt einer Pappkarte statt der elektronischen Gesundheitskarte zu nutzen; das ist uns besonders wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich fasse zusammen: Erstens. Der Gesetzentwurf sichert, dass jede bzw. jeder selbstbestimmt entscheidet, ob sie bzw. er entscheiden will oder nicht. Zweitens. Der Gesetzentwurf sichert, dass die- bzw. derjenige, die bzw. der eine Entscheidung treffen will, sich für oder gegen eine Organspende entscheiden kann. Drittens. Der Gesetzentwurf sichert, dass auch nach dem Zeitpunkt der Einführung der von uns kritisierten elektronischen Gesundheitskarte zunächst geprüft werden muss, ob ein Eintrag der vorhandenen oder fehlenden Bereitschaft zur Organspende vollständig datenrechtlich geschützt werden kann; wenn nicht, wird der Eintrag unzulässig. Viertens. Im Falle der Zulässigkeit entscheidet weiterhin jede oder jeder, ob sie bzw. er sich entscheiden will, und im Falle einer Entscheidung, ob sie oder er die Entscheidung auf einer elektronischen oder auf der Pappkarte dokumentiert. Diesem Entwurf kann ich deshalb zustimmen, weil ich nicht berechtigt bin, jemandem gegebenenfalls seine Entscheidung für einen Eintrag auf der elektronischen Gesundheitskarte zu verbieten bzw. sie zu unterbinden. Auch wenn ich es für falsch halte, muss ich doch auch dieses Selbstbestimmungsrecht der oder des anderen -respektieren. Nur durch die auf unser Drängen hin eingeführte Alternative wird doch das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger gestärkt und die Bedeutung der elektronischen Gesundheitskarte reduziert, indem man sich ausdrücklich gegen die elektronische Gesundheitskarte und für die Pappkarte entscheiden kann. Aus verschiedenen Gründen werden wir die Novelle zum Transplantationsgesetz in der jetzigen Fassung -ablehnen. Beispielsweise müssen bei der Hirntoddia-gnostik die Anwendungen modernster Verfahren vorgeschrieben werden. Warum gibt es beispielsweise die -verpflichtende apparative Diagnostik durch EEG oder SPECT anders als in anderen Ländern in Deutschland nicht? Nur dadurch wäre man sich sicher. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt noch andere Kritikpunkte. Wir werden über beide Gesetzentwürfe noch diskutieren. Es wird noch die eine oder andere Änderung geben. Aber ich bitte Sie alle im Saal letztlich um die Zustimmung zum Gruppenantrag, erstens, um zu erreichen, dass Tausende Menschen, die auf ein lebensrettendes Organ warten, berechtigt darauf hoffen können, dass sie die Transplantation erhalten werden, und, zweitens, um jeden Handel mit Organen auszuschließen. Wir müssen verhindern, dass Reiche, egal wo, Organe von Menschen aus armen Ländern kaufen, die zur Spende zumindest unzulässig unter Druck gesetzt wurden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und der FDP) Wenn wir das verhindern wollen, dann müssen wir es in unserer Gesellschaft so organisieren, dass jede und jeder unabhängig von ihrer oder seiner sozialen Lage die gleiche Chance hat, zügig eine lebensrettende Transplantation zu erhalten. Wir wenden uns an die Bürgerinnen und Bürger mit der Bitte, sich bewusst zu entscheiden. Wie sie sich entscheiden, ist ihre Sache. Aber eine Entscheidung sollten sie treffen. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Jürgen Trittin ist der nächste Redner. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgangspunkt ist ein Konsens zwischen allen Mitgliedern dieses Hauses. Wir haben uns auf eine freiwillige Entscheidungslösung verständigt. Meine Vorredner haben die Zahlen bereits genannt. Es gibt in Deutschland 12 000 Menschen, die im Schnitt fünf Jahre darauf warten, dass ihnen ein lebensnotwendiges Organ transplantiert wird. Für viele ist das zu lang; sie sterben vorher. Sie sterben, auch weil es eine Kluft zwischen der verbalen Bereitschaft, zu spenden, und der dokumentierten Bereitschaft, zu spenden, gibt. Wir wissen aus vielen Umfragen, dass die Bereitschaft höher ist als die tatsächliche Anzahl der Spenderinnen und Spender. Ich glaube, das hat viel mit mangelnder Aufklärung zu tun. Dem wollen wir mit diesem Gesetz entgegenwirken. Wir wollen die Diskussion um die Organspende nicht nur in die Öffentlichkeit, sondern auch in die Familien tragen, wenn sie eine neue Gesundheitskarte bekommen, wenn sie einen neuen Ausweis oder Pass beantragen. Wir wollen niemanden mit dieser schwierigen Entscheidung allein lassen. Jeder soll die Möglichkeit zu einer ergebnisoffenen und unabhängigen Beratung haben. Ich glaube, nur so, wenn wir uns allen Fragen stellen können, wird es mehr Akzeptanz und mehr Transparenz geben. Nur so kann die Zahl der Organspender erhöht werden. Wir werden die angesprochene Lücke nicht vollständig schließen können; darüber sollte man sich keine Illusionen machen. Wir wollen aber die Lücke zwischen Bedarf und Spendenbereitschaft verringern. Das ist der Grund, warum wir heute sehr geschlossen einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Wichtig ist die Freiwilligkeit. Die Entscheidung zur Organspende ist keine leichte Sache. Wenn man einen Organspendeausweis ausfüllt, dann muss man zwangsläufig an die Situation denken, in der er nötig sein wird, wenn man also dem Tod näher als dem Leben ist, wenn nur noch Apparate dafür sorgen, dass der Körper nicht endgültig versagt. Diese Beschäftigung mit dem eigenen Ende ist herausfordernd; sie verstört. Man hält sich doch selbst für „unkaputtbar“. Welch ein Irrtum! Wir sind sterblich, alle. Übrigens fällt die Beschäftigung damit in dieser Gesellschaft sehr unterschiedlich aus. Wenn man sich anschaut, wer seine Bereitschaft zur Organspende erklärt, dann stellt man fest, dass es sich zu 80 Prozent um Frauen handelt. Schauen Sie sich im Gegenzug einmal die Empfänger an. Bei denen handelt es sich zu 80 Prozent um Männer. Wir haben also gemeinsam die Aufgabe, den geschlechtsspezifischen Unterschied in der Spendenbereitschaft zu verändern und auch Männer dazu zu bringen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Insofern ist die vorgeschlagene Regelung eine Zumutung. Ja, es ist eine Zumutung, sich mit dem eigenen Ende zu beschäftigen. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass diese Zumutung für die Menschen gerechtfertigt ist. Ihr Zweck liegt darin, anderen das Leben zu retten. Diese Zumutung, in einem Satz gesagt, lautet: Jede und jeder muss sich fragen lassen – mehrfach in seinem Leben –; aber niemand muss antworten. Es ist legitim, wenn Menschen sagen: Ich will mich zu dieser Frage nicht äußern. Es ist eine freiheitliche Regelung, die wir vorschlagen. Es war uns wichtig, dass es eine solche freiheitliche Regelung ist. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch Missverständnisse ausräumen. Ja, es geht nicht nur um diejenigen, die auf Organe angewiesen sind, oder diejenigen, die für sich selbst etwas erklären. Es geht auch und gerade um die Angehörigen potenzieller Spender. Diejenigen, die sich zu dieser Frage äußern, ersparen auch ihren Angehörigen, ihren engsten Mitmenschen eine vielfach schwer erträgliche Situation. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Ich habe es vor einigen Jahren erlebt, dass meine ehemalige Lebensgefährtin bei einem Fahrradunfall ums Leben kam. Ich musste ihrer Tochter, ihren Eltern und ihren besten Freundinnen diese Nachricht überbringen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich in dieser Situation auch noch ihren Willen hätte interpretieren müssen, dann wäre ich froh darüber gewesen, eine klare und unmissverständliche Botschaft zu haben. Für diese Botschaft werben wir, auch im Namen der Angehörigen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Den klassischen Organspendeausweis muss und soll es weiter geben. Die Spendenbereitschaft kann künftig allerdings auch auf der Gesundheitskarte vermerkt werden. Wir können das selber eintragen. Wir können es auch nach strengen Regeln durch Ärzte eintragen lassen. Ich will ausdrücklich betonen: Dieser Eintrag kann vorgenommen werden; er muss es aber nicht. Er kann jederzeit geändert werden, und er kann jederzeit widerrufen werden. Wir sollen und wollen ein Verfahren prüfen, das klarstellt, ob ein solcher Eintrag auch durch eine Rückmeldung an die Krankenkasse möglich ist. Wir Grünen haben, glaube ich, mit dazu beigetragen, dass sichergestellt ist, dass es kein eigenständiges Schreibrecht der Krankenkassen bezüglich der E-Card gibt. Der nun gefundene Kompromiss lässt die Krankenkassen nur im direkten Auftrag der Patientinnen und Patienten tätig werden. Er sichert, dass jede Bürgerin und jeder Bürger selbst über ihre oder seine Daten entscheidet. Noch einmal: Die wichtigste Entscheidung ist, dass niemand gezwungen ist, seine Entscheidung auf der E-Card zu dokumentieren. Alle, die das wollen, können ihre Spendenbereitschaft auch weiterhin im Ausweis dokumentieren. Wir sollten in den Ausschussberatungen noch einmal schauen, ob die vorgetragenen Vorbehalte das Projekt -E-Card gefährden können. Wir haben im Zusammenhang mit ELENA hier an dieser Stelle unsere Erfahrungen gemacht. Wir sollten vermeiden, dass mit den -Regelungen zur Organspende die Akzeptanz der elektronischen Krankenversicherungskarte selbst gefährdet wird. Meine Damen und Herren, jede und jeder entscheidet selbst. Alle werden informiert. Alle werden sich fragen lassen müssen; aber niemand muss antworten. Das ist die Entscheidungslösung. Von den 12 000 Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, sterben jeden Tag 3. Wenn es uns gelingt, mit diesem Gesetzentwurf diese Zahl zu mindern, dann haben wir, glaube ich, gemeinsam viel gewonnen. Ich glaube, dass es auch mit Blick auf die Menschen in diesem Lande wichtig ist, dass es in dieser Frage einen über alle Fraktionen hinweggehenden Konsens im Deutschen Bundestag gibt. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Bundesminister Daniel Bahr erhält nun das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In meiner Heimatstadt Münster gibt es den Verein „Herzenswünsche“, der schwerkranken Kindern einen Wunsch erfüllt. Er gibt ihnen damit häufig in schwieriger Lage neue Hoffnung und neue Kraft. Eines dieser Kinder ist Fatmanur. Das Mädchen ist acht Jahre alt und braucht dringend eine neue Niere. Jeden zweiten Tag muss sie für fünf Stunden zur Dialyse. Draußen spielen, eine normale Kindheit, das erlebt sie derzeit nicht, weil sie auf ein neues Organ warten muss. Viel zu viele Menschen warten viel zu lange auf ein Organ. Viel zu viele Menschen in Deutschland warten vergeblich auf ein Organ. Deswegen ist die große Einigkeit heute hier im Deutschen Bundestag kein Zeichen von Langeweile, sondern ein ganz starkes Signal an die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, dass das Thema Organspende ein so wichtiges Thema ist, dass wir als Gesetzgeber auch erwarten können, dass sich die Menschen in Deutschland mindestens einmal im Leben mit dem Thema Organspende auseinandersetzen und wir sie dazu auffordern können, sich bei diesem Thema einmal im Leben zu entscheiden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, wir wissen, dass viele Menschen Ängste und Sorgen beim Thema Organspende haben und manche Menschen viele offene Fragen haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf dazu beitragen, dass erstmals alle Deutschen über 16 Jahre von ihrer Krankenversicherung angeschrieben werden und ihnen ein Organspendeausweis zugeschickt wird, damit sie diesen Organspendeausweis einmal in der Hand haben, damit der Organspendeausweis Thema im Familien- und Freundeskreis wird und damit man sich am Frühstückstisch einmal darüber unterhält, wie man sich selbst beim Thema Organspende entscheiden möchte. Es ist ein klares und starkes Signal, das der Bundestag hier sendet, indem er gemeinsam einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Ich danke all denjenigen, die sich dazu bereit erklärt haben, Brücken zu bauen und gemeinsam diesen Kompromiss zu finden. Das war nicht immer leicht. Wir wissen: Jeder Organspender ist ein Lebensretter. Jeder, der sich für die Organspende oder gegen die Organspende zu Lebzeiten entscheidet, lastet diese Entscheidung nicht seinen Angehörigen auf, die häufig in einer ganz schwierigen Situation im Krankenhaus gefragt werden. Wer seinen Angehörigen diese Situation ersparen möchte, der sollte sich zu Lebzeiten mit der Frage der Organspende selbst auseinandersetzen und eine Entscheidung treffen. Wenn mehr mitmachen, dann müssen weniger warten. Das ist das Signal, das dieser gemeinsame Gesetzentwurf heute sendet. Die Organspende ist ein Akt der Nächstenliebe, zu dem man sich aktiv entscheidet. Es gibt keinen gesellschaftlichen Anspruch auf eine Organspende; aber es gibt die gesellschaftliche Erwartung, dass sich Menschen einmal im Leben mit dem Thema Organspende auseinandersetzen. Die Krankenkassen werden also die Versicherten auffordern, sie werden sie regelmäßig anschreiben und informieren, damit Ängste und Sorgen genommen werden, damit über das Thema Organspende aufgeklärt wird und die Menschen Bescheid wissen, wie diese abläuft, wie sie entscheiden können und was sie tun können. Wir wissen, dass die Bereitschaft der Menschen in Deutschland sehr hoch ist, ein Spenderorgan anzunehmen, wenn sie auf ein solches angewiesen sind. Aber die Bereitschaft der Menschen, sich deswegen für einen Organspendeausweis zu entscheiden, ist in Deutschland noch viel zu gering. Das zeigt: Es muss noch mehr für Aufklärung und Information getan werden. Das wird nicht nur durch die Krankenversicherungen geschehen, weil sie dazu verpflichtet werden, sondern auch durch uns, weil wir dafür sorgen, dass die Behörden in Deutschland zukünftig Informationsmaterial und Organspendeausweise in geeigneter Form auslegen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird begleitend eine breite Öffentlichkeitskampagne durchführen, um die Menschen über das Thema Organspende aufzuklären. Die Bereitschaft der Menschen, ein Organ entgegenzunehmen, wenn sie es brauchen, zeigt, dass wir uns aufeinander verlassen wollen. Diese Solidarität ist aber keine Einbahnstraße, sondern diese Solidarität muss gelebt werden, am besten dadurch, dass man sich für eine Organspende entscheidet. Deshalb ist es richtig, dass wir auch die Möglichkeit geben, den Organspendeausweis auf der elektronischen Gesundheitskarte zu speichern. Damit erhalten die Krankenkassen jedoch nicht etwa ein Zugangs- oder Schreibrecht für hochsensible Gesundheitsdaten, wie es diskutiert und kritisiert wurde, sondern wir sorgen dafür, dass die hohen Datenschutzstandards bei den hochsensiblen Gesundheitsdaten weiter gewahrt bleiben. Die Krankenkassen haben auch künftig keine Möglichkeit, auf die Gesundheitsdaten der Versicherten bzw. Patienten zuzugreifen. Es bleibt das Grundprinzip erhalten: Herr der Gesundheitsdaten bleibt der Versicherte selbst. Er entscheidet, wer Zugriff auf die Daten hat. Die Krankenkassen alleine haben diese Möglichkeit nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sorgen durch bessere Information und ständige Konfrontation dafür, dass Menschen sich mit dem Thema Organspende auseinandersetzen. Wir fordern sie auf, sich zu entscheiden, aber wir üben keinen Zwang aus. Wir müssen akzeptieren, dass es Menschen gibt, die sich vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht entscheiden können. Deswegen ist es richtig, dass wir die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig auf dieses Thema ansprechen und sie dazu anschreiben. Ich bin seit vielen Jahren in der Initiative „No Panic for Organic“ aktiv. In dieser Initiative haben wir die Erfahrung -gesammelt, dass man diese Panik, diese Sorge, die der eine oder andere vor der Organspende hat, dem Menschen dadurch nehmen kann, dass man ihn ganz konkret anspricht, ihm einen Organspendeausweis in die Hand gibt, ihn ganz konkret informiert. Genau so wollen wir das jetzt auch mit diesem Gesetzentwurf machen. Aber der Gesetzentwurf alleine reicht noch nicht. Der Gesetzentwurf kann die Organspendebereitschaft erhöhen. Damit hätten wir schon sehr viel erreicht. Noch wichtiger ist es, dass wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Unterstützung durch die Fraktionen – ich bin auf die Beratungen sehr gespannt und will auch sehr offen mit Ihnen in die Beratungen gehen, damit wir hier große Einigkeit erreichen – dafür sorgen, dass auch die Abläufe in den Krankenhäusern verbessert werden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wir stellen fest, dass es in Deutschland in ein und derselben Stadt Krankenhäuser gibt, die viele potenzielle Organspender melden, und Krankenhäuser gibt, die kaum oder keine Organspender melden. Die Abläufe und die Organisation in den Krankenhäusern müssen -unbedingt besser werden, damit wir ganz konkret eine höhere Zahl an Organspenden erreichen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Wir sehen im Gesetzentwurf deshalb vor, dass in -jedem Krankenhaus künftig ein Transplantationsbeauftragter zu bestellen ist, damit es in jedem Krankenhaus jemanden gibt, der für die Abläufe zuständig ist und -dabei für Anreize sorgt, dass im Krankenhause darauf geachtet wird: Wer ist ein potenzieller Organspender? Wie können wir die Abläufe verbessern? Darüber hinaus wird es in Fragen der Vergütung, der Organisation weitere Verbesserungen geben. In den vergangenen Legislaturperioden haben wir auch im Deutschen Bundestag, zum Beispiel in der -Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, über die Frage der Lebendspende diskutiert. Ich bin Ihnen, lieber Herr Steinmeier, sehr dankbar. Sie haben uns nämlich durch Ihre Reputation und Ihre -Öffentlichkeitsarbeit geholfen, das Thema Lebendspende in die öffentliche Diskussion zu bekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein gemeinsames Ziel dieses Gesetzentwurfes zur Änderung des Transplantationsgesetzes ist es auch, dass wir endlich dazu beitragen, dass für denjenigen, der sich für die Lebendspende entscheidet, der dies aus altruistischen Gründen tut, keine Nachteile in Versicherungsfragen oder in rechtlicher Hinsicht entstehen. Derjenige, der sich für die Lebendspende entscheidet, darf keine Nachteile erleiden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Deswegen sorgen wir dafür, dass grundsätzlich die Versicherung des Empfängers zuständig ist, wenn es um Krankenbehandlung, Vor- und Nachbetreuung, Rehabilitation oder Übernahme von Fahrtkosten geht. Wir sorgen erstmals dafür, dass die Gewährung von Lohnfortzahlung und Krankengeld selbstverständlich wird. Wir sorgen auch dafür, dass bei der gesetzlichen Unfallversicherung eine klare und unzweideutige Regelung für die versicherungsrechtliche Absicherung erfolgt. Ich bin deshalb sehr froh und optimistisch, dass es uns mit beiden Gesetzentwürfen gelingen wird, sowohl die Organspendebereitschaft als auch die Anzahl der Organspenden zu erhöhen; denn jeder, der auf einer Warteliste in Deutschland steht und dringend auf ein Organ wartet, ist einer zu viel. Es ist ein starkes Signal, dass wir hier gemeinsam daran arbeiten, die Situation in Deutschland zu verbessern. Das ist ein Hoffnungsschimmer für die vielen Menschen, die als Betroffene möglicherweise gerade an den Fernsehschirmen dieser Debatte zuschauen. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Vielen Dank für diese gemeinsame Einigkeit! Das tut den Menschen und insbesondere den Betroffenen ganz besonders gut. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Carola Reimann. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gabriele Molitor [FDP]) Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema -Organspende und die Reform des Transplantationsgesetzes beschäftigen uns hier im Hause in den verschiedenen Gremien schon seit vielen Jahren. Für mich persönlich zählt die Organspende zu den Themen, die mich seit -Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit begleiten, sowohl als Mitglied des Gesundheitsausschusses als auch in der Zeit der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der -modernen Medizin“. Umso mehr freut es mich, dass es jetzt gelungen ist, einen Gesetzentwurf in erster Lesung zu beraten, der von einer breiten Mehrheit der Mitglieder aller Fraktionen getragen werden kann. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein starkes und positives Signal für die Förderung der Organspende in Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Vertretern aller Fraktionen bedanken, die bei den nicht immer einfachen Gesprächen dieses wichtige gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verloren haben. Ich bin davon überzeugt, dass diese fraktionsübergreifende Einigung auch ein gutes Zeichen für die Politik insgesamt hier im Hause ist. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen: Etwa 12 000 Menschen in Deutschland müssen auf ein passendes Organ warten. Viel zu viele sterben, weil -ihnen kein Spenderorgan übertragen werden kann. In den letzten Wochen und Monaten habe ich viele Zuschriften von Betroffenen erhalten und hatte auch die Gelegenheit, einige von ihnen persönlich zu sprechen. Da geht es nicht allein um Fakten und Zahlen, sondern um bewegende persönliche Schicksale, um Menschen, die schon seit vielen Jahren auf ein Organ warten, darunter auch Kinder. Für Betroffene wie Angehörige ist das eine extreme Belastung, die den Alltag und das Fami-lienleben bestimmt. Sie alle verfolgen die gegenwärtige Debatte sicher sehr aufmerksam, und natürlich erwarten sie von uns, dass wir handeln und unseren Beitrag zur Förderung der Organspende leisten. Uns erreichen aber auch andere Zuschriften. Es schreiben uns Menschen, die die Sorgen und die Not der Betroffenen verstehen, aber fürchten, dass ihre freie Entscheidung bei einer so sensiblen Frage in Gefahr ist. Dies sind Menschen, für die die Frage, ob sie Organe spenden, den intimsten Bereich ihrer menschlichen Selbstbestimmung berührt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, breite gesellschaftliche Akzeptanz für eine Neuregelung erreichen wir nur, wenn wir beides berücksichtigen: das Ziel der Förderung der Organspende und das Recht auf freie Entscheidung und Selbstbestimmung. Ich bin überzeugt, dass der hier vorliegende Gruppenantrag zur Entscheidungslösung beiden Anforderungen gerecht wird. Ich freue mich, dass so viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, -unseren Vorschlag unterstützen. Wir wissen, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land der Organspende positiv gegenübersteht. Allerdings klafft – auch das ist heute schon gesagt worden – zwischen der in Umfragen ermittelten Spendenbereitschaft der Bevölkerung und der tatsächlichen Dokumentation dieses Willens, beispielsweise auf einem Organspendeausweis, eine große Lücke. Mit der Entscheidungslösung wollen wir diese Lücke schließen oder zumindest verkleinern. Ich weiß, dass diese Entscheidung für viele nicht einfach ist; denn sie setzt voraus, dass sich jeder mit seinem eigenen Lebensende, mit seinem eigenen Tod befasst. Gerade weil das für viele Menschen eine große Hürde ist, wollen wir es ihnen ein bisschen leichter machen, -indem wir mit dem Thema stärker und systematischer auf die Menschen zugehen. Jeder wird angeschrieben, jeder wird informiert, und jeder wird aufgefordert, eine Entscheidung, seine Entscheidung, zu treffen. Diese Entscheidung soll dokumentiert werden: zunächst auf dem klassischen Organspendeausweis und später, wenn die technischen und datenschutzrechtlichen Voraussetzungen geschaffen sind, auch auf der elektronischen -Gesundheitskarte. Ziel ist es, sowohl die Entscheidungsfindung als auch die Dokumentation zu erleichtern und zu unterstützen. Natürlich wünsche ich mir, dass sich die positive Grundhaltung zur Organspende dann auch in einer höheren dokumentierten Organspendebereitschaft ausdrückt. Am Ende bleibt dies aber die ganz persönliche Entscheidung jedes Einzelnen. Die Botschaft ist klar: Jede dokumentierte Entscheidung hilft; denn sie befreit die Angehörigen von der Last einer Entscheidung im Moment der Trauer und stellt sicher, dass allein die bewusst getroffene, selbstbestimmte Entscheidung Anwendung findet. Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gruppenantrag zur Entscheidungs-lösung eine gute und tragfähige Lösung gefunden haben. So werden wir unser Ziel, die Entscheidung zur Organspende zu erleichtern, erreichen. Zusammen mit dem Gesetzentwurf zu den technisch-organisatorischen Fragen der Organspende bringen wir ein gutes Paket auf den Weg, das wichtige und richtige Impulse zur Förderung der Organspende enthält. Ich hoffe, dass diese erste Lesung nicht nur der Startpunkt einer parlamentarischen Beratung in diesem Hause ist, sondern dass mit Ihrer Hilfe die Debatte vor Ort, in den Wahlkreisen geführt wird und dieses Thema damit weiterhin die benötigte Aufmerksamkeit erhält; denn das, glaube ich, ist das zentrale Anliegen. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Jens Spahn. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gibt es ein Recht des Staates, sich in die sehr indivi-duelle Entscheidung zur Organspende einzumischen und eine Entscheidung abzufragen? Ich denke: Ja, dieses Recht gibt es, und zwar aus drei Gründen: Zum einen haben die, die auf eine Organspende warten – weil etwa die Niere nicht mehr funktioniert und sie alle zwei Tage zur Dialyse müssen –, die hoffen und -natürlich auch deren Angehörige, die mit leiden, mit hoffen und mit warten, einen Anspruch darauf, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Es ist schon gesagt worden: Allein in Deutschland warten 12 000 Menschen auf eine Organspende; jeden Tag sterben drei von ihnen. Wir machen das auch aus Solidarität zu anderen europäischen Ländern, weil wir mit diesen einen Verbund -haben. Insofern werden deutlich mehr Menschen von der Regelung, die wir treffen wollen, profitieren. Es gibt -einen Anspruch dieser Menschen, dass sich jeder Einzelne von uns, aber auch die Gesellschaft insgesamt mit diesem Thema beschäftigt, nicht weil es ein Anrecht auf Organspende gibt, nicht weil jemand einen Anspruch hat, ein Organ zu bekommen, sondern weil es eine -Verpflichtung der anderen gibt, sich aus Nächstenliebe – wenn man dieses schöne Wort benutzen will – mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Deswegen ist heute mit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf ein guter Tag für diejenigen Menschen in Deutschland, die auf eine Organspende warten. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zum Zweiten gibt es für uns im Deutschen Bundestag einen Grund, sich damit zu beschäftigen, weil es – das ist schon gesagt worden – eine offensichtliche Lücke gibt zwischen der in Umfragen dokumentierten Bereitschaft zur Organspende, bei denen drei Viertel der -Bevölkerung sagen, sie könnten sich vorstellen, Organspender zu sein, und der tatsächlich erklärten und dokumentierten Bereitschaft, Organspender zu sein. Wir wollen und müssen Zeitpunkte und Orte schaffen, um über die Entscheidung zur Organspende zu diskutieren. Das wollen wir vor allem tun, indem wir diese Debatte in die Familien, in die Freundeskreise bringen; denn mit dem Versenden einer Karte ist gleichzeitig die Aufforderung verbunden, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und werden Informationen gegeben. Es ist ganz wichtig: Wir wollen nicht überreden, wir wollen überzeugen, Organspender zu werden, vielleicht aber etwas penetranter, als wir es bisher getan haben. Wir müssen gerade in den Familien und Freundeskreisen Zeitpunkte und Orte für Entscheidungen schaffen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich in meinem Freundeskreis zwei Stunden intensiv über das Thema Organspende diskutiert habe. Man kann in solchen Diskussionen nicht immer alles rational erklären. Ich selber habe einen Organspendeausweis. Für mich habe ich die Spende des Herzens ausgeschlossen. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum. Manchmal ist dies eine sehr emotionale und individuelle Entscheidung. Wichtig ist aber, diese Debatte zu führen und eine Entscheidung zu treffen. Denjenigen, die sagen, dass es eigentlich zu wenig sei, die Leute anzuschreiben und abzufragen, sage ich, dass sie das nicht unterschätzen sollen. Für viele ist es schon eine Zumutung, regelmäßig angeschrieben und gefragt zu werden. Es gibt nicht besonders viele Themen, bei denen wir als Staat, als Gesellschaft sagen: Wir schreiben dich regelmäßig an. Wir fordern dich regel-mäßig auf. Jedes Mal, wenn du einen Personalausweis oder einen Führerschein beantragst, wirst du in Zukunft auch Informationen – hier: zur Organspende – bekommen. – Das machen wir – weiß Gott! – nicht bei jedem Thema, sondern nur ganz speziell bei diesem. Das ist schon eine deutliche Qualitätsveränderung im Vergleich zu dem, was wir heute haben. Wie gesagt: Einige erleben schon das als Zumutung. Deswegen glaube ich, dass insgesamt ein guter Kompromiss entstanden ist: mehr zu informieren, mehr aufzuklären, manchmal vielleicht sogar ein wenig zu nerven, aber immer in der Absicht, zu überzeugen und nicht zu überreden, am Ende nicht mit Zwang zu arbeiten, sondern mit der Verpflichtung, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Wir jedenfalls halten das für einen guten Kompromiss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Es gibt einen dritten wichtigen Aspekt, warum es gut ist, dass wir uns heute mit diesem Thema beschäftigen. In diesem Zusammenhang bin ich auch vielen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar, die gesagt haben, sie würden gerne über die Widerspruchslösung diskutieren, wie sie in Spanien praktiziert wird. Aber alle Beteiligten haben gesagt: Wir sind bereit, gemeinsam zunächst diesen ersten Schritt mit der Entscheidungslösung zu gehen: mehr zu informieren, aufzuklären und abzufragen. Gleichzeitig geht es darum – das ist sehr wichtig; es wurde bereits gesagt –, die Abläufe in den Kliniken zu verbessern und dort Transplantationsbeauftragte zu bestellen. Insgesamt soll in den Krankenhäusern besser als bisher darauf geschaut werden: Wo ist tatsächlich die Möglichkeit zur Organspende vorhanden? Es geht also darum, gemeinsam zu schauen, ob diese beiden Maßnahmen – Information der Bürgerinnen und Bürger und bessere Abläufe in den Kliniken – nicht tatsächlich zu einer höheren Zahl von Organspendern in Deutschland führen. Dadurch würden sich vielleicht viele andere Debatten erübrigen, die am Ende deutlich schwieriger wären, auch in der Abwägung, und die ethisch grundsätzlich noch weiter eingreifen würden. Ich bin angesichts der Erfahrungen, die andere Länder gemacht haben, was diese beiden Maßnahmen angeht, optimistisch, dass es gelingen kann, die Zahl der Organspender in Deutschland Schritt für Schritt – das wird nicht von heute auf morgen gehen – über die nächsten Jahre zu erhöhen. Es ist ein schönes, ein deutliches Zeichen – da bin ich den Vorsitzenden aller Fraktionen und allen Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, sehr dankbar –, dass wir das Ganze hier im Deutschen Bundestag in großer Einigkeit auf den Weg bringen und dass wir gemeinsam sagen: Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir wollen, dass ihr euch mit dem Thema beschäftigt und damit auseinandersetzt, dass ihr in der Familie und mit Freunden die Debatte darüber führt. Denn – auch das ist schon gesagt worden – wenn man sich nicht selbst entscheidet, muss die Familie, müssen die Angehörigen die Entscheidung treffen. Das ist wahrlich keine einfache Situation, wenn es denn dann zum Fall der Fälle kommt. Deswegen noch einmal einen herzlichen Dank an alle, die mitgeholfen haben, dass dieses gemeinsame Werk gelungen ist! (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute reden wir über den Gesetzentwurf zur Einführung der Entscheidungslösung bei der Organspende. Ich möchte erklären, warum ich – wie viele Mitglieder meiner Fraktion – diesem so nicht zustimmen kann, und möchte für Veränderungen werben. Wenn wir über Organspende reden, dann müssen wir auch über Ethik reden. Wir dürfen uns als gewählte Abgeordnete bei Fragen von Leben und Tod nicht darum herumdrücken, dass uns das Grundgesetz in Art. 1 einen besonderen Auftrag gegeben hat. Da heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Den Anspruch auf Würde kann ein Mensch nicht verlieren. Sie steht ihm jederzeit und uneingeschränkt zu, und es ist unser Auftrag, sie zu schützen. Weil der Prozess des Sterbens ein Teil des Lebens ist, gilt das Gebot des Würdeschutzes gerade auch für Sterbende. Im Umgang mit Sterben und Tod offenbart sich unser Verständnis von Menschlichkeit. Menschen dürfen nicht zum Objekt fremder Interessen gemacht werden, weil das ihre Würde verletzt. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deswegen müssen wir beim Thema Organspende ganz besonders sensibel mit diesem Spannungsfeld umgehen. Auf der einen Seite gibt es die 12 000 schwerkranken Menschen, die sich von einer Organtransplantation die Chance auf wenigstens noch ein paar Lebensjahre, auf mehr Lebensqualität erhoffen. Die bloße Zahl gibt uns aber keine gute Vorstellung davon, was die Hoffnung auf ein Spenderorgan für diese Menschen und ihre Angehörigen bedeutet. Sie wissen: Damit ich leben kann, muss jemand anderes sterben – jemand, der ein gesundes Herz, eine gesunde Niere oder eine gesunde Leber hat, die dann in meinem Körper weiterarbeitet und mich rettet. – Ich habe in meinem Bekanntenkreis, liebe Kolleginnen und Kollegen, mehrere Betroffene, die diese Situation erleben oder erlebt haben. Ich wünsche jedem Einzelnen wirklich von Herzen das große Glück, durch ein passendes Organ gerettet zu werden. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, denen diese Organe entnommen werden sollen. Sie sind mit derselben Würde und denselben Rechten wie diejenigen ausgestattet, die die Organe empfangen sollen. Das Kriterium des Hirntods – der Hirntod ist nach dem Transplantationsgesetz eine Voraussetzung für die Organentnahme – belässt uns einen Rest an Unsicherheit, ob ein Mensch noch lebend oder schon tot ist. Wir dürfen diesen Menschen also nicht zum Objekt machen, sondern müssen ihn so behandeln, wie er es vermutlich selbst entscheiden würde. Deswegen ist es ethisch absolut geboten, die Entscheidung, ob ich Organspender oder Organspenderin sein will, freiwillig, selbstbestimmt und gut informiert zu treffen, und zwar dann, wenn ich es noch selbst kann. Das haben schon mehrere Kolleginnen und Kollegen gesagt: Es entlastet die Angehörigen; es schafft Rechtssicherheit für das Krankenhauspersonal. Vor allem ist es für diejenigen, die die Organe bekommen sollen, wichtig, zu wissen, dass diese ihnen aus reiner Mitmenschlichkeit gegeben werden. In einem Gesundheitswesen, das zunehmend nach rein wirtschaftlichen Erwägungen geführt wird, verlieren leider viele Menschen das Vertrauen, dass sie vom ersten bis zum letzten Moment ihres Lebens mit voller Achtsamkeit umsorgt und auch im Sterben als Mensch behandelt werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich bin überzeugt, dass das allerbeste Mittel zur Förderung der Organspendebereitschaft ein solidarisches Gesundheitssystem ist, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) eines, in dem der Mensch immer, unter allen Umständen und zu jedem Zeitpunkt, im Mittelpunkt steht. Denn wer die Gewissheit hat, dass alles Notwendige getan wird, um ihn am Leben zu erhalten, um seine Würde zu wahren und ihn auch dann zu versorgen, wenn sich das einmal nicht mehr rechnet, der kann sich leichter mit dem Gedanken anfreunden, die eigenen Organe am Ende des Lebens jemand anderem zu überlassen und diesem damit weitere Lebenszeit zu schenken. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll jetzt die bisherige Zustimmungslösung durch eine Entscheidungslösung ersetzt werden. Das heißt, dass die Krankenversicherungen ihre Versicherten regelmäßig über Organspende informieren und zu einer Entscheidung auffordern sollen. So weit kann ich und kann auch die große Mehrheit meiner Fraktion absolut mitgehen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Schließlich ist Aufklärung die Voraussetzung für eine selbstbestimmte Entscheidung. Aber es gibt bei uns auch erhebliche Kritik an diesem Gesetzentwurf. Selbstverständlich kann solch ein Gesetz, das von allen Fraktionsvorsitzenden gemeinsam eingebracht wird, immer nur ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Auffassungen sein. Aber ich habe den Eindruck: Hier wurde so lange nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht, dass das Ergebnis nicht mehr den hohen Erwartungen entspricht. So gibt es doch einen gewissen Widerspruch zwischen der ausgewiesenen Zielsetzung, die Zahl der Organspender zu erhöhen, und der Maßgabe, die Beratung ergebnisoffen zu führen. Auch können wir uns eine qualifizierte Beratung eigentlich nicht vorstellen, ohne dass es dafür Mittel gibt. Aber das ist gerade nicht vorgesehen. Wir brauchen doch ein Netz von Beratungsstellen, bei denen sich Menschen von Angesicht zu Angesicht beraten lassen können, ob sie eine solche Entscheidung treffen wollen. Mittel in unbestimmter Höhe stellen Sie aber für den weiteren Ausbau der Telematikinfrastruktur für die elektronische Gesundheitskarte zur Verfügung. Zudem sollen künftig auch Krankenkassenmitarbeiter ein Schreibrecht bekommen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Nein!) – Auch wenn das zunächst geprüft werden soll: Wir haben Erfahrungen gemacht, wie in diesem Projekt mit Prüfungen umgegangen wird. – Ich meine, die Schaffung einer zentralistischen Telematikinfrastruktur für das Gesundheitswesen ist und bleibt ein Irrweg; das wird auch nicht besser, wenn man die Karte mit weiteren Funktionen ausstattet. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Im Übrigen gibt es keinen sachlichen Grund, warum eine Organspendeerklärung in einer verschlüsselten Datei auf einem Chip oder Server zweckmäßiger sein sollte als der gute, alte Organspendeausweis, den uns Herr Brüderle vorhin gezeigt hat. Denn im Gegenteil: Die elektronisch gespeicherte Erklärung bedeutet weniger Selbstbestimmung, weniger Auseinandersetzung und weniger Sicherheit. Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn in Zukunft ein Azubi seine erste eigene Krankenversicherung abschließt, soll er erklären, ob er Organspender ist oder nicht. Weil er sich damit bisher noch nicht so richtig beschäftigt hat, trifft er vielleicht aus dem Bauch heraus die eine oder andere Entscheidung. Das wird auf der Karte eingetragen und ist damit für ihn erst einmal erledigt; aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn er dann mit 30 erstmals anfängt, sich mit der eigenen Sterblichkeit zu beschäftigen, hat er vielleicht schon vergessen, dass er sich schon einmal entschieden hat. Wenn er mit 40 bei der Arbeit auf einer niederländischen Baustelle einen tödlichen Unfall erleidet, dann kann dort niemand feststellen, wie seine Entscheidung aussah; denn die deutsche E-Card funktioniert nur zusammen mit einem deutschen Heilberufsausweis. Außerdem schaffen Sie durch eine solche Regelung unterschiedliche Dokumentationsstandards nicht nur in Europa, sondern auch für gesetzlich und privat Versicherte; denn die privaten Versicherungsunternehmen machen bei der E-Card gar nicht mit. Für mich ergibt dies alles nur einen Sinn, wenn man die Speicherung der Erklärung doch irgendwann nutzen will, um die Menschen zu kontrollieren und gegebenenfalls Druck auf sie auszuüben. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir sind ja nicht in der DDR! Wir sind seit 20 Jahren über diese Entwicklung hinweg! – Widerspruch des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]) Herr Steinmeier hat darauf hingewiesen, dass es durchaus Debatten in diese Richtung gibt, zum Beispiel über finanzielle Anreize und Ähnliches. Er hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass eine solche Entwicklung unbedingt abzulehnen ist. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Verschwörung! Verschwörung! Verschwörung!) Es wäre auch absolut nicht geeignet, das Vertrauen in unser Gesundheitssystem zu verbessern und die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Entscheidung zur Organspende für sie der richtige Weg und menschlich ist. Es heißt, kein Gesetzentwurf verlasse dieses Haus so, wie er hineingekommen ist. Deswegen werde ich mich mit anderen Kolleginnen und Kollegen im weiteren Verfahren für die Streichung des Art. 2 des gemeinsamen Gesetzentwurfs einsetzen. Ich bitte dafür um Ihre Unterstützung. Ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Und nun hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg das Wort. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gruppenantrag zur Entscheidungslösung haben wir einen Kompromiss gefunden, der die Freiheit der persönlichen Entscheidung über eine Organspende bewahrt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war nicht selbstverständlich; denn die öffentliche und auch die interne Diskussion der letzten Monate war sehr komplex. Es wurde eine verpflichtende Erklärung gefordert, es wurde von Aufklärung und Erklärung bei der Ausgabe des Führerscheins gesprochen, und nicht zuletzt wurde auch die Widerspruchslösung thematisiert. Es ist ein Erfolg, dass es zu alledem nicht gekommen ist. Es war uns Grünen ein wichtiges Anliegen, dass die Organspendeerklärung auch weiterhin strikt freiwillig bleibt. Dazu gehört auch das Recht, sich nicht zu entscheiden. Der Gesetzgeber darf niemanden verpflichten, sich in dieser höchst persönlichen Frage zu äußern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU] und Joachim Spatz [FDP]) Für uns ist noch ein weiterer Punkt zentral. Es darf keinerlei moralischer Druck auf die Bürgerinnen und Bürger ausgeübt werden. Es darf niemand gedrängt werden, der Organspende zuzustimmen, weil eigentlich nur ein Ja die richtige Entscheidung ist. Ich persönlich bin Organspenderin. Andere Menschen aber lehnen die Organspende ab oder wollen nur bestimmte Organe spenden. Die Gründe dafür sind immer sehr persönlich, und für mich ist jede persönliche Entscheidung vorbehaltlos zu akzeptieren. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]) Niemand sollte sich zu einer Bewertung dieser persönlichen Entscheidung eines anderen Menschen aufschwingen. Darum muss die Aufklärung über die Organspende, die wir in diesem Gesetzentwurf stärken, ergebnisoffen und wertfrei sein. Ich bin sehr froh, dass wir uns am Ende darauf einigen konnten, die Aspekte „Freiwilligkeit der Entscheidung“ und „ergebnisoffene Aufklärung“ in den Gesetzentwurf aufzunehmen. Allerdings haben einige von uns Grünen – so auch Harald Terpe und ich – noch erhebliche Bedenken zu einem Teil der geplanten Regelungen. Ab 2016 soll es ein Verfahren geben, das es den Krankenkassen ermöglicht, die Organspendeerklärung eines Versicherten auf der elektronischen Gesundheitskarte zu speichern und zu löschen. Es soll zwar nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der Versicherten möglich sein, aber es ist auch jetzt schon so geplant, dass die Zustimmung der Versicherten immer notwendig ist. Das ist kein Ausnahmezustand. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dennoch: Diese Zugriffsberechtigung stellt einen Bruch mit den strengen Datenschutzregeln dar, die bisher aus guten Gründen für die Gesundheitskarte gelten. Eine dieser Regeln besagt, dass die Krankenkassen keinerlei Zugriff auf sensible Versichertendaten erhalten. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Dabei bleibt es ja auch!) Dies wird unserer Meinung nach mit dieser Regelung verletzt. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Nein!) Wir befürchten, dass damit nicht nur das sehr fragile Vertrauen der Bevölkerung in die Gesundheitskarte, sondern gleichzeitig auch das Vertrauen in die Organspende Schaden nehmen könnte. Außerdem halte ich persönlich den Nutzen dieser Maßnahme im Zusammenhang mit der Organspende für sehr überschaubar. Ich denke, dass wir darauf durchaus verzichten können. Wir werden einen Änderungsantrag einbringen, der die Streichung der vorgesehenen Schreibrechtregelung vorschlägt. Dieser Antrag ist genau wie der Gesetzentwurf ein Gruppenantrag. Deshalb werden wir diesen -Änderungsantrag allen Mitgliedern dieses Hauses zur Verfügung stellen. Wir freuen uns sehr über Ihre Unterstützung. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Mit dem Änderungsantrag stelle ich persönlich den vorliegenden Gesetzentwurf nicht infrage. Ich stehe zu dem Konsens, ich habe ihn mit verhandelt, ich werde ihn unterzeichnen, und ich werde ihm auch meine Stimme geben. Das Ziel unseres Änderungsantrages ist es, den Gesetzentwurf an sich zu verbessern. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Kompromiss wird die wichtige Debatte zur Organspende tiefer in die Gesellschaft und in die Familien getragen. Ich bin der Auffassung: Die Familien sind der richtige Ort; dort gehört diese Debatte hin. Es ist wichtig, über die Entscheidung für oder gegen eine Organspende mit den nächsten Angehörigen zu sprechen; denn das schafft Klarheit, und das nimmt auch den Druck, für jemanden entscheiden zu müssen. Ob es durch den vorliegenden Gesetzentwurf zu mehr Organspenden kommen wird, werden wir sehen. Uns allen muss aber auch klar sein, dass uns die Anzahl von 3 000 bis 5 000 hirntoten Menschen pro Jahr auch die Grenzen der Organspende aufzeigt. Das müssen wir auch akzeptieren. Insgesamt denke ich, dass die organisatorische Verbesserung in den Kliniken eine wesentlich größere Bedeutung haben wird. Dazu werden wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung die richtigen Schritte gehen. Entscheidend ist, dass wir jede und jeden dazu anregen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen – ohne Zwang und ohne jemanden zu einer bestimmten Entscheidung zu drängen. Diese Debatte heute kann nicht alle Fragen und auch Probleme der Organspende lösen bzw. klären. Wir werden weiter darüber diskutieren; aber heute ist ein erster wichtiger Schritt getan. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Unser erfreulicherweise gemeinsames Ziel ist es, möglichst vielen der etwa 12 000 Menschen, die auf der Warteliste stehen, durch eine Organtransplantation eine Chance zum Überleben zu geben. Dieses Ziel ist nur durch eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu erreichen. Ich hoffe daher, dass die große, fraktionsübergreifende Mehrheit im Deutschen Bundestag eine Si-gnalwirkung nach außen entfacht. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir Antworten auf Fragen besorgter Bürger: Wieso sind laut Umfragen 74 Prozent der Bevölkerung bereit, nach ihrem Tod Organe zu spenden, aber warum handeln nur 25 Prozent danach? Warum sterben 21 Menschen pro Woche unter uns, die vergeblich auf Organe warten? Was machen andere Länder besser, die mehr Spender haben als wir? Wir haben nur rund 15 Spender auf 1 Million Einwohner und befinden uns damit international im unteren Drittel. Die Antworten sind sicher vielfältig. Aus Bequemlichkeit? Aus Unwissenheit? Aus Verunsicherung durch offene Fragen: Wann bin ich tot? Lassen mich die Ärzte womöglich zu früh sterben, wenn ich einen Organspenderausweis habe? Es geht aber auch um die Frage: Wer zahlt meinen Lohnausfall, wenn ich wegen einer Lebendspende Einkommensausfälle habe? Ärzte machen sich Gedanken: Soll ich die Eltern eines sterbenden Kindes wirklich mit einer solchen Frage belasten und sie ansprechen? Es sind sehr persönliche Fragen, deren Nichtbeantwortung aber viele abhält. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage: Wird mein Körper durch eine Organ- oder Gewebeentnahme entstellt? Nicht alle wissen, dass die Entnahme in einem normalen Operationssaal stattfindet und dass das Transplantationsteam respektvoll mit dem Körper der Toten umgeht. Um die Beantwortung der von mir genannten Fragen geht es auch heute. Mit dem Transplantationsgesetz wollen wir gemeinsam die Strukturen in den Krankenhäusern verbessern, und mit der Entscheidungslösung wollen wir möglichst viele potenzielle Spender gewinnen. Zur Erhöhung der Akzeptanz halte ich es für sehr wichtig, dass die Einwilligung freiwillig bleibt. Ja oder Nein zu sagen, sich später oder gar nicht zu erklären, das bleibt jedem überlassen; denn es handelt sich weiterhin um eine freiwillige Spende aus Solidarität und Nächstenliebe. Niemand wird verpflichtet. Ich halte nichts von Zwang. Damit entkräftet man Vorbehalte nicht, sondern baut emotionale Hürden auf. Freiwilligkeit setzt eine transparente Information voraus, damit eine individuelle und qualifizierte Entscheidung möglich ist. Viele gehen dem Thema aus dem Weg, verkennen aber, dass im Todesfall die nächsten Angehörigen die Entscheidung treffen müssen. Eine besonders wirksame Verbesserung sehe ich in der Bestellung von Transplantationsbeauftragten in Entnahmekrankenhäusern, die den gesamten Ablauf professionell und – das ist noch viel wichtiger – menschlich begleiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Dadurch wird das gesamte Personal besser vorbereitet, und die Angehörigen werden so angemessen begleitet. Dies ist im Übrigen einer der Hauptgründe, warum in Spanien mehr als doppelt so viele Spenderorgane zur Verfügung stehen als in Deutschland. Dort werden die Transplantationsbeauftragten geschult. Sie lernen zum Beispiel, wie man Angehörige rechtzeitig in die Entscheidung einbindet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Auch die Absicherung von Lebendspendern wird deutlich verbessert. Einkommensausfälle werden durch die Einbeziehung der Spender in das Entgeltfortzahlungsgesetz kompensiert, und Unklarheiten hinsichtlich der Sozialversicherung werden beseitigt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dies ein guter Tag für alle ist; denn jeden kann es treffen. Jeder kann von diesen Gesetzesänderungen profitieren, als Lebenschenkender oder als -empfänger. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Franz Beckenbauer schließen. (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD: Oh!) – Sie werden sich jetzt vielleicht wundern. Ich könnte natürlich sagen: Nach dem Fußballergebnis von gestern Abend ist mir das eine besondere Freude. – Franz Beckenbauer hat gesagt: Als Organspender bin ich selbst am Ende meines Lebens noch reich. Ich kann einem anderen das Leben schenken. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Marlies Volkmer ist die nächste Rednerin. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Ziel ist es, dass sich mehr Menschen in Deutschland für eine Organspende entscheiden und das auch dokumentieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen, dass nicht länger so viele Menschen mit einer stark eingeschränkten Lebensqualität jahrelang händeringend auf ein Organ warten oder gar versterben, während sie auf der Warteliste stehen. In der Öffentlichkeit ist viel über die Entscheidungslösung gesprochen worden, auch heute hier. Das ist auch nicht verwunderlich; denn diese Entscheidungslösung betrifft jeden von uns ganz unmittelbar, und sie ist in der Öffentlichkeit leicht darstellbar. Die Fraktionsvorsitzenden haben sich dieses Themas persönlich angenommen. Es ist gut, dass wir eine fraktionsübergreifende Lösung gefunden haben. Um eine Entscheidung treffen zu können, benötigt man Informationen; denn sonst entscheidet man aus dem Bauch heraus. Deswegen ist eine bessere Aufklärung der Bevölkerung über die Organspende Teil des Gesetzentwurfs zur Regelung der Entscheidungslösung. Zum Thema Aufklärung möchte ich zwei Punkte besonders hervorheben. Erstens. Jedem Menschen muss bewusst sein: Wenn er sich nicht selbst für oder gegen eine Organspende entscheidet, erlegt er diese Entscheidung seinen Angehörigen auf. Mit der eigenen Nichtentscheidung zwinge ich andere, diese Entscheidung für mich zu treffen. Zweitens. Wer eine Patientenverfügung verfasst, dem muss bewusst sein: Ein ausnahmsloser Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen schließt in der Regel auch Organspenden aus. Patientenverfügungen haben im letzten Jahr zu einer Abnahme der Zahl der Organspenden beigetragen. Aber das muss nicht so sein. Durch entsprechende Formulierungen lässt sich das miteinander vereinbaren. Die vorgesehene Regelung zur Entscheidungslösung ist allerdings nur ein – wenn auch ein ganz wichtiger – Baustein zur Förderung der Organspende. Wie wir an den unterschiedlichen Aufkommen an Spenderorganen in den Bundesländern sehen, spielt die Organisation der Abläufe um eine Organspende eine Rolle. So schwankt die Zahl der Organspender je 1 Million Einwohner zum Beispiel zwischen 11 in Baden-Württemberg und 24 in Thüringen. Daher befasst sich ein zweiter Gesetzentwurf mit der Novellierung des bestehenden Transplantationsgesetzes. Die vorliegende Novelle hat das Ziel, einheitliche Standards im Transplantationsprozess sicherzustellen und die Abläufe der Organspende zu verbessern. Die grundsätzliche Verpflichtung für alle Krankenhäuser mit Intensivstationen, mindestens einen Transplantationsbeauftragten zu bestellen, ist sicherlich eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzentwurfs. Transplantationsbeauftragte stehen für eine Verbesserung der Abläufe. Sie sind die „Kümmerer“, die für alle Belange der Organspende vor Ort, innerhalb des Krankenhauses, zuständig sind. Durch ihre Tätigkeit können sie ihre Kolleginnen und Kollegen, von der Reinigungskraft bis zur Chefärztin, für die Belange der Organspende sensibilisieren. Zum Beispiel können sie verdeutlichen, dass ein völlig sinnloser Unfalltod nicht mehr ganz so sinnlos ist, wenn dadurch ein anderes Leben gerettet werden kann. Es ist auch wichtig, dass die Transplantationsbeauftragten zur frühzeitigen Erkennung potenzieller Spender beitragen. Wir haben in Deutschland 1 400 Krankenhäuser mit Intensivstationen, hatten aber im vorigen Jahr nur 1 900 Meldungen in Bezug auf potenzielle Organspender. Nicht einmal die Hälfte aller Krankenhäuser mit Intensivstationen beteiligt sich überhaupt daran, potenzielle Organspender zu melden. Die Zahl derer, die als Spender in Betracht kommen, liegt nach Schätzungen von Experten doppelt so hoch, wie Meldungen erfolgen. Angesichts der 12 000 Menschen, die dringend auf ein Organ warten, ist das nicht hinnehmbar. Leider fehlen bisher in dem vorliegenden Gesetzentwurf die von Minister Bahr angekündigten Verbesserungen für Lebendspender, also Menschen, die beispielsweise einem ihrer Angehörigen eine Niere spenden. Diese Menschen handeln in einem hohen Maße selbstlos. Wir sind es ihnen schuldig, Unklarheiten und Unsicherheiten, die im Rahmen ihres Versicherungsschutzes bestehen, zu beseitigen. (Beifall bei der SPD) Sobald der Empfänger Mitglied in der privaten Krankenversicherung ist, die Unterbrechung der Arbeitstätigkeit des Spenders mehr als einen Monat dauert oder es nach Jahren Komplikationen gibt, kommt es zu Schwierigkeiten. Diesen Zustand wollen wir ändern. (Beifall bei der SPD) Unser Ziel ist es, dass die Spender materiell nicht schlechter gestellt werden, als wenn sie kein Organ gespendet hätten. Diese wichtigen Änderungen sollen im weiteren Verfahren eingebracht werden. Da die gemeinsamen Gespräche zwischen den Fraktionen bisher sehr konstruktiv verlaufen sind, gehe ich davon aus, dass wir uns bei diesen noch offenen Punkten einigen können. Am Ende kommt es nicht darauf an, wer seine Position am meisten durchgesetzt hat, sondern darauf, wie vielen Menschen wir besser helfen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Gabriele Molitor ist die nächste Rednerin. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gabriele Molitor (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Ereignisse, die sich im Gedächtnis einbrennen, zum Beispiel die Landung des ersten Menschen auf dem Mond oder die erste Herztransplantation. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Christiaan Barnard!) – Genau. – Der südafrikanische Chirurg Christiaan -Barnard nahm sie 1967 vor. Diese medizinische Sensation löste damals eine heftige Diskussion aus. Seither ist die medizinische Forschung enorm vorangekommen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Debatte in unserer Gesellschaft ist ebenfalls vo-rangeschritten. Mittlerweile können viele schwerkranke Menschen durch eine Organspende gerettet werden. Aber – die Umfrage ist hier schon mehrfach genannt worden –: 74 Prozent der Bevölkerung würden einer Organspende zustimmen, aber nur 25 Prozent haben tatsächlich einen Organspendeausweis bei sich. Diese Lücke möchten wir verkleinern. Deswegen legen wir den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz vor. Wir wollen, dass sich die Menschen mit dem Thema auseinandersetzen. Wir wollen sie dafür gewinnen, sich für die postmortale Organspende zu entscheiden. Die Krankenkassen sollen die Menschen zukünftig regelmäßig anschreiben, ihnen Ausweisvordrucke mitschicken, und sie auffordern, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Diese flächendeckende Befragung ist ein Novum. Ich glaube, dass wir auf diesem Weg letztlich mehr Menschen dafür gewinnen können, einen Organspendeausweis zu unterschreiben. Manchen geht dieser Gesetzentwurf nicht weit genug. Ich kann sehr gut verstehen, dass schwerkranke Menschen mehr Druck erwarten. Doch die Ängste und Hoffnungen derer, die auf ein rettendes Organ warten, sind das eine. Das andere sind die Sorgen und Vorbehalte -potenzieller Spender. Schließlich geht es um den eigenen Körper. Und: Wir verlangen von den Menschen, dass sie sich mit ihrem eigenen Tod befassen. Deswegen war die Widerspruchslösung für die FDP keine Alternative. Für mich und meine Fraktion war klar: Die Entscheidung für einen Organspendeausweis muss freiwillig bleiben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Einem unbekannten Menschen seine Organe zu hinterlassen, ist ein Akt der Nächstenliebe. Der Charakter einer Spende muss erhalten bleiben. Und: Der Staat kann und darf Nächstenliebe nicht gesetzlich verordnen. Während Befürworter der Widerspruchslösung auch ein Stück weit auf die Trägheit der Bürger setzen, setzen wir mit der Entscheidungslösung darauf, dass die Bürger eine bewusste Entscheidung treffen, eine bewusste Entscheidung für die Organspende. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In einem Klima der freien Entscheidung – davon bin ich zutiefst überzeugt – werden sich mehr Menschen dazu bereit erklären. Das wird mehr Erfolg haben als Zwang. Allen Versuchen, Druck auszuüben, sind wir entgegengetreten. Es gibt aber auch eine Verantwortung gegenüber den Angehörigen. Denn schon jetzt ist es möglich, dass Angehörige eines gehirntoten Menschen einer Organspende zustimmen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie darum bitten, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wenn das Parlament mit großer Geschlossenheit hinter dieser Idee steht, werden sich auch die Bürgerinnen und Bürger dafür entscheiden. Das wird die Chancen auf ein lebensrettendes Organ für viele Menschen erhöhen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Birgitt Bender. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut und wichtig, dass wir mit einer breit getragenen Regelung dafür sorgen wollen, dass die Debatte um die Organspende an die Tische der Familien kommt. Hüten sollten wir uns aber vor Erfolgsmeldungen nach dem Motto: Jetzt wird alles besser. Ich glaube, wir brauchen eine offene und ehrliche Debatte, und zwar sowohl über die Bedeutung, die neue Regelungen für schwerkranke Menschen haben können, denen durch ein Spenderorgan Lebenszeit geschenkt werden kann, als auch über die Bedeutung der Regelungen für Menschen, die sich möglicherweise zum Spenden von Organen und Geweben entscheiden. Es war schon die Rede von den 12 000 Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, und auch davon, dass jährlich 3 000 bis 5 000 Menschen über den Weg eines Hirntods sterben. Dass das nicht mehr sind, ist für sich genommen eine gute Nachricht, weil das bedeutet, dass bestimmte Maßnahmen wie zum Beispiel der Einbau von Airbags Menschen das Überleben ermöglichen. Im Jahre 2010 waren es 600 dieser Hirntoten, die keinen Organspendeausweis hatten und bei denen sich auch die Angehörigen außerstande sahen, als Ausdruck des mutmaßlichen Willens der Betroffenen die Zustimmung zu erteilen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass sich möglicherweise mehr Menschen für eine Organspende bereit erklären, und wir wissen, dass jeder Mensch bis zu sechs Menschen mit seinen Organen helfen kann, so wissen wir doch, dass die Zahl derer, deren Aussicht auf ein Spenderorgan steigt, im Verhältnis zu den 12 000 Menschen, die darauf warten, relativ gering ist. Das dürfen wir nicht verschweigen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Es wird auch weiterhin so sein, dass Menschen während der Wartezeit auf ein Spenderorgan versterben; denn ein lebendiges Organ ist eben kein Medizinprodukt, das beliebig reproduzierbar ist, weil es einfach hergestellt wird. Meine Damen und Herren, ich finde, es ist auch wichtig, den Menschen zu erklären, was diese sogenannte postmortale Organspende bedeutet. Sie setzt den sogenannten Hirntod voraus. Das ist immer ein abschiedsloser Tod durch Unfall, durch Suizid oder beispielsweise durch einen besonders schweren Schlaganfall. Wer hirntot ist, ist nicht tot, sondern steht am Beginn eines Sterbeprozesses. Dieser Sterbeprozess sieht anders aus, je nachdem, ob jemand Organspender ist oder eben nicht. Man muss den Menschen sagen, dass es nicht mit einer Organspende vereinbar ist, wenn sie beispielsweise eine Patientenverfügung haben, die ausschließt, am Lebensende intensivmedizinisch behandelt zu werden; denn eine Organspende erfordert genau diese intensivmedizinische Behandlung. Es ist wichtig, dass die Menschen das wissen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Durch die Organspende verändert sich natürlich der Sterbeprozess. Dies ist ein Eingriff in den Sterbeprozess. Wir wissen nicht genau, ob dies für die Betroffenen noch eine Bedeutung hat. Weil wir das aber nicht so genau wissen, ist es besonders wichtig – ich sage das an die Adresse von Herrn Gysi –, dass nicht der Staat darüber entscheidet, ob jemand zum Organspender wird, sondern ausschließlich der Mensch selber oder notfalls die Angehörigen in Ermittlung seines Willens. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Auch dann, wenn ein Organspendeausweis vorliegt und die Angehörigen damit der Verantwortung enthoben sind, diese Entscheidung zu treffen, sind sie doch in einer sie schwer belastenden Situation, weil sie diesen abschiedslosen, plötzlichen Tod erleben und sich von -einem Körper verabschieden sollen, der warm ist, durchblutet ist und vielleicht schwitzt. Das ist etwas anderes als der Abschied von einem erkaltenden Leichnam. Deswegen wird es auch bei Vorliegen eines Organspendeausweises immer Gespräche mit den Angehörigen geben müssen, die all das zu verkraften haben. Das sei an die Adresse derjenigen gerichtet, die glauben, man könne sich diese als belastend empfundene Kommunikation vom Halse schaffen. Das darf man nicht, meine Damen und Herren. Die Angehörigen haben auch Rechte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Deswegen sage ich: Nur wenn wir diese angesprochenen Bereiche nicht tabuisieren, sondern offen und ehrlich darüber reden, wird es uns gelingen, diese Debatte tatsächlich an die Familientische zu tragen, und dann werden Menschen ihre Entscheidung treffen. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass die Organisation und die Abläufe in den Kliniken in Bezug auf eine Organspende mindestens genauso wichtig sind wie der Punkt, ob Menschen nach ihrer Bereitschaft, Organe zu spenden, gefragt werden. Insofern ist auch das ein wichtiger Aspekt, den wir hier beraten werden. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Stefanie Vogelsang ist die nächste Rednerin. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Molitor hat es vorhin angesprochen: 1967 erfolgte in Südafrika die erste Herztransplantation; leider ist der Patient relativ schnell verstorben. Damals war ich gerade ein Jahr alt. Der medizinische Fortschritt und die medizinische Forschung der letzten 45 Jahre lassen ihresgleichen suchen, und wir alle können stolz auf den Erfindergeist von klugen Köpfen sein, die im Interesse der Lebensqualität der Menschen diesen Fortschritt errungen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich weiß noch ganz genau, dass ich als junges Mädchen eine bestimmte Biografie mindestens zehnmal, glaube ich, gelesen habe. Das war die Biografie – Herr Brüderle guckt mich so wissend an – (Rainer Brüderle [FDP]: Jetzt bin ich aber -gespannt!) Mein Weg als Arzt und Mensch von Christiaan Barnard. Mit dieser Biografie von Christiaan Barnard ist bei mir die Begeisterung für Erfindergeist, für medizinischen Fortschritt, für die Dinge, die wir machen können, geweckt worden. Von Anfang an, seit 1967, spielt das Thema der Ethik eine ganz erhebliche Rolle in der Diskussion über Transplantation und die Möglichkeiten der Menschen, sich für oder gegen eine Organspende bzw. Gewebespende zu entscheiden. Ich bin sehr stolz darauf, was unsere Fraktionsvorsitzenden zustande gebracht haben, weil es meiner Ansicht nach die Kultur in der Bundesrepublik richtig widerspiegelt. Wir sind ein freiheitlicher Staat. Da schreibt -niemand irgendwem etwas vor. Jeder Bürger muss die Freiheit haben, selber zu entscheiden. Wir haben in den letzten Tagen allerdings oft gehört: Aus Freiheit erwächst auch Verantwortung. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Jeder Einzelne hat die freie Möglichkeit, sich zu entscheiden, und ihm obliegt die Verantwortung, diese Entscheidung auch vor sich und seinem Nächsten zu tragen. Freiheit und Verantwortung folgt aber ein dritter Begriff, und das ist Vertrauen. Jeder hat auch das Recht, seinen Angehörigen zu vertrauen, dass sie im Fall der Fälle für ihn die richtige Entscheidung treffen. Dieser Dreiklang aus Freiheit, Verantwortung und Vertrauen ist für mich etwas sehr Wichtiges. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, Frau Bender, dass nicht so sehr die Organspendeausweise das entscheidende Kriterium zur Erhöhung der Spendenbereitschaft sind. Auf meinem Organspendeausweis steht übrigens: Ich bin zwar bereit, mein Herz zu spenden. Die Hornhaut meiner Augen möchte ich allerdings nicht spenden. Ich habe mich lange damit beschäftigt und für mich entschieden, dass ich bereit bin, meine Organe zu spenden. Meine Augen möchte ich aber nicht spenden. Es ist eine ganz legitime Entscheidung, wenn man einzelne Organe ausschließt. Das Wichtigste ist, dass Menschen mit ihren Familien am Tisch sitzen und darüber ganz offen, ehrlich und breit diskutieren, damit jeder der Freunde und Familienangehörigen weiß, wie die betroffene Person dazu steht. Von dem Brief der Krankenkassen verspreche ich mir sehr viel mehr Gespräche zu Hause, am Küchentisch, als von Hinweisen auf großen Leinwänden, die früher an Hochhäusern, zum Beispiel am Potsdamer Platz, installiert wurden. Es ist also ganz wichtig, die Diskussion in der Familie zu führen, sich darüber auszutauschen, damit jeder darüber Bescheid weiß. Das Thema Transplantationsbeauftragter wird schon im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes geregelt. In großen Kliniken mit großen Intensivstationen wird ein Transplantationsbeauftragter eingesetzt, der sich, hauptamtlich freigestellt, mit dem Thema Transplantationen beschäftigt, sich um Ange-hörige und um Betroffene kümmert und das Ganze organisieren kann. Bei dem Thema Transplantationsbeauftragter geht es aber nicht nur um die Spende von Herz, Niere und Lunge, sondern es geht auch um Gewebespenden. Ich glaube, dass wir uns in der Ausschussberatung noch einmal mit Verbindlichkeiten von Gewebespenden und -damit auseinandersetzen müssen, dass es in Krankenhäusern ein und dieselbe Ansprechperson bezogen auf die Herzklappe, auf große Venen und auf die Hornhaut geben muss. Es kann nicht sein, dass es auch in Zukunft noch für Angehörige oder betroffene Menschen zwei verschiedene Ansprechpartner für Organe oder Gewebe gibt. Ich glaube, dass wir uns darüber noch einmal intensiv unterhalten sollten. Im weiteren Verfahren – auch das werden wir in der Ausschussberatung noch einmal erörtern – sollten wir uns mit dem Thema Qualitätsmanagement auseinandersetzen. Wir sollten uns noch einmal genau anschauen, ob wir nicht Formulierungen für Richtlinien zur Nachsorgebetreuung von Transplantierten brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Ähnlich wie bei Krebspatienten brauchen wir auch hier eine Nachsorge, damit wir den Menschen, denen ein Organ transplantiert wurde, größtmöglichen medizinischen Fortschritt und medizinische Fürsorge angedeihen lassen können, damit sie so lange, wie es eben möglich ist, mit dem empfangenen Organ glücklich leben können. Ich denke, uns liegt ein sehr guter Entwurf zur -Änderung des Transplantationsgesetzes vor. Auch der Gesetzentwurf zur Regelung der Entscheidungslösung ist sehr gut. Aber alles kann man immer noch ein kleines Stückchen weit verbessern. Ich freue mich auf eine spannende Diskussion in -unserem Ausschuss und danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild -Rawert, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]) Mechthild Rawert (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auch ich hoffe, dass wir es schaffen, eine Reform des Transplantationsgesetzes bis zur Sommerpause über die Bühne zu bringen. Bis dahin wünsche ich mir, dass jede und jeder schon jetzt einen Organspendeausweis ausfüllt und bei sich trägt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Schon jetzt kann ich einen Organspendeausweis ausfüllen. Ich verlese einfach einmal das, was auf dem -Organspendeausweis steht: Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Gewebe zur Transplantation in Frage kommt, erkläre ich: – erste Möglichkeit – JA, ich gestatte, dass nach der ärztlichen Feststellung meines Todes meinem Körper Organe und -Gewebe entnommen werden. Zweite Möglichkeit: JA, ich gestatte dies, jedoch nur für folgende -Organe/Gewebe: Dritte Möglichkeit: NEIN, ich widerspreche einer Entnahme von Organen und Geweben. Vierte Möglichkeit: Über JA oder NEIN soll dann folgende Person entscheiden: Ein solcher Ausweis kann schon heute ausgefüllt werden. Ich denke, das wäre zusätzlich zur heutigen Debatte schon mal ein erster Schritt, um den 12 000 Patientinnen und Patienten zu helfen, die auf ein Spenderorgan -warten. Ich bin keine Medizinerin. Ich bin auch keine Juristin. Ich war aber als Angehörige einmal in einer Situation, in der eine Organspende vorgenommen wurde. Ziemlich genau vor zwei Jahren ist mein Schwager plötzlich bei einer Tätigkeit, die er schon tausendmal durchgeführt hatte, aus mehreren Metern Höhe gefallen und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufgeschlagen. Trotz Hubschrauber, trotz sofortiger Operation war nichts mehr daran zu ändern: Das Gehirn war „kaputt“. Da liegt also ein großer stämmiger Mann im Krankenhaus, und nichts anderes schien ihm passiert zu sein, keine sichtbaren Schrammen, keine Gipsverbände, nichts weiter. Die Situation war die: Meine Schwester und mein Schwager hatten eine Patientenverfügung und auch -einen Organspendeausweis. Es gab fünf Kinder im Haus: Vier waren bereits erwachsen, und eins war minderjährig. Es war wie in zwei Filmen gleichzeitig: Einerseits gab es im Krankenhaus das „Glück“ – das sagt meine Schwester heute noch –, auf medizinisches und pflege-risches Personal zu stoßen, das die Ruhe und Zeit hatte, sich dem Schmerz der Angehörigen zu widmen, aber auch klar und verständlich mitzuteilen, was ein Hirntod ist, was vorher und nachher organisatiorisch passiert, -damit die Organe entnommen werden können. Über -wenige Tage wurden Untersuchungen gemacht, ob der Körper noch Reflexe zeigt oder nicht. Erst dann wurde der Hirntod festgestellt. Andererseits fragten sich zu Hause alle voller Trauer und im Schock: Wie kann so -etwas sein? Meine Familie lebt heute ruhig mit der Entscheidung für die Organspende. Für die minderjährige Tochter war es sogar ein großer Trost, dass der Vater, wenn das Schicksal es denn so wollte, mit seinem Tod zumindest anderen helfen konnte. Ein zweites Beispiel aus meiner Familie verbinde ich mit der Bitte um eine entsprechende Diskussion. Wir fordern zu Recht eine Verbesserung der arbeitsrecht-lichen Regelungen für Lebendspender und -spende-rinnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Was ist aber mit denjenigen, die für Leukämie-Kranke spenden? Sie fallen nicht unter dieses Gesetz. Aber auch diese Spender und Spenderinnen sind häufig mehrere Tage nicht erwerbsfähig. Ich finde, hier darf es keine -Hierarchisierung geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das bitte ich in der Diskussion mitzuberücksichtigen. Über das kommende gesetzgeberische Prozedere ist schon intensiv gesprochen worden. Ich denke, wir brauchen insbesondere in den Krankenhäusern eine neue Sterbekultur. Niemand darf Angst haben, dass die Hochleistungsmedizin auf Dauer gesehen immer wieder alles macht, was machbar ist. Denn dann wird man noch zu einem Zeitpunkt am Leben erhalten, an dem es eigentlich kein Leben mehr ist, weder für den Betreffenden oder die Betreffende noch für die Angehörigen. Auch das Sterben braucht Zeit. Zeitgleich braucht mensch die Beruhigung, dass der eigene Körper nicht nur ein Ersatzteillager ist und Dritten dient. Das Sterben ins Leben zurückzuholen, das -haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein Stück weit verloren. Ich plädiere für ganz neue Diskus-sionen über dieses Thema. Das wäre angesichts einer -älter werdenden Gesellschaft eine große Unterstützung für viele Familien und auch für uns selbst. Ich denke, das ist eine große Herausforderung, der wir uns alle zu stellen haben. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein Thema, das weit über die Politik hinausgeht und das viele Menschen -berührt. Auch für viele von uns ist das Thema mit Traurigkeit über ein schreckliches Ereignis verbunden. Im Juni 2010 fuhr Ferdinand von Behr, der älteste Sohn einer eng befreundeten Familie mit einem Quad über das Feld des Gutes Rixdorf, weil er dort die Ernte begleiten wollte. Trotz geringer Geschwindigkeit – die Wetterlage war schwierig – geriet er in eine unheimliche Staubwolke, die von dem Mähdrescher ausgelöst worden war, und stieß mit einem Trecker zusammen. Er zog sich lebensgefährliche Verletzungen zu und starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Für seine Familie und seine Freunde brach eine Welt zusammen. Die Familie fand Kontakt zum Verein für Transplantationsbetroffene Schleswig-Holstein und entschied sich für eine Organspende. Das zeigt die Bedeutung der vielen privaten Institutionen, die Hilfe und Aufklärungs-arbeit leisten. Aufklärung ist mir im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf besonders wichtig. Wir plädieren für eine Entscheidungslösung mit erweiterter Aufklärung. Wir wollen, dass jeder Bürger und jede Bürgerin sich ernsthaft und möglichst früh mit diesem Thema auseinandersetzt und für sich eine persönliche Entscheidung fällt. Ich bin froh, dass wir mit der Entscheidungslösung eine Alternative zur Zustimmungs-lösung und Widerspruchslösung gefunden haben. Wenn Sie sich die verschiedenen Länder anschauen, dann stellen Sie fest, dass es sonst nur die beiden letztgenannten Lösungen gibt. Bei unserem Vorschlag handelt es sich um ein ganz neues Modell, bei dem die Argumente, die gegen eine Widerspruchslösung angeführt werden – der Staat greife hier sehr rigide in die Persönlichkeitsrechte ein –, nicht zum Tragen kommen. Jeder kann für sich selber entscheiden. Wir brauchen mehr Organspender. Schleswig-Holstein gehört in dieser Hinsicht zu den Schlusslichtern. Hier kommen im Schnitt 12,7 Organspender auf 1 Million Einwohner. Das sind 0,00127 Prozent. Das ist natürlich viel zu wenig. Aber auch bundesweit kommen -gerade einmal 15,9 Organspender auf 1 Million Einwohner. Das ist nicht viel besser. In Spanien, wo es ein -Widerspruchsmodell gibt, kommt man immerhin auf 34,4 Organspender, also auf mehr als das Doppelte. Es ist wichtig, dass wir uns hier weiterentwickeln. Ich möchte die Zahl der 12 000 Menschen, die auf eine Organspende warten, etwas anschaulicher machen. Die Kreisstadt Plön hat etwa 12 800 Einwohner. Das heißt, eine ganze Stadt wartet auf Organspenden. Aber nur die Hälfte der Menschen kann ein Organ bekommen. Wir hoffen, dass wir mit unserem Modell hier vorankommen. Kollege Gysi, mir ist wichtig, zu betonen, dass alle, ob Reiche, Arme, Frauen oder Männer, von diesem Thema betroffen sind. Ich bin der Kollegin Molitor sehr dankbar, dass sie das Thema Forschung angesprochen hat. Als Mitglied des Ausschusses für Bildung und Forschung möchte ich darauf hinweisen, dass wir uns sehr stark mit dem Thema Transplantationsforschung, das in diesem -Zusammenhang sehr wichtig ist, auseinandersetzen. Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung zum Beispiel arbeitet an einer medizinischen Methode, die dazu dient, die natürliche Abwehr von gespendeten Organen durch das Immunsystem zu verringern. Man darf nicht vergessen, dass viele Menschen, die eine Transplantation hinter sich haben, eine lebenslange Behandlung mit -Medikamenten über sich ergehen lassen müssen. Jeder Schritt, der in diesem Bereich vorwärts gegangen wird, ist sehr wichtig und für die betroffenen Menschen von großer Bedeutung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich möchte noch auf die Aufklärung zu sprechen kommen. Wir binden die gesetzlichen Krankenkassen und die privaten Versicherer in ihrer Rolle als Aufklärer – ich nenne als Stichworte nur das bereits erwähnte -Informationsmaterial und den Organspendeausweis – sehr stark ein. Die Menschen per Gesetz zu einer Entscheidung zu leiten, ist das eine. Sie inhaltlich aufzuklären, ist das andere. Mir ist es sehr wichtig, die vielen privaten, kleinen Vereine und Organisationen in der Bundesrepublik nicht aus dem politischen Blick zu verlieren; denn man kann nicht nur mit schriftlichen Unterlagen aufklären. Es geht schließlich um die Reduzierung von Ängsten, um Begleitung, Unterstützung, persönliche Beratung und Einfühlungsvermögen in diesem Prozess. Bei allem Respekt, aber das kann ein Schreiben einer Krankenkasse nicht leisten. Insofern brauchen wir die vielen privaten Vereine. Diese sollten wir weiterhin im Auge behalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Es geht um sehr viel mehr als nur um Organe und eine reine Organspende. Dessen müssen wir uns immer -bewusst sein. Es geht auch um Leid und häufig um den Tod eines Menschen. Es geht um das Leid der Angehörigen, Würde und tiefe Gefühle, aber auch um Leben, Freude und Glück. Wir alle, die wir das Glück eines -gesunden Lebens haben, sollten uns verpflichtet fühlen, an diejenigen zu denken, die dieses Glück nicht haben. Ich freue mich, dass wir uns nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg machen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege -Michael Brand das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Michael Brand (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte meinen Beitrag in dieser guten Debatte mit einem Bekenntnis, einer persönlichen Anerkennung beginnen. Auch mich hat, wie viele andere, sehr nachhaltig beeindruckt, dass unser Kollege Frank-Walter Steinmeier sich für seine damals schwerkranke Frau als Organspender zur Verfügung gestellt hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nun zähle ich ja bekanntlich nicht zum Fanclub der politischen Abteilung, der Kollege Steinmeier an führender Stelle angehört. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir geben keinen auf!) Was uns als Menschen aber doch immer wieder berührt, ist eine Geste menschlicher Größe und – ich sage es bewusst – Opferbereitschaft für den Nächsten, egal ob er oder sie einem fern- oder nahestehen mag. Aus diesem Grund hat das Verhalten von Frank-Walter Steinmeier so beeindruckt. Und so ist die Bereitschaft vieler Tausender anderer Spender beeindruckend, die sich zu Lebzeiten oder auch nach dem Tod für andere Menschen als Organspender zur Verfügung stellen. Es ist immer und es wird immer eine sehr persönliche Entscheidung für jeden Einzelnen sein, ob ich mich als Organspender zur Verfügung stelle oder ob dies für mich eben unvorstellbar ist. Als Christ weiß ich um das Leben nach dem Tod, und ich weiß auch um die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Persönlich komme ich zu dem Ergebnis, dass ich mit einer freiwilligen Spende meiner Organe einem Menschen zum Überleben oder auch zur Beendigung schwerer Qualen helfen kann. Es ist also für mich vorstellbar, nach meinem Tod einen Teil meiner sterblichen Überreste, wie es so oft heißt, für das Leben anderer sozusagen aus freier Entscheidung freizugeben. Wie wir aus vielen Umfragen und wie viele von uns aus ihrem persönlichen Umfeld wissen, gibt es eine große Anzahl von Menschen in unserem Land, die sich zu einem solchen Schritt entscheiden könnten. Es sind so viele, dass wir die berechtigte Hoffnung haben: Wenn wir ein kluges, ein faires und ein geschütztes Verfahren einrichten, dann wird diese vieltausendfache, prinzi-pielle Bereitschaft auch in konkrete Schritte einmünden, um Menschen in schwerer Not zu helfen, die dringend auf diese Hilfe angewiesen sind, um mit dem Organ zu überleben oder ihre schweren Qualen entweder lindern oder gar beenden zu können. Für mich persönlich ist mein Organspendeausweis – viele haben ihren Organspendeausweis heute hochgehalten; ich glaube, dieses Bekenntnis ist wichtig – auch ein Ausdruck christlicher Nächstenliebe, womit ich dem Nächsten die Hilfe zukommen lasse, die ich persönlich geben kann. Allerdings würde ich aus derselben Überzeugung he-raus nie von anderen verlangen können und wollen, diesem Vorbild zu folgen. Das ist jeweils eine sehr persönliche Entscheidung. Unter Christen wie Nichtchristen, unter Gläubigen wie Atheisten gibt es durchaus unterschiedliche Sichtweisen, ob und wann der Mensch dem Menschen mit einer Organspende helfen kann, soll oder auch nicht sollte. Niemand hat das Recht, einem anderen eine solche Entscheidung aufzuzwingen und auch nicht aufzudrängen. Allerdings – und das ist die frohe Botschaft an alle Leidenden –: Es gibt eine mehr als genügende Anzahl an Menschen, die, wie auch ich, die persönliche Bereitschaft haben, sich als Spender zur Verfügung zu stellen. An diese Menschen richtet sich unser Gesetzesvorschlag. Er ist eine Einladung, sich aus freiem Willen -einer ethisch sehr verantwortungsvollen Entscheidung zu stellen, sich für andere Menschen in Not zur Verfügung zu stellen. In unseren Antrag haben wir deshalb alle Regelungen aufgenommen, die sowohl die Freiwilligkeit stützen als auch vor Missbrauch schützen. In diesem Sinne gehen wir bei unserem Gesetzentwurf vor: Freiwilligkeit und Verantwortung, kein Zwang und kein Automatismus. Natürlich darf es auch keine Kommerzialisierung des Körpers geben. Niemand wird belagert, und niemand kann gezwungen werden. Außerdem ist jede Entscheidung rückholbar. Auf diese würdige Art und Weise – so sind wir überzeugt – werden wir viele Menschen besser informieren, Ängste abbauen und hoffentlich viele Menschen überzeugen können, den konkreten Schritt zur Organspende zu gehen und nach dem Tod anderen Mitmenschen in Not eine sehr große Geste der Mitmenschlichkeit und der Nächstenliebe zu erweisen. Die sogenannte Entscheidungslösung legt die Entscheidung in die Hände der möglichen Spender. Es ist eine Entscheidung aus freiem Willen und aus persönlicher Verantwortung. Wir sind überzeugt, dass das eine Lösung ist, die allen hilft, Spendern wie Empfängern. Ich lade uns alle ein, diesen Ansatz mitzutragen. Es ist verantwortlich, es ist durchdacht, und es hilft vor allen Dingen vielen Menschen sehr konkret. Organspende kann Leben retten – im Übrigen auch das eigene! Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/9030 und 17/7376 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbraucherpolitik neu ausrichten – Verbraucherpolitische Strategie vorlegen – Drucksache 17/8922 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Ulrich Kelber (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war gerade eine sehr angemessene Debatte zum Thema Organspende und ein Hinweis darauf, wie Debatten über Themen und Anliegen, die nicht in unmittelbaren, direkten politischen Auseinandersetzungen -stehen, hier im Deutschen Bundestag geführt werden sollten. Ich hoffe, dass wir auch die Debatte über die Grundausrichtung der Politik für Verbraucherinnen und Verbraucher in einem solchen Stil führen können. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Selbstverständlich!) Machen wir uns nichts vor: Sowohl die europäische als auch die deutsche Verbraucherpolitik sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ach!) Sowohl die europäische als auch die deutsche Verbraucherpolitik haben nicht mit der Europäisierung und Globalisierung der Wirtschaft, mit neuen Technologien und daraus entstandenen Märkten, mit der Deregulierung und Privatisierung von Märkten Schritt gehalten, und sie haben auch nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Bedürfnisse und das Verhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern Schritt gehalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Als Folge sind Verbraucherinnen und Verbraucher nicht mehr auf einer Augenhöhe mit Konzernen und Dienstleistern. Die Gefahr ihrer Übervorteilung und auch die Gefahr nicht heilbarer Fehlentscheidungen, zum Beispiel in der Altersvorsorge, steigt. Die SPD ist überzeugt: Wir brauchen einen Realitätscheck der Verbraucherpolitik in Deutschland und Europa, wir brauchen eine neue Verbraucherpolitik auch in unserem Land. (Beifall bei der SPD) Wir machen mit unseren Leitlinien, die wir als Bundestagsfraktion weiterentwickelt haben, und mit dem Antrag von heute ein Angebot für die Diskussion über eine solche Neuausrichtung. Wir haben diese Debatte bereits mit der Wissenschaft und Verbraucherschutz--organisationen geführt, wir machen aber auch ein Angebot an die anderen Fraktionen, in den Ausschüssen und in Anhörungen über die Elemente einer solchen Neuausrichtung zu sprechen. (Willi Brase [SPD]: Sehr gut!) Das Leitbild des mündigen Verbrauchers und der mündigen Verbraucherin, das die Politiker dieses Fachbereichs immer wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben, reicht als Antwort auf die Herausforderungen nicht aus. Nicht jeder kann Experte für alle Entscheidungen sein. Nicht alle Verbraucherinnen und Verbraucher haben immer die Zeit und die notwendigen Informationen parat. Nicht alle haben das nötige Kleingeld, um eine freie Auswahl zu haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nicht alle können wegen jedes kleinen Betrags und wegen jeder kleinen Betrügerei vor Gericht ziehen. Nicht immer kann man die spätere Gegenleistung für sein einmal gegebenes Geld zu Beginn realistisch abschätzen. Das gilt insbesondere für den Finanz- und Dienstleistungsbereich. Wer das sieht, wer sieht, dass sich die Herausforderungen in den letzten 20, 30 Jahren verändert haben, der weiß: Wir brauchen für die Verbraucherpolitik neue Leitbilder, wir brauchen neue Leitlinien, wir müssen uns konkreten neuen Handlungsfeldern zuwenden. Ich will das an sechs Punkten deutlich machen. Erstens. Die SPD will die Verbraucherinnen und Verbraucher im Alltag, bei den Alltagsproblemen abholen. Für diese bieten wir ihnen ja heute oft keine Lösung an. Wir wollen dafür sorgen, dass jederzeit die volle Information, aber auch die volle Vergleichbarkeit von Angeboten besteht. Wer sich zum Beispiel die Debatte über langfristige Finanzprodukte und Versicherungsangebote insbesondere im Zuge der Krise von 2008/09 in Erinnerung ruft, der weiß, dass diese Vergleichbarkeit nicht vorhanden war, weil zum Beispiel die Produktblätter keineswegs unmittelbar miteinander vergleichbar waren. Auch hier ist Politik herausgefordert, dafür zu sorgen, dass diese Vergleichbarkeit, diese Transparenz vorhanden ist. (Beifall bei der SPD) Zweitens. Es ist die Aufgabe von Politik – ich halte das für den Kern –, nicht nur Verbraucherrechte zu schaffen, sondern auch die Durchsetzbarkeit dieser Rechte in der Praxis zu gewährleisten. (Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!) Das muss natürlich über stärkere staatliche Institutionen erfolgen; aber es wird nur funktionieren, wenn wir auch die Zivilgesellschaft stärken und ihre Schlagkraft in der Durchsetzung der Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern erhöhen. Nur dann gibt es die Chance, dass Verbraucherinnen und Verbraucher zu mündigen Verbraucherinnen und Verbrauchern werden und auf gleicher Augenhöhe agieren können. Hierzu drei Beispiele: Der Bundesgerichtshof hat wichtige Entscheidungen hinsichtlich Verbraucherrechten getroffen. Eine ist zum Beispiel, dass für eine geplatzte Einzugsermächtigung als Kosten nur die Bankgebühren in Rechnung gestellt werden dürfen. Wer sich aber umschaut, stellt fest, dass sich in diesem Land große Telekommunikationskonzerne, große Versicherungskonzerne und Banken nicht an diese Rechtsprechung halten und weitere Fantasiegebühren in beliebiger Höhe bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern einfordern. Wer legt hier Fesseln an? Welcher Verbraucher, der einen MP3-Player in einem dieser 1-Euro-Läden kauft und schon nach zwei Wochen feststellt, dass der Akku nur noch wenige Minuten hält, hat die Chance, beim Händler – vielleicht gibt es den -Laden gar nicht mehr oder der Stand wurde wieder ab-gebaut – oder beim Hersteller seine Garantierechte einzuklagen? (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Für 1 Euro?) Wer, nachdem er im Internet etwas bestellt hat und nun seine Garantieleistungen abrufen will, von der Gegenseite erfährt, man möge doch die Ware zum Ausgangsort in einem anderen Teil Deutschlands oder sogar im benachbarten Ausland bringen, obwohl doch Gesetze und Verordnungen klar sagen, dass der Händler in dem Fall, dass dieses unzumutbar ist, für die Kosten aufkommen muss, der weiß, dass mit geschriebenem Recht -allein Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht ausreichend geholfen ist. Deswegen wollen wir stärkere staatliche Institutionen. Wir wollen, dass Verbraucherschutzorganisationen als beauftragte Marktwächter agieren können, schlechte Angebote offenlegen und mit neuen kollektiven Rechtsinstrumenten, mit Muster- und Sammelklagen gegen die vorgehen, die Verbraucherinnen und Verbrauchern ihre Rechte vorenthalten, und diese zwingen können, eine verbraucherfreundliche Haltung einzunehmen. (Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das steht aber in Ihrem Antrag nicht drin!) Drittens. Wir wollen einen Verbrauchercheck im -Gesetzgebungsverfahren und beim Erlass von Verordnungen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Steht auch nicht im Gesetzentwurf!) Schauen wir bewusst einmal nicht nur in die jetzige, sondern auch in die letzte Wahlperiode: Hätten wir einen solchen Verbrauchercheck, würden Regelungen bei der Finanzmarktregulierung, im Verbraucherinformationsgesetz, zum Mahnwesen bzw. Abmahnunwesen – so müsste man es ja eigentlich nennen – anders aussehen, weil sie so ausgestaltet sein müssten, dass sie auch die normalen, nicht juristisch vorgebildeten Verbraucherinnen und Verbraucher in die Lage versetzen, ihre Rechte wahrzunehmen. Wir brauchen diesen Verbrauchercheck dringend im Gesetz. (Beifall bei der SPD) Viertens. Die SPD betont die Unterschiedlichkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher. Nicht jeder kann in jeder Angelegenheit Experte sein. Wir brauchen auch Hilfestellungen für überforderte oder nicht erfahrene Verbraucherinnen und Verbraucher. Vor allen Dingen müssen die Hersteller verpflichtet werden, verbraucherfreundliche Voreinstellungen vorzunehmen. Denken wir an eines der Massenphänomene, die jeder sieht, der mit einem Smartphone durch die Straßen läuft: die Menge an WLAN-Stationen, die da sind. Natürlich müsste es Pflicht sein für den Hersteller oder den Telekommunikationsbetreiber, WLAN-Stationen so auszuliefern, dass sie von Anfang an mit Verschlüsselung, unsichtbar und beschränkt auf bestimmte physikalische Adressen funktionieren und nur ein Experte, der das wirklich will, diese Sicherheitseinstellungen lockern kann. Dass heute immer noch WLAN-Router auf den Markt gebracht werden, die sich nach dem Anschluss an die Steckdose im ungesicherten Betrieb befinden, und dass man Fachwissen benötigt, um die entsprechenden Sicherheitseinstellungen vorzunehmen, ist eine falsche Grundeinstellung in der Verbraucherpolitik. Das Gleiche gilt für die sozialen Netzwerke wie Facebook hinsichtlich des Datenschutzes und der Einstellungen, wie mit den privaten Daten umgegangen wird. Man muss die Privatheit erst herstellen. Besser wäre es, wenn man einstellen könnte, welche persönlichen Daten man preisgeben möchte. Wir brauchen auch in diesem Bereich dringend eine Neuorientierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fünftens. Die SPD wird wissenschaftliche Erkenntnisse stärker nutzen; das muss die Politik insgesamt tun. Die Wirtschaft nutzt solche Erkenntnisse beispielsweise über die Verhaltensökonomie schon längst. Wir brauchen Forschungsförderung und einen Sachverständigenrat für Verbraucherfragen, und wir brauchen ein Panel, also eine regelmäßige Umfrage, die aufzeigt, was Verbraucherinnen und Verbrauchern Probleme in ihrem Alltag bereitet. Ich nenne folgende Beispiele: Gewinnspiele, Rabattversprechen, Werbung, die auf Kinder abzielt, Begriffswahl in der Werbung und Portionsgrößen, mit denen Verbraucherinnen und Verbraucher in die Irre geführt werden. Die Politik muss eine Antwort geben, die nah an den Ergebnissen der Verhaltensforschung liegt, so wie es bei den Marketingstrategien der Konzerne und Dienstleister schon der Fall ist. Sechstens. Die Verbraucherpolitik des 21. Jahrhunderts ist nicht mit dem Kästchendenken des 19. Jahrhunderts – Stichwort: Ressortaufteilung – zu machen. Wir müssen uns über neue Formen der Zusammenarbeit, neue Zuschnitte und neue Teamstrukturen unterhalten. In der Energiepolitik führen wir die gleiche Debatte. Auch diese müssen wir schaffen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir fordern Sie zu einer konstruktiven Debatte über dieses Thema auf. Ich bitte auch darum, das Leitbild „Mündiger Verbraucher“ nicht als Waffe in der politischen Auseinandersetzung zu missbrauchen. Alle haben das Ziel, dass am Ende möglichst viele Verbraucherinnen und Verbraucher in möglichst vielen Themenfeldern unter voller Kenntnis der Informationen entscheiden können. Alles andere wird den manchmal überforderten Verbraucherinnen und Verbrauchern nichts nutzen und wäre auch unehrlich. Wir haben oft erlebt, dass Transparenz und Vergleichbarkeit durch Lobbyisten, aber auch durch die Politik verhindert werden. Auf die Forderung, den Verbraucherinnen und Verbrauchern die vollständige Information über eine Dienstleistung oder ein Produkt und deren Abrufbarkeit zu ermöglichen, wird gesagt, dass dadurch der Hersteller bzw. der Händler an den Pranger – dieser Begriff wird oftmals verwendet – gestellt wird. Das müssen wir ändern. Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik, weil vertrauende Verbraucher bereit sind, mehr zu konsumieren. Verbraucherpolitik ist Sozialpolitik, weil wir dadurch Eigenvorsorge ermöglichen und benachteiligten Gruppen helfen. Verbraucherpolitik ist Demokratiesicherung; denn Bürger, die wissen, dass sich Politik um ihre Alltagsprobleme kümmert und die ihnen Freiheit ermöglicht, vertrauen der Demokratie. Deswegen haben wir Vorschläge über eine Neuausrichtung der Verbraucherpolitik gemacht und freuen uns auf die Debatte mit Ihnen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Müller. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt nur einen Politikbereich, der alle 82 Millionen Deutschen betrifft und berührt. Das ist in der Tat der Verbraucherschutz. Er fängt an bei der Schwangeren und beim Baby, und er hört auf bei den alten Menschen in Hospizen oder Pflegeheimen. Wir alle sind betroffen. Deswegen sage ich: Verbraucherschutz geht alle an. Ich freue mich, dass die Regierungsbank so gut besetzt ist; denn es ist nicht Aufgabe nur eines Ressorts. Herr Kelber, Ihre Auffassung teile ich ausdrücklich. Das Gesundheitsministerium ist selbstverständlich genauso betroffen wie das Sozialministerium. Verbraucherschutz ist ressortübergreifend nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern. Wir nehmen auch die Länder in die Pflicht, Stichwort: Förderung der Verbraucherzentralen. Da gibt es sehr große Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Aufgabe. Mit Blick auf die Kommunen nenne ich das Stichwort Energieberatung. Auch da gibt es große Handlungsfelder. Aber auch die Wirtschaft und die Medien sind gefordert. Es geht auch nicht nur um sichere Lebensmittel, die häufig im Fokus der Öffentlichkeit stehen, oder um Kostenfallen im Internet. Es geht beispielsweise auch um die Themen Sparerschutz, Mieterschutz und Patientenschutz. Ich möchte ein aktuelles Beispiel nennen, um das zu verdeutlichen. Haben Sie eine Lebensversicherung? Wir haben in Deutschland 80 Millionen Lebensversicherungen mit einem Anlageinvestitionsvolumen von sage und schreibe über 600 Milliarden Euro. Fast jeder Deutsche hat eine Lebensversicherung. Ich frage: Verstehen Sie das Kleingedruckte in den Verträgen? Verstehen Sie, warum die Überschussbeteiligung in den letzten Jahren kontinuierlich gesenkt wurde? Ich persönlich tue mich schwer, das zu verstehen. Ich möchte diese Debatte zum Anlass nehmen, eine aktuelle Studie von Professor Andreas Oehler, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwirtschaft in Bamberg, vorzustellen. Gestern haben wir bei der Anhörung erfahren, dass 75 Prozent aller auf 30 Jah-re abgeschlossenen Lebensversicherungen und 50 Prozent aller auf 20 Jahre abgeschlossenen Lebensversicherungen vorzeitig gekündigt werden. Nun kommt eine -interessante Aussage: Die Schadensschätzung, so Professor Oehler, die mit den vorzeitigen Kündigungen der letzten zehn Jahre verbunden ist, liegt bei 160 Milliarden Euro. Hier wird deutlich: Verbraucherschutz heißt, die Versicherungsdienstleister zu zwingen, die Abschlusskosten, die Vertriebskosten, die Folgekosten, die Provi-sionen und die Risiken offenzulegen. Daran sehen wir, dass Verbraucherschutz kein Randthema ist. Es geht uns alle an. Ich kann an der Stelle sagen: Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner hat dem Verbraucherschutz in Europa und in Deutschland Gewicht und Bedeutung gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Die 2.0!) Der Verbraucherschutz ist zur Erfolgsgeschichte geworden. Frau Aigner – das ist unzweifelhaft – hat enorm viel auf den Weg gebracht. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Angekündigt!) Herr Kelber, ich schätze den Stil der Debatte – hier sind junge Leute anwesend –, in der wir die ganze Vielfalt der Vorschläge zum Verbraucherschutz offen, aber nicht polemisch miteinander diskutieren. Ein bisschen Spaß muss sein, aber es darf nicht polemisch werden. Es ist klar: Unsere Vorschläge unterscheiden sich ein Stück weit von Ihren. Wir sagen: Du bist frei, dein Leben zu gestalten. Du hast als Verbraucher Eigenverantwortung wahrzunehmen. – Wir wollen, dass der mündige Verbraucher aufgeklärt und informiert wird. Wir wollen aber nicht, dass jeder Lebensbereich, vom Baby bis zum Sterbenden, vom Staat reglementiert wird. Wir wollen nicht die Allmacht des Staates. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist aber Holzschnitt!) Das ist der ordnungspolitische Unterschied. Wir wollen die Alltagskompetenz der Verbraucher und ihre Rechte auf Information und Transparenz stärken sowie sie vor Täuschung und Betrug schützen. Das machen wir sehr erfolgreich. Dies bestätigte uns das Verbraucherbarometer der Europäischen Kommission. Dort wird Deutschland als eines der Länder mit den besten Bedingungen für die Verbraucher genannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Wir sind schon sehr gut, aber man kann immer noch besser werden. In der Großen Koalition haben wir einen guten Weg miteinander beschritten. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Aber ihr habt ihn leider nicht fortgesetzt!) Jetzt setzen wir diese erfolgreiche Politik mit unserem -liberalen Koalitionspartner fort. Zum Thema Internet. Dies betrifft gerade die jungen Leute, die in dieser neuen Zeit leben. Ich habe zu meinem 40. Geburtstag – das war nicht im 19. Jahrhundert – ein Handy geschenkt bekommen. Man muss sich vorstellen: Es gab auch ein Leben vor dem Internet und vor dem Handy. Heute aber leben wir in einer komplett neuen Zeit. Die Revolution, die dort ausgelöst wurde, hat sehr viele Folgen. Frau Aigner hat als Erste auch auf die Gefahren dieser neuen medialen Herausforderung hingewiesen. Wir haben gehandelt. (Ulrich Kelber [SPD]: Wo denn? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn gemacht?) Wir haben die sogenannte Buttonlösung gegen Kostenfallen gesetzlich verankert und umgesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herzlichen Dank auch an die Bundesjustizministerin. Wir haben ressortübergreifend mit den Kollegen der FDP hervorragend zusammengearbeitet. Zum Telekommunikationsrecht. Wir haben die Rechte der Verbraucher bei Telekommunikationsverträgen im Hinblick auf Anbieterwechsel, Vertragslaufzeiten sowie Regelungen zu kostenlosen Warteschleifen umfassend gestärkt. Die Abzocke der Verbraucher über Handy und Telefon ist unter Ministerin Aigner schwieriger geworden. Das ist wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Wir wollen, dass es weniger wird, nicht schwieriger!) Wir sorgen jetzt mit dem Anlegerschutzgesetz – hier gibt es noch viel zu regeln – für mehr Transparenz auf dem Finanzmarkt. Ich habe im Zusammenhang mit den Lebensversicherungen auf die Problematik hingewiesen. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Nicht nur reden, handeln!) Wir sind nicht damit zufrieden, wie die Banken die Vorgaben für die Produktinformationsblätter umgesetzt haben. Darum haben wir die Banken zu einem Gespräch zu uns ins Haus bestellt. Die Banken sind in der Pflicht. So geht das nicht bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben. Mit der neuen EU-Spielzeugrichtlinie haben wir für wichtige Fortschritte bei der Sicherheit von Kindern gesorgt. Dieses Thema hat eine europäische Dimension, wie sich im Übrigen viele Themen kaum noch auf rein nationaler Ebene regeln lassen. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und das Bundesamt für Risikobewertung aussprechen. Dort leisten herausragende Wissenschaftler europaweit anerkannte hervorragende Arbeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben uns beim europäischen Lebensmittelkennzeichnungsrecht für verpflichtende Nährwertangaben eingesetzt und setzen diese jetzt um. Im Übrigen – jetzt ist Frühjahr – haben wir auch einen nationalen Allergieplan mit vielen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir kämpfen gegen Täuschung, hier sei das Thema Verbot von Lebensmittelimitaten – Stichwort: Klebefleisch – als Beispiel genannt. Das Thema Lebensmittelsicherheit und Kontrolle steht natürlich besonders im Fokus der Verbraucherpolitik; Frau Aigner und das Ministerium handeln entsprechend. Nach dem Gammelfleischskandal haben wir das 11-Punkte-Programm umgesetzt. Nach dem Dioxinskandal haben wir ebenfalls sofort reagiert und den „Aktionsplan Verbraucherschutz in der Futtermittelkette“ in Zusammenarbeit mit den Bundesländern umgesetzt. Herzlichen Dank an die Länder. Ich sage an der Stelle aber auch: Im Bereich der Lebensmittelsicherheit und Kontrolle stehen die Länder besonders in der Pflicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wünschen uns bundesweit vergleichbare einheitliche hohe Kontrollstandards. Die Lebensmittelkon-trolle im 21. Jahrhundert – da gebe ich Herrn Kelber recht – steht vor ganz neuen Herausforderungen. Wer einmal am Containerhafen in Hamburg gestanden und die Importware sowie die Kontrollhäuschen daneben gesehen hat, der weiß, dass hier nachgerüstet werden muss, um den Ansprüchen an die Lebensmittelsicherheit gerecht zu werden. Wir sorgen durch eine neue Kennzeichnung für Sicherheit, Klarheit und Wahrheit bei Lebensmitteln; in dem Zusammenhang verweise ich auf das neue Portal lebensmittelklarheit.de. Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere die jungen: Wenn Sie nachher ins -Internet gehen, googeln Sie einmal lebensmittelklarheit.de. (Ulrich Kelber [SPD]: Das kann man direkt eingeben, da muss man nicht googeln!) – Herr Kelber, auf eine so gute Idee kam nicht einmal die SPD. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dafür gibt es sogar Beifall von der Jugend auf der Tribüne. Das ist der neue Weg: nicht nur Prospekte und Informationsschriften; vielmehr müssen wir die neuen Kommunikationsmöglichkeiten in Form des Internets nutzen und aufbauen. Bei lebensmittelklarheit.de funktioniert das. (Ulrich Kelber [SPD]: Lassen Sie uns doch -finanzklarheit.de einführen! telekommunika-tionsklarheit.de!) Wir haben das Verbraucherinformationsgesetz geschaffen und jetzt novelliert. In Zukunft werden schwarze Schafe im System öffentlich benannt. Einen Problemaufbau wie bei Müller-Brot wird es mit dem neuen Gesetz so nicht mehr geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Staat kann und will aber dem Verbraucher die Entscheidung nicht abnehmen. Deshalb geht mein besonderer Dank an die Stiftung Warentest für ihre hervorragende Arbeit. Wir stocken das Stiftungskapital um 50 Millionen Euro auf. Wir haben auch ein Konzept für die Stärkung der Verbraucherforschung. Ich möchte an dieser Stelle dem Verbraucherzentrale Bundesverband, insbesondere Herrn Billen, und all denjenigen herzlich danken, die vor Ort das Netz der Verbraucherzentralen aufgebaut haben und umsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir stellen uns dem großen Thema „Schutz der Persönlichkeit und persönlicher Daten in der digitalen Netzwelt“. Frau Aigner hat dies zu einem ihrer persönlichen Schwerpunkte gemacht. Hier steht die Umsetzung einer neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung auf europäischer Ebene an. Es geht um das Thema Datenschutz, liebe junge Kolleginnen und Kollegen und Zuhörer, im Zusammenhang mit Facebook und den sozialen Netzwerken. Was im Netz drin ist, geht nie mehr heraus. Auch das ist ein Thema für den Verbraucherschutz 2.0. Wir stellen uns dem Thema Medienkompetenz. Meine Damen und Herren, wir haben ein Konzept für den Verbraucherschutz für Senioren, den ich für sehr wichtig und zentral halte, für das Thema Gesundheit und Alter, für Standards bei der Pflege. Ich könnte noch stundenlang über die Erfolge unserer Arbeit reden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Bitte nicht!) Ich sage an dieser Stelle aber der Opposition herzlichen Dank, dass sie mir mit ihrem Antrag die Gelegenheit gab, hier zehn Minuten zu sprechen; herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/CSU, dass wir die Gelegenheit haben, diese erfolgreiche Politik umzusetzen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Du darfst es nicht immer so grinsend sagen, dann nimmt es dir keiner ab!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Caren Lay hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Caren Lay (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines muss man Verbraucherministerin Aigner schon lassen: Sie scheut keinen Vergleich. In der letzten Woche hat sie die Öffentlichkeit wissen lassen, ihr Auftrag sei „Kennedy 2.0“. Neben den vielen guten Gründen, warum John F. Kennedy der Verbraucherministerin haushoch überlegen ist, gibt es einen ganz großen Unterschied, auf den ich mich heute konzentrieren möchte: Kennedys Reden ist eine ganze Reihe realer Veränderungen gefolgt; den Reden von Verbraucherministerin Aigner und ihren Versprechen folgt im Normalfall gar nichts. Das, meine Damen und Herren, ist der Unterschied zwischen einem guten Politiker und einer munteren Presseabteilung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man kann schon froh sein, wenn nach den munteren und vollmundigen Ankündigungen im Endeffekt Bonsaiversionen umgesetzt werden. Herr Staatssekretär Müller, die positive Bilanz der Arbeit von Schwarz-Gelb, die Sie heute gezogen haben, kann ich – das wird Sie nicht wundern – in keinster Weise teilen. Ich muss sagen: Wenn Ihnen dieses Thema wirklich so wichtig wäre, hätten Sie in dieser Legislaturperiode herzlich wenig erreicht. Das beginnt schon bei der Unterfinanzierung des Verbraucherschutzes. Die Verbraucherzentralen – das ist ein gutes Stichwort – sind hoffnungslos unterfinanziert. Der Haushalt des Verbraucherministeriums spielt im gesamten Etat der Bundesregierung eine minimale Rolle. Es entbehrt wirklich jeder Grundlage, hier eine positive Bilanz zu ziehen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Gute Arbeit muss nicht immer viel Geld kosten!) Die Bundesregierung versagt aus unserer Sicht, aus Sicht der Fraktion Die Linke, beim Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher an allen Ecken und Enden. Selbst im Verbraucherpolitischen Bericht der Bundes-regierung – er wurde letzte Woche veröffentlicht – musste von Frau Aigner eingeräumt werden, dass im -finanziellen Verbraucherschutz noch vieles im Argen liegt. Ja, das meine ich aber auch. Was ist das Ergebnis? Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren immer noch jährlich 20 bis 30 Millionen Euro durch Falschberatung. Das, meine Damen und Herren, halte ich wirklich für eine Zumutung. (Beifall bei der LINKEN) Wir, die Linke, erwarten von der Bundesregierung seit langem ein Konzept für eine nachhaltige und moderne Verbraucherpolitik. Wir fordern beispielsweise seit über zwei Jahren einen Finanz-TÜV und eine verbrauchergerechte Finanzaufsicht, die ausdrücklich die Aufgabe hat, Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärkten zu schützen, nicht nur Banken und Unternehmen. Noch der kleinste Stehimbiss in Deutschland wird regelmäßig kontrolliert; er erhält Auflagen und wird im Zweifel auch geschlossen, und zwar zu Recht. Aber es kann nicht sein, dass auf den Finanzmärkten weiterhin unkontrolliert Risikoprodukte umhergeistern, dass hier weiterhin unkontrolliert Schrott auf dem Markt ist. Wir brauchen den Finanz-TÜV, meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) Denn was für eine Pommesbude gilt, das sollte doch wenigstens auch für Finanzprodukte gelten. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: unseriöse Inkassodienste. Sie zocken täglich Hunderte von Verbraucherinnen und Verbrauchern ab. Es ist und bleibt ein Skandal, dass zwar die Banken mit Milliarden aus Steuergeldern gerettet werden, aber die Dispozinsen für den Normalverbraucher auf Rekordniveau bleiben. Wir, die Linke, kritisieren das schon seit vielen Jahren. Vor einigen Monaten haben wir einen Antrag dazu eingebracht, der abgelehnt worden ist. Sie haben damit wieder einmal die Möglichkeit vertan, Verbraucherinnen und Verbraucher real vor Abzocke zu schützen. (Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU und FDP reagieren entweder zu lasch, zu spät oder gar nicht. Banken, Versicherungen, Finanzberater oder Telekommunikationsfirmen haben es leicht mit dieser Bundesregierung. Schwarz-Gelb scheut den Konflikt mit den Unternehmen und versteckt sich hinter dem Leitbild des mündigen Verbrauchers. Das hört sich gut an, es ist aber leider völlig überholt. Ich frage Sie: Was soll denn der mündige Verbraucher machen, wenn ihn Recht und Gesetz nicht vor Datendiebstahl im Internet schützen? Wie kann sich der mündige Verbraucher wehren, wenn ein unseriöses Inkassounternehmen einen Beutezug durch sein Portemonnaie macht? Wie soll der Verbraucher mündig handeln, wenn die Beratungsprotokolle beim Kauf von Finanzprodukten das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind? Seien wir -realistisch: Wer kann schon fünf Seiten AGB ohne ein Jurastudium verstehen? Hier liegt der Hase im Pfeffer. Das Leitbild der Bundesregierung muss endlich überarbeitet werden. (Beifall bei der LINKEN) Statt alles dem Markt zu überlassen und die Verantwortung auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuschieben, sind wir als Politiker gefordert, zu handeln. Wir müssen die Märkte im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher endlich regulieren. Das haben wir als Linke schon vor zwei Jahren gefordert. Wir haben unsere verbraucherpolitischen Leitlinien vorgelegt. Wir haben gesagt: Wir brauchen politische Verantwortung, und wir brauchen eine verbrauchergerechte Marktregulierung. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das war mehr Sozialpolitik als Verbraucherpolitik!) Das war zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals sind wir als Staatssozialisten beschimpft worden. Ich freue mich, dass jetzt Bewegung in diese Debatte kommt und auch die SPD sagt, dass wir ein anderes Leitbild und eine andere Verbraucherpolitik brauchen. (Beifall bei der LINKEN) Ich komme zum Schluss. Ich kann die positive Bilanz, die heute von der Bundesregierung in Bezug auf die Verbraucherpolitik gezogen wurde, nicht nachvollziehen. Zu zentralen Themen, beispielsweise Mieten – sie sind in den letzten Jahren um 7 Prozent gestiegen –, habe ich von der Ministerin kein Wort gehört. Auch solche Themen müssen endlich angegangen werden. Ich kann nur sagen: Frau Aigner, Sie sind nicht Vorsitzende der Bundespressekonferenz, sondern Sie leiten ein Ministerium. Handeln Sie endlich entsprechend! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Professor Dr. Erik Schweickert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Erik Schweickert (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarz-gelbe Verbraucherpolitik wirkt; (Lachen der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) denn sie schafft Transparenz und damit mehr Durchblick für die Verbraucherinnen und Verbraucher am Markt. Durch bessere Informationen kann sich der Verbraucher ein Bild vom Markt machen und dadurch selbstbewusst und auch selbstbestimmt über den Kauf von Produkten und über die Inanspruchnahme von Dienstleistungen entscheiden. Verbraucherpolitik ist für uns ein wichtiges Bürgerrecht. Anders als Linke, Sozialdemokraten und Grüne geben wir Liberale den Verbrauchern nicht vor, was sie zu wollen, zu kaufen oder zu unterlassen haben. (Beifall bei der FDP – Caren Lay [DIE LINKE]: Ach, Herr Schweickert! – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Immer dieselbe Leier!) Wir möchten, dass der Verbraucher seine Wünsche artikulieren kann, dass er auswählen kann, und wir setzen erst dann an, wenn das Recht auf Fairness am Markt, auf eine effiziente Rechtsdurchsetzung im Streitfall geschützt werden muss oder die Verbraucher vor Abzocke geschützt werden müssen. Das ist unsere verbraucher-politische Strategie, die wir seit fast drei Jahren sehr erfolgreich verfolgen. Liebe SPD, in Ihrem Antrag tun Sie so, als sei die Regierung untätig. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ist sie doch auch!) Sie kennen doch die Redensart: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, der sollte immer bedenken, dass drei Finger auf ihn zurückzeigen. Was haben Sie für den Anlegerschutz getan? Sie haben die Hedgefonds zugelassen und damit die Büchse der Pandora geöffnet. Wir hingegen haben die spekulativen Anlageformen wie ungedeckte Leerverkäufe verboten. Haben Sie dafür gesorgt, dass Anleger besser über Produkte informiert werden? Nein! Wir haben den Anlegerschutz gestärkt und Produktinformationsblätter zur Pflicht gemacht sowie die Regelungen zu Sanktionen bei Falschberatung verschärft. Ich gebe zwar zu, dass es in diesem Bereich noch Verbesserungsbedarf gibt, weil sich manche immer noch einen schlanken Fuß machen – das ist nicht akzeptabel –, aber auch hier werden wir nachbessern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – -Zurufe von der SPD) – Diejenigen, die jetzt rufen, sollten sich schon fragen: Wer hat denn dafür gesorgt, dass der graue Kapitalmarkt Regeln unterworfen wurde? Das waren nicht Sie, sondern wir. Wir machen für die in diesem grauen Markt gehandelten Produkte nun dieselben Vorgaben wie für die des regulären Marktes. Sie haben zugeschaut, wie findige Serviceanbieter die Kunden in ellenlangen, teuren Warteschleifen abgezockt haben. Wir haben gehandelt, meine Damen und Herren. Mit dem neuen Telekommunikationsgesetz machen wir dieser Abzocke ein Ende. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Denn Warteschleifen sind keine Serviceleistungen. Sie dürfen und werden deshalb zukünftig auch nichts kosten. Gleiches gilt für die Abzocke im Internet. Heute sind es eben nicht nur die Taschendiebe, die den Leuten das Geld aus der Geldbörse holen. Gerade im Internet hat sich die Seuche mit fingierten Angeboten ausgebreitet. Ein falscher Klick, und man ist in die Abzockfalle getappt. Ich frage: Haben Sie in Ihrer Regierungszeit verhindert, dass sich solche Maschen krakenartig ausbreiten? Nein, haben Sie nicht. Wir aber als schwarz-gelbe Bundesregierung machen Schluss mit diesen Betrügereien im Internet. Man hat versucht, wahre Kosten in AGBs zu verstecken. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Der Button „Zahlungspflichtig bestellen“ wird Pflicht. Das schafft mehr Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch die Preisansagepflicht beim Call-by-Call haben wir in Angriff genommen, nachdem jahrelang nichts getan wurde. Morgens kostete ein Telefonat 2 Cent, abends 2 Euro, ohne dass der Verbraucher es wusste. Damit ist, wenn das TKG jetzt in Kraft tritt, endlich Schluss. Wir sorgen aber nicht nur für Transparenz, wir unterstützen die Verbraucherinnen und Verbraucher auch bei der Rechtsdurchsetzung im Streitfall. Wir werden eine Schlichtungsstelle für Streitfälle im Luftverkehr einführen. Das Bundesjustizministerium – vielen Dank! – hat dazu bereits entsprechende Eckpunkte vorgelegt. Bei Nichtbeförderung, Flugannullierung, Verspätung oder beschädigtem Gepäck soll es einen Ansprechpartner für den Verbraucher geben, damit Ansprüche gegenüber den Fluglinien dann auch geltend gemacht werden können. Die von der Bundesregierung eingerichtete Schlichtungsstelle für Energie ist bereits seit Oktober 2011 -aktiv. Hier haben wir dem Verbraucher einen Ansprechpartner gegeben, der bei Streitigkeiten mit Energieversorgungsunternehmen außergerichtlich für eine Beilegung eintreten und dem Verbraucher zu seinem Recht verhelfen kann. Das haben wir getan, ohne dass es hohe Bürokratiehürden und langwierige Gerichtsverfahren gibt. Wir lassen auch nicht zu, Frau Lay, dass unter dem Deckmantel des Rechts Unrecht getrieben wird. Deshalb sagen wir unlauterem Inkasso den Kampf an und verpflichten die Inkassounternehmen, transparenter darzulegen, welche Forderungen sie überhaupt eintreiben -wollen. Außerdem werden wir auf eine angemessene Preisgestaltung für Inkassoleistungen dringen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Schließlich werden wir ein neues Sanktionssystem einführen, um die schwarzen Schafe effektiver vom Markt zu nehmen; denn schwarze Schafe schaden nicht nur den Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern auch den guten Unternehmen in diesem Bereich. Das gilt gerade auch bei der Telefonwerbung, die häufig unerlaubt ist. Eigentlich sollte doch die unerlaubte Telefonwerbung längst vorbei sein. Aber auch hier hat es die SPD versäumt, in ihrer Regierungszeit dieser Abzockemasche einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Das Gesetz gegen unerlaubte Telefonwerbung ist als Tiger gesprungen, aber als Bettvorleger gelandet; denn die Beschwerdezahlen haben nicht abgenommen, sondern sogar noch zugenommen. Deshalb bessert auch hier die schwarz-gelbe Bundesregierung nach. Das Bundesjustizministerium bzw. Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat bereits entsprechende Eckpunkte vorgelegt, die wir nun in Gesetzesform gießen werden. Die größte Plage bei der unerlaubten Telefonwerbung sind die Gewinnspiele und deren Eintragungsdienste. Auf sie beziehen sich drei Viertel der eingegangenen Beschwerden. Aus diesem Grund werden wir auch hier vorangehen und mit einer sektoralen Bestätigungslösung dafür sorgen, dass solche am Telefon abgeschlossenen Verträge erst durch eine schriftliche Bestätigung Gültigkeit erlangen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dauert, und dauert!) Außerdem werden wir den Bußgeldrahmen erhöhen, sodass den Abzockern ihre Masche vergeht. Wir werden den gegenwärtigen Höchstbetrag von 50 000 Euro auf 300 000 Euro erhöhen. Meine Damen und Herren, das sind Beispiele dafür, dass wir evidenzbasiert handeln; denn Pseudorechte auf dem Papier bringen den Verbrauchern nichts. Man muss sie auch durchsetzen können. Weiter sorgen wir dafür, dass die Expertise der Leute, die Ahnung davon haben, mit aufgenommen wird. Wir haben in der Stiftung Warentest, im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, im Bundesinstitut für Risikobewertung, in dem Verbraucherzentrale Bundesverband sowie in den Verbraucherzentralen der Länder die Experten, die wir benötigen. Wir greifen sehr gerne deren sinnvolle Vorschläge auf und lassen sie in unsere Überlegungen einfließen. Ein darüber hinausgehender Sachverständigenrat ist unserer Ansicht nach im Moment überflüssig; denn die Stiftung Verbraucherschutz kann die von Ihnen angesprochenen Aufgaben wahrnehmen. Meine Damen und Herren, liebe Verbraucherinnen und Verbraucher, Sie haben mit der schwarz-gelben Bundesregierung jemanden an Ihrer Seite, der dafür kämpft, dass Sie selbst entscheiden können, wofür Sie Ihr Geld ausgeben, und zwar auf der Grundlage von Transparenz, von Information und von klaren Regeln; denn wir handeln mit Augenmaß und mit Sachverstand. Das ist unsere Strategie. Wir sind die Anwälte der Verbraucherinnen und Verbraucher. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und der LINKEN – Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist wirklich frech! – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Die armen Verbraucher! – Caren Lay [DIE LINKE]: Also, Mut haben Sie! Das muss man Ihnen lassen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nicole Maisch hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hat uns einen sehr guten Antrag vorgelegt, wenn auch im Titel ein kleiner Fehler ist. In der Überschrift wird Frau Aigner nämlich aufgefordert, eine verbraucherpolitische Strategie vorzulegen. Das klingt so, als hätte sie keine. Sie hat aber eine. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Sie hat eine?) Diese Strategie möchte ich Ihnen jetzt vorstellen, weil ich glaube, dass Herr Müller die Strategie nicht ganz wahrheitsgemäß dargestellt hat. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Aigners Konzept ist Folgendes: Tue so wenig wie möglich, aber rede so viel wie möglich darüber. Und: Auf dem Schoß der Industrie ist es bequemer als an der Seite der Verbraucher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte Ihnen das Konzept im Einzelnen vorstellen: Punkt eins der Strategie: Identifiziere Themen, die den Wählern, dem vzbv oder der Bild-Zeitung auf den Nägeln brennen. Datenschutz in Social Networks, Lebensmittelverschwendung, finanzieller Verbraucherschutz, Empathie mit der Lehman-Oma – wunderbar! Dazu macht man exzellente Pressearbeit und kündigt entweder bahnbrechende Studien an, die dann nicht kommen, (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Richtig!) oder gesetzgeberische Maßnahmen wie beim Hygiene-Smiley, die dann in Bund-Länder-Arbeitsgruppen vergammeln und nie Realität werden. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Genau! – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das müssen die Länder umsetzen!) Das war der erste Schritt. Der zweite ist: Nachdem man Pressearbeit gemacht hat, macht man, wie bei den Social Networks, noch einmal Pressearbeit. Ilse Aigner hat zu Facebook, glaube ich, in den letzten drei Monaten drei- oder viermal Verschiedenes gefordert. Hinten rausgekommen ist dann, dass sie sich mit Facebook „entfriended“ hat. Ich denke, Mark Zuckerberg hat gezittert, als Ilse Aigner Facebook verlassen hat. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das dritte zentrale Element der Strategie von Ilse Aigner sind die sogenannten Eckpunkte. Eckpunkte macht man, wenn man sich im Kabinett nicht durchsetzen kann, aber trotzdem irgendetwas aufschreiben will. Ein Beispiel ist die Honorarberatung. Wir sehen keinen Gesetzentwurf zur Regulierung der Honorarberatung. Was haben wir stattdessen? Eckpunkte, über die wir hier zwar irgendwie diskutieren, aber hinten raus kommt nichts. Das vierte Element der Strategie ist, ein bisschen Geld für sinnvolle Projekte zu geben. Eines davon ist www.lebensmittelklarheit.de. Es ist sehr interessant, dass lebensmittelklarheit.de, ein schönes Projekt der Verbraucherzentrale, von der Kollegin Happach-Kasan im Ausschuss immer angeschossen wurde. Sie hat das sehr hart kritisiert. Nach einigen Wochen ist dieses Portal jetzt online, und es ist klar, dass es so sehr unterfinanziert ist, dass es keine wirkliche Gefahr für die Lebensmittelwirtschaft darstellt. Die Kritik von Frau Happach-Kasan ist verstummt. Ich denke, das zeigt ziemlich deutlich, was schwarz-gelbe Verbraucherpolitik ist. Ähnlich verhält es sich mit den 1,5 Millionen Euro für die Stiftung Warentest. Wenn Sie wirklich etwas verändern wollten, würden Sie den Marktwächter einführen. Stattdessen geben Sie Almosen an sinnvolle Institutionen. An den Märkten wollen Sie nicht wirklich etwas verändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Letztes Element der Strategie ist: Vermeide jede parlamentarische Beratung; denn Sachkenntnis stört nur die Lebhaftigkeit der politischen Debatte. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das hört man ja gerade!) Deshalb versucht man, alles Mögliche in Pressekonferenzen zu verhandeln. Beim Thema Lebensmittelverschwendung beispielsweise hat man versucht, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier möglichst aus der ganzen Sache herauszuhalten. Deshalb lautet meine Botschaft an die SPD: Die Strategie liegt vor, aber sie ist armselig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dabei gibt es doch eine ganze Menge zu tun. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel erläutern: Ernährung. Die Zahlen sind der reine Horror. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben Übergewicht. 0,8 Millionen sind krankhaft fettleibig. Die gesundheitlichen Schäden, die daraus folgen, können Sie sich alle vorstellen. Im Ausschuss hat man mir vorgeworfen, dass ich, wenn es um das Thema „Kinder und Ernährung“ geht, immer so gefühlig, emotional und betroffen werde. Deshalb möchte ich volkswirtschaftlich argumentieren: Sie werden die volkswirtschaftlichen Folgekosten von Übergewicht, von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht ohne eine vernünftige Präventionsstrategie in den Griff bekommen. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Jetzt gibt es das Programm „Fit statt fett“!) Die Kosten werden uns überrollen. (Beifall der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) Das ist knallhart volkswirtschaftlich kalkuliert. Ich finde es erbärmlich, dass Schwarz-Gelb offensichtlich nicht rechnen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) Wir haben in dieser Woche in einer Aktuellen Stunde über die Überschüsse bei den Krankenkassen debattiert. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!) Wenn wir das Problem, dass es immer mehr Übergewichtige gibt, nicht in den Griff bekommen, dann brauchen wir hier nicht mehr über Überschüsse zu reden, sondern müssen uns überlegen, wie wir überhaupt noch eine angemessene Behandlung der vielen Diabetiker und Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewährleisten können. Der Herr Staatssekretär hat sehr schön gesagt: Prävention fängt schon bei den Schwangeren und den Babys an. – Da frage ich mich aber, warum ich seit letztem Sommer im Abstand von wenigen Wochen immer wieder vergeblich Herrn Müller anschreibe und frage, wann er endlich die Empfehlung des BfR umsetzt und gesundheitsschädliche Kindermilch vom Markt nimmt. Wenn man nicht einmal so eine kleine Maßnahme hinbekommt, dann frage ich mich: Wie ernst ist es Ihnen wirklich mit der Ernährungspolitik? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir sagen: Wir brauchen eine konsistente ressortübergreifende Strategie gegen Fehlernährung und Übergewicht. Das bedeutet nicht Schaukochen mit Herrn Lafer oder mit Herrn Schuhbeck oder bunte Broschüren, sondern das bedeutet zuallererst die Einführung der Nährwertampel. Das wäre wirklich Information statt GDA-Desinformation. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist Bevormundung!) – Das ist keine Bevormundung. Wenn ich Menschen die Wahrheit sage, ist das keine Bevormundung. Statt der GDA-Kennzeichnung könnten Sie den Zuckergehalt auch auf Finnisch auf die Packungen schreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU) – Nein, die GDA-Kennzeichnung ist eine Desinformation im Sinne von Ferrero und Nestlé, weil diese nicht zugeben wollen, dass die meisten ihrer Produkte Fett- und Zuckerbomben sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Studien zeigen ganz klar: Die Menschen verstehen diese Kennzeichnung nicht. Wir wollen ihnen echte Informationen geben. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie liegt die Wahrheit in drei Farben?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Frau Happach-Kasan würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber gerne. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Sehr geehrte Kollegin Maisch, vielen Dank für die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage. Ich denke, auch Sie haben bei der Diskussion über die Ampelkennzeichnung miterlebt, dass wir mit der sogenannten Ernährungsampel keine eindeutige Bewertung bekommen, sondern dass Lebensmittel zum Beispiel mit zweimal rot und zweimal grün gekennzeichnet werden. Das heißt, niemand weiß dann, wonach er sich richten soll. Ist Ihnen bekannt, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und beispielsweise auch der Verband der Kinderärzte dezidiert dagegen ausgesprochen haben? Wie können Sie es gerade als junge Frau mit Ihrem Gewissen vereinbaren, dass Sie eine Nährwertampel bevorzugen, die eine richtige Aussage für einen Teil der Bevölkerung trifft – da stimme ich mit Ihnen überein –, aber für einen anderen Teil der Bevölkerung keine richtige Empfehlung gibt, zum Beispiel für die Menschen, die an Bulimie oder an Magersucht leiden; hier ist die Anzahl der Erkrankungen gestiegen. Die rote Kennzeichnung bei bestimmten kalorienhaltigen Lebensmitteln wird natürlich gerade diesen Teil der Bevölkerung in die Irre leiten. Deswegen haben wir als FDP gesagt: Wir wollen keine Bewertung auf den Verpackungen haben, die nur für einen Teil der Bevölkerung eine richtige Empfehlung gibt, aber einen anderen Teil der Bevölkerung in die Irre leitet. Ich glaube, das können wir nicht verantworten. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das eine Rede oder eine Zwischenfrage?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Happach-Kasan, ich finde, politische Auseinandersetzungen und auch Zwischenfragen beleben die Debatte sehr. Ob dabei aber die Aussage „Wie können Sie gerade als junge Frau …“ in der politischen Auseinandersetzung hilfreich ist, weiß ich nicht genau. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dann darf man nichts mehr sagen!) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Happach-Kasan, ich würde das Geschlechtsargument gerne aufgreifen. Das GDA-Prinzip zeigt, wie viel Prozent des Tagesbedarfs einer Substanz bei einer gegriffenen Person, zum Beispiel einer Frau, ein Produkt durch eine bestimmte Menge deckt. Zum Beispiel wird angegeben, dass ein Glas Limonade 10 Prozent des Zuckerbedarfs deckt. Die Ampel hingegen gibt keine Empfehlung und macht keine Prozentangaben, sondern zeigt lediglich, ob ein Produkt zum Beispiel mittel, viel oder wenig Zucker enthält. Sie gibt nur eine Information; daraus ist keine Belehrung abzuleiten. Die Ampel hat den weiteren Vorteil, dass sie sowohl für kleine dicke Männer als auch für junge Frauen und für Kinder gleichermaßen gilt. Die Information ist immer nur, ob das Lebensmittel viel, wenig oder eine mittlere Menge an zum Beispiel Zucker, gesättigten Fettsäuren oder Salz enthält. Ich glaube, es ist eine Fehlinformation, dass sich der Berufsverband der Kinderärzte gegen die Ampel ausgesprochen hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Genau das Gegenteil ist richtig!) Meine Information ist genau das Gegenteil. Ich war gestern zusammen mit Jens Spahn aus der Koalition auf einer Podiumsdiskussion, bei der über die Prävention von Diabetes und Übergewicht diskutiert wurde. Auf dem Podium waren auch Diabetesexperten, Kinderärzte, Betriebsärzte. Alle haben sich für die Ampel ausgesprochen. (Zuruf von der FDP: Wer hat eingeladen?) Ich glaube, das Problem mit der Ampel ist ein anderes: Die Ampel sagt so, dass man es versteht, die Wahrheit. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Ganz einfach!) Aber die Nahrungsmittelindustrie, insbesondere die Hersteller von Süßwaren und fetten Frühstücksflocken, möchten nicht, dass die Verbraucher in einer Art und Weise die Wahrheit erfahren, die sie verstehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Mechthild Heil [CDU/CSU]: Und was ist mit Butter? Was sagen Sie denn jemandem, der Butter isst? Ganz normale Butter! Was machen Sie mit selbstgekochter Marmelade?) Noch ein letzter Satz zu dem Vorwurf, die Ampelkennzeichnung habe Wirkungen auf Magersüchtige und Bulimiker. Ich habe mich informiert: Es gibt keinen wissenschaftlich begründeten Zusammenhang zwischen Nährwertinformationen, der Zahl von Adipositasbehandlungen, der Aufklärung über gesundes Essen und Magersucht oder Bulimie. Das sind multifaktorielle psychische Erkrankungen. Sie haben ihre Ursachen zum Beispiel im Elternhaus oder in dem Bild, das in den Medien von jungen Frauen gezeichnet wird, (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Genau! Die Ampel nützt da auch nichts!) aber nicht in der Angabe: Diese Cola enthält viel Zucker. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: So ist es!) Wenn die Welt so einfach wäre, hätten wir, glaube ich, Bulimie und Magersucht längst im Griff. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich will auf zwei weitere Aspekte, die die Ernährung betreffen, zu sprechen kommen; die vielen anderen wichtigen Themen anzusprechen, schaffe ich jetzt sowieso nicht mehr. Es gibt die Nährwertampel. Sie ist umstritten. Aber es wird auch einmal andere Mehrheiten geben. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja, ja! Irgendwann vielleicht!) Dann kann man sie, glaube ich, einführen. Wir brauchen einen anderen Umgang mit dem Marketing, das sich an Kinder richtet. Wir brauchen eine gesunde Mittagsverpflegung in allen Betreuungseinrichtungen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie müssen zum Ende kommen, Frau Kollegin. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Schluss. – Ich finde, gerade hier hat die Ernährungsministerin versagt. Man kann über Frau von der Leyens komisches Paket für Hartz-IV-Kinder denken, was man will. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber dass sich nicht die Ernährungsministerin des Themas Schulverpflegung annimmt, sondern dass der Hinweis, dass nicht jedes Kind ein gesundes Mittagessen bekommt, aus anderen Ressorts kommt, (Carola Stauche [CDU/CSU]: Und was ist mit den Eltern?) ist, wie ich finde, – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin! Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – ein ziemlich trauriges Zeugnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mechthild Heil (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, dass die SPD in der Mitte der Wahlperiode beginnt, sich Gedanken über die Verbraucherschutzpolitik zu machen. (Ulrich Kelber [SPD]: Frau Heil, Sie können immer nur Ihre vorgefertigten Reden ablesen! Sie können sich auf keine Debatte einlassen! Das ist peinlich! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der Verbraucherschutz gilt auch für Redner, Herr Kelber!) Da fragt man sich unwillkürlich: Was hat die SPD eigentlich in den letzten zwei Jahren gemacht? Aber, sehr geehrter Herr Kelber: Es ist nie zu spät. Sie haben jetzt einen Antrag mit dem Titel „Verbraucherpolitik neu ausrichten – Verbraucherpolitische Strategie vorlegen“ formuliert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, richten Sie sich ruhig neu aus! Machen Sie sich ruhig Gedanken! Eine verbraucherpolitische Strategie brauchen wir; sie kann nie schaden. Ich finde es deswegen auch sehr klug, dass Sie uns einladen, mit Ihnen über diese Strategie zu diskutieren. Unsere Konzepte stehen. Wir haben eine verbraucherpolitische Strategie. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Welche?) Unsere Ziele sind klar definiert. Wir haben eine klare Richtung. Wir sind verlässliche Partner. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Pfeifen im Walde!) Das ist das, was die Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen, und das leisten wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sie hätten sagen können, was Sie wollen! Sie lesen immer wieder die gleiche Rede ab!) Die Themen, bei denen sich die CDU/CSU mit der Situation der Verbraucher beschäftigt, sind in allen Politikfeldern zu Hause. Für uns fristet die Verbraucherpolitik kein Nischendasein. Sie gehört mitten in die Politik, mitten in unsere Parteien, mitten in unsere Fraktion und mitten in die Regierung, weil sie mitten im Leben ist und uns alle betrifft; denn Verbraucher sind wir alle. Der Begriff „Verbraucherschutz“ ist ein wenig irreführend. Es geht nämlich nicht nur um den reinen Verbrauch von Dingen und damit um den Konsum oder den Konsumenten, sondern es geht auch um Dienstleistungen, Kunden, Nutzer und Produzenten. Es geht um alle Seiten der Geschäftsbeziehungen, die Menschen miteinander haben. Es geht um Information, und es geht um Transparenz. Wir reden auch immer vom Verbraucherschutz. Auch das ist ein irreführender Ausdruck. Für uns sind die Verbraucher nämlich nicht in erster Linie Schutzbefohlene, also Menschen, die ohne Hilfe von außen hilflos wären. Verbraucherpolitik ist für uns eben keine Sozialpolitik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Lay [DIE LINKE]: Verbraucherpolitik ist für Sie Schaufensterpolitik!) Wir sagen: Der Verbraucher kann und soll sich frei entscheiden. Der Staat ist nicht der bessere Verbraucher. Die Grünen gehen ja sogar so weit, zu fordern, dass bestimmte Geldanlagemöglichkeiten für weniger Gebildete ausgeschlossen werden sollten, um sie vor dem Risiko zu schützen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, ja! Diese Besserwisser!) Ähnliche Vorschläge finden wir auch im heute vorliegenden Antrag der SPD. Nein, das ist nicht unser Leitbild des modernen und mündigen Verbrauchers. Die CDU/CSU traut den Bürgern an dieser Stelle viel mehr zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Lay [DIE LINKE]: Sie muten ihnen etwas zu! Es geht um 20 bis 30 Millionen im Jahr!) Für uns soll der Verbraucher informiert und selbst-bestimmt sein. Das ist unser Leitbild im Verbraucherschutz. Wie informieren wir? Was haben wir bislang zur besseren Information für die Verbraucher getan? Herr Müller hat einige Beispiele genannt: das Verbraucher-informationsgesetz, die Internetplattform www.lebens mittelklarheit.de, die verbesserte Kennzeichnung von Lebensmitteln, die Produktinformationsblätter, also die sogenannten Beipackzettel. Der Verbraucher sollte für uns aber nicht nur informiert, sondern auch selbstbestimmt sein. Wie stärken wir als CDU/CSU die Selbstbestimmung des Verbrauchers? Es darf keine Voreinstellungen beim Internet-geschäft geben. Egal ob bei Facebook oder Google: Der Nutzer soll selbst bestimmen, was von ihm gespeichert wird. Wir haben die Buttonlösung eingeführt; es gibt also klare Regeln bei Käufen im Internet. Daneben wollen wir die Honorarberatung ausbauen. Aber: Woher wissen wir eigentlich, was Verbraucher wollen? Klar, jeder von uns selber ist Verbraucher, und jeder würde, wenn er gefragt würde, eine andere Antwort geben. Interessant ist, das Muster darin zu finden, die Regel, nach der sich die meisten richten – bewusst oder unbewusst. Als Beispiel nenne ich unsere Neigung, die Forscher herausgefunden haben, zum Beispiel bei Chips oder Schokolade kleinere Packungen zu bevorzugen, selbst wenn sie teurer sind, weil wir uns quasi vor uns selber schützen wollen. Wir kennen uns selbst sehr gut und wissen: Wenn wir erst einmal mit dem Essen angefangen haben, dann essen wir die ganze Packung auf, ob sie groß oder klein ist. Es ist daneben auch eine Tatsache, dass wir Geld lieber regelmäßig in kleineren Mengen -zurücklegen, um das Sparziel zu erreichen, weil uns -unsere Erfahrung gelehrt hat, dass uns am Ende die Kraft für einen großen Spareingriff fehlt. Also sind Logik und reine Mathematik wohl nicht die einzigen Ratgeber für uns Verbraucher. Das müssen wir bedenken, wenn wir Informationen vermitteln wollen. Die Wissenschaft kann uns dabei helfen, zu ergründen, wie Verbraucher reagieren und nach welchen Regeln sie handeln, damit sie das nutzen, was gesetzlich möglich und von uns gewollt ist. Die SPD fragt mit ihrem Antrag nach unserem Leitbild, nach dem Leitbild der CDU/CSU, im Verbraucherschutz. Wir sagen: In der Verbraucherpolitik geht es im Kern um Vertrauensschutz. Ohne Vertrauen funktioniert keine Beziehung – zwischen Käufer und Verkäufer nicht und zwischen Kunden und Anbietern auch nicht. Aber Vertrauen kann man eben nicht gesetzlich verordnen. Viele sind genau davon überzeugt. Mehr noch: Es gibt Menschen, die sagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Dahinter steht die Vorstellung: Je mehr Kon-trolle, umso mehr Vertrauen kann wachsen. Aber das ist komplett falsch. Klar, Kontrolle muss sein, aber Vertrauen wird und kann man nicht erzwingen und auch nicht verdienen. Vertrauen schenkt man. Am besten kann man dieses Phänomen an kleinen Kindern beobachten. Sie verschenken ihr Vertrauen. Wenn sie es einmal nicht tun: Welche Energie wenden Erwachsene dann auf, um das Vertrauen des Kindes zu erringen, zu erschleichen, zu erkaufen? Es ist ein sehr schwieriges Unterfangen, Vertrauen zurückzugewinnen, wenn es erst einmal verloren gegangen ist. Deshalb muss unser gemeinsames Interesse eigentlich doch darin liegen, die vertrauensvollen Beziehungen zwischen Verbrauchern und Anbietern und zwischen den Herstellern und den Konsumenten zu stabilisieren. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: So ist es!) Das ist unsere Verantwortung, und daran arbeiten wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr klares Konzept!) Mit Gesetzen schaffen wir dabei den Rahmen, aber wir können noch weit mehr tun, als Gesetze zu verabschieden. Wir tragen auch einen Teil der Verantwortung für das Klima zwischen den Verbrauchern und den -Anbietern. Wir Politiker können Verunsicherung und Misstrauen befeuern, weil sich schlechte Nachrichten besser verkaufen lassen als gute und weil Einzelfälle zu Massenphänomenen hochstilisiert werden. Wir haben es aber genauso in der Hand, für gute Information und für Aufklärung zu sorgen, für eine richtige Einordnung der Dinge einzutreten und Einzelfälle wie Massenphänomene als solche zu benennen. Wir wollen das Vertrauen zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen stärken, weil das der Kitt ist, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Wir wollen stabile, vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen ermöglichen, weil nur so unsere soziale Marktwirtschaft erfolgreich sein kann. Wir wollen gute Information und Transparenz für den Kunden, damit er die richtige Kaufentscheidung treffen kann. Wir wollen Spielregeln, aber keine Bevormundung. Dafür steht die CDU/CSU-Fraktion. Vielen Dank (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der großen Marktmacht der Verbraucher, vom Einfluss jedes einzelnen Verbrauchers auf den Markt hat Ministerin Aigner letzte Woche anlässlich des Weltverbrauchertags gesprochen. Sie sprach von der Macht des Verbrauchers, die mit der Vielfalt des Marktes wachse und Verbraucher über den Erfolg und das Scheitern eines Geschäfts-modells entscheiden lasse. „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, sagte schon Bertolt Brecht. Ich nenne -Ihnen ein paar Beispiele. 22 000 Beschwerden pro Monat von Verbraucherinnen und Verbrauchern, die in Internetkostenfallen -getappt sind, zeugen doch nicht gerade von der Macht, über Erfolg oder Scheitern dieses Geschäftsmodells zu entscheiden. Im Gegenteil: Diese Kostenfallen haben sich offensichtlich als sehr lukrativ für die Anbieter -erwiesen, bis nun endlich mit der Buttonlösung ein Riegel vorgeschoben wurde. Oder: Spielzeug darf ganz legal und ohne Kennzeichnung Chemikalien enthalten, die den Hormonhaushalt von Kindern nachhaltig stören können. Wie wollen -Eltern ebenso wie der einzelne Verbraucher über seine Nachfrage das Angebot steuern und dieses Geschäfts-modell zum Scheitern bringen? Oder: Verbraucher zahlen als Fremdabheber an manchen Geldautomaten 7,50 Euro für eine Auszahlung, die weniger als 1 Euro kostet. Zahlen Verbraucher dies gern und bewusst, weil sie dieses Geschäftsmodell unterstützen wollen? Oder: Verbraucher lehnen zu 80 Prozent gentechnisch veränderte Pflanzen auf dem Acker und dem Teller ab. Dennoch unterstützen sie unfreiwillig den Anbau solcher Pflanzen. Denn tierische Produkte wie zum Beispiel Milch von Kühen, die mit GVO-Pflanzen gefüttert worden sind, müssen nicht gekennzeichnet werden. Auch hier profitiert ein Geschäftsmodell von Intransparenz, und Intransparenz ist die größte Widersacherin der Verbrauchermacht. (Beifall bei der SPD) Immerhin gibt es in diesem Fall eine Alternative, weil wir die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung für Produkte, bei denen auf die Verfütterung von GVO verzichtet wurde, durchgesetzt haben. Verbrauchermacht? „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Aber die Bundesregierung ignoriert das -Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Anbietern und Verbrauchern. Die Bundesregierung drückt sich vor der Verantwortung und setzt dort auf die Mündigkeit und Macht der Verbraucher, wo gesetzliche Regelungen notwendig wären. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung hat ein Bild von den Verbrauchern und ihrer Mündigkeit, welches weder mit den realen Bedürfnissen und Problemen der Verbraucher noch mit der Komplexität und Intransparenz des Marktes zu vereinbaren ist. Die Bundesregierung hat kein Konzept für ihre Verbraucherpolitik. Wenn Skandale – wir haben in den vergangenen Monaten etliche erlebt – Verwerfungen am Markt offenbaren, reagiert sie mit zweifelhaften Informationsangeboten, leeren Ankündigungen oder freiwil-ligen Vereinbarungen mit der Wirtschaft. Eine -Gesamt-strategie hat diese Bundesregierung nicht. Die gibt es einfach nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten -haben Leitlinien für eine Neuausrichtung der Verbraucherpolitik vorgelegt. Wir wollen, dass der Markt für die Menschen da ist – und nicht umgekehrt. (Beifall bei der SPD) Auch wir wollen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher selbstbestimmt am Markt agieren und bewusst wählen können; das ist nicht ausschließlich ein Prä der FDP. Aber wir sehen den Tatsachen ins Auge und sagen: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, und daran müssen wir arbeiten. Denn am Markt gibt es ein Ungleichgewischt der Kräfte zwischen Anbietern und Verbrauchern. Durch weltweiten Handel und technologischen Fortschritt können Verbraucher aus einer Vielzahl an Waren und auch Dienstleistungen auswählen. Gleichzeitig ist dieser Markt extrem intransparent. Woher kommen die Waren wirklich? Unter welchen Umständen wurden sie produziert? Was genau ist drin? Welche Leistungen umfassen Verträge, und zwar unter welchen Bedingungen, mit welchen Risiken und zu welchen Kosten? (Ulrich Kelber [SPD]: Sehr gut!) Für Verbraucher ist es oft schwierig – und manchmal -sogar unmöglich –, verständliche und vergleichbare -Informationen zu bekommen. Auch die Verbraucher selbst entsprechen nicht dem Bild, das die Bundesregierung von ihnen hat. Die Verbraucherforschung zeigt, dass es den mündigen Verbraucher, der immer rational und selbstbestimmt entscheidet, nicht gibt. So setzt die gesamte Werbebranche darauf, dass er sich von Emotionen und von Stimmungen beeinflussen lässt. Alle Menschen sind Verbraucher – das hat sogar die Kollegin Heil festgestellt –, und ihre Interessen und Probleme sind so verschieden wie ihre Lebenssituation, ihr Einkommen, ihre Herkunft, ihr Geschlecht, ihr Alter. Sie unterscheiden sich in ihren Verhaltensmustern und variieren diese je nach Produkt, Laune oder Einkaufssituation. Manche informieren sich gern und ausführlich, beispielsweise vor der Anschaffung von Elektrogeräten, greifen aber im Lebensmittelmarkt einfach blind zu. -Andere vertrauen aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel auf das, was der Anbieter sagt. Manche möchten danach auswählen, ob der Unternehmer oder das Unternehmen faire Löhne zahlt. Für andere sind Informationen so -unverständlich, dass sie diese gar nicht erst lesen. Wir wollen Verbraucher, unabhängig von Herkunft, Bildungsstand und finanziellen Möglichkeiten, vor -unlauteren Geschäftspraktiken schützen, vor dem Missbrauch ihrer Daten, vor unsicheren Produkten und vor existenzbedrohenden Fehlentscheidungen, beispielsweise bei der Alterssicherung. Wir wollen sie in ihren Rechten und Möglichkeiten zur Mitgestaltung des Marktes stärken. Deshalb brauchen wir eine gründliche Analyse der Schwächen bei der Regulierung des Marktes, der Überwachung, der Transparenz, der Rechte der Verbraucher. Mit unseren Leit-linien stellen wir die Verbraucherpolitik auf eine neue Basis. Wir werden die Ergebnisse der Verbraucherforschung, insbesondere die der Verhaltensökonomie, nutzen, um Regelungen und Instrumente zu entwickeln, die auf die realen Verbraucherinnen und Verbraucher und ihre Bedürfnisse und Probleme zielen. Wir wollen wissen, wie die Verbraucher wirklich ticken und wie Informationen für Verbraucher aussehen müssen, damit sie verständlich, vergleichbar und schnell erfassbar sind. Die misslungenen Beispiele sind von Uli Kelber und von Frau Maisch hier schon genannt worden. Wir wollen wissen und testen, ob Verbraucher tatsächlich verstehen, was in Produktinformationsblättern steht. Das Verbraucherministerium muss prüfen, ob Märkte verbrauchergerecht sind. Hierfür muss es wie etwa der Normenkontrollrat für Bürokratieabbau eine extra Befugnis bekommen. Wir wollen prüfen: Wo muss der Markt transparenter werden, damit Verbraucher selbstbestimmt entscheiden können? Wo müssen die -Anbieter stärker in die Pflicht genommen werden? Wo muss der Staat für mehr Schutz sorgen? Zudem wollen wir diese Erkenntnisse nutzen, um gesetzliche Regelungen in einem Verbrauchercheck auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Wer gute Politik macht, braucht den Realitätscheck nicht zu fürchten, sondern kann ihn im Interesse der Verbraucher nutzen. Unser Ziel ist der Markt für die Menschen, der sich an den Bedürfnissen und Problemen der Verbraucher orientiert und auf dem die Anbieter transparent und gesellschaftlich verantwortlich agieren. Das ist ein neuer Ansatz. Wir freuen uns, wenn Sie sich mit uns auf diesen Weg begeben. Ich fürchte nur: „Die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hans-Michael Goldmann das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hans-Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war sehr zufrieden, als ich die Thematik im Antrag der SPD las, weil uns das Gelegenheit gibt, dieses Thema zu diskutieren, das über die Zeit meiner Zugehörigkeit zum Parlament, nämlich seit 1998, immer wichtiger geworden ist und das vor allen Dingen viele Mütter hat, die es auf den Weg gebracht haben. Ich will überhaupt nicht ausschließen oder auch nicht unerwähnt lassen, dass es sicherlich auch Frau Künast war, die hier in besonderer Weise die Weichen gestellt hat. Aber ich finde, man sollte dann auch so viel Respekt vor der Arbeit der Bundesregierung, der Regierungsfraktion und des Ausschusses haben, dass man sich an der Wahrheit orientiert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde, Herr Staatssekretär Müller hat beeindruckend dargelegt, was wir hier abarbeiten. Gestern habe ich mich zwei Stunden lang sehr qualifiziert mit dem Marktwächter auseinandergesetzt. Ich muss ehrlich sagen: Ich bin ein bisschen traurig darüber, dass wir alle gemeinsam feststellen, dass es in diesem Bereich noch Handlungsbedarf gibt, und dann in den Beiträgen der Opposition hier so getan wird, als ob wir nichts getan, als ob wir für die Verbraucher nichts auf den Weg gebracht hätten. Wir haben die Situation des Verbrauchers am Markt seit Jahren, aber in besonderer Weise in der schwarz-gelben Regierungszeit deutlich gestärkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben die Situation des Verbrauchers am Markt stärker abgesichert, indem wir eine Lebensmittelkennzeichnung eingeführt haben, die Aussagekraft hat. Wir haben allergene Stoffe benannt und die Schriftgröße auf Verpackungen so vergrößert, dass man die Aufschrift gut lesen kann. Von Kleinigkeiten bis hin zu den großen Würfen haben wir die Dinge auf den Weg gebracht. Wir haben ein Verbraucherinformationsgesetz gemacht, das diesen Namen verdient und das vorher bei allen Regierungskonstellationen und Mehrheiten im Parlament gescheitert ist. Deshalb tun Sie bitte nicht so, als ob wir nicht viel erreicht hätten! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich bin überrascht, wie Sie den Antrag vertreten, Herr Kelber. Es gibt gar keine Strategie. Nehmen wir nur den Kernsatz, den Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, mit dem Sie die Bundesregierung auffordern, „eine verbraucherpolitische Strategie vorzulegen und die Grundlagen, Leitbilder, Instrumente und Ziele der Verbraucherpolitik darzustellen“. Ich habe Oppositionsarbeit bis jetzt anders verstanden. (Abg. Ulrich Kelber [SPD] hält eine Broschüre hoch) – Hier ist Ihr Antrag. Was Sie in der Hand haben, ist ein Dokument der Bundesregierung. (Ulrich Kelber [SPD]: SPD-Bundestags-fraktion!) In Ihrem Antrag haben Sie nicht einen einzigen Lösungsvorschlag gemacht. Das gilt auch für das, was Elvira Drobinski-Weiß gerade gefordert hat. Elvira, nichts davon ist in dem Antrag enthalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Doch! Genauer lesen! – Ulrich Kelber [SPD]: Sie können nur Schwarz-Weiß!) – Nein, Herr Kelber, ich kann nicht nur Schwarz-Weiß. (Ulrich Kelber [SPD]: Schwarz-Weiß ist Ihnen schon zu bunt!) – Soll ich weiter vorlesen, was Sie fordern? (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja!) Sie fordern, „das Leitbild des ‚mündigen Verbrauchers‘ nach einem Realitätscheck weiterzuentwickeln und verbraucherpolitische Maßnahmen auf die ‚realen Verbraucher‘ auszurichten“. (Beifall des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) – Ja, Herr Kollege Kelber, aber dazu fordern Sie die Bundesregierung auf. Sie müssen doch selbst eine Vorstellung haben, was nach Ihren Überlegungen das Leitbild eines mündigen Verbrauchers ist. (Abg. Ulrich Kelber [SPD] hält erneut eine Broschüre hoch – Ulrich Kelber [SPD]: Ich kann sie Ihnen auch nach vorne bringen!) – Das mag ja sein, Herr Kelber. Aber ich finde es hochinteressant, dass die Broschüre, die Sie hochhalten, nicht eine einzige Antragsinitiative oder Wortmeldung im Ausschuss ausgelöst hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen führen wir ja auch heute die Debatte!) – Sie hätten schon vielfach Gelegenheit gehabt, bei einer Fülle von Anträgen, Anhörungen und Begegnungen im Ausschuss diese Thematik auf den Weg zu bringen. (Mechthild Heil [CDU/CSU]: Er ist doch nie da! Herr Kelber hält immer nur große Reden! Er ist noch nie im Ausschuss gewesen!) Lassen Sie mich noch einen anderen Bereich ansprechen, Herr Kelber. Es gibt einen Konflikt zwischen dem, was der Staat für die Verbraucher tun muss – dafür muss er einiges tun –, und dem, was die Verbraucher für sich selbst tun. Ich warne entschieden davor, darauf zu vertrauen, dass der Staat in allen Lebenslagen die Bedürfnisse der Menschen reguliert. Das wird nicht glücken. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das haben wir auch nicht formuliert! – Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen haben wir Marktwächter vorgeschlagen!) Frau Drobinski-Weiß, Sie haben eben wieder viel Geld für Einrichtungen gefordert, die die Verbraucheraufklärung voranbringen. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Was ist daran schlecht?) Wir haben aber auch eine andere zentrale Verpflichtung: Wir müssen den nachfolgenden Generationen konsolidierte Haushalte übergeben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dafür müssen wir auch darauf setzen, dass die Bürger Eigenanstrengungen unternehmen, um den Herausforderungen zu begegnen. (Ulrich Kelber [SPD]: Wir brauchen dafür einen Bruchteil der Agrardieselsubventionen!) Sie, Frau Lay, haben den mündigen Verbraucher infrage gestellt. Wir können uns auch über den kundigen und den wissenden Verbraucher unterhalten. Aber dass an Wissen und Selbstinformation in diesem Bereich kein Weg vorbeiführt, ist doch völlig unstrittig. (Beifall bei der FDP) Liebe Freunde, ihr wisst selbst, dass ihr hier ganz schlechte Karten habt. (Lachen der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]) – Da brauchst du nicht zu lachen, Elvira. Dabei hilft dir auch deine GVO-Dauerproblematik nicht. Du musst feststellen – das haben Herr Müller, die Kollegen von der CDU/CSU und der Kollege Schweickert dargelegt –: (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist doch kein Argument! Deswegen ist es doch nicht richtig!) Wir fügen Steinchen für Steinchen ein verbraucherschützendes Mosaik zusammen. Darauf sind wir stolz. In diesem Bereich habt ihr nichts, aber auch gar nichts zu bieten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es werden seltsame Botschaften gesendet. Da bin ich von Ihnen, Frau Maisch, enttäuscht. (Zurufe bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! Oh!) Frau Maisch, Sie sind jemand, der im Ausschuss vernünftig arbeitet. Das zeichnet Sie aus. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Aber, Frau Maisch, Sie sollten die Linie wahren. Sie dürfen nicht behaupten, Kindermilch sei gesundheitsschädlich. Wenn Kindermilch gesundheitsschädlich wäre – das ist sie nicht; Sie wissen das auch –, dann müsste diese Milch vom Markt genommen werden. Das muss sie aber nicht. Ich bin – ich glaube, da sind wir völlig konform – für eine Änderung der Zusammensetzung dieser Milch. Der Zuckergehalt wird reduziert werden. Aber ein Produkt, das gesundheitsschädlich ist – nichts anderes sollten wir dem Verbraucher hier von entscheidender Stelle aus verkünden –, gibt es auf dem deutschen Markt nicht. Das wäre absolut unverantwortlich. Wir können stolz darauf sein, dass unsere Produkte sicher sind. Daran sollten wir gemeinsam festhalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es gibt noch viel zu tun. Lassen Sie uns das eingedenk der guten Tradition bei der Ausschussarbeit gemeinsam angehen! Lassen Sie uns darüber freuen, dass wir einen Verbraucherausschuss haben, der einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft hat und der uns in der Arbeit im Grunde sehr viel Freude bereitet! Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Wunsch nach einer Zwischenfrage kam hier erst an, nachdem die Redezeit abgelaufen war. Da Sie aber angesprochen sind, Frau Maisch: Möchten Sie eine Kurzintervention anmelden? – Das ist nicht der Fall. Jetzt spricht die Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Karin Binder (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seitenlange allgemeine Geschäftsbedingungen oder das Kleingedruckte auf Verpackungen könnten die Verbraucherinnen und Verbraucher ja lesen. Tun sie das nicht, sind sie selbst schuld, wenn sie übervorteilt werden. – So lässt sich die verbraucherpolitische Strategie der Bundesregierung kurz zusammenfassen. Als Linke sagen wir: Es ist Aufgabe der Politik, Verbraucherinnen und Verbraucher vor Schönfärberei, Irreführung oder gar Täuschung zu schützen. (Beifall bei der LINKEN) Manchem Unternehmen scheint nämlich jedes Mittel recht zu sein, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Verbraucherpolitik darf sich deshalb nicht darauf beschränken, Kundinnen und Kunden gute Ratschläge zu geben. Entgegen der Vorstellung der SPD in ihrem Antrag behaupte ich: Das Leitbild des sogenannten mündigen Verbrauchers ist nicht weiterzuentwickeln. Es ist Unsinn. Es ist längst überholt, und es ist nicht mehr als eine Verkaufshilfe. Wir brauchen keine verbraucherpolitische Hilfestellung zur Zielgruppendefinition für Industrie und Handel. Dieses sogenannte Leitbild täuscht darüber hinweg, dass die Verantwortung einfach weg von den Herstellern und Händlern auf die Kundinnen und Kunden übertragen werden soll. Das Aigner-Prinzip, der Verbraucher müsse nur lernen, sich richtig zu informieren – selbst schuld, wer das Kleingedruckte nicht liest –, richtet sich gegen die Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Linke macht da nicht mit. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Dieses Prinzip haben wir nie ausgerufen, Frau Binder!) Die Voraussetzung für gute Verbraucherinformation sind Transparenz und Offenheit. Ein wichtiges Beispiel sind Lebensmittel. Ministerin Aigner aber macht Essen zur Verschlusssache. Wie sonst kommen irreführende Begriffe für Lebensmittel wie Formfleisch oder Fruchtcremefüllung, die kein Fruchtfleisch enthält, zustande? Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission tagt geheim. Ihre Beschlüsse sind unergründlich. Wie gelangen Schadstoffe, zum Beispiel Druckchemikalien, von der Getränkeverpackung in den Saft? – Betriebsgeheimnis! Welche Verstöße und Hygienemängel führen zur Schließung eines Schlachthofs? – Auch geheim! (Dr. Erik Schweickert [FDP]: VIG!) Damit muss endlich Schluss sein. (Beifall bei der LINKEN) Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht, zu erfahren, welcher Betrieb nicht genug auf Sauberkeit achtet und wie Schadstoffe ins Essen gelangen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Herr Schweickert möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen? Karin Binder (DIE LINKE): Aber gern. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Dr. Erik Schweickert (FDP): Frau Kollegin Binder, vielen Dank für die Ermöglichung einer Zwischenfrage. Ist Ihnen bekannt, dass die Bundesregierung das Verbraucherinformationsgesetz novelliert hat, dass wir damit genau in diesen Bereich Transparenz bringen, dass der Verbraucher sehr wohl weiß, wann Grenzwerte überschritten sind, wann und warum ein Schlachthof geschlossen worden ist, und dass wir genau in diesem Bereich gehandelt haben? Karin Binder (DIE LINKE): Lieber Kollege Schweickert, ich glaube, auch Sie wissen, wie schwierig es ist, an solche Informationen zu kommen; denn nach wie vor können sich die Betriebe auf das Betriebsgeheimnis berufen und nach wie vor müssen nicht alle Ergebnisse von Kontrollen offengelegt werden. Solange das Ganze unter dem QS-Siegel oder dem Stichwort „Eigenkontrolle“ läuft, hat die Öffentlichkeit keinen Anspruch darauf, das zu erfahren. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Geschäftsgeheimnisse sind nicht mehr geschützt, Frau Binder!) – Schön wäre es. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das steht im -Gesetz!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es gäbe jetzt noch eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann. Möchten Sie diese auch zulassen? Karin Binder (DIE LINKE): Gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Hans-Michael Goldmann (FDP): Frau Kollegin Binder, Sie haben eben die Schließung eines Schlachtbetriebs angesprochen und gesagt, dass die Gründe dafür geheim seien. Können Sie sich daran erinnern, dass wir gestern in der Ausschusssitzung einen Tagesordnungspunkt zum Bericht über die Situation dieses Schlachtbetriebes hatten und ich trotz angespannter Zeitsituation große Anstrengungen unternommen habe, damit Sie rund eine Viertelstunde über die Situation in diesem Schlachtbetrieb informiert werden? (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Geschlossene Sitzung! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sehr öffentlich! Sehr transparent!) Ihre Bedenken im Hinblick auf diesen Schlachtbetrieb waren danach sicherlich weitestgehend ausgeräumt. Es hat in dem Betrieb nämlich einen Umbau gegeben, der zu einer besonderen Situation geführt hat, die aber gegenwärtig keine Hygieneprobleme mit sich bringt. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überhaupt nichts wurde ausgeräumt!) – Natürlich wurden sie ausgeräumt. Bei Friedrich Ostendorff waren sie natürlich nicht ausgeräumt, weil Herr Ostendorff grundsätzlich keine Bedenken ausräumen lässt, wenn er sich zu einer Sache einmal eine Meinung gebildet hat. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War das öffentlich oder nicht öffentlich? – Zuruf von der LINKEN: Intransparenz! – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ein unwürdiges Verhalten für einen Ausschussvorsitzenden, was Sie hier abliefern! Eine Disqualifikation von Kolleginnen und Kollegen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Entschuldigung, jetzt hat die Kollegin Binder das Wort, um auf die Frage zu antworten. Ansonsten sind Zwischenrufe sehr willkommen. Karin Binder (DIE LINKE): Lieber Kollege Goldmann, ich stimme Ihnen zu: Wir hatten eine Ausschusssitzung, die sich mit diesem Thema befasst hat. Allerdings ist diese Ausschusssitzung nicht öffentlich gewesen. Die Öffentlichkeit erfährt nichts darüber, was in Bezug auf diesen Betrieb Ursache und Wirkung war, was die Konsequenzen sind und wie die Bevölkerung, die Verbraucherinnen und Verbraucher künftig vor solchen Konsequenzen geschützt werden. Unsere Ausschusssitzung ist nicht öffentlich. Außerdem wurden unsere Bedenken nicht ausgeräumt. Es gibt noch sehr viel Beratungsbedarf. Ich stimme Ihnen zu: Wir haben ein Stück weit eine Klärung erreicht, aber ganz bestimmt keine endgültige, abschließende. Es muss definitiv noch beraten werden, insbesondere darüber, wie solche Probleme künftig vermieden werden können. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich bin der Meinung, dass der Staat in der Verantwortung ist, insbesondere wenn es darum geht, Menschen vor dem Ausverkauf der Daseinsvorsorge zu schützen; denn auch diesbezüglich werden sie mittlerweile zu Verbraucherinnen und Verbrauchern degradiert. Rente, Krankheit, Bildung, Strom, Gas und Wasser gehören nach meiner Auffassung aber zur Daseinsvorsorge. Deshalb können die Menschen diesbezüglich nicht einfach zu Marktteilnehmern herabgesetzt werden. Wenn wir für das Alter vorsorgen wollen, sollen wir heute zur Bank gehen. Ohne es zu wissen, nehmen wir dann plötzlich an Finanzwetten teil oder werden zu Miteigentümern von Immobilien, die es gar nicht gibt. „Selbst schuld“, sagt Frau Aigner. Nach meiner Auffassung muss es aber Bereiche geben, in denen Menschen ausdrücklich geschützt und nicht auf den Begriff der Verbraucherin oder des Verbrauchers reduziert werden. (Beifall bei der LINKEN) Dies gilt besonders bei den gesetzlich zu regelnden Gesundheits- und Pflegeleistungen wie auch bei allen anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Für eine verbraucherfreundliche Gesellschaft, die nach dem Anspruch handelt, Verbraucherinnen und Verbraucher zu stärken, zu schützen und zu informieren, benötigen wir erstens die Stärkung der persönlichen und gemeinschaftlichen Verbraucherrechte, zweitens eine wirksame Marktüberwachung zur Kontrolle von Unternehmen und Betrieben, drittens gut ausgestattete und starke Verbraucherorganisationen wie die Verbraucherzentralen, viertens handlungsfähige und gut ausgestattete staatliche Kontrollbehörden, die alle Ergebnisse allgemein verständlich zu veröffentlichen haben, fünftens ein durchsetzungsstarkes Verbraucherministerium, das im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher handelt, und sechstens moderne Ernährungs- und Verbraucherbildung. (Beifall bei der LINKEN) Ich fasse zusammen. Die Linke fordert eine aktive Verbraucherpolitik, welche die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher in den Mittelpunkt stellt. Das Leitbild muss eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Verbraucherpolitik sein. Wirksamer Verbraucherschutz braucht handlungsfähige und durchsetzungskräftige öffentliche Institutionen sowie starke, finanziell gut ausgestattete Verbraucherorganisationen. Gleichzeitig setzen wir uns für die Rekommunalisierung bereits privatisierter Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge ein. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist klar!) So geht Verbraucherschutz. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Carola Stauche das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Carola Stauche (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der SPD, der von uns, der christlich-liberalen Koalition, abgelehnt wird. Es ist schlicht und ergreifend nicht nötig, die Verbraucherpolitik neu auszurichten, wie es im Antrag gefordert wird. (Ulrich Kelber [SPD]: Da hat sogar der Staatssekretär etwas anderes gesagt!) Es wurde bereits von den Kollegen einiges dazu gesagt. Deshalb möchte ich heute meine Ausführungen auf den Bereich der Lebensmittelsicherheit beschränken. Frau Aigner hat bereits am 19. Januar zur Eröffnung der Grünen Woche die „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ vorgestellt. Nach unserem Verständnis gehören Landwirtschaftspolitik und Verbraucherpolitik zusammen. Gerade um die Lebensmittelsicherheit zu gewähren, muss beides ineinander übergehen. Ohne eine vernünftige Landwirtschaftspolitik können unsere Landwirte nicht diesen hohen qualitativen Standard der in Deutschland produzierten Lebensmittel gewährleisten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Lebensmittel sind die Grundlage unseres Lebens. Bessere und sicherere Lebensmittel als in der Bundesrepublik Deutschland finden Sie nirgends in der Welt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen und auch nach außen tragen. Das Bemerkenswerte an der Charta ist der Weg, der gegangen wurde, um zu den vorgestellten Ergebnissen zu kommen. Landwirte, Verbraucher, Wirtschaftsverbände, Umweltschützer, Tierschützer und Kirchenvertreter haben miteinander die Zukunft der Landwirtschaft diskutiert. Durch diesen gemeinschaftlichen Diskussionsprozess hat die Ministerin erreicht, dass es zur Überwindung mancher Meinungsverschiedenheiten kam. Viel wichtiger ist jedoch, dass viele wertvolle Diskussionsbeiträge Eingang in die „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ gefunden haben. Sie helfen uns, die künftige Politik zu gestalten. Dieser Weg einer gemeinsam gestaltenden Politik ist es, der Ihre Argumente widerlegt, die Bundesregierung habe es versäumt, das verbraucherpolitische Leitbild eines mündigen Verbrauchers weiterzuentwickeln. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregierung entwickelt ihre Politik nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg, sondern bindet sie alle mit ein. Das ist ein Weg, der auch weiterhin gegangen werden soll. Ich freue mich, wenn ich lese, dass auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD einen mündigen Verbraucher fordern. Allerdings verstehen wir in der christlich-liberalen Koalition etwas anderes unter diesem Begriff. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: So ist es!) Wir möchten den Verbraucher, den es in der stereotypen Form gar nicht gibt, nicht bevormunden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen ihn aufklären, ihm seine Möglichkeiten aufzeigen und nur, wenn es gar nicht anders geht, regelnd eingreifen. Das Bundesministerium hat hier in den letzten Jahren bereits vieles getan. Nehmen wir das Beispiel der Lebensmittelkennzeichnung. Die immer wieder und auch heute vonseiten der Opposition geforderte Lebensmittelampel ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Verbraucher bevormundet, in die Irre führt oder sogar zur falschen Ernährung animiert. Das oft zitierte Beispiel kennen wir alle: Cola mit drei grünen Punkten und einem roten Punkt. Das ist einfach zu kurz gegriffen. Die Lebensmittelkennzeichnung ist klar geregelt und in ihrer momentanen Form verbraucherfreundlich. Es wird über Zusatzstoffe, Allergene oder genetisch veränderte Organismen informiert und darüber, wie viel Energie, Zucker, Fett oder Salz im Lebensmittel ist. Das Mindesthaltbarkeitsdatum muss gut lesbar sein. Auch muss die Lebensmittelkennzeichnung über Beschaffenheit und Herstellung der Produkte aufklären, so zum Beispiel über Analogkäse oder Klebeschinken. Funktioniert das alles nicht, wird getäuscht oder auf einem Produkt mit irreführenden Angaben geworben, besteht die Möglichkeit, mithilfe der Initiative „Klarheit und Wahrheit bei der Lebensmittelkennzeichnung“ auf dem Internetportal lebensmittelklarheit.de darauf hinzuweisen. Auch hierbei ist der Dialog, hier von Unternehmern und Verbrauchern, ein ganz wichtiges Element. Wir dürfen uns natürlich auf dem bisher Erreichten nicht ausruhen; das werden wir auch nicht tun. Wir werden und müssen die Verbraucher noch mehr über Lebensmittel informieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es gibt gerade nach den Erfahrungen mit Gesetzesverstößen bei der Lebensmittelherstellung in den letzten Jahren Verbesserungsbedarf, was die Effektivität der Futtermittel- und Lebensmittelkontrollen in den Ländern betrifft. Hier gilt es die Koordination des Risikomanagements zu verbessern. Die Bundesregierung reagierte darauf mit dem Aktionsplan „Verbraucherschutz in der Futtermittelkette“. Dabei wurden Sicherheitsstandards in der Futtermittelkette deutlich erhöht und identifizierte Schwachstellen beseitigt. Das heißt jedoch nicht, dass die Lebensmittelsicherheit und das Risikomanagement aus dem Fokus geraten. Der Plan des Bundesministeriums, im Krisenfall die Kompetenzen des Bundes zu stärken und das nationale Krisenmanagement neu auszurichten, findet unsere volle Unterstützung. Dass Ministerin Aigner an Lösungen interessiert ist, zeigt das Beispiel IN FORM. Dieses Projekt wurde von der Ministerin weitergeführt und ausgebaut. Das zeigt deutlich, wie wichtig das Anliegen „gesunde Ernährung“ und die damit verbundenen Themen durch die Bundesregierung genommen werden. Auch das momentan in der Öffentlichkeit diskutierte Thema Lebensmittelverschwendung ist der Ministerin nicht neu. Vielmehr ist sie Vorreiterin und hat bereits im Herbst vergangenen Jahres eine Studie zu diesem Thema beauftragt, die sie nächste Woche der breiten Öffentlichkeit vorstellt. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, und später im Ausschuss! Und die Parlamentarier, was ist mit denen?) Man sollte nicht alles überstürzen und in Aktionismus verfallen. Das hilft uns nicht weiter. Nur klares Denken und Analysieren sowie gemeinsames Handeln unter Einbeziehung aller Beteiligten bringt uns hier weiter. Dafür möchte ich der Ministerin danken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Dafür, dass sie die Parlamentarier missachtet?) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesen knappen Beispielen wollte ich verdeutlichen, dass der Verbraucherschutz bei Ministerin Aigner gut aufgehoben ist. Ihr Weg, alle Gesellschaftsgruppen in einen kon-struktiven Dialog zu führen, sollte wegweisend auch für andere Politikfelder stehen, nicht nur in der Verbraucherpolitik. Eine einseitige Bevormundung der Verbraucher ist nicht im Sinne der Koalitionsfraktionen. Wir stehen für den mündigen Verbraucher, nicht für den bevormundeten. Ein mündiger Verbraucher muss die Freiheit -haben, selbst zu entscheiden, und darf nicht von der Politik, durch Gesetze und Verordnungen in seiner Entscheidung eingeschränkt werden. (Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist ja unmöglich, was Sie hier erzählen!) Ich danke Ihnen herzlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das macht Spaß, gegen Popanz anzugehen, den man selbst aufgebaut hat!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal finde ich es gut, dass wir heute über den Verbraucherschutz diskutieren. Deshalb auch Dank an die SPD-Fraktion, dass sie diesen Antrag eingebracht hat. Letzte Woche fand der Weltverbrauchertag statt. Auch von daher ist heute ein guter Zeitpunkt, einmal Bilanz zu ziehen. Ich persönlich bin schon sehr erstaunt darüber, welche Bilanz hier von den Koalitionsfraktionen gezogen wird. Die Kritik richtet sich ja nicht gegen einzelne Punkte der Politik, die die Bundesregierung macht. Wir wissen selber, dass Verbraucherschutz ein so breites Feld ist, dass man immer irgendeinen Punkt finden kann, bei dem noch nicht genug getan wurde. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Oder wo was getan wurde!) Das ist nicht der Punkt. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Was ist die Grundlage der Verbraucherschutzpolitik dieser Bundesregierung? Da sage ich: Die Grundlage ihrer Verbraucherschutzpolitik ist Symbolpolitik. Ministerin Aigner stellt sich hin, verkündet irgendetwas, und dann geht das Thema an ihre Kabinettskolleginnen und -kollegen, die wenig oder gar nichts machen. Das ist das Prinzip der Ministerin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Caren Lay [DIE LINKE] – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Das führt dazu, dass sie – zu Recht – als Ankündigungsministerin bezeichnet wird. Herr Schweickert, was ist denn mit den großen Erfolgen wie dem Verbot von Telefonwerbung und den Regelungen zu telefonischen Warteschleifen, die Sie angeführt haben? Das war schon jahrelang ein Thema. Nur durch unseren Druck und durch den Druck der Öffentlichkeit (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) haben Sie sich langsam bewegt. Trotzdem haben Sie bis heute keine guten Lösungen erreicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Noch heute sagen Sie: Wir müssen einmal schauen, ob es in Zukunft eine schriftliche Bestätigung geben soll. – Dabei gibt es mittlerweile so viele Verträge, die den Menschen Schwierigkeiten bereiten. Sie haben bisher viel zu wenig getan. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Höhn, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Schweickert zulassen? Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, bitte. Da ich nur wenige Minuten Redezeit habe, können Sie ruhig eine Frage stellen, Herr Kollege. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der zählt Ihnen jetzt die Gesetze auf, die wir verabschiedet haben! – Gegenruf der Abg. Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das geht aber kurz!) Dr. Erik Schweickert (FDP): Vielen Dank, Frau Höhn, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ist Ihnen bekannt, dass es Abzocke mit telefonischen Warteschleifen nicht erst gibt, seit wir regieren? Das war auch schon zu Ihrer Regierungszeit ein Thema. Sie haben aber nichts getan. Ist Ihnen das bekannt? (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Fragen Sie Ihren Koalitionspartner!) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema illegale Telefonwerbung ist vor anderthalb Legislaturperioden mal gekommen. Damals wurden sehr viele Menschen zu Werbezwecken angerufen. Ich war zu dieser Zeit im Verbraucherausschuss und habe als Erste mit einem Grünen-Antrag die Debatte angestoßen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und was haben Sie erreicht?) Ich habe damals – so lange ist das schon her – noch mit dem damaligen Ausschussmitglied Frau Klöckner verhandelt. Aber heute, Jahre später, ist das Problem immer noch nicht gelöst worden. Das ist der entscheidende Punkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich fordere Sie daher auf: Tun Sie einfach mehr! Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Ihnen ein Konzept fehlt. Es gibt eine große Bandbreite von Themen. Sie sagen: Wir wollen die Verbraucher aufklären und den Verbraucherschutz verstärken. – Genau da müssen Sie auch ansetzen. Deshalb müssen Sie die Verbraucher strukturell stärken. Entscheidend dafür ist das Verbraucherinformationsgesetz. (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist gut!) Ich gebe der Kollegin Binder recht: Das Verbraucherinformationsgesetz ist den Namen nicht wert, den es trägt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ach, Blödsinn!) Denn es gibt immer noch wahnsinnig lange Zeitabläufe, ehe man die Info bekommt, und es kann immer noch viel zu leicht auf das Betriebsgeheimnis verwiesen werden. Außerdem sind die Bedarfsgegenstände nicht enthalten. Was Sie bis jetzt gemacht haben, ist viel zu wenig. Wenn Sie die Verbraucher stärken wollen – das ist ein weiterer Punkt, den Sie angehen müssen –, dann müssen Sie endlich in viel mehr Bereichen die Sammel-, Kollektiv- oder Gruppenklage einführen. Es gibt viele Fälle, in denen der Schaden für den einzelnen Verbraucher so gering ist, dass er nicht klagt. Aber in der Summe handelt es sich um Abzocke. Hier endlich einmal die Bedenken der Bundesjustizministerin zu überwinden und Kollektivklagen einzuführen, um die Verbraucher in ihren Rechten zu stärken und sie zu schützen, wäre eine Aufgabe, die Sie endlich angehen müssten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ein weiterer Bereich ist, dass wir diejenigen, die die Verbraucher schützen wollen, finanziell besser ausstatten. 2011 umfassten die Werbeetats der Unternehmen in Deutschland insgesamt 30 Milliarden Euro. Lidl und Aldi gaben je 200 Millionen Euro und McDonald‘s 150 Millionen Euro für Werbung aus. Was bekommt die Stiftung Warentest? 1,5 Millionen Euro. Das ist viel zu wenig. (Ulrich Kelber [SPD]: Die vorher gestrichen worden war!) Wie hoch ist der Etat der Verbraucherzentrale Bundesverband? 13 Millionen Euro. Auch das ist viel zu wenig. Wir müssen diejenigen, die die Verbraucher unterstützen, in größerem Umfang stärken. (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ein irrwitziger Vergleich!) Ein letzter Punkt. Damit komme ich zu einem ganz aktuellen Beispiel. Es geht um die Lebensmittelverschwendung. Monatelang haben wir darüber diskutiert. Vor wenigen Tagen konnten wir erleben, dass der Berg kreißte und eine Maus gebar. Wer ist wieder an dieser Lebensmittelverschwendung schuld? Die Verbraucher; denn sie sind angeblich nicht in der Lage, das Mindesthaltbarkeitsdatum richtig zu interpretieren. Auf diese Weise machen Sie Verbraucherschutz. Wenn Sie wirklich etwas gegen die Lebensmittelverschwendung machen wollen, müssten Sie den gesamten Weg der Lebensmittel vom Acker bis zum Teller im Blick haben; denn 40 Prozent der Lebensmittelverschwendung erfolgt auf dem Weg zum Verkauf. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch dummes Zeug, was Sie hier reden!) Sie wollen sich aber nicht mit dem Handel anlegen, und Sie wollen sich auch nicht mit denjenigen anlegen, die für die Missstände verantwortlich sind. Deshalb schieben Sie alles auf die Verbraucher ab. Das ist Ihre Verbraucherschutzpolitik. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl! Das ist auch gut so!) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Ende. – Wir haben mit Renate Künast die erste Bundesverbraucherschutzministerin Deutschlands gehabt. Sie hat den Verbraucherschutz an die erste Stelle im Namen ihres Ministeriums gesetzt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin! Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie aber haben sofort nach Regierungsübernahme den Verbraucherschutz an die dritte und damit letzte Stelle des Ministeriumnamens gesetzt. Das war ein Fehler. Aber genauso, nämlich als Allerletztes, behandeln Sie den Verbraucherschutz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Schweickert das Wort. Dr. Erik Schweickert (FDP): Frau Präsidentin, vielen Dank. – Frau Höhn, Sie haben genauso wie die Kollegin Binder vorhin behauptet, dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse im VIG eine allumfassende Schutzfunktion hätten. Darf ich Sie da-rauf hinweisen, dass im alten VIG stand, dass Daten über Verstöße in diesem Bereich keine Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse seien. Im neuen VIG steht sogar, dass jegliche Messwerte bezüglich der Grenzwerte, also nicht nur deren Überschreitung, sondern auch deren -Unterschreitung, keine Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse seien. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und stellen Sie das nicht jedes Mal falsch dar. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Höhn, zur Erwiderung, bitte. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Schweickert, genau das ist weiterhin ein Problem. Wir hatten gerade einen Fall. Die Kollegin Binder – das hat der Kollege Goldmann gesagt – hat -einen Schlachthof erwähnt. Der Kollege Goldmann hat als Ausschussvorsitzender verhindert, dass in der Tagesordnung der Name des Unternehmens stand. Ihr Betriebsgeheimnis geht so weit, dass Sie die Namen der Unternehmen sogar in den Tagesordnungen der nichtöffentlichen Sitzungen nicht aufführen wollen. Es werden immer wieder Betriebsgeheimnisse vorgeschoben. Deshalb wird immer wieder Information verweigert. Das muss klarer werden. Das muss besser werden. Das, was im VIG steht, ist weiterhin nicht ausreichend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber er hat recht gehabt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] meldet sich zu einer Kurzintervention) Vizepräsident Eduard Oswald: Dem Kollegen Gerig ist das Wort erteilt worden. Der amtierende Präsident wird das auch so weiterführen. Der Kollege Goldmann, so wie ich ihn kenne, findet immer Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen. – Bitte schön, Kollege Gerig, Sie haben das Wort. Alois Gerig (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe gut eineinhalb Stunden sehr entspannt, aber trotzdem aufmerksam diese Debatte verfolgt. Mein Schluss: Es ist gut, dass die Oppositionsparteien in dieser Regierung nichts zu sagen haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sonst müsste man sich ganz schnell Gedanken darüber machen, wie die Verbraucher vor Ihrer Verbraucherpolitik geschützt werden könnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Glücklicherweise stellt sich diese Frage nicht. Sehr geehrte Frau Höhn, Ankündigungspolitik haben andere gemacht. Das, was wir von Ihnen gehört haben, war ein Wünsch-dir-was-Spiel ohne jedes Augenmaß, aber mit sehr viel Populismus. So schlecht kann unsere Verbraucherpolitik nicht sein. Wir alle können feststellen und in den Medien verfolgen, dass unsere Menschen immer älter werden. Der „Verbraucherpolitische Bericht der Bundesregierung 2012“, der in der vergangenen Woche vorgelegt wurde, widerlegt eindeutig die Behauptungen des SPD-Antrags und Ihre absurden Anschuldigungen. Tatsächlich hat die Koalition in den vergangenen zweieinhalb Jahren eine ganze Menge im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher bewegt. Unsere Zielsetzung ist eindeutig: Wir wollen einerseits starke Verbraucherrechte – dabei stehen Sicherheit und Transparenz im Mittelpunkt –, -andererseits setzen wir aber auch auf die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Das heißt, wir brauchen kritische Verbraucher und dürfen den Menschen keine gefühlte absolute Sicherheit suggerieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte betonen, dass wir viele der heute angesprochenen Themen und Probleme, bis hin zur Lebensmittelverschwendung, glücklicherweise unserem Wohlstand zu verdanken haben, einem Lebensstandard, der auch heute leider immer noch nicht bei der Mehrheit der Weltbevölkerung angekommen ist. Das ist ein Umstand, den man im Rahmen einer solchen Debatte durchaus einmal mit einer gewissen Ehrfurcht, Dankbarkeit, aber auch Hochachtung selbstkritisch zur Kenntnis nehmen sollte. Mögen wir diesen Wohlstand erhalten, damit wir uns auch zukünftig einerseits eine solch komfortable Verbraucherpolitik leisten und uns andererseits darüber hinaus für Frieden und Wohlstand in der ganzen Welt -engagieren können. Die Verbraucherpolitik sollte sich davor hüten, die vielfältige und komplexe Welt der Waren und Dienstleistungen in unserem Land in Gut und Böse einzuteilen. Der Bürger muss durch Verbraucherbildung befähigt werden, sich selbst zu schützen und die Produkte zu wählen, welche für seine Lebenssituation am besten sind. Dieses Thema hat unsere Ministerin Frau Aigner deshalb zu Recht zu einem Schwerpunkt ihrer Verbraucherpolitik gemacht. Die Verbraucherbildung muss sinnvollerweise schon in der Schule beginnen und quasi von Kindesbeinen an bei Konsumentscheidungen dazu befähigen, Kosten, Nutzen und Risiken für sich zu bewerten und dann eigenverantwortlich zu handeln. Die Politik kann nur die Rahmenbedingungen gestalten, und zwar so, dass der Verbraucher in der Lage ist, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu handeln. Grundlegend ist nach meiner festen Überzeugung deshalb zweierlei: Erstens Transparenz. Die Anbieter haben alle relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen, die die Verbraucher für ihre Kaufentscheidung brauchen. Dort, wo es an Transparenz fehlt, müssen wir als Gesetzgeber nachhelfen. Zweitens Sicherheit. Verbraucher müssen vor Angeboten geschützt werden, die eine Gefahr darstellen, insbesondere dann, wenn es um die Gesundheit geht. Nur wenn die Sicherheit gewährleistet ist, kann Vertrauen entstehen und können die Märkte funktionieren. Die Koalition handelt genau in diesem Sinne, wie wir heute vielfältig vernommen haben. Ich möchte auf die Aufzählung einzelner Beispiele verzichten, weil sehr vieles bereits angesprochen wurde und überdies meine Zeit knapp ist. Die Koalition ist nahe bei den Verbrauchern und nimmt all ihre Alltagssorgen sehr ernst. Der vorliegende Antrag hingegen zeigt, dass sich die SPD mit dem Verbraucherschutz sehr viel lieber in der Theorie befasst. Konkrete und praxistaugliche Lösungsvorschläge bleibt sie schuldig, wie heute auch schon einige meiner Kollegen gesagt haben. Solch einem Antrag können und werden wir mit Sicherheit nicht zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Ulrich Kelber [SPD]: Sie sollten mal mit einem Lesetraining für Kollegen anfangen! Das würde die Debattenqualität erhöhen!) Der Parlamentarische Staatssekretär Müller (Ulrich Kelber [SPD]: Der kann lesen!) ist bereits auf unseren Status im aktuellen Verbraucherbarometer der EU-Kommission eingegangen; das ist ein hochamtliches Beispiel für unseren sehr guten Verbraucherschutz. Dem deutschen Verbraucher geht es im internationalen Vergleich wirklich gut. Das kann und soll natürlich nicht bedeuten, dass wir die Hände in den Schoß legen. Wir müssen weiterhin mit allen Mitteln daran arbeiten, diesen hohen Standard zu erhalten, und überall dort, wo sich – durch welche Einflüsse auch immer – verbraucherpolitische Lücken auftun, diese konsequent schließen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Regierungskoalition wird die Verbraucherpolitik genau in diesem Sinne weiterführen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Alois Gerig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe jetzt die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8922 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a bis f sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. November 2011 über die Errichtung des Sekretariats der Partnerschaft für öffentliche Gesundheit und soziales Wohlergehen im Rahmen der Nördlichen -Dimension (NDPHS) – Drucksache 17/8981 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern – Drucksache 17/8988 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE -eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes – Einbeziehung von Kindertagesbetreuungseinrichtungen in die Schrankenregelungen – Drucksache 17/4876 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschaffung der gesetzlichen Vermutung der „Versorgungsehe“ bei Eheschließung und eingetragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Beamten nach dem Eintritt in den Ruhestand – Drucksache 17/7027 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva Bulling-Schröter, Sabine Leidig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kein Bau der dritten Start- und Landebahn am Flughafen München – Drucksache 17/8607 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Rolf Hempelmann, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Euratom-Vertrag an die Herausforderungen der Zukunft anpassen – Drucksache 17/8927 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts – Drucksache 17/9029 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Viola von Cramon-Taubadel, Katrin -Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorge--abkommen zurücknehmen – Drucksache 17/9036 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 31 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 17. März 1992 zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen – Drucksache 17/8725 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) – Drucksache 17/8925 – Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Horst Meierhofer Sabine Stüber Nicole Maisch Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8925, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8725 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich sehe, das sind alle Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Stimmenthaltungen? – Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Dezember 2010 über die Errichtung des Funktionalen Luftraumblocks „Europe Central“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (FABEC-Vertrag) – Drucksache 17/8726 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) – Drucksache 17/8957 – Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8957, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8726 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Stimmenthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des -Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Marktwirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft – Drucksachen 17/8585, 17/9055 – Berichterstattung: Abgeordneter Garrelt Duin Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9055, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8585 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Oppositionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – zu der Verordnung der Bundesregierung Dreiundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung – zu der Verordnung der Bundesregierung Einhunderteinundsechzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – – Drucksachen 17/8539, 17/8833 Nr. 2.1, 17/8324, 17/8510 Nr. 2.1, 17/9056 – Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der Dreiundneunzigsten Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 17/8539 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 31 d. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hat in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9056 die Einhunderteinundsechzigste Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – auf Drucksache 17/8324 mit einbezogen. Über diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. – Sie sind damit einverstanden. So kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, die Aufhebung der Einhunderteinundsechzigsten Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – auf Drucksache 17/8324 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Niemand. Stimmenthaltungen? – Die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 e bis  l. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 31 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 404 zu Petitionen – Drucksache 17/8904 – Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine. Die Sammelübersicht 404 ist infolgedessen angenommen. Tagesordnungspunkt 31 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 405 zu Petitionen – Drucksache 17/8905 – Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – -Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. Sammelübersicht 405 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 406 zu Petitionen – Drucksache 17/8906 – Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der Sozialdemokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 406 ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 407 zu Petitionen – Drucksache 17/8907 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 407 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 408 zu Petitionen – Drucksache 17/8908 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 408 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 409 zu Petitionen – Drucksache 17/8909 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 409 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 410 zu Petitionen – Drucksache 17/8910 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Sammelübersicht 410 ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 411 zu Petitionen – Drucksache 17/8911 – Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten, Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammelübersicht 411 ist angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Tarifrunde 2012 – Höhere Löhne durchsetzen, jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive bieten Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Klaus Ernst. (Beifall bei der LINKEN) Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung wird nicht müde, die Situation in der Bundesrepublik zu loben. „Wir sind gut aus der Krise herausgekommen“, sagt Frau Merkel. Herr Brüderle, der heute nicht da ist, sagt, „deutliche Lohnerhöhungen“ wären sinnvoll. Frau von der Leyen sagte im Februar in der Bild – ich zitiere –: Das Grundversprechen der sozialen Marktwirtschaft lautet: Wenn alle fleißig mitarbeiten, werden alle am Erfolg und Wohlstand beteiligt. (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört! – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Klingt gut!) Wunderschön. Schauen wir uns die Realität an. Verdi fordert 6,5 Prozent, mindestens 200 Euro. Diese Forderung ist vollkommen richtig und entspricht dem, was die Bundes-regierung in öffentlichen Verlautbarungen sagt. Das Angebot der öffentlichen Arbeitgeber liegt bei 2,1 Prozent für 2012 und 1,2 Prozent für 2013. Das macht umgerechnet pro Jahr nicht mehr als 1,77 Prozent. Das bedeutet, dass die Preissteigerungsrate über dem Angebot der öffentlichen Arbeitgeber liegt. Nun stellt sich die Frage – die auch wir uns stellen müssen –: Haben denn die Krankenschwestern oder die Beschäftigten bei der Müllabfuhr nicht ordentlich gearbeitet? Was ist mit den Angestellten in den Gemeinden oder Rathäusern? Was ist mit den Angestellten auf Bundesebene? Warum sollen die Beschäftigten im öffent-lichen Dienst von der offensichtlich guten wirtschaft-lichen Entwicklung, die Frau Merkel so gelobt hat, abgekoppelt werden? Dafür gibt es keinen Grund. (Beifall bei der LINKEN) Den Arbeitnehmern wird offensichtlich Geld weggenommen. Ich möchte das am Beispiel einer Krankenschwester erläutern. In der Lohngruppe 7 erhält sie nach drei Jahren gemäß Angebot der Arbeitgeber eine Lohnerhöhung von 45,66 Euro. Nach Abzug der Preissteigerung hat sie 15 Euro weniger als heute. In Ihrer Logik arbeiten die Krankenschwestern oder andere Beschäftigte des öffentliches Dienstes nicht vernünftig. Was Sie den Beschäftigten anbieten, ist nicht genug. Dafür sind Sie verantwortlich, auch der Innenminister. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein!) – Selbstverständlich. Er ist in diesem Zusammenhang doch auch Arbeitgebervertreter. Wenn Sie das nicht wissen, Herr Weiß, dann scheinen Sie nicht aufgepasst zu haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Was hier offensichtlich mit Zustimmung der Bundesregierung angeboten wird, ist nichts anderes als ein Hohn für die Beschäftigten, die den Karren jeden Tag in Schichtarbeit, manchmal auch samstags und sonntags durch Überstunden aus dem Dreck ziehen. Was jetzt passiert, ist gegenüber den Beschäftigten eine Unverschämtheit! (Beifall bei der LINKEN) Ich kenne Ihre Argumente. Es sind ganz einfache Argumente: Es ist kein Geld da. Die öffentlichen Kassen sind leer. – Wer trägt denn für die Leere der öffentlichen Kassen die Verantwortung? Der Spitzensteuersatz wurde von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie verweigern hartnäckig die Einführung einer Vermögensteuer. Allein durch die Steueränderungen von 2009 bis 2011, für die diese Bundesregierung verantwortlich ist, haben wir im Jahre 2011 8,6 Milliarden Euro und im Jahre 2012 7,7 Milliarden Euro weniger in den Haushalten. Sie verweigern die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Die Prognos AG hat berechnet, dass bei einem Mindestlohn von 10 Euro ein positiver Haushaltseffekt von 12,8 Milliarden Euro erzielt werden würde. Das wären Mehreinnahmen in den Haushalten. Eine Tariferhöhung von 1 Prozent im öffentlichen Dienst kostet 1,2 Milliarden Euro. Allein mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes wäre die Tarifrunde finanziert. (Beifall bei der LINKEN) Sie verhindern, dass Geld in die Kassen öffentlicher Haushalte kommt, und beschweren sich dann, dass kein Geld da ist. Allein die DAX-Unternehmen haben im Jahr 2011 einen Rekordgewinn von 100 Milliarden Euro erzielt. Von 1 Prozent dieser 100 Milliarden Euro könnten Sie für 400 000 Krankenschwestern eine Lohnerhöhung von 200 Euro bezahlen. Das wäre so, wenn Sie sich wieder zu einer vernünftigen Besteuerung auch der großen Unternehmen und der großen Einkommen entschließen könnten. Die aber verweigern Sie. Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht gottgegeben, dass die Kassen leer sind, sondern für die leeren Kassen – und damit für die schlechte Situation der abhängig Beschäftigten – sind diese Bundesregierung und diese Koalition maßgeblich verantwortlich. (Beifall bei der LINKEN) Darum sage ich Ihnen: Hören Sie auf, mit den Beschäftigten Katz und Maus zu spielen. Beteiligen Sie die Beschäftigten endlich an der angeblich so guten Entwicklung in unserem Lande, und besteuern Sie die Einkommen vernünftig. In Frankreich wird gegenwärtig ein Spitzensteuersatz für Millionäre von 75 Prozent diskutiert. (Zurufe von der FDP: Bei den Linken auch!) Auch die Sozialdemokraten könnten sich noch einmal überlegen, ob das bei Hollande so wirklich falsch ist. – Deshalb sage ich zum Schluss: Ich hoffe, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht nachlassen, für ihre Forderungen zu kämpfen, und ich wünsche ihnen für ihre Streiks den besten Erfolg. Die Linke wird diese Streiks mit allem Nachdruck unterstützen, damit auch etwas Vernünftiges dabei herauskommt. (Beifall bei der LINKEN) Ich bitte auch die Bürgerinnen und Bürger um Verständnis, wenn im öffentlichen Dienst gestreikt wird. Es wird nämlich auch dafür gestreikt, dass wir nach wie vor einigermaßen vernünftige Ausbildungsvoraussetzungen für Leute haben, die sich bereit erklären, in ihren Berufen im öffentlichen Dienst zu arbeiten, weil sie dort in vernünftiger Höhe Geld verdienen. Wir brauchen einen gut bezahlten, vernünftig organisierten öffentlichen Dienst. Dann muss man auch vernünftig bezahlen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ernst. – Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Tarifverhandlungen, wie sie zurzeit im öffentlichen Dienst, in der Metallbranche und anderswo laufen, sind gelebte Tarifautonomie – so, wie sie in unserem Grundgesetz geschützt ist, und so, wie sie zur Ordnung der sozialen Marktwirtschaft gehört. Der Begriff Autonomie macht schon deutlich, dass die Beteiligten – die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite – ohne Einflussnahme von außen ihre Angelegenheiten selbst betreiben und in Verhandlungen hoffentlich zu einem für die Beschäftigten in allen Branchen guten Ergebnis kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das mit der Autonomie scheint die Linke aber nicht verstanden zu haben. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberseite brauchen nämlich keine Ratschläge aus der Politik bzw. aus dem Parlament, sondern sie nehmen ihre Verantwortung autonom wahr. Das ist gut, das hat sich bewährt, und es sollte auch in Zukunft so sein. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wer ist denn Arbeitgeber? – Zuruf von der SPD: Dieser Ausspruch schlägt zukünftig zurück!) Es wurden die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst angesprochen. Dabei nimmt in der Tat der Bundesinnenminister – nicht das Parlament – die Rolle des Arbeitgebervertreters wahr. (Zurufe von der LINKEN: Ja!) Für die Bundesländer sind es die Länderfinanzminister. (Zurufe von der LINKEN: Ja!) Für die Kommunen sind es die Vertreter der kommunalen Seite. (Zurufe von der LINKEN: Ja! – Gegenruf von der CDU/CSU: So weit haben Sie es schon mal begriffen!) Ich habe meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter recherchieren lassen, wie sich Vertreter der Linken in der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände -verhalten. Die Kommunen haben schließlich die Verantwortung für den größten Teil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Demgegenüber ist die Zahl der -Beschäftigten bei Bund und Ländern relativ klein. Die meisten der im öffentlichen Dienst Beschäftigten arbeiten bei Städten, Gemeinden und Landkreisen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sagen Sie, was da an Geld genommen werden soll! Schaumschläger!) Ich habe also versucht, zu recherchieren, ob irgendein Landrat, Bürgermeister oder Oberbürgermeister der Linkspartei in der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände dafür plädiert hat, seitens der Arbeitgeber mit einer anderen Verhandlungsstrategie in diese Tarifverhandlungen zu gehen. Dem ist nicht so. Die Linken schwätzen hier und plustern sich auf, während ihre Kommunalvertreter selbstverständlich Arbeitgebersolidarität üben, wie alle anderen auch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Zu so einer Show, dazu, dass Sie hier im Bundestag dermaßen mit gespaltener Zunge reden, sage ich: Sapperlot! Das ist völlig daneben! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was ist denn mit von der Leyen? Arbeitnehmerbeteiligung, was ist damit? Sagen Sie etwas zu Ihrer Ministerin!) Ich finde, wir haben allen Grund, den Tarifpartnern, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden, zu danken. Ich spreche bewusst von hoffentlich starken Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden; denn wir wünschen uns eigentlich, dass es in Zukunft wieder mehr Tarifbindung gibt und nicht weniger, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnte man ja etwas dafür machen!) damit es ihnen gelingt, ohne politische Einflussnahme zu einem guten Verhandlungsergebnis zu kommen. Wenn wir uns die Verhandlungen in der Vergangenheit anschauen, stellen wir fest, dass ihnen das stets in beachtenswerter Weise gelungen ist. Richtig ist: In der Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Tarifpartner in sehr verantwortungsvoller Weise gehandelt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben Kürzungen – Stichwort: Kurzarbeit – hingenommen. Deswegen ist es richtig, dass die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Tarifverhandlungen in Zeiten, in denen die Wirtschaft wieder brummt und gute Einnahmen erwirtschaftet werden, einen angemessenen Anteil für die Beschäftigten fordern. Das tun sie in dieser Tarifrunde. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie müssen ihn auch kriegen, nicht nur fordern!) Ich bin fest überzeugt davon, dass die Gewerkschaften diese Forderung in angemessener Art und Weise durchsetzen werden. Selbstverständlich ist der Streik ein Mittel, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Forderungen Nachdruck verleihen können. (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) Das Schöne ist, dass wir uns in Deutschland darüber eigentlich gar nicht aufzuregen brauchen; denn die Gewerkschaften sind mit dem Mittel des Streiks über Jahrzehnte in hochverantwortlicher Weise umgegangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir gehören in Europa zu den Ländern mit den allerwenigsten Streiktagen. Das zeigt, dass unsere Gewerkschaften und unsere Arbeitgeberverbände hochprofes-sionell und in der Regel ohne Arbeitskampfmaßnahmen zu einem guten Ergebnis kommen. Deswegen bin ich überzeugt: Auch in der Tarifrunde 2012 wird es gute Ergebnisse für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land geben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich finde es bemerkenswert – das kam in der Rede von Herrn Ernst gar nicht vor –, dass die Gewerkschaften eine ganze Reihe weiterer Themen in diese Tarifverhandlungen einbringen, die, wie ich meine, wirklich Zukunftscharakter haben. Ich nenne zum Beispiel den Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ der IG BCE und die Bemühungen der IG Metall, besondere Regelungen für benachteiligte Jugendliche für die Berufsausbildung durchzusetzen. Ich finde, wir sollten als Politik froh sein, dass die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände zusätzliche Zukunftsthemen zur Gestaltung unseres Arbeitslebens in die Tarifverhandlungen einbringen und diese Diskussionen hoffentlich auch zu einem guten Ergebnis führen. Deswegen gilt: Unterstützung für gute und erfolgreiche Tarifverhandlungen. Für uns Politiker der Ratschlag: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Ottmar Schreiner. Bitte schön, Kollege Ottmar Schreiner. (Beifall bei der SPD) Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Weiß, die Tarifautonomie vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Auf die Tarifautonomie wirken erhebliche Kräfte politischer Art; darauf komme ich gleich noch zurück. Ich glaube, wichtig ist, zu sagen, dass die Tarifautonomie, das Flächentarifsystem und eine starke Tarifbindung das Herz einer guten Lohnpolitik und fairer Arbeitsbedingungen ist und eine wesentliche Grundlage für einen sozialen Konsens sind. Sie sind ein zentrales Element der sozialen Marktwirtschaft. Ich will kurz aus dem Buch Wohlstand für alle des politischen Vaters der sozialen Marktwirtschaft zitieren. Dort heißt es: Immanenter Bestandteil der Überzeugungen … ist das Verlangen, allen arbeitenden Menschen nach Maßgabe der fortschreitenden Produktivität auch einen ständig wachsenden Lohn zukommen zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die verstoßen aber schon seit Jahren dagegen!) – Es ist ja nett, dass Sie klatschen, wenn ich ein Zitat von Ludwig Erhard vortrage. Das hat mit den seit vielen Jahren bestehenden Realitäten nichts mehr zu tun. Ludwig Erhard hat dies übrigens damals in dem Kapitel „Der Rote Faden“ geschrieben. Von einem roten Faden der sozialen Marktwirtschaft ist nichts mehr zu sehen. Die Wirklichkeit sieht völlig anders aus als das, was Ludwig Erhard beschrieben hat. Es ist im Kern nichts anderes als die Bekräftigung der sogenannten produktivitätsorientierten Lohnpolitik. Wir können zwar beobachten, dass es in den letzten zehn, zwölf Jahren deutliche Lohnzuwächse in den gewerkschaftlich gut organisierten Industriebranchen, vor allen Dingen Metall und Chemie, gegeben hat. Übrigens sind das Engagement und die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften augenscheinlich die wirksamsten Mittel gegen Lohndrückerei; das erwähne ich nur am Rande. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) Wenn man sich die reale Entwicklung der Durchschnittslöhne anschaut, und zwar nach Abzug der Preissteigerungen, dann sieht man, dass die durchschnittlichen Bruttolöhne in Deutschland von 2000 bis einschließlich 2011 um circa 3 Prozent gesunken sind. Das hat mit Ludwig Erhard überhaupt nichts mehr zu tun. Ein Rückgang der Realeinkommen um 3 Prozent in den letzten 11 Jahren beim Durchschnitt der Arbeitnehmerschaft ist das Gegenteil dessen, was Erhard als soziale Marktwirtschaft beschrieben hat. Wenn man nach den Gründen sucht, findet man im Wesentlichen drei, die mit der Tarifautonomie unmittelbar nichts zu tun haben, aber natürlich auf die Tarifautonomie einwirken. Erster Grund. Das Tarifsystem ist zwar immer noch das Rückgrat der Lohnentwicklung – das zeigen die Entwicklungen im Bereich der Industrielöhne –, aber wir haben es mit einer deutlich nachlassenden Prägekraft des Tarifsystems zu tun. Die Tarifbindungen sind seit Jahren kontinuierlich. Nun hat Kollege Weiß eben gesagt: Wir wollen eine stärkere Tarifbindung. Kollege Weiß, dem Deutschen Bundestag liegen drei Anträge von drei Fraktionen vor, in denen gefordert wird, die Tarifbindung deutlich zu stärken. Wenn Sie sagen, dass Sie die Tarifbindung ebenfalls stärken wollen, bleibt es Ihnen unbenommen, sich einem dieser drei Anträge anzuschließen. Sie haben die freie Wahl. Am besten wäre es, wenn Sie sich unserem Antrag anschließen würden. (Beifall bei der SPD – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Oh!) Es hat keinen Sinn, hier große Sprüche zu machen und anschließend nichts zu tun. (Stefan Rebmann [SPD]: Wie bei den Mamelucken!) – Selbst bei den Mamelucken war die Situation besser; das kann man wohl sagen. – Es liegen also mehrere -Anträge vor, in denen gefordert wird, die Möglichkeit zu erleichtern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Allgemeinverbindlichkeit soll nach gemeinsamem Verständnis vor Lohndrückerei, vor unlauterem Wettbewerb und ganz allgemein vor Schmutzkonkurrenz schützen. Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, werden in Deutschland aufgrund des Vetorechts der Arbeitgeberseite zurzeit nur 1,5 Prozent der Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt; das kann man vergessen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) In Frankreich werden 90 Prozent aller Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Hier gibt es also einen gewaltigen Nachholbedarf, wenn Sie die Tarifautonomie und das Tarifsystem insgesamt in Deutschland stärken wollen. Zweiter Grund. Es gibt einen massiven Zuwachs an prekärer Beschäftigung. Dazu wird ein Kollege von mir gleich noch etwas sagen. Die Gewerkschaften haben es sich zum Ziel gesetzt, auch in dieser Lohnauseinandersetzung die Frage der prekären Beschäftigung zu thematisieren und Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufwuchses der Leiharbeit festzuschreiben. Wir haben es mit der Rekordzahl von fast 1 Million Leiharbeitsverhältnisse zu tun. Teilweise verdienen diese Personen trotz gleicher Tätigkeit um die Hälfte weniger als Stammbelegschaften. Das hat mit flexibler Arbeitsmarktpolitik überhaupt nichts mehr zu tun. Das ist reine Lohndrückerei. Dem muss der Bundestag einen Riegel vorschieben. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Es ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften oder der Tarifparteien, sondern es ist Aufgabe des Bundestages, die Rahmenverhältnisse so zu gestalten, dass solche Ferkeleien auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht mehr möglich sind. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da gab es einen Berater, der hieß Hartz!) Dritter Grund. Es gibt ein massives Anwachsen des Niedriglohnsektors; dieser wächst in Deutschland übrigens so stark wie nirgendwo sonst in Europa. Die Zahlen der Universität Duisburg zeigen, dass der Niedriglohnsektor seit 1995 um 42 Prozent angewachsen ist. Im Durchschnitt verdienen im Niedriglohnsektor Beschäftigte in Westdeutschland 6,68 Euro und in Ostdeutschland 6,52 Euro pro Stunde. Das betrifft circa 8 Millionen Menschen, die jeden Anschluss an die allgemeine Wohlstandsentwicklung verlieren. Die Menschen in diesem Sektor mit einem Durchschnittsverdienst von 6,68 bzw. 6,52 Euro brutto pro Stunde lesen in der Zeitung, dass der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen 17,5 Millionen Euro im Jahr verdient. Das zeigt, dass in Deutschland jedes Maß verloren gegangen ist. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 17,5 Millionen Euro, das ist in etwa das 600-Fache dessen, was der durchschnittliche Beschäftigte in Deutschland pro Jahr verdient. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Unglaublich!) Wie kann jemand 600-mal so viel Leistung wie ein Durchschnittsverdiener erbringen? Das muss man mir einmal erklären! Nie zuvor hat es in Deutschland so ex-treme Unterschiede zwischen den Wohlstandszuwächsen in den oberen Einkommenssegmenten und den Wohlstandsverlusten in den unteren Einkommenssegmenten gegeben. Eine solche Spaltung der Gesellschaft kann eine Demokratie auf Dauer nicht aushalten. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb muss zwingend auf der Tagesordnung stehen, dass die Politik die Rahmenbedingungen, ob steuerlicher oder anderer Art, so verändert, dass hier wieder einigermaßen Maß und Ziel einkehren. Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Schreiner, kommen Sie langsam zum Ende? Ottmar Schreiner (SPD): Ich bin aber noch nicht am Ende. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: In einer Aktuellen Stunde haben Sie nur fünf Minuten Redezeit. Als langjähriges Mitglied dieses Hauses wissen Sie das. Ottmar Schreiner (SPD): Ich bin noch nicht am Ende, aber ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte damit deutlich machen, dass das Tarifgeschehen nicht im luftleeren Raum stattfindet. Es wird natürlich auch durch die Rahmenbedingungen beeinflusst, positiv oder negativ. Meine letzte Bemerkung. Der beste Beitrag, den wir Politiker zur Stärkung der Tarifautonomie leisten können, besteht darin, für eine Stabilisierung und Stärkung des Tarifvertragssystems insgesamt zu sorgen. Es hat sich in Deutschland über Jahrzehnte bewährt. Alle Maßnahmen, die notwendig sind, um dieses System für die Zukunft zu stabilisieren, müssen von der Politik ergriffen werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ottmar Schreiner. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Pascal Kober (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ein Wort an Sie, lieber Herr Schreiner. Ich finde es gut, dass Sie Ludwig Erhard lesen, seine Aussagen in diese Debatte einbringen und ihn zitieren. Ich möchte darauf mit einem Zitat Ihres Parteifreundes Franz Müntefering reagieren; (Ottmar Schreiner [SPD]: Ui!) es liegt allerdings nicht ganz so weit zurück wie das Zitat von Ludwig Erhard, das Sie angeführt haben. Am 15. März dieses Jahres sagte Franz Müntefering im Hamburger Abendblatt: „Ein Politiker sollte sich nicht in Tarifverhandlungen einmischen.“ (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Recht hat er!) Lieber Kollege Schreiner, Franz Müntefering hat recht. Ich empfehle Ihnen, sich darüber einmal mit ihm zu unterhalten. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der ist doch auch in der SPD, oder?) Ich bin gerne bereit, dieses Gespräch zu moderieren (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und Ihnen zu Einsichten zu verhelfen. Da ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, gerne glaube, dass Sie Franz Müntefering nicht als Gewährsmann für Ihre Politik akzeptieren wollen, (Sebastian Blumenthal [FDP]: Spricht für ihn! – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das spricht für Franz Müntefering! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Oh nein!) – wie ich sehe, stimmen Sie mir zu –, halte ich auch für Sie ein Zitat bereit, das Ihnen vielleicht zu denken geben wird. Lieber Kollege Ernst, Sie haben die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst angesprochen. In diesem Zusammenhang ist mir eine Aussage der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, Verdi, in die Hände gefallen. Auf ihrer Homepage erklärt Verdi – Zitat –: Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft. Einmischen ist nicht erlaubt, das gilt auch für den Staat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lieber Kollege Ernst, Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, warum die Gewerkschaft Verdi sich jegliche Einmischung vonseiten der Politik verbittet. (Harald Koch [DIE LINKE]: Völlig absurd, Ihre Argumentation! Wir sitzen doch nicht mit am Verhandlungstisch! Aber wir dürfen doch wohl unsere Meinung dazu sagen, oder?) Sie haben diese Aktuelle Stunde nicht allein deshalb beantragt, um die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst zu debattieren. Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet „Tarifrunde 2012 – Höhere Löhne durchsetzen, jungen Beschäftigten eine Zukunftsperspektive geben“. Sie fordern den Gesetzgeber explizit dazu auf, in die Tarifverhandlungen einzugreifen (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir sind Partei, Herr Kober! – Weitere Zurufe von der LINKEN) und den Tarifpartnern entsprechende Empfehlungen zu geben. Diese Aufforderung, lieber Kollege Ernst, weisen wir entschieden zurück. Für diese Regierungskoalition gilt nach wie vor: Die Tarifhoheit haben die Tarifpartner. Einmischung vonseiten des Gesetzgebers ist hier nicht erwünscht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Im Übrigen werden wir uns ganz genau anschauen, wie die Tarifverhandlungen im Lande Brandenburg, wo Sie an der Regierung beteiligt sind, verlaufen. Wir werden uns ansehen, welche Ergebnisse dort erzielt werden. Dort haben Sie nämlich Verantwortung. Dort können Sie also Einfluss nehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sollte man festhalten: Wir haben in Deutschland – darauf hat der Kollege Peter Weiß schon ausführlich hingewiesen – ausgezeichnete Erfahrungen damit gemacht, dass nicht die Politik die Löhne bestimmt. Letztlich geht es bei Tarifverhandlungen nämlich darum, den richtigen Weg, den Mittelweg, zu finden: zwischen den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, am Gewinn der Unternehmungen beteiligt zu werden, und den Interessen der Unternehmen, zu verhindern, dass durch zu hohe Löhne die Kosten für Dienstleistungen und Produkte zu weit in die Höhe schießen, sodass sie nicht mehr nachgefragt werden, sodass Unternehmungen zugrunde und Arbeitsplätze verloren gehen. Diesen Mittelweg können die Tarifpartner besser als wir hier im Parlament finden. Deshalb ist es klug, dass die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern bleibt und wir vonseiten der Politik uns hier nicht einmischen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir sind Tarifpartei, Herr Kober!) Wir als Gesetzgeber schaffen hier die Voraussetzungen für eine gute Wirtschaftspolitik. Grüne und Rote haben schon zu ihren Regierungszeiten Entscheidungen getroffen, die den Arbeitsmarkt in die richtige Richtung entwickelt haben. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das merkt man gerade bei der Solarbranche!) Mit unserer wachstumsorientierten Beschäftigungspolitik, mit unserer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik und mit unserer klugen Bildungspolitik (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) schaffen wir weiterhin die Voraussetzungen dafür, dass sich das Wirtschaftswachstum hier in unserem Land verstetigt und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer langfristig an einer guten Entwicklung teilhaben können. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie haben mit der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde wieder einmal bewiesen, dass Sie keinerlei Interesse daran haben, durch konstruktive Beiträge in der Debatte hier den Deutschen Bundestag zu bereichern. (Widerspruch) Sie debattieren „in die Luft hinein“ und machen eine Show. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Da werden Ihnen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst anderes sagen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Sie könnten es eigentlich besser. Lernen Sie von uns! Stellen Sie kluge Anträge! Dann freue ich mich auf sinnvolle Debatten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Kober. – Nächste Rednerin ist unsere Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss es ebenfalls sagen: Tarifverhandlungen sind Sache der Tarifpartner, also sollte sich die Politik eigentlich nicht einmischen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt bis jetzt!) Da wir heute aber nun einmal über die Tarifrunde 2012 reden, möchte ich Ihnen meine vier Erwartungen an die Tarifpartner nennen: Erstens. Kräftige Lohnerhöhungen sind gerade jetzt, in der EuroKrise, wichtig. Wenn die Löhne im Verhältnis zur Produktivität niedrig sind, dann entstehen Ungleichgewichte, und das ist eine zentrale Ursache der EuroKrise. Mit dem bisherigen deutschen Wirtschaftsmodell „Starker Export – schwacher Binnenmarkt“ haben wir zwar unsere Wettbewerbsfähigkeit gestärkt, gleichzeitig haben wir aber einige EuroPartner geschwächt und ins Leistungsbilanzdefizit getrieben. So sieht das auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Er empfiehlt – ich zitiere –: Damit Deutschland Konjunkturlokomotive bleibt, brauchen wir kräftige Lohnerhöhungen zur Stützung der Binnennachfrage. Dem kann ich mich nur anschließen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens. Ganz real, also inflationsbereinigt, sind die durchschnittlichen Bruttolöhne der Beschäftigten zwischen 2000 und 2011 gesunken, und zwar um 2,9 Prozent. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht zu Recht von einem verlorenen Jahrzehnt für viele Beschäftigte. Auch deshalb ist es richtig, dass Verdi mindestens 200 Euro mehr für alle Beschäftigten fordert. Wir brauchen solch eine solidarische Lohnpolitik. Spürbare Lohnerhöhungen, insbesondere in den unteren Einkommensgruppen, sind also auch ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ullrich Meßmer [SPD]) Drittens. Richtig und wichtig sind auch über Lohn-erhöhungen hinausgehende Forderungen. So wollen IG Metall, Verdi und NGG erreichen, dass junge Menschen nach Abschluss ihrer Ausbildung unbefristet -übernommen werden. Gerade mit Blick auf den Fachkräftemangel müsste es doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass junge Menschen eine Perspektive erhalten. Die Realität sieht aber anders aus. Der Trend geht hin zur Befristung. In der Folge ist „Lebensplanung“ ein Begriff, über den die „Generation Probezeit“ nur noch müde lächeln kann. Vor allem geht es auch darum, dass die jungen Menschen spüren, dass sie gebraucht werden, und dass sie sich in unserer Gesellschaft aufgenommen fühlen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit Blick auf den demografischen Wandel sind auch die Forderungen der IG BCE richtig, die ihren Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ weiterentwickeln will. Ebenso wichtig sind die Forderungen der IG Metall nach mehr Mitbestimmung beim Einsatz von Leiharbeitskräften. Daneben stellt sie sich ja die Aufgabe, eine tarifliche Equal-Pay-Regelung zu verhandeln, wobei ich hier ganz klar sage: Ein Branchenzuschlag allein bedeutet noch kein Equal Pay. Mit all dem sind elementare Forderungen verbunden. Vor allem geht es für die Beschäftigten – dabei ist es egal, ob sie alt oder jung sind oder einen Job auf Zeit haben – um Anerkennung und Wertschätzung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Viertens. Morgen ist Equal Pay Day. Frauen verdienen noch immer über 20 Prozent weniger als Männer. Ich fordere alle Tarifpartner eindrücklich auf, die Tarifverträge auf Entgeltdiskriminierungen hin zu überprüfen. Diese Lohnlücke muss im 21. Jahrhundert endlich der Vergangenheit angehören. Denn Frauen verdienen mehr! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Erwartungen habe ich natürlich nicht nur an die Tarifpartner, sondern auch an die Bundesregierung und an die Regierungsfraktionen. Sie reden heute wieder einmal viel über Tarifautonomie, und zwar mit großen Worten. Doch wie sollen Tarifverhandlungen stattfinden, wenn in manchen Branchen überhaupt keine Arbeitgeberverbände mehr existieren? Wie sollen Tarifverträge wirken, wenn Tarifflucht und OTMitgliedschaften zunehmen? Wie sollen Gewerkschaften erfolgreich verhandeln, wenn Leiharbeit und Befristung weiter zunehmen und Betriebsteile per Werkvertrag ausgegliedert werden? Nehmen Sie doch endlich diese bedenkliche Entwicklung zur Kenntnis und tun Sie etwas dagegen. Wir brauchen auf dem Arbeitsmarkt soziale Leitplanken zur Stärkung der Gewerkschaften, zum Vorteil der Beschäftigten und übrigens auch zum Vorteil der tarif-treuen Betriebe. Entscheidend sind Mindestlöhne und mehr allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge. Ein entsprechender Antrag von uns – Kollege Schreiner hat schon darauf hingewiesen – liegt Ihnen bereits vor. -Reden Sie also nicht immer nur über Tarifautonomie, sondern handeln Sie endlich! Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Jetzt spricht als nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Armin Schuster. Bitte schön, Kollege Schuster. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie werden sicher verstehen, dass ich es als Berichterstatter für den Bereich öffentlicher Dienst – insoweit möchte ich beim Thema bleiben – im Namen der CDU/CSU nicht gutheißen kann, dass wir uns heute mit einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag in die heiße Phase der laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmischen. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Aber wen wundert das Ganze bei diesem Antrag-steller! Die Linke beweist damit nur fortgesetzt ihr juristisches Unvermögen, private und öffentlich-rechtliche Aufgabenverteilungen in diesem Land getrennt zu behandeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben in Deutschland zum Glück das grundgesetzlich geschützte Recht der Tarifpartner, durch freie -Vereinbarungen Tarifverträge auszuhandeln, ohne dass eine staatliche Stelle mitwirkt oder sich einmischt. Das ist übrigens exakt das Gegenteil Ihres staatszentriert--sozialistischen Denkansatzes. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Sind die Innenminister nicht dabei, oder wie? Ist Herr Friedrich auch nicht dabei? Der sitzt doch am Verhandlungstisch! – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Inhaltlich wäre damit eigentlich alles gesagt. Da ich aber befürchte, dass in den kommenden Jahren ähnlich fruchtlose Debatten geführt werden, investiere ich noch ein paar Minuten für einen eventuell zu erzielenden Erkenntnisgewinn bei den Damen und Herren der Linken. Die Tarifautonomie umfasst das Recht der eigenständigen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge. Es ist ein spezielles Recht der Verbände des Arbeitsmarktes und beruht auf Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz. Diese Eigenständigkeit verstehen wir als Freiheit, als einen Wert an sich, den es ganz -besonders zu schützen gilt. Das bedeutet heute – ich sage es hier im Plenarsaal so, wie es sich gehört –, einfach einmal Ruhe zu bewahren. Draußen würde ich sagen: Es gibt Momente, in denen man einfach einmal die Klappe halten muss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das können Sie hier auch!) Die Berufsverbände sollen sich nämlich als gleichberechtigte Tarifparteien ohne unmittelbare staatliche Einwirkung in Form eines privatrechtlichen Vertrages mit dem Arbeitgeber einigen. Sie können ihre Interessengegensätze durch direkte, gegenseitige und offene Verhandlungen regeln. Um ein Machtgleichgewicht zu erreichen, sind Arbeitskämpfe erlaubt und nötig. Das Ziel ist ein fairer Verhandlungskompromiss. Es gibt insofern überhaupt keinen Grund, aufgrund einer Aktuellen Stunde hier in operative Politikhektik zu verfallen. Wenn sich die Linke für Tarifbeschäftigte sinnvoll einsetzen will – mein lieber Peter, auch ich habe meine Mitarbeiter recherchieren lassen –, sollte sie sich den Fall Brandenburg anschauen; da bildet die SPD unverständlicherweise mit der Linken die Regierung. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: 56 Prozent Zustimmung!) Die Linken sind dort also in der Arbeitgeberfunktion. Ich habe nicht feststellen können, dass sie in den Lohnrunden 2011 und 2012 über das Ergebnis von 1,5 bzw. 1,9 Prozent, das die Tarifgemeinschaft ausgehandelt hat, kraftvoll hinausgegangen sind. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wirklich? Na so was! Ungeheuerlich!) Nein, Brandenburg hat genau das Ergebnis übernommen, das die Tarifgemeinschaft ausgehandelt hat. Geniestreiche sind uns also nicht bekannt. So weit zur rechtlichen Situation. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie müssen mal recherchieren, worum es hier geht!) Jetzt kommen wir zur politischen Bewertung. Natürlich empfindet die Linke die derzeitige Diskussion als gute Möglichkeit, für ihre absurde politische Forderung zu werben, Lohnfestlegungen mit hohem staatlichem Einfluss zu versehen. Aber Sie können uns dafür bisher keine positiven Beispiele nennen. Deshalb bleiben wir bei unserem 62 Jahre alten Erfolgsmodell Tarifautonomie. Mit genau dieser Freiheit haben wir gerade in den letzten Krisen bewiesen, wie gut die Tarifpartner mit diesem Mittel umgehen können – zum Wohle dieses Landes. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und die Leute bekommen immer weniger Geld! Ihr habt die Finger bis zum Anschlag im Geldbeutel!) Schwächer als heute können Ihre Argumente nach den letzten drei Jahren gar nicht sein. Ich möchte sagen: Die Union schätzt ausdrücklich das hohe Verantwortungsgefühlt und die Kompetenz unserer Tarifparteien. Wir sehen nicht den geringsten Anlass, heute mit Ratschlägen – das sind immer auch Schläge – dazwischenzufunken. Ich widerstehe auch der Gelegenheit, hier mit billigen, populistischen Parolen auf Wählerfang zu gehen, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die mischt sich ja auch ein, die Frau von der Leyen, oder?) obwohl es auch in meinem Wahlkreis Bedienstete von Bund, Ländern und Kommunen gibt. Das fällt mir auch nicht schwer, weil ich von diesen Menschen weiß – ich rede mit ihnen –, dass sie bei allen Arbeitskampfmaßnahmen ein grundlegend zuversichtliches Gefühl haben, dass sie zu einem guten Ergebnis kommen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Jawohl!) Ich habe ganz stark den Eindruck, dass weder Herr Bsirske noch Herr Friedrich jetzt unerbetene schlaue Ratschläge aus dem deutschen Parlament brauchen, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! Weder von links noch von anderswoher!) Abschließend – ich beende meine Vorlesung für die Linken –: Es gibt tatsächlich etwas, das wir hier gesetzlich tun können. Es gibt eine Aufgabe für den Deutschen Bundestag. Diese besteht darin, für die 300 000 Beamtinnen und Beamten des Bundes einschließlich Soldaten und Richtern dann, wenn das Verhandlungsergebnis auf dem Tisch liegt, eine möglichst inhaltsgleiche Übertragung zu gewährleisten – auch wenn dies haushaltspolitisch schwer wird. Diese Regierung hat das 2010 geschafft. Ich bin sehr zuversichtlich, dass dieses Gesetz 2012 hier gut über die Rampe gehen wird. Insofern muss sich draußen keiner sorgen. Sie haben sich heute in ein vergilbtes, graues Schaufenster gestellt. Weder Morgenmagazin noch irgendwelche anderen Nachrichten haben über diese Aktuelle Stunde eine Vorankündigung gebracht. Es gibt kein -sichereres Zeichen dafür, dass die Menschen wissen, dass das, was wir hier tun, völlig absurd und überflüssig ist. Ich wäre jetzt lieber im Untersuchungsausschuss. Das wäre fruchtbarer. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Armin Schuster. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Doris Barnett. Bitte schön, Frau Kollegin Doris Barnett. (Beifall bei der SPD) Doris Barnett (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, diese Debatte ist nicht überflüssig. Im Gegenteil: Die Beschäftigten in unserem Lande haben seit über zehn Jahren mit Lohnzurückhaltung für die Erholung der deutschen Unternehmen und der -Wirtschaft gesorgt und Deutschland vom kranken Mann Europas wieder zur Zugmaschine gemacht. Während der Krise in den ersten Jahren des Millenniums wurden die Arbeitnehmer regelmäßig freigesetzt. In den folgenden Jahren haben die Arbeitgeber aus ihren Fehlern gelernt und dank der großzügigen Unterstützung durch die Bundesagentur für Arbeit ihre wertvollen Mitarbeiter nicht entlassen, sondern in Kurzarbeit geschickt. Dank der Millionen von Arbeitnehmerinnen und -Arbeitnehmern kommen wir jetzt auch gut durch die Krise. Die Wirtschaft boomt, die Gewinne sind mehr als erfreulich. Alleine in 2010 stiegen sie um 66 Prozent; sonst hätten wir nicht die unerwartet hohen Steuermehreinnahmen. Auch die Vergütungen der Chefs in den großen Unternehmen passten sich den Ergebnissen gut an. Nur die Arbeitnehmer wurden wie immer reflexartig aufgefordert, zurückhaltend zu sein, weil dieser unerwartete wirtschaftliche Erfolg wahrscheinlich nicht lange dauern wird. Mittlerweile ist aber bekannt, dass sich die Geschäftslage bei uns auf hohem Niveau stabilisiert und wir trotz – oder vielleicht auch wegen – der -engen Handelsverflechtungen mit den anderen Euro-Staaten einer deutlich stabileren wirtschaftlichen -Entwicklung entgegensehen. Die Bezüge der Vorstandsvorsitzenden der DAX-Firmen wuchsen in 2011 durchschnittlich um 14 Prozent gegenüber 2010, die Löhne -allerdings nur um 3,3 Prozent. Spitzenreiter war – das wurde schon gesagt – der Chef von VW mit einem Plus von 63 Prozent. Ganz so kräftig langen die Beschäftigten in den jetzt anstehenden Tarifrunden nicht zu. Sie würden sich schon mit durchschnittlich 6 Prozent zufriedengeben, um damit wenigstens einen Teil des Reallohnverlustes aufzufangen. Selbst die Arbeitsministerin und der Fraktionsvorsitzende der FDP sagen medienwirksam, dass den Beschäftigten eine deutliche Lohnerhöhung zusteht. Bei den Arbeitgebern stoßen solche Forderungen allerdings auf wenig Gegenliebe. Dabei müssten sie doch wissen, dass ihre Mitarbeiter mittlerweile nicht nur ein kostengünstiger Faktor, sondern die Garantie für ihre Konkurrenzfähigkeit und für den Erfolg sind. (Beifall bei der SPD) Gute, qualifizierte Mitarbeiter machen auch im öffentlichen Dienst die Schlagkraft und das Funktionieren aus. Trotz der umfangreichsten Steuergesetzgebung funktionieren unsere Finanzämter. Unsere Kleinsten werden nicht nur gut betreut, sondern auch frühkindlich geschult. Die Krankenschwestern und -pfleger sind zwar überarbeitet, bringen aber trotzdem olympiareife Leistungen. Unsere Polizei sorgt für Sicherheit, ob in Fußballstadien oder bei Staatsbesuchen. Die Feuerwehren sind zuverlässige Lebensretter, und unsere Mitarbeiter und Beamten auf allen drei Ebenen des öffentlichen Dienstes sorgen dafür, dass der Laden läuft. Weil mit Dankbarkeit in der Arbeitswelt nicht zu rechnen ist, sollte aber zumindest Fairness möglich sein, also gute Bezahlung für gute Arbeit, egal ob im öffentlichen Dienst oder in der freien Wirtschaft, ob beim -DEHOGA oder in der chemischen oder metallverarbeitenden Industrie. Deshalb sollte die Lohnrunde auch genutzt werden, über Arbeitsbedingungen nachzudenken. Brauchen wir wirklich so viele Leiharbeitnehmer, und zwar über eine lange Zeit, also nicht nur für Spitzen? Warum kann man diese Mitarbeiter denn nicht einstellen? Braucht man wirklich ein bis zwei Jahre Probezeit? Ist ein loyaler, zuverlässiger, qualifizierter Mitarbeiter nichts wert? Kann man es sich als Unternehmen leisten, Arbeitnehmer erster, zweiter und dritter Klasse zu beschäftigen? Wie lange glaubt man in den Chefetagen, sich angesichts der demografischen Entwicklung ein solches Verhalten noch leisten zu können? Ist es nicht an der Zeit, auf Lohndumping, aber auch auf sogenannte Werkverträge, zum Beispiel in den Zerlegebetrieben, wo der Stundenlohn noch unter 3 Euro liegt, oder auf die vielen Minijobs zu verzichten und stattdessen die Arbeitsverhältnisse ordentlich zu gestalten, auch was die Bezahlung angeht? Letztlich werden wir das, wenn das nicht auf vernünftige Weise freiwillig geschieht, gesetzlich regeln müssen. Gestern wurde uns im Wirtschaftsausschuss gesagt, überall dort, wo es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa gebe, gebe es auch Mindestlöhne; die Jungen würden wegen der Mindestlöhne nicht eingestellt. Dabei wird übersehen, dass es nicht die Mindestlöhne sind, die die Berufsanfänger ihrer Chancen berauben; das ist -vielmehr die in diesen Ländern darniederliegende Wirtschaft. Wir müssen unter anderem auch Griechenland helfen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, wenn wir nicht zusehen wollen, wie sich eine soziale Katastrophe anbahnt. Kein Staat hält es auf Dauer aus, wenn, wie in Spanien, fast 49 Prozent oder, wie in Griechenland, über 47 Prozent seiner Jugend ohne Arbeit sind. Mindestlöhne sorgen dafür, dass ein Arbeitnehmer, der vollschichtig arbeitet, davon leben kann und keinen Zweit- oder gar Drittjob braucht oder auf ergänzende -Sozialhilfe angewiesen ist. Mindestlöhne sind auch Ausdruck von Respekt gegenüber der geleisteten Arbeit. (Beifall bei der SPD) Zu wünschen ist auch, dass wir möglichst alle jungen Menschen bei uns mit einem Schulabschluss ins Berufsleben entlassen. Dazu gehören noch einige Anstrengungen in unserem Bildungssystem und die Bereitschaft der Arbeitgeber, auch zunächst Schwächeren eine Chance zu geben. Ich hoffe, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sorgen mit ihrer Tarifautonomie im Interesse der heute und zukünftig Beschäftigten für weitsichtige und zukunftsweisende Abschlüsse. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Doris Barnett. – Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege -Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Vogel. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich sehr gefreut, dass sich mein Kollege Kober und auch die Kolleginnen und Kollegen von unserem Koalitionspartner eben zur Tarifautonomie bekannt haben und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, das Grundprinzip erklärt haben. Ich schließe mich dem ausdrücklich an. (Lachen des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) – Lieber Herr Ernst, es wurde schon darauf hingewiesen: Als Partei, die in Brandenburg und auf kommunaler Ebene Verantwortung trägt und in Regierungen vertreten ist, auf Bundesebene zu sagen, bei Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sei es die Aufgabe des Parlaments, sich zu kümmern, obwohl Sie es selbst in der Hand hätten, das dort, wo Sie Regierungsverantwortung haben, zu tun, ist relativ unglaubwürdig. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben doch gar keine Ahnung! Die Länder verhandeln nicht! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Wer macht denn die Steuerpolitik?) Lieber Herr Ernst, genauso unglaubwürdig ist es, wenn Sie hier so tun – das haben Sie eben gemacht –, als würde der Staat in Geld schwimmen und als könnte man über alle das Füllhorn ausschütten. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nein! Ich habe das Gegenteil gesagt! Sie haben wieder nicht zugehört!) Lieber Herr Ernst, ich glaube, das wird der Lage nicht gerecht. Sie haben wieder einmal das Hohelied gesungen, dass wir nur die Steuern erhöhen müssten und dann für alles Geld da wäre. Sie dürfen nicht vergessen: Wir diskutieren über all das in einer Phase, in der wir uns in der EU in einer Schuldenkrise befinden und uns damit befassen, wie wir aus dieser Schuldenkrise herauskommen können. (Ottmar Schreiner [SPD]: Wo kommt denn die Schuldenkrise her?) – Woher kommt die Schuldenkrise? Das ist eine interessante Frage. Sie ist dadurch entstanden, dass die Staaten über Jahre und Jahrzehnte zu viel ausgegeben haben, lieber Herr Schreiner. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) – Doch! Sie können sich aufregen, aber das werden Sie nicht wegdiskutieren können! (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Deswegen müssen wir die Debatte hier haben! Genau deswegen!) – Ich freue mich, dass Sie sich so aufregen; ich scheine Sie an einem empfindlichen Punkt getroffen zu haben. Lieber Herr Ernst, obwohl wir im letzten Dezember die höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzielt haben, mussten wir weiterhin Schulden machen. In dieser Zeit rufen Sie nach weiteren Ausgaben, anstatt uns bei der Haushaltskonsolidierung zu begleiten und darüber nachzudenken, wie die Ausgaben zurückgefahren werden können in einer Zeit, in der wir die Vorgaben der Schuldenbremse früher als geplant einhalten werden. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum habt ihr es den Hoteliers gegeben? Das war der Grund!) Wir diskutieren gerade sogar darüber, ob wir es als Koalition vielleicht nicht schon in dieser Legislaturperiode schaffen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Für euch ist 1 Prozent noch zu viel!) Es ist richtig, sich diesem Ziel zu widmen. Es ist aber falsch, wie Sie pauschal nach höheren Ausgaben zu rufen, lieber Herr Ernst. Das ist unverantwortlich. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Lage der Beschäftigten – gerade im öffentlichen Dienst – in den Ländern in Südeuropa, die große Schuldenprobleme haben, zeigt, dass Sie den Menschen damit einen Bärendienst erweisen. Sie versprechen das Blaue vom Himmel, und am Ende müssen die Menschen die Zeche dafür zahlen. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Die Menschen zahlen schon jetzt die Zeche für eure Politik!) Diese Politik ist nicht richtig. Das dürfte auch keine gerechte Politik sein. Deshalb wundert es mich, dass Sie das vertreten. Ich will auch auf das eingehen, was die Kolleginnen und Kollegen von der SPD hier gesagt haben. Lieber Herr Schreiner, Sie sind auf die Verschuldung der öffentlichen Haushalte – das kann ich als Nordrhein-Westfale angesichts der schlechten Performance der rot-grünen Landesregierung ganz gut verstehen – nicht eingegangen. Sie haben wieder das Lied gesungen, (Ottmar Schreiner [SPD]: Ich habe überhaupt nicht gesungen!) dass die Lage auf unserem Arbeitsmarkt so schlecht sei. Ich will auf die Realität hinweisen; denn wir reden heute über den Arbeitsmarkt, die Tarifautonomie und die Lage junger Menschen. Es gibt in Deutschland, Herr Schreiner, ein Jobwunder (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie waren im falschen Kino!) – nein! –, das Hunderttausend Menschen in den letzten Monaten eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt gegeben hat. Das gilt gerade auch für junge Menschen. Wir haben in Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. (Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Nein. – Lieber Herr Schreiner, woran liegt das denn? Das hat verschiedene Gründe: wachstumsfördernde Politik, wettbewerbsfähige Unternehmen, flexibler Arbeitsmarkt, aber auch die Tarifautonomie. Die Tarifautonomie ist sehr gut geeignet, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten – dazu bekenne ich mich ausdrücklich – ihren Anteil am Aufschwung und an der guten wirtschaftlichen Lage bekommen. Die Tarifautonomie in Deutschland hat im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern erfolgreich dafür gesorgt, dass dieser Anteil immer genauso hoch war wie der Produktivitäts-zuwachs. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Genau das stimmt nicht! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ein Quatsch!) – Doch! Genau das stimmt. Zu diesem Schluss kommen auch Sie, wenn Sie sich die Entwicklung der Arbeitskosten anschauen. – Nur dann handelt es sich um einen nachhaltigen Zuwachs, von dem die Menschen etwas haben. (Ottmar Schreiner [SPD]: Herr Vogel, Sie heißen nicht nur so!) Lieber Herr Schreiner, weil Sie auf die Lohnentwicklung eingegangen sind, will ich dazu ebenfalls etwas sagen. Es handelt sich nicht nur um schlechte Jobs. Der Aufschwung kommt bei den Menschen auch an. Lieber Herr Schreiner, (Ottmar Schreiner [SPD]: Ich bin noch da! Keine Sorge!) es gibt nicht nur eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Reallöhne sind in den Jahren 2010 und 2011, also seitdem die Wirtschaft brummt und Schwarz-Gelb regiert, gestiegen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN) Es sind nicht nur die Bruttolöhne, sondern auch die Reallöhne gestiegen. Ich weiß, dass Ihnen dieser Hinweis nicht gefällt. Aber man kann nicht oft genug darauf hinweisen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wie heißt denn die Droge? – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Was gab es heute zum Frühstück?) Bei der Aufgabe, die realen Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen, brauchen wir keine Nachhilfe. Schauen Sie sich einmal an, wie wir die Auswüchse, die es bei der Zeitarbeit in der Tat gab, durch verbesserte Regulierung bekämpfen (Lachen bei der LINKEN) und Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen in der Pflege und in der Zeitarbeit schaffen! Das zeigt doch: Diese Koalition geht die realen Probleme an. Nur, wir schmeißen dabei nicht das weg, was den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt ausmacht. Ein ganz wesentlicher Faktor ist hier die Tarifautonomie. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben, wir freuen uns über sachdienliche Hinweise und hilfreiche Anregungen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das nützt euch nichts mehr!) Aber die Tarifautonomie wegzuwerfen und populistisch zu versuchen, sich in die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst einzumischen und ein parteipolitisches Süppchen zu kochen, hilft niemandem. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Euer Brüderle hat nichts dazu gesagt!) Vielmehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, würde es uns alle weiterbringen, wenn Sie da, wo Sie Verantwortung tragen, etwas Reales für die Menschen tun und hier keine Schaudebatten veranstalten würden. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das tun wir nicht!) Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Johannes Vogel. – Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Lötzer. Bitte schön, Kollegin Ulla Lötzer. (Beifall bei der LINKEN) Ulla Lötzer (DIE LINKE): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Wir sind es wert!“, so haben gestern mehr als 70 000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und ihrer Gewerkschaften Verdi, GEW und GdP allein in NRW ihre Lohnforderungen begründet, und sie haben recht. (Beifall bei der LINKEN) Sie sind es, die dafür sorgen, dass das Gemeinwesen rund um die Uhr funktioniert – im Krankenhaus, in Kindergärten, bei der Müllabfuhr und in vielen anderen Bereichen –, und auch deshalb geht uns das etwas an. Sie sind es wert, Herr Vogel, dass wir uns hier im Parlament über ihre Situation, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Leistungen verständigen. (Beifall bei der LINKEN) Das Arbeitsministerium NRW hat festgestellt: Der öffentliche Dienst musste in den vergangenen zehn Jahren – das sind ganz andere Zahlen als bei Ihnen, Herr Vogel – einen Reallohnverlust von 8 Prozent hinnehmen. Schlechter ging es nur den Tischlern und den Fleischern. Die Kommunen können qualifizierte Stellen kaum noch besetzen, selbst wenn sie Zulagen zum Tariflohn zahlen, aber Auszubildenden wird von Ihnen eine Übernahmegarantie verweigert. Erzieherinnen, Busfahrer, Müllwerker und Altenpflegerinnen müssen bei Vollzeit inzwischen mit 1 300 Euro bis 1 400 Euro brutto nach Hause gehen. Deshalb haben sie recht mit ihren Forderungen nach einem Mindestbetrag von 200 Euro und 6,5 Prozent mehr Lohn. Deshalb haben sie auch recht mit ihrer Forderung nach einer Übernahmegarantie für die Jugend. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Frank Bsirske hat gestern 20 000 Warnstreikenden in Köln erklärt: Nachhaltige Reallohnsteigerungen sind ein Gebot nicht nur der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch der ökonomischen Vernunft. Er hat recht. Auch deshalb geht uns diese Tarifrunde etwas an. Sie sind auch ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft, weil die Nachfrage auf dem Binnenmarkt umso wichtiger ist, je trüber die Konjunkturaussichten innerhalb der EU werden. Sie, Herr Vogel, sagen: Wir können uns das angesichts der leeren öffentlichen Kassen nicht leisten. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Habe ich nicht gesagt!) – Doch. Sie haben in dem Zusammenhang gesagt, dass wir uns keine Ausgabensteigerungen leisten könnten. (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Nein! Sie müssen genauer zuhören! Das habe ich nicht gesagt!) Das sagen auch die Arbeitgeber in den Verhandlungen. Aber, Herr Vogel, dann muss man die öffentlichen Kassen eben weiter füllen. Es geht nicht nur um die Ausgaben, es geht auch um die Einnahmen der öffentlichen Kassen. Wenn Sie es uns nicht glauben: Professor Fuest vom Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums schrieb Ihnen, Frau Merkel und Herrn Schäuble ins Stammbuch: Es gibt Leute, die sagen, die Bundesrepublik sei eine Steueroase für Vermögens- und Kapitalbesitzer, und sie haben recht. – Wissenschaftlicher Beirat des Finanzministeriums! (Beifall bei der LINKEN) Es stimmt: Die öffentlichen Kassen vieler Kommunen sind leer. Sie sind es aber nicht, weil die Beschäftigten zu viel Lohn bekommen oder weil es zu hohe Sozialausgaben gibt. Sie sind leer, weil seit der Unternehmensteuerreform von Rot-Grün alle Regierungen eine systematische Verarmung der öffentlichen Kassen herbeigeführt haben. Auch insofern hat die Politik etwas mit dieser Tarifrunde im öffentlichen Dienst zu tun. Ich kann Ihnen jetzt zumindest noch einen Bürgermeister der Linken nennen, der sich bereits für die Forderungen von Verdi ausgesprochen hat, nämlich Herrn Harzer. (Beifall bei der LINKEN) Es geht hier um die Kommunen und um den Bund, nicht um die Länder. – Das nur zur Klarstellung. Der DGB NRW hat übrigens am Dienstag in einer Pressekonferenz gefordert: Die im Grundgesetz vorgesehene Schuldenbremse bis 2020 muss umgesetzt werden, ohne dass an Personal, Bildung und sozialen Leistungen gespart wird. Wir brauchen einen starken öffentlichen Dienst und leistungsfähige Kommunen. Daher muss über eine angemessene Besteuerung von Vermögen und Erbschaften die Einnahmeseite verbessert werden, Herr Vogel. (Beifall bei der LINKEN) Hören Sie gut zu, von Herrn Weiß bis zu Herrn Vogel: Der DGB hat alle Politikerinnen und Politiker aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. Wir haben Ihnen heute Gelegenheit gegeben, zu der Situation im öffentlichen Dienst, zu der Tarifrunde, zu den Forderungen und zu den politischen Schlussfolgerungen, die damit im Zusammenhang stehen, Stellung zu beziehen. Sie haben hier das niedrige Angebot verteidigt, (Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Sie haben nicht zugehört! Dazu habe ich gar nichts gesagt! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wer hat das gemacht?) Sie geben vor, die Tarifautonomie zu verteidigen, aber in Wirklichkeit wollen Sie nicht darüber reden, welch skandalöses Angebot die öffentlichen Arbeitgeber gemacht haben. (Beifall bei der LINKEN) Darüber muss man hier reden; man darf nicht über Tarifautonomie schwafeln. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Beschweren Sie sich doch bei Ihren eigenen Leuten!) Wir stehen an der Seite der Beschäftigten: für gute Löhne und für gute Arbeit. Wir stehen dafür, die Bedingungen für die Tarifautonomie zu verbessern. Wir müssen natürlich prekäre Arbeitsverhältnisse beschränken. Wir dürfen nicht nur über Tarifrunden reden. Wir sagen auch: Unsere Schuldenbremse heißt Vermögensteuer. Die Einführung einer Vermögensteuer und die gerechte Besteuerung von Arbeit und Kapital bieten die Möglichkeit, gute Löhne im öffentlichen Dienst zu zahlen. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Lötzer. Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Frau Heike Brehmer. Bitte schön, Frau Kollegin Heike Brehmer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heike Brehmer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal versuchen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, bei circa 2 Millionen betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst die Hoffnung zu wecken, dass wir die Forderung nach mehr Lohn im Bundestag einfach so umsetzen und die Tarifautonomie außer Kraft setzen können. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Zuhören! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Sie können gerne mehr zahlen!) Gleichzeitig suggerieren Sie, dass jungen Beschäftigten keine Zukunft im öffentlichen Dienst gegeben werde. (Zuruf von der LINKEN: Wer hat denn das aufgeschrieben?) Das eine ist genauso falsch wie das andere. Sie kennen die demografische Entwicklung, und Sie wissen, dass sich auch der öffentliche Dienst davon nicht abkoppeln kann. Daher haben junge Beschäftigte gerade mit Blick auf die demografische Entwicklung eine echte Chance. Bildung und Ausbildung sind Grundvoraussetzung, um diese Chance zu nutzen und in das Erwerbsleben einzutreten. Gerade im öffentlichen Dienst haben wir einen sehr hohen Altersdurchschnitt und in den nächsten Jahren einen Bedarf an jungen Mitarbeitern. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann müssen Sie auch vernünftig zahlen!) Richtig ist, dass derzeit die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst laufen. Die Gewerkschaften setzen dazu ihr Druckmittel, den Streik, ein. Das ist legitim; denn der Streik ist das Mittel der Gewerkschaften, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auf der Website der Gewerkschaft Verdi können Sie nachlesen – das sollten Sie wirklich einmal tun –: „Tarifverträge fallen nicht vom Himmel.“ Sie seien besser als jedes Gesetz, so Verdi. Ich zitiere weiter wörtlich: Wer Gesetze mit Tarifverträgen vergleicht, wird schnell feststellen, dass die Regelungen in Tarifverträgen um vieles besser sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP]) Herr Kober hat es vorhin schon einmal vorgelesen, aber ich werde es wiederholen, damit Sie es wirklich lernen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das hat die Linke nicht gelesen!) Verdi schreibt weiter: Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen einem Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft. Einmischen ist nicht erlaubt, das gilt auch für den Staat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das garantiert die Tarifautonomie, die mit dem Recht auf Koalitionsfreiheit im Grundgesetz verankert ist. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das steht aber nicht auf der Startseite, sondern hinten!) Die CDU/CSU wird sich auch strikt daran halten. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie wollen die Leute für dumm verkaufen! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Hoffentlich hört das keiner!) Genau das ist der Punkt. Deswegen plädiert die CDU seit Ludwig Erhard – Herr Schreiner hat schon darauf hingewiesen – für eine Stärkung der Tarifparteien. Wir wollen keine Mindestlöhne, die sich nach Gutdünken an politischen Vorgaben und Wahlterminen orientieren. Wir brauchen auch keine zentrale staatliche Lohnkommission wie in der DDR. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD und der LINKEN – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Spitze! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sind wir hier in der Muppet Show? – Ottmar Schreiner [SPD]: Was haben Sie denn heute gefrühstückt?) Herr Ernst, als Gewerkschafter müssen Sie doch eigentlich wissen, wie Tarifverhandlungen ablaufen. Die Tarifverhandlungen gehen nächste Woche, am 28. und 29. März, in Potsdam in die dritte Runde. Ich wünsche gute Verhandlungen. Nur eines muss an dieser Stelle auch einmal erwähnt werden: Nicht alle Forderungen sind umsetzbar; sie müssen nämlich auch durch die öffentliche Hand finanziert werden. Seit der gesetzlichen Regelung der Tarifautonomie im Jahre 1919 wird die Aushandlung von Löhnen und sonstigen Arbeitsbedingungen den Tarifpartnern überlassen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sind wir jetzt Partei oder nicht? Sie müssen die Frage mal beantworten!) – Sie sollten richtig zuhören, sonst verstehen Sie das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU – Pascal Kober [FDP]: So ist es! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn man Ihnen zuhört, lernt man besonders viel!) 67 000 bestehende Tarifverträge und der wirtschaftliche Erfolg unserer deutschen Unternehmen beweisen, dass dieses System im Grundsatz gut funktioniert. Diese Form der Lohnfindung – ich erwähnte es bereits, und ich werbe ausdrücklich dafür – ist ein Grundpfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft. Es gibt keine übergeordnete Instanz, die „richtige“ Löhne erkennen und vorschreiben kann. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber wir verhandeln doch mit den Arbeitnehmern!) Ich kann nur an die betroffenen Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst appellieren, durch ihre Mitgliedschaft die Gewerkschaften zu stärken. Letztendlich profitieren auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im öffentlichen Dienst, welche keiner Gewerkschaft angehören und sich nicht am Streik beteiligen, von einem ausgehandelten neuen Tarif. Deswegen gilt mein Respekt allen Mitgliedern von Gewerkschaften, welche sich am Streik beteiligen und für ihre Rechte kämpfen. Ich bin mir sicher, dass die Tarifkommission diese Herausforderung gemeinsam angehen wird und eine für den Bund und die Kommunen vertretbare Einigung erzielen wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Heike Brehmer. – Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist unser Kollege Ullrich Meßmer. Bitte schön, Kollege Ullrich Meßmer. (Beifall bei der SPD) Ullrich Meßmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gewerkschaften haben die Zukunft der Gesellschaft und der Wirtschaft im Blick, wenn sie jetzt für höhere Entgelte, für die Übernahme Ausgelernter und für Regelungen bezüglich prekärer Beschäftigungsverhältnisse eintreten, und zwar im Gleichklang. Durch die Übernahme Ausgelernter wird ja eigentlich nur etwas ausgebügelt, was Arbeitgeber in den vergangenen Jahren, in denen sie dies nicht nötig hatten, einfach haben liegen lassen, nämlich sich darum zu kümmern, dass es Fachkräftenachwuchs in den Betrieben gibt. Man hat junge Leute lieber in prekäre Beschäftigung geschoben, in befristete Arbeitsverhältnisse oder in Leiharbeit. Heute wird geschrien, es würden Fachkräfte fehlen. Meine Damen und Herren, da hätten andere vorher verantwortlicher handeln können. Wir werden aber sehen, dass die Gewerkschaften es erreichen, dass junge Menschen, die gut lernen, auch eine gute Zukunft haben und dass die Menschen in den Betrieben und im öffentlichen Dienst für gute Arbeit auch gutes Geld bekommen. Da traue ich den Gewerkschaften schon eine Menge zu. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir diese Forderungen ernst nehmen; denn sie entsprechen dem Empfinden vieler und insbesondere derjenigen, die tagtäglich und oft auch nachts und rund um die Uhr arbeiten. Die Bedeutung von Arbeitnehmern für die Wirtschaft nur in Sonntagsreden zu beschreiben, reicht nicht. Ich glaube, wir haben auch als Parlament und Politik ein Interesse daran, dass es den Menschen in diesem Land gut geht und dass sie ein verlässliches Einkommen haben. Denn wenn das Geld auf dem Konto eines Arbeitnehmers ist, dann sind die Steuern und Sozialabgaben bereits bezahlt. Ich wage sogar die Behauptung, dass es gerade die Steuern der Arbeitnehmer sind, die dafür sorgen, dass wir in der Lage sind, milliardenschwere Rettungsschirme aufzuspannen, wenn sich Banker verzockt haben. Sie tragen nämlich mit ihrem Einkommen zur Sicherheit dieses Staates und der Gesellschaft etwas bei. Ich meine, der Finanzminister wird irgendwann einsehen, dass höhere Löhne und Gehälter auch ihm etwas bringen. Ich bestreite gar nicht, dass es zuallererst Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, die Arbeitsbedingungen zu regeln. Die Beispiele „Leiharbeit“ und „prekäre Arbeitsverhältnisse“, aber auch das Verhalten der Arbeitgeber zeigen, dass tarifvertraglicher Schutz für Beschäftigte ausgehebelt werden kann – das wurde bereits angesprochen – und dass tariflicher Schutz wirkungslos ist, wenn nicht auch der Gesetzgeber zusätzliche Regelungen schafft. Fast der gesamte Beschäftigungsaufbau in der Metall- und Elektroindustrie nach der Krise erfolgte durch Leiharbeit. Die IG Metall listet in einem Schwarzbuch über 80 Betriebe auf, in denen der Anteil der beschäftigten Leiharbeitnehmer bei über 10 Prozent liegt, teilweise sogar bei einem Drittel der Beschäftigten. Das tollste Beispiel habe ich gerade von einem Kollegen gehört. Er hat mir von der Firma IXYS in der Nähe von Darmstadt berichtet: Sie bringt es auf 230 Stammbeschäftigte und 222 Leiharbeitnehmer. Leiharbeit wird, ob Sie es wollen oder nicht, zunehmend als Bedrohung für Stammarbeitsplätze empfunden, und sie führt zu niedrigeren Lohnlinien. Schon in der Leiharbeit selbst herrschen Missverhältnisse. Die Entgelte der Leiharbeitnehmer liegen nach wie vor um bis zu 50 Prozent unter denen der Stammbeschäftigten. Wir akzeptieren den Einsatz von Leiharbeitnehmern, aber das darf kein Ersatz für Dauerarbeitsplätze sein oder zur Senkung von Entgelten im Betrieb führen. Die IG Metall verhandelt zurzeit über Branchenzuschläge. Ich sehe gute Chancen, dass diese Verhandlungen erfolgreich zu Ende geführt werden. Aber wenn sie wirklich dazu führen sollen, dass Gleichbehandlung entsteht, dann wird es notwendig werden, auch im Betrieb Regelungen zu schaffen, nach denen die Betriebsräte in den Einsatzbetrieben die Möglichkeit bekommen, auf Umfang, Einsatzdauer, Übernahme und Bedingungen für Leiharbeit Einfluss zu nehmen. Damit kann erreicht werden, dass Leiharbeit tatsächlich ein ergänzendes und flexibles Instrument ist und dass sie nicht bloß dazu verwendet wird, die Arbeitnehmer gegeneinander auszuspielen und in den Betrieben niedrige Löhne zu zahlen. Die Menschen müssen davor bewahrt werden, Angst davor haben zu müssen, alle paar Wochen im Rahmen eines Rotationsverfahrens ausgewechselt zu werden. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Wir müssen Regelungen zur Mitbestimmung schaffen, um die Begrenzung der Leiharbeit in die Hände der kompetenten Betriebsräte zu legen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wer es ernst meint mit Tarifeinheit in den Betrieben und mit beschäftigungspolitischer Flexibilität, die nicht zulasten der Einkommen der Beschäftigten geht, wird nicht drum herumkommen, entsprechende Regelungen zu schaffen. Deshalb kann ich für die SPD nur sagen: Wir finden es gut und richtig, dass sich die Gewerkschaften für die Interessen der Beschäftigten einsetzen und dass sie so für die Refinanzierung des Staates sorgen. „Gute Arbeit – gutes Geld“ muss für alle Beschäftigten gelten: für Frauen wie für Männer, in der Industrie wie im öffentlichen Dienst. Ich finde es daher gut, dass diese Aktuelle Stunde angesetzt wurde, um diese Punkte im Parlament noch einmal deutlich zu machen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ullrich Meßmer. – Nächster und auch letzter Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul Lehrieder. Bitte schön, Kollege Lehrieder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Man kann bei den von der Linksfraktion beantragten Debatten nicht mehr ohne Grundgesetz ans Rednerpult gehen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Ich werde nachher noch auf die Tarifautonomie, Art. 9 Abs. 3 unseres Grundgesetzes, dezidiert eingehen. (Zuruf von der LINKEN: Bayerische Verfassung!) – Die kenne ich auch. Keine Angst, Herr Kollege. Vor mir haben bereits drei Gewerkschaftssekretäre gesprochen. Herr Meßmer, Sie sind Gewerkschaftssekretär. Der Aufschlaggeber für diese Debatte, Klaus Ernst, war von 1995 bis zum Juni 2010 Erster Bevollmächtigter der IG Metall Schweinfurt. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Der weiß, wovon er redet!) Jungs, ihr wisst doch eigentlich, wie es geht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Sie sollten über das Vorrecht der Tarifvertragsparteien, die Konditionen und die Lohnhöhen auszuhandeln, besser informiert sein, als es in dieser Debatte zum Ausdruck kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber wir sind doch Vertragspartei, Paul!) Ich komme auf das zurück, was die Vorredner bereits ausgeführt haben. Ich schätze den Kollegen Müntefering; er weiß, wie es geht. Er sagt, dass sich die Politik bei den Tarifverhandlungen herauszuhalten hat. Ich schätze auch Verdi. Die Vertreter dieser Gewerkschaft sind ebenfalls gescheiter als die Linkspartei in diesem Hause; denn sie sagen, dass sie sich ein Einmischen der Politik in ihre Verhandlungen verbitten. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und eure Arbeitsministerin, was ist mit der?) Wir sollten einmal schauen, wo wir stehen. Wir stehen inmitten der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. Vor wenigen Wochen haben wir in diesem Hohen Hause über die Tarifverhandlungen für einen Teil der Beschäftigten am Frankfurter Flughafen debattiert. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Man hat sich gestern geeinigt. Streiks während der Tarifverhandlungen sind ein probates Mittel; denn sie sind schmerzhafte Nadelstiche für die andere Seite – sie sind aber keine große Keule wie in anderen Ländern –, die für Bewegung sorgen. Man hat sich in Frankfurt auf ein vernünftiges Ergebnis einigen können. Man hat für alle drei Gruppierungen einen gemeinsamen Tarifvertrag erreicht. Das hätten wir vor wenigen Wochen nicht erwartet. Die Tarifautonomie in Deutschland funktioniert und ist wirkungsvoll. Es gibt keine Verwerfungen oder Missstände, wie Sie mit Ihren Äußerungen glauben machen wollen. Ich sage noch einmal: Die Politik ist gut beraten, sich nicht in die Tarifverhandlungen einzumischen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kollege Schreiner – wo ist er denn? – hat hier mit Krokodilstränen ausgeführt, dass die Vorstandsgehälter nach seiner Auffassung zu hoch sind. Ich will überhaupt nicht verhehlen, dass man diese Gehälter in einigen Fällen kritisch sehen kann. Man muss aber fairerweise dazusagen: Die Vorstandsgehälter werden im Aufsichtsrat in aller Regel mit Zustimmung der Arbeitnehmervertreter festgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Es gibt Kfz-Hersteller, die ihren Mitarbeitern im letzten Jahr Prämien in Höhe von 7 500 bzw. 8 000 Euro gewähren konnten, weil das Geschäft gut lief und man die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Sie profitierten davon. In diesen Fällen kann auch der Vorstand eine entsprechende Zulage bekommen. Man wird darüber diskutieren müssen, ob die Höhe angemessen ist. Die Arbeitnehmerseite sagt in vielen Bereichen durchaus zu Recht: Wenn sich gutes Wirtschaften in unserer Branche für die Arbeitnehmer auszahlt, soll es sich letztendlich auch für die Chefs rentieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die jetzt laufenden Verhandlungen im öffentlichen Dienst – es wurde mehrfach das Innenministerium angesprochen – müssen berücksichtigen, dass nicht jede Gemeinde auf Rosen gebettet ist – Frau Lötzer, Sie haben es ausgeführt – und die Lohnforderungen nicht so locker bezahlen kann, wie der von Ihnen genannte einzige Bürgermeister der Linkspartei; nein, es gibt ein paar mehr. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es gibt Gegenden, da ist das wie bei der CSU in Bayern!) Ich wünsche jeder Gemeinde, dass sie die Lohnforderungen – 6 oder 10 Prozent; meinetwegen können die gerne 10 Prozent fordern – bezahlen kann. Sie müssen grundsätzlich wissen, dass die Kommunen das, was von den Verhandlungsparteien ausgehandelt wird, bezahlen müssen. Es ist nicht so, dass der öffentliche Dienst eine Kuh ist, die im Himmel frisst und auf Erden gemolken werden kann. Kommunen, die pleite sind und über ihre Verhältnisse gelebt haben, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, nein!) tun sich schwer, beliebig hohe Vergütungen zu bezahlen. Das muss man wissen. (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Der blanke Hohn für jeden Kommunalpolitiker!) – Ich bin selber Bürgermeister, Herr Kollege. Ich weiß, wovon ich rede. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) In diesem Jahr laufen Einkommenstarifverträge für 9,1 Millionen Beschäftigte aus. Darunter fallen das Bankgewerbe, die Chemische Industrie, die Deutsche Post AG. Bei der Post – das gehört zur Wahrheit dazu – standen in Tarifverhandlungen ähnlich hohe Forderungen im Raum wie jetzt. Bei der Post hat Verdi 7 Prozent gefordert. Man hat einen Abschluss in Höhe von 4 Prozent gemacht. Die Abschlüsse in vielen Branchen werden deutlich über der von Ihnen apostrophierten Inflationsrate liegen; das zeichnet sich ab. Es muss ein Zuge-winn da sein. Das hat unsere Arbeitsministerin völlig zu Recht ausgeführt. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum macht ihr als Partei dann so ein schlechtes Angebot?) Es gab in den letzten Jahren Lohnzurückhaltung. Der vernünftige Umgang der Tarifvertragsparteien in Deutschland hat dazu geführt, dass wir in den letzten drei Jahren die Krise besser bewältigen konnten als etliche Länder um uns herum. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht nur um die letzten drei Jahre, sondern um die letzten zehn Jahre!) Die von der Linkspartei beantragte Aktuelle Stunde ist nicht geeignet, einen vernünftigen Umgang zu befördern. Ich würde es begrüßen, wenn man mit weniger Schaum vor dem Mund die Tarifverhandlungen abwartet und die Parteien verhandeln lässt, um zu schauen, was dann dabei herauskommt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Paul Lehrieder. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet. Somit rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG) – Drucksache 17/8986 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in unserer Aussprache hat das Wort Frau Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz. Bitte schön, Frau Kollegin Widmann-Mauz. (Beifall bei der CDU/CSU) Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit: Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Psychische Erkrankungen nehmen in Deutschland zu. Allein in den Jahren zwischen 2000 und 2010 verzeichneten psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen in unserem Lande einen Fallzahlenanstieg von 42,2 Prozent. Nicht immer müssen diese Erkrankungen einen so dramatischen Verlauf nehmen wie im Fall von Robert Enke. Dennoch sind die Auswirkungen für die betroffenen Menschen sowohl im privaten wie auch im beruflichen Bereich lebensverändernd. Karrieren werden beendet oder auf Eis gelegt. Denken wir zum Beispiel an den weltbekannten Skispringer Sven Hannawald! Er litt am Burn-out-Syndrom und hat sich deshalb aus dem Leistungssport zurückgezogen. Die Ursachen für die dynamischen Fallzahlentwicklungen können wir noch nicht so richtig eingrenzen. Wir wissen nicht, ob wir es tatsächlich mit einer Zunahme dieser Krankheitsbilder zu tun haben oder ob es die inzwischen verbesserten Diagnoseverfahren sind, die heute eine Feststellung der Erkrankung frühzeitiger ermöglichen. Wir wissen jedoch, dass eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für alle Menschen in unserem Gesundheitssystem gewährleistet sein muss. Dies schließt ausdrücklich Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Menschen bedürfen unserer ganz besonderen Unterstützung. Genau das ist der Grund, warum die Bundesregierung am 18. Januar dieses Jahres den Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen, kurz Psych-Entgeltgesetz, im Kabinett verabschiedet hat. Mit dem neuen Entgeltsystem soll der Vergütung der unterschiedlichen psychischen Erkrankungen besser Rechnung getragen werden; denn jede psychische Erkrankung ist in ihrer Ausprägung und damit in ihrem Behandlungsbedarf und Behandlungsaufwand verschieden. Der eine Patient kann schnell und erfolgreich behandelt werden; ein anderer benötigt Jahre, manchmal ein ganzes Leben, um mit seiner Erkrankung zurechtzukommen. Bei gleicher Diagnose kann es daher durchaus zu sehr unterschiedlichen Verweildauern in den Kliniken kommen. Deshalb wollen wir mit dem neuen Gesetz die Transparenz über das Leistungsgeschehen verbessern und den Besonderheiten psychischer Krankheiten besser Rechnung tragen. Das heißt, der Aufwand unterschiedlicher Behandlungsfälle soll besser abgebildet und leistungsorientiert vergütet werden. Geschehen soll dies, indem grundsätzlich keine Fallpauschalen, sondern in erster Linie tagesbezogene Pauschalen eingeführt werden. Gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verweildauern bei gleichen Diagnosen macht dies auch Sinn. Bewusst haben wir entschieden, die Anwendung des neuen Entgeltsystems im nächsten und im übernächsten Jahr nicht verpflichtend einzuführen. Vielmehr sind die Jahre 2013 und 2014 als Optionsjahre vorgesehen, in denen die Einrichtungen das neue Entgeltsystem auf freiwilliger Basis anwenden können. Eine „Mussregelung“ wird es dann erst ab dem Jahr 2015 geben. Zudem wird das neue Entgeltsystem mit einer vierjährigen budgetneutralen Phase und dann mit einer fünfjährigen Konvergenzphase eingeführt. Diese Vorgehensweise haben wir ebenfalls aus gutem Grund festgelegt: Zum einen wird nämlich den Einrichtungen ausreichend Zeit gegeben, sich auf künftige Veränderungen in ihren Erlösbudgets entsprechend einzustellen; zum anderen ist die Entwicklung und die Einführung dieses Psych-Entgeltsystems als ein lernendes System angelegt. Sie erinnern sich: Wir haben dieses Prinzip bereits bei der Einführung des DRG-Fallpauschalensystems in unseren Krankenhäusern ausprobiert, und es hat funktioniert. Damals sind wir mit knapp 700 Fallpauschalen gestartet; heute verzeichnen wir rund 1 200. Das heißt, die Sachgerechtigkeit der Abbildung und Leistungsorientierung der Vergütung wurde seit der DRG-Einführung kontinuierlich verbessert; das ist unbestritten. Nach diesem Vorbild können wir die langen Zeiträume der Ein- und Überführungsphase nutzen, um genau zu prüfen, wo noch zu leistende Entwicklungsarbeiten notwendig sind, um dieses Entgeltsystem zu perfektionieren. Unser Ziel ist es, die Voraussetzungen für einen effizienteren Ressourceneinsatz zu schaffen und die Vergütungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen zu verbessern. Zurzeit erfolgt bei der Vergütung keine Differenzierung nach dem unterschiedlichen Behandlungsaufwand für die einzelnen Patienten. Vielmehr bleibt im heutigen Entgeltsystem ein unterschiedlicher Behandlungsaufwand unberücksichtigt. Der sich für die Einrichtungen daraus ergebenden Notwendigkeit zur Mischkalkulation wollen wir mit dem neuen Entgeltsystem ein Ende setzen. Das heißt, mit dem Beginn der Konvergenzphase müssen sich Einrichtungen mit zu hoch bewerteten Erlösbudgets durchaus auch auf Erlösabsenkungen einstellen. Umgekehrt gilt auch: Krankenhäuser mit zu gering bewerteten Erlösbudgets werden dann durch Erlöszuwächse von diesem System profitieren können. So gelingt am Ende eine Umverteilung im positiven, im richtigen Sinne, nämlich hin zu mehr Leistungsgerechtigkeit in den Häusern. Wir schaffen mit diesem Gesetzentwurf auch die Grundlagen für eine systematische Qualitätssicherung in der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung. Denn wir verpflichten den Gemeinsamen Bundesausschuss, in seinen Richtlinien die dafür erforderlichen Maßnahmen festzulegen und Indikatoren für die Beurteilung der Versorgungsqualität zu entwickeln. Darüber hinaus wird der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen Richtlinien zur Qualitätssicherung Empfehlungen zur Ausstattung mit therapeutischem Personal für stationäre Einrichtungen festlegen. Das ist notwendig, weil die bisher gültige Psychiatrie-Personalverordnung mit ihrer finanzwirksamen Wirkung – das wissen wir – so nicht mehr mit dem neuen Entgeltsystem vereinbar ist, aber umgekehrt Maßstäbe zur Sicherung der Strukturqualität unverzichtbar sind. Deshalb sind Maßstäbe für eine angemessene Personalausstattung in den Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses erforderlich; das wird gewährleistet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erfüllen mit dem Psych-Entgeltgesetz, das wir Ihnen heute zur Beratung vorlegen, einen Auftrag aus der letzten Legislaturperiode, den wir mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz im März des Jahres 2009 beschlossen haben. Wir machen den Weg frei für eine am Behandlungsaufwand orientierte Vergütung; denn fest steht: Menschen, die psychisch erkrankt sind, die auf medizinische Versorgung in unserem Land angewiesen sind, brauchen eine sehr gute, umfassende Versorgung. Zu ihrem Wohle streben wir diese Veränderung im Vergütungssystem an. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Hilde Mattheis. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der SPD) Hilde Mattheis (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Widmann-Mauz hat zu Recht darauf hingewiesen: Im Bereich der psychischen Erkrankungen geht es oftmals um tragische Schicksale. Umso wichtiger ist es, dass wir mit dem Psych-Entgeltgesetz die Weichen wirklich richtig stellen, für Versorgungsstrukturen, die es erlauben, auf die besonderen Bedürfnisse psychisch Erkrankter einzugehen. Richtig ist auch: Es ist ein Auftrag aus der letzten Legislaturperiode, der hier erfüllt werden muss. Aber wir müssen hier die Frage beantworten, ob dieser Auftrag wirklich erfüllt ist. Ich frage jetzt gleich – da spreche ich gerade auch die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU an, die das in der letzten Legislaturperiode mit entschieden haben –, ob es sich hier wirklich um richtige Weichenstellungen handelt für eine ordentliche und notwendige Personalausstattung, für eine Förderung der sektorenübergreifenden Versorgung und für tagesbezogene Entgelte. Denn schon 2009 war klar, dass die besonderen Bedürfnisse von psychisch kranken Menschen auf gar keinen Fall mit den Bedürfnissen von Menschen zu vergleichen sind, die zum Beispiel wegen eines Blinddarmdurchbruchs oder nach einer Bein-OP behandelt werden müssen. Wir fragen also: Sind die Formulierungen in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung richtig? Auf Vorschlag der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hatte die Mehrheit des Hauses beschlossen, ein durchgängig leistungsorientiertes und pauschaliertes Vergütungssystem auf der Grundlage tagesbezogener Entgelte einzuführen. (Dr. Erwin Lotter [FDP]: Ja, haben wir doch!) Des Weiteren wurde beschlossen, dass in diesem Zusammenhang zu prüfen sei, ob für bestimmte Leistungsarten andere Abrechnungseinheiten eingeführt werden können und wie die Leistungen der psychiatrischen Institutsambulanzen nach § 118 SGB V einbezogen werden können. Vor allen Dingen hatten wir festgehalten, dass bei unserer Forderung nach Berücksichtigung einer sektorenübergreifenden Versorgung – ich zitiere – „von den Leistungskomplexen ausgegangen werden soll, die der Psychiatrie-Personalverordnung zugrunde liegen“. Das waren die wesentlichen Bestandteile des Krankenhaus-finanzierungsreformgesetzes. Viele andere Punkte sind in der Drucksache 16/10807 nachzulesen. Zunächst einmal stelle ich fest, dass das Ministerium einen ganz neuen Zeitplan aufgemacht hat: eine budgetneutrale Phase über einen langen Zeitraum, dann eine Konvergenzphase bis 2022. (Dr. Erwin Lotter [FDP]: Was war die Forderung der SPD?) Wir hatten uns vorgenommen: bis 2013. Diese lange Phase birgt natürlich eine Chance. Aber wir sollten schon jetzt, nach Einbringung des Gesetzentwurfes, die Chance nutzen, einige Veränderungen vorzusehen, die dann in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden können. Ich frage mich: Unterstützt und – was zu wünschen wäre – verbessert die vorgesehene Umstellung der Vergütung die Strukturen und die Qualität der Versorgung von psychisch kranken Menschen? Wir alle wissen – Sie haben es ausgeführt –, dass wir von einem zunehmenden Versorgungsbedarf ausgehen müssen. Wir wissen, dass die Versorgung maßgeblich durch qualifiziertes Personal zu gewährleisten ist und der Personalkostenanteil bei circa 80 Prozent liegt. Wir wissen auch, dass sich Therapiekonzepte für Menschen mit psychischen Erkrankungen maßgeblich von Therapien in den Krankenhäusern unterscheiden, in denen das DRG-System gilt. Deshalb nehme ich alle Hinweise, die uns allen zugegangen sind, ernst. Es wird zu Recht auf eine hohe Übereinstimmung mit dem Krankenhausentgeltgesetz verwiesen und vor der Übertragung der Rahmenbedingungen der somatischen Medizin auf die Versorgung psychisch Kranker gewarnt. Die Wiederholung von Fehlanreizen wie bei der DRG-Einführung wäre in der Psychiatrie wirklich fatal. Außerdem ist das neue Entgeltsystem nicht sektorenübergreifend angelegt; es gibt also keine Anreize, stationäre Behandlungen zu vermeiden. Das wird dazu führen, dass psychisch Kranke keine Alternative zu stationären Aufenthalten haben werden. Das ist nicht die Vorstellung von einer modernen, sektorenübergreifenden Versorgung, so wie wir als SPD sie immer vertreten haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen eine regionale, bedarfsgerechte Versorgung. Psychiatrische Krankenhäuser brauchen Anreize für den Ausbau personenzentrierter Behandlungs- und Hilfesettings im außerklinischen Bereich. Die von der Regierung formulierten Prüfaufträge und die Weiterentwicklung der Vorgaben für Modellvorhaben einer sektorenübergreifenden Versorgung sind uns zu wenig. Wir haben dies schon in einer Kleinen Anfrage im Juni 2010 hinterfragt. Die Antworten haben uns schon damals nicht zufriedengestellt. Sie haben uns damals in Ihrer Antwort darauf hingewiesen, dass es eine unzureichende Datengrundlage gebe. Zwei Jahre sind inzwischen verstrichen. Von einer Weiterentwicklung habe ich nichts mitbekommen. Das alles zeugt nicht davon, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf dem Grundsatz folgen: Das Vergütungssystem dient der Versorgung. Das will ich an einem weiteren Beispiel deutlich machen, nämlich am Vorhaben, die Vereinbarung von erforderlichen Personalstellen nach der Psych-PV nur noch den Optionskrankenhäusern zu ermöglichen und die Psych-PV zum 1. Januar 2017 endgültig auszusetzen. Es ist zu befürchten, dass ohne eine vollständige Erfüllung der Psych-PV das neue Entgeltsystem zu einer -dauerhaften Unterfinanzierung in der psychiatrischen Versorgung führt. (Beifall der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]) Es gibt etliche weitere Kritikpunkte, die sicherlich im weiteren Verfahren bzw. in der weiteren Diskussion noch aufgriffen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich meine, wir haben jetzt die Chance, auf der Grundlage des Gesetzes von 2009 die Versorgung psychisch kranker Menschen durch ein sinnvolles Vergütungssystem zu verbessern. Diese Chance müssen wir nutzen. Das erwarte ich vor allen Dingen von Ihnen, von der CDU/CSU; denn Sie haben 2009 dieses Gesetz mit uns beschlossen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Hilde Mattheis. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Erwin Lotter. Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter. Dr. Erwin Lotter (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Mattheis, ich freue mich, dass es gelungen ist, mit dem Psych-Entgeltgesetz endlich eine vernünftige und angemessene Art der Abrechnung im Bereich psychiatrischer und psycho-somatischer Einrichtungen zu entwickeln. Das bisherige Abrechnungssystem mit Tagessätzen hat in mehrfacher Hinsicht nicht funktioniert. Eine leistungsgerechte Honorierung fand nicht statt. Durch das Psych-Entgelt-gesetz wird die Chance auf eine gerechtere Vergütung eröffnet. Das pauschalierende, leistungsorientierte Entgeltsystem bildet die medizinischen Leistungen deutlich besser ab. Eine lange Einführungsphase ermöglicht den Krankenhäusern eine angemessene Eingewöhnung. Als lernendes System wird es praktische Erfahrungen in Krankenhäusern integrieren und ist offen für eine Weiterentwicklung. Ambulante Behandlungen in Institutsambulanzen und die Kooperation mit niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten werden gefördert. Mittelfristig wird das Gesetz zu einer differenzierteren und qualitativ hochwertigeren Behandlung psychisch Kranker führen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Verfahren der Tagessätze hat die Verschiedenheit der Patientengruppen nicht berücksichtigt. Suchtkranke zum Beispiel, die sich einem Entzug unterziehen, benötigen Gruppentherapien, Einzelgespräche und wenig -medikamentöse Behandlung. Schizophrene Patienten -hingegen benötigen intensive Untersuchungen und permanente Betreuung und erfordern sehr viel mehr medizinisches Personal. Die Verweildauer im Krankenhaus ist unterschiedlich und hängt vom persönlichen Krankheitsverlauf ab. Die Tagessätze werden unabhängig von der Leistung bezahlt und unabhängig davon, wie intensiv die Betreuung ist. Dies führt nicht nur zu Verwerfungen zwischen den Krankenhäusern, sondern schlimmstenfalls sogar zum Missbrauch durch übertrieben lange stationäre Behandlung. Als Psychotherapeut habe ich diese Entwicklung seit vielen Jahren mit Sorge verfolgt. Zahllose Verbände und Organisationen haben Vorschläge für Verbesserungen gemacht. Diese sind in den Entwurf eines Psych-Entgeltgesetzes eingeflossen. Einrichtungen, die aufwendige Leistungen erbringen, sollen mehr Geld bekommen als solche, die weniger aufwendige Patienten versorgen. Das Geld soll den Leistungen folgen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu ist es notwendig, tagesbezogene Entgelte einzuführen, die die Leistungen individuell widerspiegeln. Die Vergleichbarkeit der Einrichtungen auf der Grundlage ihrer konkreten, jeweils notwendigen Leistungen steigt. Für innovative Untersuchungs- und Behandlungsmethoden können individuelle Vereinbarungen geschlossen werden. Wichtig ist, dass die Kalkulation bundeseinheitlich möglich ist. Meine Damen und Herren, viele Krankenhäuser befürchten, dass höhere Kosten auf sie zukommen. Sie befürchten eine Unübersichtlichkeit der Abrechnungen. (Hilde Mattheis [SPD]: Sie befürchten eine Hospitalisierung!) Dem beugt das Psych-Entgeltgesetz durch lange Übergangsphasen vor, die eine jeweils individuelle Anpassung ermöglichen. Vier Optionsjahre und fünf Jahre der Konvergenzphase sind eine ausreichende Zeit, um das System umfassend neu zu strukturieren. Ein ganz besonderes Anliegen ist mir aber, dass nunmehr Modellversuche zu einer sektorübergreifenden Behandlung möglich werden. Manchen von Ihnen mag das Hamburger Modell bekannt sein. Dies bedeutet: Krankenhäuser erhalten ein regionales Budget und können selbst entscheiden, wie viele Patienten sie vollstationär, teilstationär oder ambulant behandeln. Hierzu dienen die Psychiatrischen Institutsambulanzen, die sogenannten PIAs. Eine flexiblere, patientennahe Behandlung wird so ermöglicht. Gleichzeitig wird die Möglichkeit verbessert, Patienten, die die PIAs nutzen, zum Beispiel einer Psychotherapie zuzuführen. Auch Kooperationen mit niedergelassenen Fachärzten sind möglich. So werden niedergelassene Therapeuten mit ins Boot geholt. Diesen Ansatz unterstütze ich uneingeschränkt; denn er hat drei Konsequenzen: Zum Ersten liefert er einen Anreiz, die Länge der stationären Behandlung zu verringern. Zum Zweiten führt er zu einer Kostenersparnis. Und zum Dritten besteht eine gute Chance, durch die Verzahnung der Komponenten bessere Behandlungs-ergebnisse zu erzielen. Hiermit verbunden sind drei klare Anforderungen: Eine gründliche Dokumentation ist erforderlich, um zwischen den Behandlungsmethoden gewichten zu können. Notwendig ist eine Evaluation der sektorübergreifenden Behandlung nach klaren Kriterien bis zum Ende der Einführungsphase 2022, um ihre Vorteile und Probleme zu überprüfen. Schließlich fordern wir die Stärkung der Begleitforschung, um diesen Ansatz im Interesse einer stetig besseren Behandlung laufend analysieren zu können. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass viele Fachverbände nach wie vor der Ansicht sind, auch das neue -System bilde Leistungen nicht individuell genug ab. Außerdem bestünde die Gefahr, dass aufgrund der demografischen Entwicklung und der immer größeren Anzahl von Menschen mit psychischen Störungen das gesamte Finanzierungsvolumen unzureichend sei. Dem halte ich entgegen: Irgendwann müssen wir mit Reformen anfangen. So, wie es bislang war, macht es keinen Sinn. Das Psych-Entgeltgesetz etabliert ein offenes, lernendes System, in das Erfahrungen aus der Praxis integriert werden können. Es wird höchste Zeit, ein Vergütungssystem zu schaffen, das modernen Anforderungen entspricht. (Hilde Mattheis [SPD]: Was ist modern?) Lassen Sie uns heute damit anfangen. (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Erwin Lotter. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Dr. Martina Bunge. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Bunge. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Danke, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein neues Gesetz machen wir in der Regel, wenn es Probleme gibt und Handlungsbedarf besteht. Die Vergütung psychiatrischer und psychosomatischer Leistungen in Krankenhäusern mag ein Problem sein, weil sie individuell erfolgt und dadurch schwer vergleichbar ist; aber die wirklichen Probleme bei der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung liegen unseres Erachtens ganz woanders. Wir müssen zuerst an die Patientinnen und Patienten denken. Das A und O dabei ist die Sicherstellung der Versorgung in hoher Qualität. (Beifall bei der LINKEN) Dafür wird genügend und gut qualifiziertes Personal in den Kliniken gebraucht. Außerdem müssen die Barrieren zwischen den verschiedenen Versorgungsformen beseitigt werden. Psychisch Kranke brauchen eine gut abgestimmte, integrierte Versorgung. (Beifall bei der LINKEN) Der vorliegende Gesetzentwurf leistet diesbezüglich rein gar nichts. Er erschwert sogar eine gute Versorgung. Der Gesetzentwurf ist ein trauriges Beispiel dafür, was passiert, wenn man kein bisschen über den Tellerrand hinausschaut. Das ist, als würde man als Reaktion auf die Erderwärmung die Produktion von Klimaanlagen fordern. Dadurch werden die Wohnungen zwar kühler, aber es werden mehr Probleme geschaffen als gelöst. Soll die Versorgung verbessert werden, müssen ambulante Praxen, Tageskliniken, Institutsambulanzen und Krankenhäuser zusammen gedacht werden. Es gilt, ein Vergütungssystem zu entwickeln, das Übergänge schafft und die Zusammenarbeit erleichtert. Wir müssen die Versorgung regional, den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend umsetzen. Wir müssen zum Beispiel fragen: Wie krank sind die Menschen vor Ort? Wie ist die Infrastruktur? Welche Versorgungsangebote gibt es? Mit dem Gesetzentwurf soll allen das gleiche Hemd übergestreift werden. Dieses Hemd wird einigen bis zu den Füßen reichen und anderen nur bis zum Bauchnabel. Statt die Personalverordnung, die sogenannte Psych-PV, zu modernisieren und so auszugestalten, dass Personalstandards für alle beteiligten Berufsgruppen festgeschrieben werden, wird Ihr Gesetzentwurf dafür sorgen, dass die Kliniken letztlich noch weniger Personal zur Verfügung haben werden, als in der bestehenden Psych-PV festgelegt ist. (Zuruf des Abg. Dr. Erwin Lotter [FDP]) Wir werden sehr wohl beobachten, was die Empfehlungen des G-BA – wann auch immer sie vorgelegt werden – bringen werden; Frau Staatssekretärin, Sie hatten dies angesprochen. Wir denken, mit der Abschaffung der Psych-PV wird das Personal als Einsparquelle erster Ordnung freigegeben. Das ist unverantwortlich. (Beifall bei der LINKEN) Durch den Gesetzentwurf wird damit sogar die bereits erreichte Versorgungsqualität gefährdet. Die weiterhin geltende unerträgliche Bindung der Kostenentwicklung der Krankenhäuser an die Brutto-lohnentwicklung führt zudem dazu, dass schon jetzt Personal in den Kliniken abgebaut werden muss, weil die Kosten für Tariferhöhungen und die sonstigen Kosten den Einnahmen davonlaufen. Wenn Sie die Bruttolohnbindung der Krankenkassen aufheben würden, könnten Tarif- und Kostensteigerungen endlich ordentlich gegenfinanziert werden. Kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Argument, dass das Geld dafür fehlt. Würde der gesellschaftliche Reichtum anteilig für die Sozialsysteme zur Verfügung gestellt werden, wie wir es im Zusammenhang mit unserer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung vorschlagen, hätten wir diese Finanzierungsprobleme nicht. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Sozialismus, ich höre dir kommen!) In Ihrem Gesetzentwurf wird auch nicht berücksichtigt, dass die Zahl psychischer Erkrankungen zunimmt. Frau Staatssekretärin, Sie haben es erwähnt, aber die Ursachen dafür sind Ihnen schleierhaft. Unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse, unsichere Zukunftschancen und Ihre neoliberale Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik tragen unseres Erachtens maßgeblich zu psychischen Belastungen bei. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sozialismus macht Spaß und hält gesund!) Die Folgen sollen allein die psychisch Kranken und die, die sich um sie kümmern, tragen. Das kann nicht Ihr Ernst sein. (Beifall bei der LINKEN) Fazit: Der Gesetzentwurf bringt nichts Vernünftiges, schadet aber. Folglich darf er nicht so bleiben, wie er jetzt ist. Es ist unsere Aufgabe, ihn zu verändern. Ich denke, wir alle müssen ordentlich daran mitarbeiten; denn sonst wird das nichts. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. – Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin Frau Maria Klein-Schmeink. Bitte schön, Frau Kollegin. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich würde sagen: Der Gesetzentwurf hat nicht nur einen komplizierten Titel, sondern es handelt sich auch um eine sehr komplizierte Materie. Es geht um ein neues Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen. Wer sich in die Tiefe der Paragrafen begeben hat, hat schnell erkennen müssen, dass das alles nicht so einfach zu verstehen ist und man sehr viele Voraussetzungen braucht, um überhaupt nachvollziehen zu können, was dort vorgeschlagen wird. Nun konnte man nach der Einbringung davon ausgehen, dass wir einen angemessenen Vorschlag vorgelegt bekommen haben. Es wird ein Zeitraum von zehn Jahren für die Überführung in ein neues System vorgeschlagen; dies ist ein langer Zeitraum. Die Bundesregierung erhebt den Anspruch, einen Vorschlag für ein leistungsgerechtes und transparentes System für die Honorierung psychiatrischer Behandlung und Hilfestellung vorzulegen. In dem Gesetzentwurf steht gleichzeitig: Wir wollen die sektorenübergreifende Zusammenarbeit fördern. Ich gehe davon aus, dass alle hier im Raum diese Ansprüche unterstützen und sagen: Das ist das, was wir brauchen. Wir müssen uns aber auch fragen: Wird dieser Gesetzentwurf diesem Anspruch eigentlich gerecht? Ich glaube, da besteht deutlicher Nachbesserungsbedarf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diesen möchte ich Ihnen ein wenig erläutern. Es geht darum, dass wir eine Errungenschaft zu verteidigen haben, nämlich die Personalstandards, die in der Psychia-trie-Personalverordnung seit 1991 gelten. Sie sind ein hohes Gut und tatsächlich einer der Qualitätsfaktoren, die wir in der psychiatrischen Versorgung im stationären Bereich vorzuweisen haben. Deshalb ist es ausgesprochen wichtig, diese Standards in ein neues System zu überführen. (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]) – Genau. – Wir werden fragen müssen, ob dies gelingt. Da sind Zweifel durchaus angebracht, weil wir im Vorlauf, als wir versucht haben, Kriterien abzuleiten, und als das InEK versucht hat, Kriterien für Prozedurenschlüssel zu entwickeln, gesehen haben, dass es nicht einfach ist, den aufwendigen Bedarf gerade für die Schwerst-erkrankten abzubilden. Diese Herausforderung ist noch nicht bewältigt. Wir wissen aber, dass wir in diesem Herbst auf der Grundlage eines solchen Systems anfangen müssen, zu kalkulieren und ein Entgeltsystem für die Optionsphase vo-rauszusetzen. Diese wesentliche Klippe ist also noch nicht genommen. Daran müssen wir noch arbeiten. Wir wissen zudem eigentlich gar nicht, inwieweit die Vorgaben der Psychiatrie-Personalverordnung in den Krankenhäusern tatsächlich eingehalten werden. Auch dazu liegen uns keine Daten vor, obwohl wir versucht haben, sie zu erfragen. Das wird für die zukünftige Entwicklung allerdings ein ganz ausschlaggebender Punkt sein, weil wir beim Istzustand ansetzen und davon ausgehend das pauschalierende System entwickeln. Außerdem müssen wir den Besonderheiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie gerecht werden. Haben wir hier die notwendigen Vorkehrungen getroffen? Ich würde sagen: Dieser Gesetzentwurf erwähnt diese Besonderheiten nicht einmal. Hier müssen wir ansetzen, und das müssen wir verändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Insofern gibt es großen Bedarf, genau hinzuschauen. Wir sollten Zwischenschritte vorsehen und dieses lernende System tatsächlich ernst nehmen. Ich hoffe, dass wir dies im weiteren Gesetzgebungsverfahren in einem konstruktiven Dialog hinbekommen. Ein weiterer ganz wichtiger Punkt sind die Modellvorhaben. Sie werden im Gesetzentwurf genannt. Auch hier gilt: Keiner von uns wird sie nicht wollen; jeder wird sie wollen. Wir wissen aber: Wir haben bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt, zum Beispiel in der integrierten Versorgung, ebenso aus Modellvorhaben mit Regionalbudgets. Nur: Sind wir heute in der Lage, diese Erfahrungen tatsächlich in die Fläche zu tragen? Nein. (Dr. Erwin Lotter [FDP]: Doch! Durch die Modellversuche!) Unterstützt das bisher entwickelte System die Zusammenarbeit über die Sektorengrenzen hinaus? Dafür haben wir noch keine Ansatzpunkte. All das muss noch entwickelt werden, ist in diesem Gesetzentwurf aber nicht angelegt. Von daher meinen wir: Es gibt noch deutlichen Nachsteuerungsbedarf. Die Grundlage ist ganz okay; darauf kann man aufbauen. Aber es gibt, wie gesagt, deutlichen Nachbesserungsbedarf. Nicht nur die Fachverbände haben diesen angemahnt, – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – sondern auch der Bundesrat hat deutliche Hinweise gegeben. Ich meine, der nächste wichtige Schritt muss darin bestehen, dass wir dafür sorgen, – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin! Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – die psychiatrische Versorgung, die psychosoziale Versorgung, die psychotherapeutische Versorgung und die fachärztliche Versorgung zusammenzubringen. Dies wird auch weiterhin die große Herausforderung sein. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Lothar Riebsamen spricht für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir die DRGs vor fast zehn Jahren, im Jahre 2003, eingeführt haben, waren wir noch auf Vorlagen und Muster anderer Nationen angewiesen. Nun führen wir selbst ein leistungsorientiertes Vergütungssystem auch im Bereich von Psychosomatik und Psychiatrie ein und gehen weg vom bisherigen kostenorientierten Vergütungssystem. (Hilde Mattheis [SPD]: Genau das haben wir nach der Anhörung zu den DRGs ja eigentlich nicht gewollt! – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau! Deshalb haben wir sie damals rausgelassen!) Damit sind wir in diesem Bereich Vorreiter. Das unterscheidet die heutige Situation von der Situation von vor zehn Jahren. Damit schaffen wir Transparenz und Qualität für die Patientinnen und Patienten. Das steht für uns bei diesem Gesetz im Vordergrund. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir haben einen guten und richtigen Zeitpunkt gewählt, um dieses Thema anzugehen. Mittlerweile haben wir seit fast zehn Jahren gute Erfahrungen mit den DRGs gemacht – das bestätigt auch die Begleitforschung –, auch wenn die Situation im Bereich der Psychiatrie ein Stück weit anders zu beurteilen ist; das gebe ich zu. Es gibt – das wurde heute bereits erwähnt – eine große Zahl psychischer Erkrankungen. In den letzten zehn Jahren war eine hohe Steigerungsrate zu beobachten. Außerdem ist festzustellen – das räume ich ein; auch das wurde bereits gesagt –, dass zu viele Patienten im stationären Bereich untergebracht wurden. Das gilt auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Deswegen ist es wichtig – und das bringt dieser Gesetzentwurf zum Ausdruck –, sektorübergreifend und in Versorgungsnetzen zu denken. Es gab bisher schon entsprechende Modellvorhaben. Krankenkassen und Krankenkassenverbände haben bereits in der Vergangenheit Verträge mit einzelnen Krankenhäusern abgeschlossen. Genau diese sektorübergreifende Versorgung werden wir mit diesem Gesetzentwurf weiterentwickeln. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!) Hier sind wir auf einem guten Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Was bedeutet mehr Transparenz für die Patienten? Weil zukünftig eben nicht mehr die Selbstkosten im Vordergrund stehen, muss erstmals darüber nachgedacht werden, wie die Strukturen aussehen. Sie müssen analysiert und optimiert werden, um eine Vergleichbarkeit herzustellen; denn einen Patienten interessiert es nicht, was ein Krankenhaus kostet, sondern einen Patienten interessiert es, was ein Krankenhaus kann. Deswegen ist es richtig, dass das Geld zukünftig entsprechend der Leistung gezahlt wird. Die Krankenhäuser, die höherwertigere Leistungen erbringen, sollen zukünftig mehr Geld bekommen als die Krankenhäuser, die weniger hochwertige Leistungen erbringen, und das ist gerecht. Was bedeutet mehr Qualität? Der Gemeinsame Bundesausschuss wird damit beauftragt, bis spätestens zum Jahr 2017, dem Beginn der Konvergenzphase, Qualitätskriterien zur Sicherung der Struktur-, Prozess und Ergebnisqualität zu benennen. Im Bereich der Strukturqualität geht es um die Personalausstattung im therapeutischen Bereich und um die Infrastruktur. Zur Prozessqualität ist zu fragen: Welche Leistungen werden definiert? Welche Ziele werden vereinbart? In Bezug auf die Ergebnisqualität geht es um die Fragen: Wie sieht die Zufriedenheit der Patienten aus? Wie wird der Fortschritt der Behandlung gemessen? – Wie gesagt: Qualität und Transparenz stehen für uns im Vordergrund. Dieser Gesetzentwurf bietet aber auch noch andere Möglichkeiten dafür, im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens im gesamten Krankenhausbereich nachzujustieren. Die Krankenhäuser sind in einer teilweise schwierigen Situation: Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es immer mehr multimorbide Patienten in den Krankenhäusern, es gibt den medizinisch-technischen Fortschritt, und die Tariferhöhungen werden voraussichtlich eine große Belastung für die Krankenhäuser darstellen. Darüber hinaus kommen die Länder ihrer Verpflichtung, für die Investitionen aufzukommen, in der Regel leider nicht nach. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Skandal!) Dies hat zu einem großen Druck auf die Krankenhäuser geführt. Dieser Druck wird dadurch abgebaut, dass Mehrleistungen erbracht werden. Die Betten werden gefüllt. Der Deutsche Bundestag hat dem mit dem Orientierungswert und mit den Mehrleistungsabschlägen schon ein Stück weit entgegengewirkt. Der Orientierungswert gilt jedoch erst ab dem kommenden Jahr. Deswegen halte ich persönlich es für notwendig, dass wir für das Jahr 2012 eine Übergangsregelung schaffen. Ich schlage deshalb vor, die durchschnittlichen Auswirkungen der Tariferhöhungen anteilig auf die Landesbasisfallwerte anzurechnen und die Mehrleistungsabschläge – 30 Prozent für zwei Jahre fest – gesetzlich festzuschreiben. Beides schafft Planungssicherheit für die Krankenhäuser und bringt insbesondere den kleineren Krankenhäusern im ländlichen Raum besonders viel, weil diese Krankenhäuser schon bisher nicht in der Lage waren, fehlendes Geld durch Mehrleistungen in der Weise zu kompensieren, wie dies größere Krankenhäuser konnten. Wenn dieser Gesetzentwurf von seinem Titel her auch recht nüchtern ist, so bietet er doch, wie aufgezeigt, wichtige Weichenstellungen. Wir gehen dies mit Augenmaß an, indem die Einführungsphase mit dem Orientierungswert insgesamt vier Jahre dauert. Die ersten beiden Jahre ist die Einführung optional. Weitere fünf Jahre wird die Konvergenzphase dauern. Beides ist mit Anreizen unterlegt. Das ist vernünftig und schafft mehr Transparenz und Qualität in unseren Krankenhäusern. (Hilde Mattheis [SPD]: 70 Prozent Minder-erlösausgleich!) Ich fordere Sie auf, am Gesetzgebungsverfahren konstruktiv mitzuwirken, um im psychiatrischen und im psychosomatischen Bereich ein gutes Stück voranzukommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8986 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr abschaffen – Drucksache 17/9031 – ZP 5 Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluierung der Ausnahme-regelungen von der Zuzahlungspflicht – Drucksache 17/8722 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor acht Jahren haben SPD und Grüne die Praxisgebühr – übrigens mit Zustimmung von Union und FDP – eingeführt. (Zuruf von der SPD: Das stimmt doch gar nicht!) Die Linken waren die Einzigen, die dagegen waren und gesagt haben, dass das eine Belastung gerade der sozial Schwächsten ist, die wir uns überhaupt nicht leisten können. (Beifall bei der LINKEN – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Herr Dr. Gysi, gibt es überhaupt irgendetwas, wofür die Linken sind?) 2006 hatte die Linke einen Gesetzentwurf zur Abschaffung eingebracht. Die SPD war dagegen – und jetzt zitiere ich Ihnen die Begründung –, weil die unmittelbar nach der Einführung der Praxisgebühr zu beobachtenden sozialen Verzerrungen verschwunden seien. Eine Abschaffung der Praxisgebühr sei finanziell nicht darstellbar. Die Grünen waren übrigens auch dagegen und begründeten es wie folgt: Sie sähen keinen Grund dafür, die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, weil es an negativen Belegen mangele. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!) Zudem fehle die Gegenfinanzierung. Die FDP stimmte dagegen, weil man die Praxisgebühr nicht abschaffen könne, ohne gleichzeitig ein anderes Instrument der Kostenbeteiligung (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!) zu schaffen. Ein FDPler hat sich im Ausschuss allerdings der Stimme enthalten, und zwar mit der Begründung, dass der bürokratische Aufwand und die damit verbundenen Belastungen in den ärztlichen Praxen zu groß seien. Er hat also nicht an die Patientinnen und Patienten gedacht. Aber immerhin! (Beifall bei der LINKEN) Im Januar 2010 hat dann endlich auch Herr Lauterbach die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert. Aber die SPD traute sich doch noch nicht, einen so gewaltigen, revolutionären Schritt zu unternehmen. Im September 2011 haben wir erneut die Abschaffung beantragt, und auch dieses Mal lehnte die SPD ab, und zwar mit der Begründung, das Ganze sei nicht zielführend. – Das habe ich nie ganz verstanden. Die Grünen wollten mit der Abschaffung der Praxisgebühr noch warten, bis endlich die Bürgerversicherung durchgesetzt sei. Deshalb haben sie sich der Stimme enthalten. Aber immerhin war das schon einmal ein Fortschritt. Union und FDP lehnten ab. Die FDP tat dies übrigens wegen der befürchteten Mindereinnahmen für die Kassen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, so ist das!) Jetzt will auch die FDP den gesetzlich Versicherten ein kleines Wahlkampfgeschenk machen (Beifall bei der LINKEN) und ihnen diese 10 Euro pro Quartal erlassen. Dies möchte sie nicht unbedingt aus sozialen Gründen, sondern wegen der schrecklichen Bürokratie für Ärztinnen und Ärzte sowie Kassen. Herr Kubicki, der FDP-Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein, startete sogar eine Unterschriftensammlung. Ich dachte, ich spinne. Aber es ist okay. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Herr Lindner, der sich nun auch über die Bürokratie aufregt, startet in NRW ähnliche Initiativen. Jetzt kommt aber die FDP und wirft uns, weil wir diesen Antrag stellen, vor, wir würden Wahlkampf machen. Also, mehr Wahlkampf als den, den Sie machen, kann man sich gar nicht vorstellen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD]) Ich sage Ihnen: Wir können heute sofort abstimmen. Dann schaffen wir die Praxisgebühr ab. Die Kassen haben genug Geld. Das ist überhaupt kein Problem. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Mit Geld können Sie ja umgehen!) Stimmen Sie der sofortigen Abschaffung zu. Dann beweisen Sie, dass Sie es ehrlich meinen und dass es nicht nur Wahlkampfgetöse ist. (Beifall bei der LINKEN) Ich will Ihnen allerdings auch sagen, was ich nicht mag: Wenn man als Bestandteil der Regierungskoalition solche Forderungen stellt, dann gibt es ganz viele, die sich die Hoffnung machen, dass das auch wirklich passiert. Aber die Union stimmt nicht zu, und das wissen Sie auch. Also, verbreiten Sie keine falsche Hoffnung. Oder Sie stehen es durch und stimmen jetzt für die Abschaffung dieser Praxisgebühr. (Beifall bei der LINKEN) Im Übrigen: Wenn das Geld beim Bundesfinanzminister bleibt, dann landet es eh bei den Banken. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Insofern wäre es sehr viel besser, es den Versicherten zu geben. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Geht es noch schlimmer?) – Hören Sie zu. – Dass es keinerlei Steuerungswirkung hat, hat sich inzwischen herumgesprochen. Weder hat die Zahl der Arztbesuche abgenommen, noch hat es irgendetwas eingebracht. Allerdings – das muss ich schon sagen – gibt es einzelne Betroffene, die deshalb nicht zum Arzt gegangen sind oder den Arztbesuch verschoben haben. Ich habe es Ihnen schon einmal erzählt: In meiner Anwaltssprechstunde war ein Mann, der hohes Fieber hatte. Ich habe ihm gesagt, dass er zum Arzt gehen müsse; ich glaube, es war der 27. Juni. Daraufhin sagte er zu mir, dass er noch vier Tage warten wolle, um die Praxisgebühr nur einmal zahlen zu müssen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie können ihm ja die 10 Euro geben!) Das ist doch der Gipfel der Unverschämtheit! In einem so reichen Land wie Deutschland muss doch jemand zum Arzt gehen können, wenn er erkrankt ist. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb hoffe ich, dass auch bei der Union endlich die Erleuchtung kommt und die Praxisgebühr abgeschafft wird, und zwar nicht nur vor, sondern auch nach einer Wahl. Mal sehen, wie die FDP dazu in Zukunft stehen wird. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jens Spahn hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jens Spahn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war wieder eine Gysi-Show: unterhaltsam, viel Klamauk, aber im Endergebnis leider wenig Substanz. Deswegen ist das am Ende auch nicht überzeugend. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das kennen wir gar nicht anders!) Dass Sie jetzt sagen, hier würden andere Wahlkampf machen, während Sie wenige Tage vor der Saarland-Wahl hier diesen Antrag durchdrücken, der auf der Tagesordnung gar nicht vorgesehen war, macht doch die ganze Absicht, die dahintersteckt, deutlich: Klamauk, Stimmungsmache, aber wenig Substanz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Billig ist das! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir sammeln keine Unterschriften, aber die FDP!) Wissen Sie, gestern hat genau hier in diesem Plenarsaal in einer Debatte zu diesem Thema große Einigkeit darüber bestanden, dass wir die gute finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung erst einmal dazu nutzen sollten, uns zu freuen. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Ich mache jetzt seit zehn Jahren Gesundheitspolitik. Wir haben zum ersten Mal die Situation, dass wir nicht über Defizite und Kostendämpfung im Gesundheitswesen reden, sondern dass wir erstmals aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung und aufgrund der Spargesetze dieser Koalition Überschüsse im Gesundheitswesen haben. Darüber hinaus war es gestern gemeinsame Überzeugung, zumindest von großen Teilen des Hauses, dass wir angesichts dieser Überschüsse nicht übermütig werden, sondern rücksichtsvoll, vorausschauend handeln sollten, ahnend, dass diese Zeiten nicht immer so gut bleiben müssen und wir diese Rücklage deswegen für schlechte Zeiten behalten und sie nicht leichtfertig für Wahlkampfzwecke aufs Spiel setzen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber die Patientinnen und Patienten hätten die Überschüsse als Erste verdient! – Weitere Zurufe von der LINKEN) – Das ist wieder einmal so typisch. In der vorherigen Debatte hat die Kollegin Bunge gesagt: Wir brauchen mehr Geld für Krankenhäuser. Wir wollen, dass in diesen Bereich mehr Geld investiert wird. – Auch in der Haushaltsdebatte über das Gesundheitswesen stellen Sie sich hier hin und sagen: Wir wollen, dass mehr Geld in die Krankenhäuser investiert wird. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich habe auch gesagt, woher!) Dort soll zusätzliches Geld ausgegeben werden. – Dann haben Sie schnell wieder einmal 1 Milliarde oder 2 Milliarden Euro eingeplant, die für die Prävention ausgegeben werden sollen. Links und rechts werden dann noch ein paar Geschenke verteilt; denn man muss sich ja nicht darum kümmern, woher das Geld kommt. Das fällt schließlich vom Himmel. – Damit sind Sie immer schnell dabei. Wie das allerdings langfristig sauber finanziert wird, ohne dass es dauerhaft zu wirtschaftlichen und finanziellen Problemen kommt, sagen Sie an keiner Stelle. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich habe das wohl gesagt, woher! Lesen Sie es nach!) Das ist unredlich. Deswegen sind Sie es, die sich den Wahlkampfvorwurf gefallen lassen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Zurufe von der LINKEN) Wir jedenfalls sind der Überzeugung, dass den Patienten und den Versicherten in Deutschland am besten gedient ist, wenn wir in dieser aktuellen guten finanziellen Situation nicht leichtfertig handeln, dass wir mittel- und langfristig eine solide Finanzpolitik machen und deswegen mit diesen Überschüssen entsprechend umgehen. Ein anderer Punkt. Sie haben gerade dankenswerterweise auch aus ehemaligen Positionen von Rot und Grün zitiert, als wir die Praxisgebühr gemeinsam eingeführt haben. Hinsichtlich der Steuerungswirkung können wir gerne darüber reden, wie man sie besser gestaltet. Da sind wir sofort dabei. Übrigens kann man auch bei dem Thema Entbürokratisierung über vieles reden. Mich ärgert es bis heute, dass die deutsche Ärzteschaft nicht bereit ist, sich entsprechend einzubringen, etwa was die Gesundheitskarte angeht, um die Abläufe in den Praxen deutlich zu vereinfachen, indem die entsprechenden Vermerke auf der Karte gemacht werden können. Aber es geht bei der Zuzahlung und bei der Praxisgebühr auch darum – ich weiß, dass Sie damit ein Problem haben, aber uns jedenfalls ist das wichtig –, deutlich zu machen, dass Gesundheit etwas wert ist, dass die gute und flächendeckende Infrastruktur unseres Landes und die gute Qualität in der medizinischen Versorgung am Ende nicht umsonst ist, sondern dass sie einen Wert hat. Wenn etwas einen Wert hat, gehört Geld dazu, hier in Form der Praxisgebühr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Diana Golze [DIE LINKE]: Die Patienten zahlen doch Beiträge in die Krankenversicherung! Ist das nichts?) Jetzt sagen Sie: Möglicherweise können sich das manche Menschen nicht leisten. – Dabei lassen Sie wie immer einen Teil der Wahrheit weg. Sie wissen wie ich, dass es Überforderungsklauseln gibt, (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was nützt das denn?) dass niemand mehr als 2 Prozent seines Einkommens für Zuzahlungen und Praxisgebühr insgesamt ausgeben muss, chronisch Kranke sogar nur 1 Prozent ihres Einkommens. Es ist einfache Mathematik, dass 1 Prozent von einem niedrigen Einkommen weniger als 1 Prozent von einem höheren Einkommen ist. Deswegen ist in der ganzen Systematik der Zuzahlungen und Praxisgebühren ein sozialer Ausgleich enthalten. Niemand wird überfordert, aber am Ende haben wir durch Zuzahlung, Eigenbeteiligung und Praxisgebühr ein Zeichen gesetzt: Gesundheit ist etwas wert; sie ist nicht umsonst. Die Infrastruktur bzw. die Möglichkeit, diese Infrastruktur zu nutzen, ist etwas wert, und deswegen ist es insgesamt ein gutes und austariertes System. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Die zahlen doch die Krankenversicherungsbeiträge!) Ich will noch etwas zu dem geschätzten Koalitionspartner sagen. (Zurufe von der LINKEN: Ah!) Es bleibt dabei – das habe ich gestern schon gesagt –: Mich irritiert etwas, dass die Partei, die sonst an verschiedenen Stellen immer mehr Eigenbeteiligung und mehr Zuzahlung fordert und über Kostenerstattung redet, jetzt ein eingeführtes und weitgehend akzeptiertes Instrument der Zuzahlung und Kostenbeteiligung von Versicherten ersatzlos infrage stellt. Wir sind ohne Zweifel – so steht es auch im Koalitionsvertrag – jederzeit bereit, über andere Verfahren und Modelle zu reden. Die ersatzlose Abschaffung wäre aber ein falsches Signal. Wir merken schon jetzt in der ganzen Debatte daran, wie das Thema in den Medien und in der Öffentlichkeit diskutiert wird, wie Sie gerade die Diskussion begonnen haben und wie sie vermutlich in den nächsten 20 Minuten weitergeht, dass es an keiner Stelle wirklich um die Sache geht. Am Ende geht es um Klamauk, Stimmung und eine schnelle Überschrift, aber sicherlich nicht um solide Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne der Versicherten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Edgar Franke hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Edgar Franke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Gysi, grundsätzlich ist der Vorschlag, die Praxisgebühr abzuschaffen, vernünftig und richtig. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Lutz Knopek [FDP]) – Klatschen Sie nicht zu früh! – Allerdings ist der Antrag ohne eine seriöse Gegenfinanzierung rein populistisch. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist richtig! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Er ist doch gegenfinanziert!) Herr Gysi, es ist richtig: Es ist einige wenige Monate her, als wir einen fast deckungsgleichen Antrag der Linken beraten haben. Aber damals, im Oktober 2011, lautete der Titel des Antrags – ich habe ihn mitgebracht –: „Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen – Patientinnen und Patienten entlasten“. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Heute wollen Sie nur die Praxisgebühr abschaffen. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das andere kommt noch!) Damals ging es um 5 Milliarden Euro, die sofort finanziert werden sollten. Ich frage mich: Wie sieht eine se-riöse Gegenfinanzierung aus? Sie fehlt mir in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Bürgerversicherung! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie hoch sind die Überschüsse im Moment?) – Bleiben Sie ganz ruhig. Die Abschaffung ist vernünftig und richtig. Es gibt im Wesentlichen drei Gründe für die Abschaffung. Darin sind wir wieder einer Meinung, Herr Gysi. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist bedenklich!) Erstens. Die Praxisgebühr hat keine Steuerungsfunktion gehabt. Sie hat in der Tat als Steuerungsinstrument versagt. Ziel bei der Einführung war die Vermeidung unnötiger Arztbesuche, damit nicht jeder bei kleineren Erkrankungen zum Arzt geht. Ziel war auch, den Menschen klarzumachen, dass Arztbesuche Geld kosten. Die Praxisgebühr hatte – das wissen alle im Saal – anfangs Erfolg. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ob es jetzt 16, 17 oder 18 Arztbesuche pro Jahr sind, (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Bei chronisch Kranken!) ist ohne Belang. Die neuesten Statistiken besagen jedenfalls, dass die Steuerungswirkung entfallen ist. Im Gegenteil: Wir kennen viele Fälle aus der Praxis, dass Patientinnen und Patienten, wenn sie die Praxisgebühr einmal im Quartal gezahlt haben, vielleicht noch öfter zum Arzt gehen, und sei es, um die Frau im Spiegel oder den aktuellen Fortsetzungsroman zu lesen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist eine Unterstellung! Wenn ich Patient wäre, würde ich keine Sozialdemokraten wählen! Patientenbeschimpfung! Sie haben vielleicht ein Patientenbild! Unglaublich!) Sie ist kein Steuerungsinstrument mehr, sondern in erster Linie – das hat auch Herr Spahn gesagt – ein Finanzierungsinstrument. Der zweite Grund, der für die Abschaffung der Praxisgebühr spricht, ist, dass sie vor allem Kranke und Einkommensschwache trifft und dass die Parität nicht gewahrt ist, weil sie allein von den Versicherten gezahlt wird. Auch darin gebe ich Ihnen recht. (Zurufe von der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Sie schreien sogar, wenn du ihnen recht gibst!) Der dritte Grund ist die Abschaffung der Bürokratie. Denn die Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie- und Verwaltungskosten geführt. Das haben wir gestern diskutiert. Heute war in den Medien von 300 Millionen Euro Bürokratiekosten die Rede. Das ist eine beträchtliche Summe. Auch sie könnte man einsparen, wenn man die Praxisgebühr abschafft. Nun wird immer wieder behauptet – das haben auch Sie, Herr Gysi, getan –, die Praxisgebühr sei von Rot-Grün und insbesondere von Ulla Schmidt eingeführt worden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!) Aber wie ist die Geschichte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wirklich gewesen? In der Tat hatte Rot-Grün damals einen Gesetzentwurf in der Pipeline, der vorsah, Facharztbesuche mit einer Praxisgebühr zu belegen. Ziel war es, die Gesundheitsversorgung effizienter zu machen und die Lotsenfunktion des Hausarztes zu stärken. Das waren unsere Gründe. Was haben Sie im Vermittlungsausschuss gemacht? Ihr damaliger Verhandlungsführer Horst Seehofer wollte jeden Arztbesuch mit einer Gebühr belegen. Die Praxisgebühr ist damals als Kompromiss aus den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss herausgekommen. Es handelt sich also nicht um eine Ulla-Schmidt-Gebühr, sondern eher um eine Horst-Seehofer-Gebühr. (Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Geschichtsklitterung!) Herr Singhammer, Horst Seehofer hat damals am nächsten Morgen auf der Pressekonferenz gesagt, es sei die schönste Nacht seines Lebens gewesen. Wenn das seine schönste Nacht gewesen ist, dann möchte ich nicht wissen, wie seine schlimmsten Nächte aussehen. (Heiterkeit bei der SPD) Wie sieht – hören Sie bitte zu – die Gegenfinanzierung aus, Herr Gysi? Wir brauchen 2 Milliarden Euro pro Jahr bzw. vielleicht nur 1,5 Milliarden Euro wegen der Überforderungsklausel, die Herr Spahn vorhin zu Recht angesprochen hat. Wir brauchen aber eine seriöse Gegenfinanzierung. In Richtung der Koalition sage ich: Man kann nicht alles so lassen, wie es ist. Denn was würde passieren, wenn man die 20 Milliarden Euro an Liquidität im System belassen würde? Sie würden sich nur neue Beglückungsprogramme für Ihre Fachärzte ausdenken, nichts weiter. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wenn Sie solche Programme nicht auflegten, würden Sie das Geld vielleicht Minister Schäuble geben, oder er würde es sich holen. Wie heute zu lesen ist, muss er wieder mehr Schulden machen. Da ist ihm sicherlich jeder Euro recht. Er würde auch die Euros aus dem Gesundheitsbereich nehmen. Da gebe ich Ihnen recht. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Dann stimmen Sie mal zu!) Ein paar konkrete Punkte zur Gegenfinanzierung. Wir können die Gegenfinanzierung zunächst mithilfe der Rücklagen in Höhe von 20 Milliarden Euro sicherstellen. Die entscheidenden Fragen lauten aber, wie lange das reicht (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!) und wie sich die Konjunktur entwickeln wird. Das sind zwei entscheidende Punkte. (Beifall des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]) Aber, lieber Herr Spahn, bis 2013 wird es noch reichen. Dann wird die SPD die Wahl gewinnen (Lachen des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]) und die Bürgerversicherung eingeführt. Dadurch werden wir die Einnahmebasis verbreitern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir werden die Einnahmen auch dadurch erhöhen, dass wir die Parität wiederherstellen. Das heißt, alle zahlen in ein System. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen nominell den gleichen Anteil. Wenn man das macht, erzielt man höhere Einnahmen und verbreitert die Einnahmebasis. Dann sind solche Summen wie 2 Milliarden oder 1,5 Milliarden Euro ohne Weiteres gegenzufinanzieren. Wir wollen des Weiteren die Position der Hausärzte stärken. Eine hausarztzentrierte Versorgung steigert die Wirtschaftlichkeit und verbessert die Versorgung und vor allen Dingen deren Qualität. Auch hier sind Effi-zienzreserven zu heben. Letztendlich sollte man nicht vergessen: Wenn wir vom Einheitsbeitragssatz wegkommen und den Krankenkassen wieder Beitragsautonomie geben, dann können wir selber das System ein Stück weit refinanzieren. Gerade die FDP müsste eigentlich dafür sein, den Krankenkassen die Beitragsautonomie zurückzugeben. Dann würden die Krankenkassen untereinander wieder im Wettbewerb stehen. (Beifall des Abg. Dr. Lutz Knopek [FDP]) Der momentan geltende Einheitsbeitragssatz hat zur Folge, dass kein Wettbewerb zwischen den Krankenkassen stattfindet. Darüber sollte gerade die FDP nachdenken. Das kann sicherlich nicht schaden. Herr Gysi, insgesamt handelt es sich bei der Vorlage Ihrer Fraktion um einen populistischen Antrag der Linken, um einen Antrag, der nicht ganz zu Ende gedacht ist. Jetzt kommt es darauf an, aus einem populistischen Gedanken einen populären und ausgereiften Antrag zu machen. Das erwarten die Menschen von uns zu Recht. Sie müssen noch zwei Wochen warten. Dann kommt der Antrag der SPD. Ich danke Ihnen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Lars Lindemann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lars Lindemann (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten bereits gestern in der Aktuellen Stunde auf Initiative der SPD Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten, wie wir mit den Überschüssen in der gesetzlichen Krankenver-sicherung umgehen. Da wurde vieles gesagt, und es wurde vieles vorgeschlagen. Heute debattieren wir einen Antrag der Linken, in dem Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das aufnehmen, was die FDP seit längerer Zeit geschlossen fordert, nämlich die Abschaffung der Praxisgebühr. (Widerspruch bei der LINKEN) – Warten Sie doch erst einmal ab. Lassen Sie mich aber zunächst einmal zu dem Hintergrund kommen, vor dem wir diesen Antrag hier und heute debattieren. Die schwarz-gelbe Koalition hat 2009 die Regierung übernommen, und wir standen damals vor heftigen Herausforderungen. Es drohte unter anderem ein Defizit von 11 Milliarden Euro im GKV-System. Da nützt es wenig, lieber Kollege Franke, wenn Sie, wie gestern, Zahlen aus dem BMG durch die Reihen reichen und auf vermeintliche Rücklagen zum damaligen Zeitpunkt hinweisen. Es ging damals darum, was der GKV bei unveränderter Fortsetzung dessen, was Sie bis dahin gesundheitspolitisch geleistet hatten, gedroht hätte. Darum ging es am gestrigen Tag. Es ist auch nicht redlich, den damals bevorstehenden Einbruch heute in Abrede zu stellen. Kollege Lauterbach, der übrigens der lauteste Rufer in der von Ihnen zu verantwortenden gesundheitspolitischen Wüste war, hat damals vor dem Hintergrund des drohenden Defizits die Regierung wegen Untätigkeit kritisiert. Um Ihre Unterstellung, dies sei alles nicht so gewesen, ein für alle Mal zu widerlegen, darf ich mit Genehmigung der Präsidentin aus Drucksache 17/1201 zitieren: Für das Jahr 2011 gehen vorsichtige Schätzungen von einem Defizit in Höhe von mindestens 11 Mrd. Euro aus. Lieber Kollege Franke, damit dürfte diese Diskussion auch beendet sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie, Frau Bunge, haben vor diesem Hintergrund im Dezember 2009 erklärt, die schwarz-gelbe Regierung schaue zu, wie die gesetzliche Krankenversicherung vor die Wand fahre. Diese Wand aus rund 20 Milliarden Euro, liebe Frau Kollegin, welche die gesetzliche Krankenversicherung heute stabil hält, ist ganz sicher nicht das schlechteste Ergebnis christlich-liberaler Politik. Frau Pfeiffer vom GKV-Spitzenverband warnte damals vor Ausgabensteigerungen ins Uferlose. Lieber Kollege Franke, Sie wollen ja ganz sicher nicht unterstellen, dass Frau Pfeiffer solche Szenarien grundlos an die Wand malt. Was hat die christlich-liberale Koalition tatsächlich getan? (Hilde Mattheis [SPD]: Gute Frage, Herr Lindemann!) Was hat zu der heutigen, überaus positiven Situation geführt, dass wir überhaupt Spielräume haben, um über Korrekturen in dem System nachdenken zu können? Die Koalition hat sich darangemacht, das System auf der Finanzierungsseite neu zu ordnen. Das war der erste Beitrag zu stabilen Verhältnissen. Sodann haben wir uns rasch der Ausgabenseite zugewandt. Insbesondere im Arzneimittelbereich haben wir uns den Herausforderungen gestellt, vor denen Sie leider immer wieder weggelaufen sind. Wir haben uns des Grundproblems des Arzneimittelbereichs angenommen und mit dem AMNOG nicht nur eine Nutzenbewertung in das System eingeführt, sondern darüber hinaus die Preisbildung wieder auf den Boden der sozialen Marktwirtschaft geholt. Jetzt wird über die Preise von Arzneimitteln vernünftig verhandelt. Dies war ein klares Bekenntnis der christlich--liberalen Koalition zur sozialen Marktwirtschaft auch im Gesundheitsbereich. Ich weiß, dass Ihnen das wehtut, dass Sie um solche Fragen gerne einen Bogen machen. Deswegen will ich die Menschen in diesem Land gerne noch einmal daran erinnern, was Gerhard Schröder – das ist, auch wenn Sie das ebenfalls nicht mehr hören wollen, der mit der Agenda 2010 – damals gemacht hat. Es war der Kanzler der SPD, der, wie man das als ordentlicher Sozialist macht, die Pharmaindustrie zum Rotwein ins Kanzleramt einbestellt und sich dann zu einer netten und an den bescheidenen Wünschen des Gastes orientierten Zahlung verpflichtet hat. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Reden Sie eigentlich noch zur Sache?) Ich nenne das einen verantwortungslosen Ablasshandel, meine sehr geehrten Kollegen von der SPD. (Beifall bei der FDP) Das ist im Übrigen auch der Gerhard Schröder, der in seiner Regierungszeit mit Ihnen, liebe Kollegen von den Grünen, jede Woche mit der Vertrauensfrage gedroht und sie dann auch zweimal gestellt hat. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben? Sagen Sie doch etwas zum Thema!) Diese christlich-liberale Koalition hat bisher zweieinhalb Jahre solide Gesundheitspolitik gemacht und damit zunächst einmal die Grundlage und die Freiräume für die heutige Diskussion geschaffen. Nun halten Sie uns mit Blick auf diese solide Situation vor, es gebe in der christlich-liberalen Koalition Streit über die Frage, wie mit der Praxisgebühr umzugehen ist. Ich bitte Sie, gerade Sie von den Grünen und der SPD. Sie haben sich wegen so fundamentaler Fragen wie dem Dosenpfand fast zerlegt. Deswegen glaube ich nicht, dass gerade wir von Ihnen irgendwelche Vorhaltungen entgegenzunehmen brauchen. Ich bekenne hier ausdrücklich: Wir von der FDP sind geschlossen für die Abschaffung der Praxisgebühr, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) die keine Steuerungswirkung hat und deren Funktion sich derzeit allein auf die Einnahmeerhöhung im System und bürokratische Auswüchse beschränkt. Wenn es denn aber in den Reihen unseres Koalitionspartners Vorstellungen gibt, die Praxisgebühr beizubehalten, weil ihr eine neue Steuerungswirkung beigelegt werden soll, die zu höherer Eigenverantwortung und so tatsächlich zu verantwortungsvollerem Umgang mit den begrenzten Ressourcen im System führt, dann werden wir darüber selbstverständlich mit der Union sprechen. Im Laufe solcher Gespräche brauchen wir aber weder Belehrungen von der Opposition noch Anträge wie diesen zur Sofortabstimmung, den wir selbstverständlich ablehnen werden. Es wird bei der Frage des Umgang mit der Praxisgebühr eine Lösung geben, die allen gesetzlich Versicherten in diesem Land nützen wird. Das ist das Credo der gemeinsamen Politik mit der Union. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das war sehr gehaltvoll! Wir haben viel gelernt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Harald Terpe hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Krankenkassenbeiträge sind das Geld der Versicherten, die meines Erachtens einen Anspruch auf verantwortungsvollen und zweckdienlichen Umgang mit diesen Beiträgen haben. Es bedarf also guter Gründe im Falle kumulierender Überschüsse, diese den Versicherten vorzuenthalten. Ja, wir haben Überschüsse, vor allem weil die Versicherten mit dem höchsten Einheitsbeitrag der Geschichte in Vorleistung gegangen sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und weil die konjunkturelle Entwicklung in der letzten Zeit günstig verlaufen ist. Ist diese Entwicklung aber nachhaltig? Das ist doch die Frage. Zumindest wissen wir, dass die Finanzierung der Sozialsysteme mit dem Konjunkturverlauf atmet, wir wissen aber auch, dass sie vor allem nachhaltig ausgestattet werden muss. Das System der Zusatzbeiträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, ist alles andere als nachhaltig, und zwar besonders deshalb, weil es das Solidarprinzip aushöhlt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der -LINKEN) Aber Überlegungen nach Art der Redewendung „Der kluge Mensch baut vor“ gehören für uns natürlich auch zur nachhaltigen Betrachtung. Wir kommen nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss, dass es Spielraum für die Abschaffung der Praxisgebühr gibt. Man könnte jetzt sagen, damit wäre die Sache zu Ende, aber wir wollen uns noch mit der FDP beschäftigen. (Beifall bei der SPD) Das werden wir gleich machen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Praxisgebühr 2004 beschlossen wurde und die zugedachte Funktion nicht erfüllt hat. Das haben viele hier schon gesagt. Sie gehört deshalb abgeschafft. Für uns ist es wichtig, die dadurch entstehenden Einnahmeausfälle der Krankenkassen durch den Gesundheitsfonds auszugleichen oder besser noch durch den Beitragssatzwettbewerb der Krankenkassen, den wir gerne wieder einführen wollen. Die Kolleginnen und Kollegen der FDP haben voller Überzeugung gesagt, nichts lieber machen zu wollen, als die Praxisgebühr abzuschaffen. Das ist gestern und heute noch einmal gesagt worden. Somit könnte der heutige Tag für Sie ein guter Tag werden. Sie könnten gemeinsam mit uns hier und jetzt für die Abschaffung der Praxisgebühr stimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Dann würden wir sehen, ob es sich nur um ein Schauspiel handelt oder ob es wirklich Ihr Wille ist. Sie waren jedenfalls schon 2004 nicht diejenigen, die sich vehement gegen die Praxisgebühr gewendet haben. Vielmehr hatte Ihr damaliger Diskutant Herr Gerhardt Ihre Gesundheitspolitik hier begründet. Sein Konzept bestand im Wesentlichen darin, dass er die gesetzliche Krankenversicherung durch eine kapitalgedeckte Privatversicherung ersetzen wollte und dass er die Beschränkung des Leistungskatalogs der solidarischen Krankenversicherung gefordert hat. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So war das!) Warum sammeln Sie nicht einfach dafür Unterschriften in Kiel, Neumünster und Lübeck? Ich wäre gespannt, wie die Menschen auf der Straße damit umgehen würden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der -LINKEN) Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich glaube, es geht Ihnen gar nicht darum, für die Patienten etwas Gutes zu tun oder vielleicht die Versicherten zu entlasten. Dieser Eindruck drängt sich mir auch deswegen auf, weil zur gleichen Zeit, in der Sie in Schleswig-Holstein Unterschriften für die Abschaffung der Praxisgebühr sammeln, Ihr Gesundheitsminister in Berlin ein Kompensationsgeschäft mit dem Finanzminister eingeht. Finanzminister Schäuble darf den steuerlichen Sozialausgleich einsammeln, (Zuruf von der LINKEN) im Gegenzug erhält Ihr Minister 200 Millionen Euro für seine Idee einer privaten Pflegezusatzversicherung. Die gesetzlich Versicherten bezahlen also letztlich mit ihren Zusatzbeiträgen dieses Geschenk der FDP an die privaten Versicherungsunternehmen. (Zuruf von der LINKEN: Ja, und das ist ein Skandal!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben jetzt gleich die Möglichkeit, sich zu beweisen und das Schmierentheater zu beenden, indem Sie mit uns zusammen für die Abschaffung der Praxisgebühr stimmen. Geben Sie sich einen Ruck! Dann müssen Sie auch nicht auf den Straßen von Schleswig-Holstein herumstehen und Unterschriften sammeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der -LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht unser Kollege Stephan Stracke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Stephan Stracke (CDU/CSU): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Präsidentin! Diese christlich-liberale Koalition und die Gesundheitspolitik der christlich-liberalen Koalition sind erfolgreich, (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr erfolgreich!) so erfolgreich, dass es schon wieder Begehrlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen gibt, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Schäuble!) sei es aus dem Bereich der Pharmaindustrie, die den verschärften Zwangsrabatt wieder abmildern möchte, sei es aus der Ärzteschaft, sei es aus dem Bereich der Krankenhäuser oder sei es auch aus der Politik. Vor allem von den Linken (Zuruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) kommen ja immer wieder Vorschläge, wie man das Geld möglichst gut ausgeben könnte. Die Gesundheitspolitik unserer christlich-liberalen Koalition zeichnet sich zunächst einmal durch solide Finanzen aus. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!) Das ist alles andere als selbstverständlich. Wir erinnern uns ja, einige wahrscheinlich etwas düsterer, daran, dass für 2011 ein Defizit von bis zu 11 Milliarden Euro prognostiziert wurde. Dieses prognostizierte Defizit haben wir nun in Überschüsse in Höhe von über 20 Milliarden Euro gewandelt. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist ein Erfolg!) Das ist der Erfolg der christlich-liberalen Koalition und ihrer Gesundheitspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Statt Defizite, wie es beispielsweise 2003 bei Rot-Grün mit 8 Milliarden Euro der Fall war, haben wir nun Überschüsse. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das tut Deutschland gut, und das tut den Versicherten gut. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist natürlich Anlass zur Freude, weil die Versicherten wissen: Mit einer soliden Finanzpolitik gerade in der gesetzlichen Krankenversicherung stellen wir sicher, (Zuruf des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) dass unser hervorragendes Gesundheitssystem auch in Zukunft gut sein wird. Genau das ist das Entscheidende für die Patienten. Jetzt gilt es, klar und überlegt zu handeln. Da hat ja die SPD – Herr Franke hat ja gerade vorher gesprochen – entsprechenden Diskussionsbedarf in den eigenen Reihen. Sie sagt, sie könne jetzt dem Antrag der Linken nur sehr schwer folgen, es komme ein eigener Antrag der SPD. Ich bin einmal gespannt, ob der mit Substanz unterlegt ist. Zum Ersten gehen Sie irrtümlich davon aus, dass Sie 2013 an der Regierung sein werden. Das wird nicht der Fall sein, sondern diese christlich-liberale Koalition wird ihre erfolgreiche Politik zum Wohle Deutschlands fortführen. Davon können Sie ganz sicher ausgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Haben Sie schon genügend FDP-Wähler dafür?) Zum Zweiten haben Sie keinen Vorschlag gemacht, wie Sie die Abschaffung der Praxisgebühr seriös finanzieren wollen. Keinen einzigen Vorschlag! Deswegen muss man sich vor Augen halten: 2 Milliarden Euro tragen zwar für zwei Jahre, aber nicht länger. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich wieder um diese Hand-in-den-Mund-Politik, wie sie die Roten am liebsten machen, von den Kommunisten ganz zu schweigen. Deswegen gehen wir diesen Weg nicht mit. Wir setzen auf eine solide Politik, weil wir genau wissen, dass die Reserve über einen Zeitraum von zwei Jahren hinaus nicht reichen wird. Deshalb können wir keine andere Position vertreten. Unsere kluge Finanzpolitik in der gesetzlichen Krankenversicherung zeichnet sich dadurch aus, dass wir Ruhe bewahren und Gelassenheit an den Tag legen. Wir lassen zunächst einmal dieses Geld bei uns. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, „bei uns“! Die Krankenkasse ist doch keine Sparkasse!) Ein Familienvater würde genauso entscheiden. Würde er ein angespartes Guthaben auf den Kopf hauen, wenn er absehen kann, dass Ausgaben in der Zukunft anstehen? Vermutlich. So würde Ihre Antwort lauten. Aber wenn Sie an seiner Stelle wären, würden Sie sich ganz anders entscheiden. Oder nehmen Sie einen Vorsitzenden, dessen Verein gut gewirtschaftet hat und der durch Vertragsverlängerungen, die in der Zukunft anstehen, die Spieler seiner Mannschaft halten möchte. Wird er die überschüssigen Einnahmen in Form von niedrigeren Ticketpreisen sofort weitergeben? Nein, das wird vermutlich nicht geschehen. Genauso handeln wir in der gesetzlichen Krankenversicherung. Was das Gesundheitsministerium feststellt, ist doch richtig, nämlich dass mit 5 Milliarden Euro ein ökonomisch sinnvoller Puffer für ein nachhaltig finanziertes Krankenversicherungssystem nicht erreicht ist. Ich darf daran erinnern: 5 Milliarden Euro Puffer sind in zehn Tagen aufgebraucht. Ist das wirklich nachhaltig? Kann man guten Gewissens einem Abbau dieses Puffers zustimmen? Wir sagen, nein. Nach unserer Auffassung ist es der richtige Weg, zunächst einmal das Pulver trockenzuhalten und klug und überlegt zu handeln. In diesem Sinne empfehle ich die Ablehnung des Antrags der Linken. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zum Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9031 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen“. Die Fraktion Die Linke wünscht Abstimmung in der Sache, die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung an den Ausschuss für Gesundheit. Die Abstimmung über die Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksache 17/9031 nicht ab. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8722 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ewa Klamt, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung – Drucksachen 17/6504, 17/9024 – Berichterstattung: Abgeordnete Ewa Klamt René Röspel Dr. Peter Röhlinger Dr. Petra Sitte Krista Sager Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Thomas Rachel das Wort für die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir erleben derzeit ein kontinuierliches weltweites Wachstum der Bevölkerung. Schon mehr als 7 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Diese Menschen brauchen eine gesicherte und vielfältige Ernährung. Das erfordert eine ausreichende Produktion und eine gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln. Die Produktion der Nahrungsmittel wird zunehmend von klimatischen Veränderungen beeinflusst. Wichtige Ressourcen wie beispielsweise die Böden erodieren, und Anbauflächen werden knapper. Eine der Auswirkungen sind stark schwankende Preise auf den internationalen Agrarmärkten. Dies trifft häufig die Ärmsten am stärksten. Ernährungssicherheit für alle Menschen heißt auch, einen tatsächlichen Zugang zu Lebensmitteln zu haben. Dazu kann und will die Forschung einen Beitrag leisten und sich in den Dienst der Gesellschaft stellen. So wird zum Beispiel in der „Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ der Bundesregierung die wichtige Aufgabe, die weltweite Ernährung zu sichern, als eines von fünf Handlungsfeldern genannt. Ein Beispiel ist die Verbesserung des Saatguts. Wir unterstützen die Pflanzenzüchtungen. Erträge konnten gesteigert werden, die Qualität und die Widerstandsfähigkeit der Pflanzen konnten verbessert werden. Wir wollen Pflanzen mit hoher Resistenz gegen Stress entwickeln. Aber Pflanzenzüchtung ist nur ein Aspekt. So vielfältig die Ursachen für eine Mangel- und Fehlernährung sind, so vielfältig müssen auch die Lösungsansätze sein. Wir brauchen unterschiedliche wissenschaftliche Diszi-plinen. Wir wollen, dass die Ergebnisse von den Bäuerinnen und Bauern in ihrem Lebensalltag umgesetzt -werden können. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen mit einbezogen werden. Deshalb brauchen wir stärkere Brücken zwischen naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weitere Themen sind die ökologische Graslandwirtschaft, die Vermeidung von Nachernteverlusten und die Biodiversität von Agrarflächen. Die „Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ hat zum Ziel, ressourcenintensive und umweltbelastende Verfahren durch nachhaltige biologische Prozesse abzulösen. Bei der Frage, ob Biomasse in den Tank oder auf den Teller gehört, will die Forschung Signale setzen. Das BMBF hat die Förderinitiative „Globale Ernährungssicherung – GlobE“ entwickelt. Wer sich die Welthungerkarte des Jahres 2011 ansieht, der erkennt, dass die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln in Afrika am schlimmsten ist. In Teilen von Afrika sind rund 35 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Aufgrund dieser ganz besonderen Betroffenheit wurde der afrikanische Kontinent auch regionaler Schwerpunkt für die Förderaktivitäten des BMBF. Drei Punkte der Initiative möchte ich herausheben. Erstens: Partnerschaftlichkeit und regionale Anpassung. Wir wollen eine partnerschaftliche Zusammen-arbeit zwischen deutschen und afrikanischen Forscherinnen und Forschern bei der Analyse und der Auswahl des Forschungsansatzes. Wir wollen, dass Wahlfreiheit über die geeigneten Methoden und Verfahren gewährleistet wird. Die Entscheidung sollte nicht von außen bestimmt werden, sondern sie sollte im Einklang mit den regionalen Bedürfnissen und Strategien getroffen werden; denn Forschungsergebnisse entfalten ihre Wirksamkeit nur dort, wo sie tatsächlich aufgegriffen und in der Praxis umgesetzt werden. Wir wollen die aktive Beteiligung vor Ort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens: systemische Orientierung. Bei dem weltweiten Nahrungssystem haben wir es mit vielen Faktoren zu tun: Boden, Anbauweise, Lagerung, soziale Strukturen, Vermarktung und nicht zuletzt klimatische Faktoren. Das System beginnt beim Mikroorganismus, der die Bodenfruchtbarkeit reguliert, und geht bis zu den globalen Handelssystemen, welche die Agrarpreise mitbestimmen. Wir müssen insofern die Komplexität der Nahrungssysteme in den Blick nehmen. Dafür ist eine ganzheitliche Systembetrachtung erforderlich. Wir gehen insofern über die Empfehlungen des Berichts des TAB „Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung“ hinaus. Drittens: Ressortzusammenarbeit. Wir wollen in der Bundesregierung interdisziplinär zusammenarbeiten. Im Ressortkreis „Welternährung“ arbeiten das Bundeslandwirtschaftsministerium – ich sehe hier den Kollegen Staatssekretär Gerd Müller –, das BMZ und das BMBF bei der Verzahnung der gemeinsamen Förderinstrumente in der internationalen Agrarforschung zusammen. Diese gute Zusammenarbeit ist die Grundlage für den Wissens-transfer in die Praxis vor Ort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In der „Strategie der Bundesregierung zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung“ haben wir die Zusammenarbeit mit Schwellen- und Entwicklungsländern im Sinne einer globalen Verantwortung in den Mittelpunkt gestellt. Das Forschungsministerium unterstützt unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ den Aufbau von Kompetenzzentren „Klimawandel und angepasstes Landmanagement in Afrika“. Im Februar hat das BMBF Kooperationsverträge mit zehn westafrikanischen Ländern geschlossen und eine Kooperation auf Augenhöhe vereinbart. Deutsche Wissenschaftler erforschen mit afrikanischen Wissenschaftlern die örtlichen Auswirkungen des Klimawandels und erarbeiten konkrete Maßnahmen zum Umgang mit dem Klimawandel. Für dieses Zentrum und ein vergleichbares Zentrum im südlichen Afrika, dessen Kooperationsvertrag Frau Ministerin Schavan im April unterschreiben wird, wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung 100 Millionen Euro bereitstellen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sehen: Mit diesen ganz unterschiedlichen Ansätzen begegnen wir dem Problem der Welternährung. Forschung kann und muss einen wesentlichen Beitrag zu einer verbesserten Ernährungssituation weltweit leisten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: René Röspel hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) René Röspel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf vorab sagen: Wir sind froh, dass die Koalition einen Antrag zum Thema „Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“ vorlegt. Mir ist zwar nicht ganz klar, warum die Bundesregierung mit der Diskussion über einen solchen Antrag beginnt, aber vielleicht ergibt sich das ja im weiteren Verlauf der Debatte. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass die Welt-ernährung im Sinne der Solidarität auch in der Ersten und in der Zweiten Welt eine der Hauptaufgaben ist. Wir sind uns allerdings nicht darüber einig – das waren wir auch in den letzten Jahren nicht –, wie der Weg dahin beschritten werden sollte, die Welternährung sicherzustellen und den Hunger weltweit zu bekämpfen. Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren. Sie schreiben: Durch Forschung und Wissenstransfer muss die Wissenschaft zum Aufbau funktionierender, an veränderte klimatische Bedingungen angepasste Ernährungssysteme in den von Hunger betroffenen Regionen beitragen … Und: Produktionssteigerung und Nachernteverluste müssen auch unter Einbeziehung neuer Technologien verstärkt von der Forschung aufgegriffen werden. Diese neuen Technologien sind notwendig, um modernes Saatgut, Pflanzenschutz und Düngemittel zu entwickeln … Die Chancen der Grünen Gentechnik … sollten genutzt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wir finden Ihre Zielsetzung, die Welternährung sicherzustellen, richtig. Wir haben in Ihrem Antrag auch einige Sätze gefunden, die wir im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung unterstützen können. Aber die Sprache Ihres Antrags – in ähnlicher Weise hat sich vorhin auch der Staatssekretär für die Bundesregierung geäußert – lässt uns leider vermuten, dass es bei den Fraktionen von FDP und CDU/CSU möglicherweise einen Rückfall in die Zeiten und in den Duktus der letzten Jahre gegeben hat. Wir haben häufig genug Anträge diskutiert, wie wichtig denn die Grüne Gentechnik zur -Rettung der Welternährung und zur Bekämpfung des Hungers sei. Vielleicht war das ein Beitrag der Bundesregierung, noch einmal hervorzuheben, dass wir durch eine Verbesserung des Saatguts zur weltweiten Ernährung beitragen könnten. Herr Staatssekretär, im Zusammenhang mit der Forschungsstrategie BioÖkonomie spiegelt die Zusammensetzung des BioÖkonomieRats – also eines wesentlichen Gremiums – nicht die Intention wider, etwas für den ökologischen Landbau, für Entwicklungspolitik zu machen. Ich habe gar nichts gegen die Personen, aber der Rat setzt sich zusammen aus den Vertretern der großen Konzerne und den Vertretern der wissenschaftlichen Institutionen. Dort ist man mit Technik oder Biologie befasst, aber nicht mit Sozialwissenschaften, und damit nicht mit der Welternährung im engeren Sinn. Genau das ist unser Kritikpunkt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Sprache in dem Antrag suggeriert: Wir als westliche Welt entwickeln die Technologie und die Methoden. Diese geben wir dann der Dritten Welt, damit sie dort Anwendung finden. Das ist der falsche Weg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Im Ausschuss – leider nicht hier – haben wir den Antrag gemeinsam mit dem Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beraten, den Sie zwar auch erwähnen – Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems –, in den Sie aber, glaube ich, nicht hineingeschaut haben. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ein hervor-ragender Bericht!) Denn daraus ergeben sich andere Schlussfolgerungen und andere Wahrnehmungen. Ich will es plakativ sagen: Im TAB-Bericht steht: 1 Milliarde Menschen auf der Welt leidet Hunger. 1 Milliarde Menschen auf der Welt ist übergewichtig und fehlernährt. Das kann man natürlich nicht pauschal saldieren, aber es zeigt einen Kernpunkt, der auch im Bericht erwähnt wird: Seit Jahrzehnten gibt es eine weltweite Überproduktion von Nahrungsmitteln. Wenn wir über ein Welternährungsproblem reden, reden wir nicht über ein Mangelproblem, sondern wir reden über ein Armutsproblem und in erster Linie über ein Verteilungsproblem. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sind in der Lage, genügend Nahrungsmittel zu produzieren, und zwar für alle Menschen auf dieser Welt und noch viel mehr. Wir schaffen es aber nicht, die Ernährung sicherzustellen, weil die Verteilung nicht funktioniert. Die Lösung dieses Problems wird man sicherlich nicht in erster Linie über Technikansätze finden, sondern über gesellschaftliche und politische Ansätze. Dazu braucht man eben auch zum Beispiel die Sozialwissenschaften. Sie hätten in den TAB-Bericht schauen sollen. Es gibt im Antrag einige Ansatzpunkte, die vernünftig sind. Aber es wird zum Beispiel auch gefordert, dass die Grundnahrungspflanzen Mais, Reis, Weizen und Soja in den Blick genommen werden sollen. Das sind genau die Pflanzen, bei denen in der Regel weltweit die Gentechnik genutzt wird. Im Bericht des TAB – ein sehr differenzierter, guter Bericht – finden Sie ein ganzes Kapitel über sogenannte vernachlässigte Kulturpflanzen. Das sind diejenigen Pflanzen, die in den betroffenen Regionen existieren, die nicht nur an die geografischen Standorte angepasst sind, sondern auch – das ist eigentlich viel wichtiger – an die dortigen sozioökonomischen Verhältnisse; das heißt, die Bauern haben jahrhundertelang gelernt, mit diesen Pflanzen umzugehen. Jetzt kommt – etwas verkürzt gesagt – das neue Saatgut, die neuen westlichen Hightechpflanzen, und sollen die Rettung bringen. Es wäre sinnvoll, zu erforschen – es gibt in diesem Bereich einen großen Forschungsbedarf –, wie die alten Sorten, die vernachlässigten Kulturpflanzen vor Ort vernünftig und mit höherer Effizienz angebaut werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zweiter Punkt. Ein wichtiger Aspekt im TAB-Bericht, der überhaupt nicht erwähnt wurde – weder im Antrag noch gerade von der Bundesregierung –, ist der Bereich des Ökolandbaus in Entwicklungsländern. Ich fand die Aussage im TAB-Bericht schon sehr spannend: Der Ökolandbau in Deutschland bringt im Vergleich zum konventionellen Landbau nur 80 Prozent der Erträge; aber der Ökolandbau in den Entwicklungsländern bringt in der Regel 80 Prozent mehr Ertrag als der konventionelle Landbau. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr richtig!) Das hat mit der Düngesituation und anderem zu tun. Es zeigt: Hier besteht ein großer Bedarf für Forschung. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Die rot-grüne Regierung hat 2002 ein Bundesprogramm Ökologischer Landbau, damals mit einem Volumen von 35 Millionen Euro, gestartet. Wir stellen fest, dass dieser Ansatz heute, im Jahre 2011, um mehr als die Hälfte reduziert ist. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Unerhört!) Es wäre ein wichtiger Punkt, hier auch für die Dritte Welt und die Betroffenen verstärkt Forschung zu betreiben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein wichtiger Punkt ist auch der Beitrag der Kleinbauern vor Ort zur Ernährung der Region; er wird immer unterschätzt. Dazu kein Wort seitens der Bundesregierung oder im Antrag. Es muss leider eine private Stiftung sein – trotzdem danke schön! –, die Stiftung Mercator, die zusammen mit der ETH, einer Hochschule in Zürich, ein 5-Millionen-Franken-Projekt auf den Weg bringt, bei dem es darum geht, nachhaltige Landwirtschaft und die Bedeutung von Kleinbauern in den Regionen einmal wirklich zu erforschen und ihre Situation zu verbessern. Man schaut auf das, was wichtig ist, nämlich darauf, wie die Situation der Kleinbauern in den betroffenen Regionen verbessert werden kann. Warum macht das eine private Stiftung? Wo ist da der Bund? Wo ist die Initiative Ihrer Regierung in dieser Frage? Das wäre ein richtiger Ansatzpunkt gewesen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die mangelnde Initiative hat vielleicht damit zu tun, dass es – auch das ist ein Anregungspunkt aus dem Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung – eine Marginalisierung der agrarwissenschaftlichen Forschung in Deutschland gibt, gerade in den Bereichen Agrarsoziologie und Agrarökonomie. Es wird überwiegend auf die Technik geschaut; aber die Beschäftigung mit den anderen Fragestellungen wird seit Jahren zurückgeführt: Wie wird richtig angepflanzt? Wie ist im Umfeld besonderer geografischer oder ökonomischer Bedingungen vorzugehen? Es wäre angezeigt, eine Initiative für mehr agrarwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich auf den Weg zu bringen. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Das schließt die Frage ein, wie es eigentlich gewährleistet werden kann, dass die Bauern einen fairen Zugang zu dem bekommen, was sie selbst erwirtschaften, Stichwort, wie es so schön auf Neudeutsch heißt: Access and Benefit Sharing. Also: Wir sehen, dass es viele Chancen und Verpflichtungen gibt, auch für unser Land. Wir finden, dass gerade in dem TAB-Bericht ein Füllhorn von Möglichkeiten genannt wird, die Sie hätten nutzen und in Ihren Antrag einbringen können. Das ist nicht passiert. Das bedauern wir genauso wie die technische Orientierung des Antrags. Deswegen werden wir weiterhin einen anderen, ganzheitlicheren Weg wählen und Ihrem Antrag nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Peter Röhlinger (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Thema ist zweifelsohne ein Megathema. Denjenigen, die zum ersten Mal in den Bundestag gekommen sind, und den Zuschauern will ich sagen: Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben auch in einer der letzten Sitzungswochen mit diesem Thema beschäftigt. Wir haben unter anderem über die „Nationale Forschungsstrategie Bioökonomie“ und auch über ein Thema, das mich besonders interessiert, nämlich die vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten, diskutiert. Denn jeder weiß, dass man nicht über Ernährung sprechen kann, ohne auch über Hygiene und über die Versorgung mit sauberem Wasser zu sprechen. Unser heutiger Antrag und die Maßnahmen der Bundesregierung sind gedacht als Beitrag zur Bekämpfung von Hunger und Mangelernährung. Das betrifft vor allem die Bevölkerung in Entwicklungsländern. Wir können das Problem in seiner ganzen Komplexität mit den jetzigen Vorlagen zwar nicht lösen, aber wir können zur Lösung beitragen. Auch der TAB-Bericht konzentriert sich auf die Frage, welchen Beitrag die Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems leisten kann. Nun will ich für Sie kurz erklären: Was heißt TAB-Bericht? Das ist das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Dieses Büro erarbeitet Gutachten und stellt den Abgeordneten die Ergebnisse regelmäßig vor. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz hervorragend!) Es freut uns, dass der TAB-Bericht zum Beispiel die Fördermaßnahme „globale Ernährungssicherung“ der Bundesregierung lobt. Die wissenschaftliche Kooperation mit afrikanischen Ländern ist ein vielversprechender Ansatz. Hier unterscheiden wir uns, lieber Herr Kollege Röspel. (René Röspel [SPD]: Wahrscheinlich nicht!) Seit zwei Jahren bemühen wir uns gemeinsam mit der Bundesregierung um neue Modelle in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Es soll nicht nur Ausdruck der Solidarität sein; wir wollen den Hunger nicht allein mit der Reisschüssel bekämpfen. Vielmehr geht es uns um partnerschaftliche Zusammenarbeit. Herr Rossmann, wir waren gestern bei einer hochkarätig besetzten Veranstaltung mit den Präsidenten von Max-Planck-Gesellschaft und DFG. Dort wurde bestätigt, dass genau das notwendig ist. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann sollen die mal was machen!) Die Max-Planck-Gesellschaft selbst führt Veranstaltungen durch und hat sich zum Ziel gesetzt, geeignete Institute in den Ländern zu etablieren, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Das ist der richtige Weg. (René Röspel [SPD]: In Afrika gerade nicht!) Natürlich kann das nicht von heute auf morgen aus dem Boden gestampft werden, aber es ist der richtige Weg, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn von Forschung und Wissenschaft die Rede ist, dann geht es um klassische Züchtungsmethoden, um Saatgutforschung, um die Züchtung von krankheitsresistenten Tierrassen und um die Verbesserung von biologischen Eigenschaften mancher Tiere und Pflanzen. Es geht aber auch um neue Technologien. Bei der Bekämpfung von Krankheiten handelt es sich im Sinne der Sicherheitsforschung auch darum, dass wir uns nicht nur um die Krankheiten in Afrika und Asien kümmern. Vor dem Hintergrund des Klimawandels müssen wir damit rechnen, dass einige Krankheiten aus diesen Ländern auf kurzem Wege zu uns nach Europa kommen werden. Der TAB-Bericht zeigt drei Perspektiven auf, die wesentlich für die Fortschritte bei der Bekämpfung von Hunger und Mangelernährung sind. Es geht erstens um die Menge der zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel, es geht zweitens um die Verteilung der Lebensmittel und den Zugang dazu. Und es geht drittens um Ernährungsgewohnheiten und um Wissen über gesunde Ernährung. Die drei Handlungsoptionen in der Forschungspolitik sind: die verstärkte Ressortkooperation bei der Forschungsförderung, mehr nutzerorientierte Forschung und kooperative „Leuchtturmprojekte“. Herr Röspel, gerade bei den Punkten Ressortkooperation und nutzer-orientierte Forschung geht es doch darum, dass man keine Elfenbeintürme baut; denn damit ist der Sache nicht gedient. Vielmehr steht die Nutzerorientierung im Vordergrund. Das ist für uns der richtige Ansatz. In dem Zusammenhang darf ich – auch mit Blick auf die Uhr – als Letztes feststellen: Die Veranstaltung gestern hat uns bestätigt. Wir stellen auch für die nächsten Jahre – wir sind ja bei den Haushaltsberatungen – so viel Geld bereit, dass wir für die Entwicklungsländer weiterhin zuverlässige Partner sind. Darauf können wir stolz sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auch unser Antrag leistet hier, davon bin ich überzeugt, einen wichtigen Beitrag. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Dem Titel des Koalitionsantrags „Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“ könnte man noch zustimmen, wäre nicht die Agrarforschung seit Jahren durch massiven Personalabbau und Standortschließungen in die Krise gespart worden. Die Linke fordert regelmäßig eine öffentlich finanzierte Agrarforschung, die den weltweiten Herausforderungen ge-wachsen, die besser vernetzt und strategisch koordiniert ist. Geändert aber hat sich nichts. Die Defizite werden deshalb immer größer. Dabei hat das Büro für Technikfolgen-Abschätzung – das hier schon mehrfach genannt wurde – gerade einen dringenden Perspektivenwechsel in der Welternährungsdebatte angemahnt: (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie haben den Bericht gar nicht gelesen! Geben Sie es zu!) weg von der Fokussierung auf reine Produktionssteigerungen hin zur realen Verbesserung der Ernährungssituation der Menschen vor Ort. Auch die Endlichkeit von Wasser, Boden und Dünger fordert dringend einen Paradigmenwechsel hin zu finanzierbaren sozial-ökologischen Agrarkonzepten, die Ertragssteigerung vom Ressourcenverbrauch abkoppeln. Dazu gibt es sehr inno-vative Ansätze, und zwar jenseits der Agrogentechnik, zum Beispiel selbstdüngende Pflanzen, den sogenannten Tauchreis, der Überschwemmungen überlebt, oder Durstmesser bei Pflanzen zur bedarfsgerechten Bewässerung. Der Koalitionsantrag aber erzählt das uralte Märchen vom Kampf gegen den Hunger durch Intensivierung der Produktion in Europa und Heilsversprechen aus dem Gentechlabor. Dabei ist der Produktionsmangel ein Mythos. Weltweit stehen rein rechnerisch circa 2 800 Kalorien pro Kopf zur Verfügung. Das ist mehr, als ein gesunder, aktiver Mensch braucht. Wenn die Nahrungs-mittel fair verteilt würden, gäbe es also überhaupt gar keinen Hunger. (Beifall bei der LINKEN) Es gibt aber zwei riskante Trends. Erstens. Die Weltbevölkerung wächst schneller als die Nahrungsmittelproduktion. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Na so was!) Zweitens. Immer weniger landwirtschaftliche Nutzfläche ist für die lokale Ernährungssicherung verfügbar. Die Antwort der Koalition auf die mutmaßlich entstehende Lücke bei der Versorgungssicherung ist, diese durch Intensivierung der Produktion zu schließen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das haben wir nie gesagt! So nicht!) Das ist schon angesichts der gigantischen Lebensmittelverschwendung eine völlig absurde Debatte. Aber die Koalition leugnet dabei die sozialen und ökologischen Ursachen von Hunger und die Mitschuld der Industrieländer an der Hungersituation in der Dritten Welt. Ich nenne das neokolonial. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?) Der frühere UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, sagte – hören Sie bitte zu! – das so: Es geht nicht darum, den Ländern des globalen Südens mehr zu geben, sondern ihnen weniger wegzunehmen. Mangel- und Fehlernährung haben mit Armut im globalen Süden und mit Reichtum in den Industrieländern zu tun. Das will ich kurz begründen: Erstens. Armut forciert das rasante Wachstum der Weltbevölkerung. Es ist kein Naturgesetz. Zweitens. Armut hemmt die Agrarproduktion im globalen Süden. Sie wird durch Kriege, Abwanderung, fehlende Zugänge zu Wasser, Boden, Saatgut und Düngemitteln gehemmt. Geringe Bodenfruchtbarkeit und Klimawandel können eben nicht ausgeglichen werden. Drittens. Armut führt zum Verlust von Ackerflächen zur lokalen Ernährungssicherung. Das ist so, weil Agrarexportgüter für Biosprit, Futtermittel oder Baumwolle angebaut werden und weil der Boden in Händen ausländischer Investoren ist. Bodenerosion und Wüstenbildungen tun ihr Übriges. Die Sicherung der Welternährung setzt deswegen zwingend Armutsbekämpfung voraus. Agrarforschung und Wissenstransfer sind dabei dringend gefragt. Dazu gehört zum Beispiel auch die Verhinderung von Biopiraterie und Biopatenten. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke fordert deshalb folgende fünf Punkte. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Fünfjahresplan!) Erstens. Agrarforschung muss öffentlich finanziert und auf die Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort ausgerichtet sein. Dazu gehören Agrarsoziologie und Agrarökonomie. XXXXX Zweitens. Die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit sind unverzüglich auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben und gezielter für die regionale Ernährungssicherung und die Stärkung von Frauen und Frauenrechten einzusetzen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Frauen aufs Feld! Frauen in die Produktion!) Drittens. Spekulationen mit Agrarrohstoffen und Boden müssen wirksam bekämpft werden. Viertens. Das Leitmotiv der EU-Agrarpolitik muss Ernährungssouveränität werden. Fünftens. Agrarimporte müssen begrenzt und fair bezahlt werden. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt aber auch: Zur Beseitigung des Hungers in der Welt gehört die Änderung unseres Lebensstils. All das fehlt in dem Antrag der Koalition. Deswegen können wir ihm nicht zustimmen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Eine großartige Rede!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Harald Ebner hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist wahr: Wir stehen weltweit vor großen Herausforderungen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, welche Art von Ernährung eine wachsende Weltbevölkerung braucht, wie wir diese sichern und dabei die ökologischen Lebensgrundlagen bewahren können. Im Zentrum aller Überlegungen müssen die Betroffenen stehen. Die Experten sind sich einig: Der Großteil der Hungernden sind Kleinbauern und landlose Land--arbeiter, genauer gesagt: Kleinbäuerinnen und landlose Landarbeiterinnen; denn es sind die Frauen, die in den fraglichen Ländern die Verantwortung in der Landwirtschaft übernehmen. Das ist die Zielgruppe. Es gilt, für diese Menschen Lösungen und Forschungsansätze zu entwickeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. René Röspel [SPD]) In dem erwähnten TAB-Bericht wird diese Frage auf fast 100 Seiten umfassend behandelt, so wie es die Pro-blematik erfordert. Der vorliegende Antrag der Koalition umfasst gerade einmal zweieinhalb Seiten. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wie viel wäre Ihnen denn recht gewesen? 50, 60, 80?) – Man könnte sagen: Klasse statt Masse. Jetzt schauen wir einmal, wo die Qualitäten liegen. Der Bericht spricht eine klare Sprache: Die bisherige Forschung setzt überwiegend auf Produktionssteigerungen mithilfe von externen Inputs – Kunstdünger, Pestizide, Hybrid- oder gar gentechnisch verändertem Saatgut. Dabei macht der TAB-Bericht deutlich, dass solche technologiefixierten Ansätze die eigentlichen Adressaten oft überhaupt nicht erreichen, sondern nur lokalen Eliten nutzen. Dagegen werden wichtige Forschungsfelder -vernachlässigt, die laut Bericht wesentlich vielversprechendere und nachhaltigere Beiträge zur Welternährung liefern könnten, zum Beispiel Low-Input-Systeme wie der Ökolandbau, dem der Bericht – ich zitiere – „enormes Potenzial“ zur Ertragssteigerung und -stabilisierung bescheinigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Einfluss von Ernährungsstilen auf die Nahrungsmittelversorgung wird in Deutschland praktisch überhaupt nicht erforscht. Überhaupt wird der gesamte Bereich der Nachfrageseite vernachlässigt. Es fehlt auch an Forschung, die mittels echter Partizipation zuerst die Bedürfnisse der Zielgruppe abfragt und dann angepasste Lösungen entwickelt, die wirklich dem Leitbild „Hilfe zur Selbsthilfe“ entsprechen. Die Worte von Herrn -Rachel habe ich wohl gehört, aber ich finde sie im Antrag nicht. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Soll er den Antrag vorlesen, oder was?) Inter- und transdisziplinäre Ansätze müssen Sie in Deutschland mit der Lupe suchen, ebenso Lehrstühle für Agrarsoziologie. Es gilt, genau hier anzusetzen. Doch der Antrag beschränkt sich auf Gemeinplätze und allgemeine Forderungen, ohne die Kernanregungen des TAB-Berichts konkret aufzugreifen. Schlüsselfaktoren der Welternährung – die Situation der Kleinbauern, Genderfragen, marginale Standorte oder Ernährungsstile – werden im Antrag überhaupt nicht erwähnt. Stattdessen setzt die Bundesregierung, allen voran Ministerin Aigner, ihre bisherige Agrarpolitik unverdrossen fort. Auf 3 Millionen Hektar werden in Südamerika Futtermittel für deutsche Tierställe angebaut. Wer wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage zur Welternährung behauptet, dass der Anbau von Futtermitteln in Entwicklungsländern für die Fleischproduktion in Europa ein Beitrag zur Welternährung sei, verspielt jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit in Welternährungsfragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) In dem TAB-Bericht wird von einem ungeheuren -Ungleichgewicht hinsichtlich der Mittelausstattung von Agrogentechnik und Ökolandbau gesprochen, und es werden konkrete Forschungsfelder benannt, auf denen stattdessen vermehrt gearbeitet werden muss. Und da haben Sie die Stirn, in Ihrem Antrag zu fordern, dass die zentralen Forschungsfelder erst einmal identifiziert werden müssten. Sie wollen munter weitere Prüfschleifen drehen. Sie wollen weitere wertvolle Jahre verplempern und noch einmal fragen, wo geforscht werden muss. Statt die Empfehlung des Berichts aufzugreifen, rennen Sie immer noch technologiegläubig den Heilsversprechen der Agrogentechnik hinterher, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und das, obwohl die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage gerade erst bestätigen musste, dass die Gentechnik keinen signifikanten Beitrag zur Welternährung geliefert hat. Ich verkürze meine Rede jetzt, da meine Redezeit gleich abgelaufen ist. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Gut so!) Wenn man die heiße Luft, die Sie in solchen Anträgen und Anfragen produzieren, zur Energiegewinnung nutzen könnte, wäre die Energiewende schon geschafft. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Solaranlagen wieder weg vom Feld und wieder Rüben anbauen!) Wir können und dürfen es uns aber nicht leisten, einer gleichermaßen riskanten wie teuren und erfolglosen Technologie weiterhin Millionen hinterherzuwerfen. Die Welternährungsfrage ist zu wichtig, um sie derart unseriös in einem Kurzantrag abzuhandeln. Nach dem TAB-Bericht ist dieser Antrag eine Bankrotterklärung der schwarz-gelben Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Billiges Feindbild! Ganz billig!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ewa Klamt hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Endlich wieder jemand, der was vom Thema versteht!) Ewa Klamt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Kommentar zu dem Beitrag, den wir eben gehört haben. Ich sage immer: Lesen bildet. Vielleicht hätten Sie den gesamten Antrag einmal sorgfältig lesen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht schnell! – Gegenruf des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU]: Versuchen Sie es doch wenigstens!) Wir haben es gehört: Im Jahr 2050 werden nach heutigen Berechnungen rund 9 Milliarden Menschen Nahrung benötigen. Der Bedarf an Nahrungsmitteln wird bis dahin um 50 Prozent steigen. Bereits heute leiden fast 1 Milliarde Menschen Hunger, und eine weitere Milliarde Menschen ist von Mangelernährung betroffen. -Damit gehört die Sicherung der weltweiten Ernährung in den nächsten Jahrzehnten ganz sicher zu den drängendsten Aufgaben für die gesamte Weltgemeinschaft und nicht allein für Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen also in diesem Zeitraum gewaltige Anstrengungen unternehmen, um den wachsenden Bedarf an Lebensmitteln zu decken. Das Phänomen Hunger hat, wie wir wissen, verschiedene Ursachen: Klimatische, soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflussen die Nahrungsmittelproduktion. Ebenso spielen der fehlende Zugang zu Düngemitteln, brachliegende Produk-tionspotenziale oder fehlende Landnutzungsrechte eine Rolle. Klassischerweise ist es Aufgabe der Entwicklungshilfe, den betroffenen Menschen bei der Bewältigung dieses Problems zu helfen. Aber auch die Forschung kann und muss einen erheblichen Beitrag zur Sicherung der weltweiten Ernährung und zur Entwicklung einer nachhaltigen Agrarwirtschaft leisten. Staatssekretär Rachel hat auf die „Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ hingewiesen. Meine Damen und Herren von der Opposition, vielleicht wissen auch Sie, dass diese bereits im letzten Jahr auf den Weg gebracht wurde. In dieser Strategie ist Erhebliches enthalten; diese haben Sie anscheinend noch nicht gelesen. Darin wird die weltweite Ernährung als eines von fünf prioritären Handlungsfeldern genannt. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das haben wir schon gelesen!) Um diese Forschungsstrategie zu flankieren, haben wir den Antrag „Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“ eingebracht. Unsere Forderung ist, themenoffen im Bereich der Forschung nach Lösungen zu -suchen, um die weltweit wachsende Bevölkerung ausreichend ernähren zu können. Eines der von uns benannten Ziele ist, eine Gesamtbetrachtung des Ernährungssystems zu verfolgen, welche über technisch-methodische Lösungen hinausgeht. So steht es unter Punkt II b des Antrags. (René Röspel [SPD]: Die Zielrichtung finden wir noch heraus!) Wir wollen bewusst selbsttragende Systeme entwickeln und fördern. Das soll gemeinsam mit den Partnern vor Ort in einem disziplinübergreifenden Ansatz verfolgt werden; denn nur wenn die Kenntnisse und Erfahrungen der Partner aus den betroffenen Regionen eingebunden werden, können die Lösungsansätze erfolgreich sein. Wie wir gehört haben, wird im Antrag ein Schwerpunkt auf die afrikanischen Länder und die deutsch--afrikanischen Partnerschaften gelegt. Gerade hier gilt es, regionale Defizite in der Agrarforschung zu identifizieren und den Aufbau von Forschungs- und Entwicklungsinfrastrukturen vor Ort zu unterstützen. Anwendungs-orientierung ist uns dabei ein zentrales Anliegen. Aus meiner Sicht darf es bei allen Fragen zur Sicherung der Welternährung keine Denkverbote geben. Alle Lösungsansätze müssen in Betracht gezogen werden. Das beinhaltet auch, dass eine Polarisierung zwischen den verschiedenen Produktionsmethoden keinen Sinn macht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bekanntermaßen wurde parallel zu unserem Antrag der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung zum Problem der Welternährung veröffentlicht. Er zeigt uns in seiner wissenschaftlichen Ausarbeitung auf knapp 200 Seiten, (René Röspel [SPD]: Meiner hat nur 92!) dass das Problem außerordentlich komplex ist und weder mit einer Maßnahme, wie wir sie jetzt auf den Weg bringen, noch von Deutschland allein gelöst werden kann. Nichtsdestotrotz – ich denke, da sind wir uns alle einig – ist es wichtig, das Problem anzupacken. Ich begrüße ausdrücklich, dass das Ministerium die Förderinitiative „GlobE“ gestartet hat, die die zentralen Forderungen unseres Antrags aufgreift. „GlobE“ ist aus meiner Sicht innovativ, methodenoffen und technologieübergreifend. Die Initiative konzentriert sich gerade nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, ausschließlich auf Agrar- und Naturwissenschaften, -sondern sucht explizit die Einbindung angrenzender Fachdisziplinen wie der Geo- und Sozialwissenschaften. Gefördert werden ausschließlich Verbundprojekte deutscher Forschungseinrichtungen und ihrer afrikanischen Partner. Damit werden gerade bestehende Strukturen gezielt gestützt, aber auch neue aufgebaut. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass jedes fünfte Kind, das heute geboren wird, hungrig aufwachsen wird. Daher sollten wir jeden Beitrag der Forschung zur Sicherung der Welternährung unterstützen. Forschung kann und soll die wichtige Entwicklungshilfe nicht ersetzen. „GlobE“ ist aber ein zentraler Baustein bei der Sicherung der Welternährung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Forschung zur Sicherung der weltweiten Ernährung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9024, den Antrag auf Druck--sache 17/6504 anzunehmen. Wer stimmt für diese -Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Priska Hinz (Herborn), Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren – Nachtragshaushalt nutzen – Drucksache 17/8919 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Sven-Christian Kindler das Wort. Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute diskutieren wir hier im Bundestag darüber, wie wir die Energiewende und den Klimaschutz im Bundeshaushalt solide finanzieren können. Diese Koalition hat ja einen Fonds eingerichtet, den sogenannten Energie- und Klimafonds. Das ist ein Schattenhaushalt, der neben dem Bundeshaushalt existiert. Nach dem Atomkonsens im Sommer 2011 wurde versprochen, damit könne man den Energieumbau langfristig und sicher finanzieren. Wir haben das schon damals nicht geglaubt. Schauen wir uns einmal an, was konkret passiert ist. Für dieses Jahr, für 2012, waren 780 Millionen Euro eingeplant. Jetzt, im laufenden Haushaltsjahr, mussten die Mittel des Fonds um über 300 Millionen Euro gekürzt werden. Gestern hatten wir im Haushaltsausschuss die Eckwerteberatung zum Finanzplan. Es wurde klar: Ab 2013 fehlt im Klimafonds jedes Jahr mehr als 1 Milliarde Euro. Das zeigt ganz klar: Dieser Klimafonds ist gescheitert. Diese Bundesregierung versagt bei der Finanzierung der Energiewende. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Warum funktioniert dieser Fonds nicht? Das liegt erst einmal an seiner grottenschlechten Konstruktion. Es gibt kein Gesamtdeckungsprinzip wie im Bundeshaushalt. Der Klimafonds ist allein an die Einnahmen aus dem CO2-Zertifikate-Handel gebunden. Die Bundesregierung hat damit gerechnet, dass der Preis pro Tonne CO2 in diesem Jahr 17 Euro betragen wird, obwohl er bei den Haushaltsberatungen im November letzten Jahres bei 10 Euro lag. Heute liegt er bei 7 bis 8 Euro. Wir haben Ihnen schon damals hier im Plenum vorgerechnet, dass das nicht funktionieren kann, dass das scheitern wird. Sie sind trotzdem stur bei Ihrer Planung geblieben. Das zeigt noch einmal klar: Schwarz-Gelb kann nicht rechnen, Schwarz-Gelb macht eine unseriöse und unsolide Haushaltspolitik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) So ist es leider. Ich würde mir das anders wünschen. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das war ein bisschen flach!) – Ihre Haushaltspolitik ist flach. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was passiert jetzt konkret? Schauen wir uns das einmal an. Sie kürzen zum Beispiel die EKF-Mittel für das Marktanreizprogramm von 100 Millionen Euro auf genau null Euro. Das Marktanreizprogramm für erneuerbare Wärme ist Energiewende konkret. Davon profitieren die Bürgerinnen und Bürger, die sich zum Beispiel eine Solarheizung auf dem Dach installieren lassen oder alte, ineffiziente Wärmepumpen austauschen. Davon profitieren auch das Handwerk vor Ort, die regionale Wirtschaft und das Klima. Deswegen ist es nicht nur klimapolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch fatal, dass Sie beim Marktanreizprogramm den Rotstift ansetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto Fricke [FDP]: Das Programm gibt es doch noch!) – Ja, Kollege Otto Fricke, das Programm gibt es noch, (Otto Fricke [FDP]: Aha!) aber um 100 Millionen Euro gekürzt. Das kostet Arbeitsplätze und Investitionen vor Ort, und das ist fatal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihr wollt Schulden machen, wir nicht! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegrasiert!) Ich bin mittlerweile davon überzeugt: Schwarz-Gelb fährt die Energiewende bewusst gegen die Wand. Die Solarindustrie wird kaputtgemacht, und der Klimafonds ist ein Riesenflopp. Was macht eigentlich Norbert Röttgen? (Johannes Kahrs [SPD]: Wer?) Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, dann frage ich mich: Wo ist er? Was macht er gerade? Hier in Berlin wird die Energiewende von Schwarz-Gelb blockiert, und Norbert Röttgen kann sich nicht entscheiden. Ich fordere ganz klar: Norbert Röttgen muss Farbe bekennen, ob er nach NRW geht oder Umweltminister in Berlin bleibt. Norbert Röttgen muss hier eine Ansage machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Einmal zum Thema bitte! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was hat das mit der Energiewende zu tun? Gar nichts!) Was ist jetzt zu tun? Erstens. Wir wollen die Förderprogramme wieder in einen ordentlichen Haushalt überführen. Zweitens. Wir wollen dafür sorgen, dass die Einnahmen aus dem Zertifikatehandel zweckgebunden sind und für den internationalen und nationalen Klimaschutz verwendet werden. Diese Zweckbindung kann man auch im Einzelplan 16, im Einzelplan des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, festschreiben. Drittens. Wir wollen dafür sorgen, dass der Zertifikatepreis auf europäischer Ebene stabilisiert wird. Deswegen muss das Klimaschutzziel auf europäischer Ebene von 20 auf 30 Prozent bis 2020 erhöht werden. Nach britischem Vorbild wollen wir den Zertifikatepreis durch eine Mindeststeuer stabilisieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Viertens. Es gibt eine realistische, durchgerechnete Alternative zum schwarz-gelben Klimafondsmurks. Wir haben den grünen Klimaschutzhaushalt vorgelegt. Darin legen wir klar dar, dass wir Milliardeninvestitionen für die Energiewende brauchen, zum Beispiel für ökologische Wärme und für Energieeinsparung. Dies könnten wir durch den Abbau ökologisch schädlicher Subventionen gegenfinanzieren. Durch entsprechende Kürzungen von Subventionen für den Flugverkehr, für schwere Dienstwagen und im Bereich der Ökosteuer können wir mehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr einnehmen. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ihr habt nichts gekürzt, solange ihr regiert habt! Wir müssen das machen!) So muss man die Energiewende finanzieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Schluss. Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist völlig klar: Die Energiewende ist dringend notwendig. Sie ist auch machbar und finanzierbar, wenn man es denn will. Diese Bundesregierung kann und will es aber nicht. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie wollen Steuererhöhungen um 10 Milliarden Euro!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Kindler hat gefragt, was Norbert Röttgen im Augenblick macht. Er bereitet den Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen vor. Das tut auch not. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kindler, dazu, dass Sie sich angesichts der erschütternden Regierungsbilanz, die Sie als gescheiterte Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen vorzulegen haben – Schuldenkönigin, Handlungsunfähigkeit, viele Themen in Nordrhein-Westfalen sind unerledigt –, (Johannes Kahrs [SPD]: Reden Sie doch mal zur Sache!) mit dieser Rede hier hinstellen, muss ich ganz ehrlich sagen: Schämen müssten Sie sich, wären Sie aus Nordrhein-Westfalen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Da muss er selber lachen!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich geht es hier nicht um Wahlkampf, den Herr Kindler hier betreibt, sondern um die Energiewende. Sie ist notwendig, greifbar und realistisch. Diese Debatte bietet die Gelegenheit, den Unterschied zwischen der Energiewende à la Rot-Grün und der Energiewende der christlich-liberalen Koalition aufzuzeigen. Als Sie Verantwortung trugen, kannten Sie nur ein Wort: „Ausstieg“; dann waren Sie mit Ihrem energiepolitischen Latein am Ende. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Diese Regierung organisiert den Umstieg, also den Einstieg in eine regenerative, nachhaltige Energieproduktion, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und deswegen regen Sie sich hier auf. Wir erinnern Sie an Ihre Versagerbilanz in der Energiepolitik. Sie sind schlicht und ergreifend überrascht, wie gut Norbert Röttgen diese Energiewende in und für Deutschland organisiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD – René Röspel [SPD]: Erst dafür, dann dagegen, dann wieder dafür!) Ich will als Vertreter des Finanzministeriums an dieser Stelle eines deutlich sagen: Es geht bei der Energiewende doch nicht nur um Geld, (Johannes Kahrs [SPD]: Am Rande schon!) sondern um den Durchsetzungswillen und die politische Unterstützung für alle Maßnahmen. Ich hoffe, Herr Kollege Kindler, dass Sie und Ihre Parteigänger sich nicht darauf beschränken, mehr Geld zu fordern. Vielmehr geht es darum, dass Sie sich nicht verkriechen, wenn es um die unangenehmen Themen geht, beispielsweise um die Bürgermediation beim Netzausbau. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legen Sie doch mal einen Antrag vor! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Reden Sie doch mal zum Thema!) Auch dann müssen Sie für den notwendigen Umbau der Energieversorgung in diesem Land Flagge zeigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass ich es ausdrücklich begrüße, dass die deutsche Industrie die Politik der Bundesregierung als Chance für den Industrie- und Energiestandort Deutschland sieht. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Kahrs [SPD]: Mit wem haben Sie denn geredet?) Dass uns Unternehmen wie Siemens aktiv begleiten, ist ein Zeichen dafür, dass die Modernisierung des Indus-triestandorts mit der Energiewende ein kluger Beitrag zur Politikgestaltung für das 21. Jahrhundert ist, (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie das eigentlich selber?) und darauf können wir ein Stück weit stolz sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Abgeordnete Kindler von der Opposition hat gesagt, es gebe dafür „so ’nen Fonds“. Er wollte das irgendwie als gering ausgestaltet darstellen. Meine sehr verehrten Damen und Herren – ich sage das auch an die hier Anwesenden aus unterschiedlichen Generationen –: (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Fonds wird gerade zusammengestrichen!) Dieser Fonds hat bis zum Jahre 2016 ein Volumen von 9,7 Milliarden Euro. (René Röspel [SPD]: Geplant! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Schauen Sie mal in Ihr Eckpunktepapier! – Johannes Kahrs [SPD]: Pleitegeier seid ihr!) Wenn der Kollege Kindler meint, 9,7 Milliarden Euro seien kein Beitrag, mit dem sich in der Energiepolitik etwas machen lässt, dann hat er den Bezug zu den Größenordnungen vollständig verloren. Das muss hier in dieser Klarheit einmal gesagt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Pleitegeier!) Der Energie- und Klimafonds finanziert sich aus den Erträgen der Klimazertifikate. Die Klimazertifikate hätte man als Bundesfinanzminister vielleicht gerne zur allgemeinen Haushaltsfinanzierung verwenden wollen. Wir haben aber gesagt: Das, was eingenommen wird, wird eins zu eins in die Energiewende investiert. (Johannes Kahrs [SPD]: Dafür habt ihr anderswo das Geld weggenommen!) Wer hier behauptet, auch nur 1 Euro, der eingenommen worden ist, sei nicht in den Energie- und Klimafonds geflossen, der sagt vorsätzlich die Unwahrheit. (Johannes Kahrs [SPD]: Finanzierte Programme habt ihr leerlaufen lassen! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles, was Sie vorher finanziert haben, findet jetzt nicht mehr statt!) Alle Erträge aus den Klimazertifikaten fließen in den Fonds. Im Gegenteil: Wir legen sogar noch ein bisschen drauf, damit die Sache gut startet. Das ist die eigentliche Botschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Das ist ja nicht mal mehr heiße Luft!) Wenn der Kollege Kindler hier fordert, wir sollten mehr Schulden machen, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist Quatsch!) um den Klimafonds aufzustocken (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich gar nicht gesagt! – Johannes Kahrs [SPD]: Das Geld war doch vorher da!) – das ist ja die politische Quintessenz dessen, was Sie hier sagen –, (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Antrag lesen! Subventionsabbau!) dann rufe ich Ihnen und allen, die das sagen, zu: Schuldenfinanzierte Nachhaltigkeit ist Unsinn; denn Schuldenfinanzierung und Nachhaltigkeit schließen einander aus. Solidität ist auch beim EKF Trumpf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber nicht bei dieser Regierung!) Wir konzentrieren uns bei der Neuaufstellung des Energie- und Klimafonds auf zwei Dinge, nämlich erstens mit 1,5 Milliarden Euro auf das Gebäudesanierungsprogramm und zweitens auf die Elektromobilität. Wir glauben, dass das wichtige Zukunftsfelder sind, (Johannes Kahrs [SPD]: Ja, aber kein Geld!) auf denen wir entsprechende Investitionen unterstützen und begleiten sollten. (Johannes Kahrs [SPD]: Aber ihr habt kein Geld reingetan!) Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn der Kollege Kahrs hier kontinuierlich dazwischenruft. Ich wiederhole es: Alle Erlöse aus den Zertifikaten sind vollständig in den sogenannten EKF geflossen. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ihr habt schlecht geplant!) Wer mehr will, der sagt eigentlich nur eines: Er will mehr Schulden. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Subventionsabbau!) Wir wollen Ökologie und nachhaltige Finanzpolitik in Einklang bringen, und deswegen ist die Entscheidung, den Klimafonds so auszugestalten, richtig. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Das war aber deutlich unter deinem Niveau, Steffen! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht zum Thema!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es spricht die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Bärbel Kofler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das war eine erstaunliche Rede, (Manfred Grund [CDU/CSU]: Jawohl!) in der über die Solidität des Fonds geredet wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dabei sollte man vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen, dass diese knapp 10 Milliarden Euro bis 2016, von denen Sie, Herr Kampeter, gesprochen haben, nach den jetzt vorliegenden Zahlen mittlerweile um die Hälfte zusammengeschmolzen sind. Vor diesem Hintergrund sind die Finanzierung des Fonds und die Entscheidung darüber, wie wir die Energiewende und die Bekämpfung des Klimawandels auf eine seriöse Basis stellen können, ganz elementare Richtungsentscheidungen auch für diese Bundesregierung. Sie sollten es zumindest sein. (Beifall bei der SPD) Im letzten Jahr wurde im Umweltausschuss eine ganze Menge versprochen. Uns ist erzählt worden: Die Mittel für das Marktanreizprogramm werden erhöht. – Im Einzelplan für Umwelt hat man sie abgesenkt. Dann hat man gesagt: Kein Problem, wir haben ja den Energie- und Klimafonds. Aus diesem Fonds werden 100 Millionen Euro für das Marktanreizprogramm eingestellt. Wir finanzieren Solarthermie. Wir finanzieren Wärmepumpen. Wir finanzieren Pelletheizungen. Das ist eine gute Basis für das Handwerk und gleichzeitig klimapolitisch relevant. All das finanzieren wir aus dem Energie- und Klimafonds. Was passiert jetzt? Wie viel Mittel stehen im Haushalt 2012 im Bereich Energie- und Klimafonds für das Marktanreizprogramm? Null Euro! (Otto Fricke [FDP]: Und wie viel steht im Haushalt?) – Circa 300 Millionen Euro. Das ist aber weniger als im Jahr zuvor. Sie haben die Mittel für das so wichtige Marktanreizprogramm über die Jahre gesenkt, statt das zu tun, was notwendig gewesen wäre, nämlich die Mittel für dieses Programm zu erhöhen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das hätte dem Handwerk genutzt, dem Klimaschutz gedient und die Energiewende vorangebracht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, bevor Sie weiter ausholen: Der Kollege Scheuer möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Aber ja. Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Geschätzte Frau Kollegin, wir beraten gerade im Vermittlungsausschuss eine wirklich wichtige Maßnahme, die Sie blockieren, nämlich die Möglichkeit der steuerlichen Abschreibung bei der Finanzierung von energetischer Sanierung. Das könnte das nächste Konjunkturprogramm für das mittelständische Handwerk werden, wenn Sie sich endlich bewegen würden und die Länder, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, etwas für den handwerklichen Mittelstand übrighätten. Ministerpräsidentin Kraft blockiert seit mehreren Sitzungen die Umsetzung dieser guten Maßnahme. Es geht darum, neben der Möglichkeit zur energetischen Sanierung im Rahmen eines KfW-Kreditprogramms die Kosten für diese Sanierung steuerlich abzusetzen. Würden Sie mir zustimmen, dass dies eine wichtige Maßnahme ist? Würden Sie mir einen Ausblick geben, wann Sie diese Blockade aufgeben? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Wenn ihr die Länder kompensiert!) Dr. Bärbel Kofler (SPD): Ich halte das CO2-Gebäudesanierungsprogramm für ein wichtiges und gutes Programm. Ich frage Sie im Gegenzug: Warum haben Sie die Mittel für dieses Programm über die Jahre kontinuierlich abgesenkt? Das ist an dieser Stelle der entscheidende Punkt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Frage beantworten!) Kompensieren Sie doch die Länder für das, was Sie ihnen von der Bundesebene vorschreiben, und setzen Sie Mietern und Eigentümern, die keine hohen Abschreibungen bei der Steuer geltend machen können, entsprechende Anreize. Das geht nicht über eine progressive Abschreibung. Das geht über Zuschüsse und entsprechende Programme, zum Beispiel das KfW-Programm. Machen Sie ein solides Programm! Dann bekommen wir das miteinander hin. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wollen Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert zulassen? Dr. Bärbel Kofler (SPD): Ja, gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Kofler, wir haben hier in mehreren Debatten gehört, dass die Unionsfraktion Ihrer Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen vorwerfen, sie könne nicht mit Geld umgehen. (Otto Fricke [FDP]: Das ist eine Feststellung!) Wenn die Ministerpräsidentin dem Vorschlag der Union folgen und ihn übernehmen würde, wäre es dann nicht so, dass sich die Schuldenlage Nordrhein-Westfalens noch verschlechterte? Dr. Bärbel Kofler (SPD): Ich bedanke mich für diese Frage, Herr Kollege Lenkert. Natürlich, man kann nicht auf der einen Seite den Ländern vorgeben, sie sollen mit ihren Haushaltsmitteln sparsam umgehen, und auf der anderen Seite dafür sorgen, dass die Länder weniger Steuern einnehmen. Da muss man sich entscheiden, auch was Nordrhein-Westfalen anbelangt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir stellen fest: Die vollmundigen Ankündigungen aus dem letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Energie- und Klimafonds sind Luftbuchungen. Sie selbst haben Ihre Prognose bis 2016 wieder korrigiert: Es soll ein Drittel weniger an Mitteln zur Verfügung stehen. Dabei haben Sie dies vor noch nicht einmal einem Jahr, erst vor vier Monaten bei den Haushaltsberatungen 2012, prognostiziert. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über 3 Milliarden weniger!) Wenn Sie damals zwar nicht der Opposition, aber der Warnung der Deutschen Bank geglaubt hätten, die bereits am 30. November letzten Jahres den Verfall der Zertifikatspreise prognostiziert hat, hätte Sie das vielleicht zum Nachdenken gebracht, und Sie hätten schon damals feststellen können, dass all ihre Kalkulationen ungenügend sind und dass Sie möglicherweise zusätzliche klimapolitisch relevante Maßnahmen ergreifen müssten, um den Preisverfall der Zertifikate zu bekämpfen. Eine Maßnahme wäre, sich massiv auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, das EU-Klimaziel einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 30 Prozent umzusetzen und bei der Umsetzung der klimaschädlichen Emissionen voranzugehen, statt sich vor der Verantwortung zu drücken. Das wäre klimapolitisch sinnvoll und würde auch den einen oder anderen Euro mehr in Ihre Kasse bzw. in den Fonds bringen. Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir mit diesen Schattenhaushalten und Luftbuchungen aufhören und wieder klare Verhältnisse und eine klare Einnahmesituation hergestellt werden. Die Mittel, die wir für Programme für den Klimaschutz und die Energiewende benötigen, müssen im Umweltetat eingestellt werden. Ich erinnere an das Marktanreizprogramm, aber auch an die Mittel für den nationalen und internationalen Klimaschutz. Sprechen Sie mit Vertretern der deutschen Klima- und Technologieinitiative darüber, was sie von Ihrem Haushaltsgebaren halten und wie viel mehr sie in letzter Zeit an Emissionsminderung hätten machen können, wenn entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt worden wären. Es ist wichtig, dass die Mittel im Umwelthaushalt, im Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und im Etat für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bereitgestellt werden. Wir brauchen keine Luftbuchungen, sondern die notwendigen Mittel für die Energieversorgung. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Otto Fricke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Otto Fricke (FDP): Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Rede hat deutlich gemacht, worum es der Opposition eigentlich geht: Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh Gott! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch einen Gegenfinanzierungsvorschlag gemacht!) – Ja, darum geht es. Hören Sie einfach mal zu, Herr Kollege Kindler! – Die Grünen sind nicht ungeschickt vorgegangen. Ihr Vorschlag wird doch an den Haushaltsausschuss überwiesen. Das ist der Ausschuss, der sich darum kümmern soll, dass nicht mehr Geld ausgegeben als eingenommen wird. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen steht doch ein -Deckungsvorschlag im Antrag!) Was hören wir aber in Ihren Reden? Wir hören nur: Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! Mehr ausgeben! (Johannes Kahrs [SPD]: Das stimmt doch nicht, Herr Fricke! Sie haben den Topf doch erst ausgeräumt! Das Geld war doch da!) Der Bürger denkt: Mensch, die von der Opposition haben gute Ideen; die wollen für bestimmte Dinge Geld ausgeben. (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Deshalb haben wir auch einen Vorschlag gemacht, wo das Geld herkommen soll! Lesen Sie bitte den Antrag! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Antrag lesen! Das steht im Antrag!) Die Bürger müssen sich darüber klar sein: Alles, was ein Politiker ausgeben will, müssen sie ihm vorher zum Beispiel über Steuern, Abgaben oder erhöhte Preise, etwa die Strompreise, bezahlen. Dieses versucht die Opposition immer wieder zu verheimlichen. Sie kündigt an: „Wir tun Gutes!“, und kommt hinterher zu ihnen und sagt: „Aber bitte bezahlt es.“ (Beifall bei der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Völliger Unsinn! ) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Fricke, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Otto Fricke (FDP): Aber gerne. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Danke schön, Herr Fricke. Sie sprechen davon, dass immer mehr ausgegeben werden soll. Otto Fricke (FDP): Nein. Sie wollen das, nicht ich. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich frage Sie: Was halten Sie von dem Vorschlag, mehr Geld einzunehmen? Wir haben das Problem, dass die Zertifikate zurzeit sehr billig sind. Es gäbe Maßnahmen, die wir vor allem im Umweltausschuss intensivst diskutieren – ich gehe davon aus, dass Sie sich damit befasst haben –, die Anzahl der Zertifikate auf europäischer Ebene zu reduzieren, – Otto Fricke (FDP): Das geht ab 2013 nur noch auf europäischer Ebene. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): – um die Zertifikate so wieder teurer zu machen. Das hätte eine ganze Reihe von positiven Aspekten, zum Beispiel dass die Unternehmen wieder mehr investieren würden. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da ist ja die Frage schon länger als die Redezeit! – Gegenruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Das ist der Trick!) Das besagt eine ganze Reihe von Studien. Meine Frage ist: Sind Sie bzw. ist die Bundesregierung bereit, in dieser Frage tätig zu werden? Otto Fricke (FDP): Geschätzte Frau Kollegin, was die Bundesregierung angeht, hat, glaube ich, die fulminante Rede des Kollegen Kampeter, der das inzwischen als Abgeordneter beobachtet, eine Antwort gegeben. (Johannes Kahrs [SPD]: Er hat aber gar nichts gesagt! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Er hat ja nicht zur Sache geredet!) Ich möchte Ihnen als Abgeordneter erstens sagen: Ich stimme Ihnen zu. Das Thema Cap muss man immer wieder neu beobachten. Wir können das aber nur noch auf europäischer Ebene machen, wie Sie wissen, weil das mit der 2013er-Periode nicht mehr anders möglich sein wird. Deswegen ist übrigens der von den Grünen gewünschte Antrag auf Vorziehung nach 2012 nicht umsetzbar; das würden wir auf europäischer Ebene nicht hinbekommen. Bei der Beantwortung der Frage, wo jeweils das richtige Cap ist, werden wir bei den entsprechenden marktwirtschaftlichen Elementen genau schauen müssen, wie wir einen fairen Markt, ein Level Playing Field, herstellen können. An dieser Stelle kann ich Ihnen zustimmen. Nur an einer Stelle, Frau Kollegin, muss ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Da Sie wünschen, dass mehr Geld eingenommen wird, sage ich Ihnen als Haushälter: Es ist nicht Sinn, mehr Geld einzunehmen, um es dann an anderer Stelle möglichst schnell auszugeben. Der Sinn des Gesetzes und des Handelns ist – das ist wichtig; ich hätte mir gewünscht, dass das den Bürgern, die jetzt zuhören, noch einmal in Erinnerung gerufen worden wäre –, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Sinn ist es nicht, mehr Geld einzunehmen oder mehr Geld auszugeben. (Johannes Kahrs [SPD]: Das heißt, Sie wollten die Programme alle gar nicht, die Sie in den Klimafonds getan haben! Sie haben das Geld doch herausgeholt!) – Darf ich der Kollegin antworten, Herr Kollege Kahrs, oder darf ich selbst das nicht? (Johannes Kahrs [SPD]: Dann müssen Sie auch bei der Sache bleiben!) Frau Kollegin, für mich lautet die entscheidende Frage, wie sich die CO2-Bilanz im Jahr 2011 – wir haben noch nicht alle Zahlen – und in den folgenden Jahren darstellt. Danach werden wir bemessen, ob der EKF bzw. der CO2-Handel funktioniert. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Da ist die Hälfte weggebrochen, und Sie sagen, das funktioniert! Das ist doch Unsinn!) Das ist die Basis, auf der ich vorgehen möchte. Herzlichen Dank für Ihre Frage. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Mich persönlich verärgert genau das: Ziel ist doch – von einer rot-grünen Regierung verhandelt –, mit CO2-Zertifikaten zu einer Reduzierung von CO2 zu kommen. Dafür hat doch Rot-Grün gesorgt. Darüber sind wir uns doch einig, oder, Herr Kindler? Das war doch so. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wir sind auch nicht dagegen!) – Gut. – Das Ziel ist, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Wir wollen eine solche Reduzierung, weil diese Emissionen Auswirkungen auf das Klima haben bzw. weil wir aus anderen Gründen gegen eine solche Verschmutzung sind. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man sich aber ehrgeizigere Klimaschutzziele setzen!) Aber in dem Moment, wo die Ziele Stück für Stück erreicht werden, (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Sie werden doch leider nicht erreicht! Wo werden sie denn -erreicht? – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ziele werden doch nicht erreicht! Da sind doch viel zu viele Zertifikate!) sagen Sie nicht: „Das ist in Ordnung; wir brauchen weniger Geld und müssen den Bürgern weniger wegnehmen“, sondern: „Dann müssen wir schauen, wie wir von Industrie und Wirtschaft noch mehr Geld bekommen“. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das funktioniert doch nicht, weil das Cap zu groß ist!) Kraftwerksbetreiber sollen nach Ihrer Ansicht noch mehr Geld zahlen. Betreiber von Feuerungsstellen mit einer Leistung von über 20 Megawatt – um diese geht es bislang – sollen möglichst noch mehr für den Zertifikatehandel zahlen, mit der Folge, dass die Bürger – einige schauen auf der Tribüne oder am Fernseher zu – am Ende noch mehr bezahlen müssen. (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist doch gar nicht Sinn der Übung!) – Herr Kollege Kahrs, da Sie schon Angst hatten, vor mir zu reden, und sich deshalb an das Ende der Rednerliste haben setzen lassen, sollten Sie jetzt wenigstens zuhören. Dann können Sie später alles erklären. (Johannes Kahrs [SPD]: Unglaublich!) Ich verspreche: Ich werde Ihnen dann gerne zuhören, wie es sich unter Parlamentariern gehört. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Das wäre das erste Mal!) Was mich verwundert, ist, dass jetzt so getan wird, als wäre es eine große Katastrophe, dass die Preise der Zertifikate gesunken sind und wir weniger Geld zum Verteilen haben. (Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben es vorher weggenommen!) Herr Trittin hat immer gesagt, das alles sei sowieso nicht so wichtig; wichtig sei nur das EEG. Für die Grünen ist das doch das Menetekel an der Wand; darum geht es. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht ihr ja auch kaputt!) Wissen Sie eigentlich, wie viel pro Sekunde für das EEG gezahlt wird? 400 Euro pro Sekunde! Das heißt, pro -Minute werden 24 000 Euro für das EEG gezahlt. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Sie wissen aber schon, dass Sie über den Energie- und Klimafonds reden sollen?) Das sind während meiner Rede über 150 000 Euro. Am Ende müssen die Bürgerinnen und Bürger zweistellige Milliardensummen zahlen. Das ist der Kern. Es geht um die Frage: Ist das Ziel, die CO2-Emissionen zu reduzieren, oder ist das Ziel – das scheint bei Ihnen der Fall zu sein – den Menschen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den Subventionen?) und es dann für die Realisierung der von Ihnen gewünschten Projekte auszugeben, um so zu zeigen, wie toll und gut Sie sind? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nach Ansicht meiner Fraktion – ich habe mit dem Kollegen Toncar eben noch darüber gesprochen – ist es folgendermaßen: Wer spielt die entscheidende Rolle bei der CO2-Reduzierung? Ist das der Staat? Bei einem Bruttoinlandsprodukt von über 2,2 Billionen Euro und einem Bundeshaushalt mit einem Volumen von rund 300 Milliarden Euro stellt sich die Frage: Ist es der Staat, der die wesentlichen Entscheidungen trifft? – Nein, es sind die Bürger, die Industrie und die Wirtschaft, die mit ihren Investitionen das Entscheidende bewirken. Bei allen notwendigen Maßnahmen sind wir der Meinung, dass wir dafür sorgen müssen, dass Industrie und Bürger die richtigen Investitionen tätigen und die richtigen Entscheidungen treffen. (Johannes Kahrs [SPD]: Deswegen machen Sie die Programme kaputt?) Der Bürger, der heutzutage darüber nachdenkt, was er für Nachhaltigkeit und CO2-Reduzierung tun kann, muss die Möglichkeit haben, (Johannes Kahrs [SPD]: Aber Sie machen doch die Programme kaputt! – Dr. Bärbel -Kofler [SPD]: Sie streichen doch gerade zusammen!) eigenes Geld in ein neues Dach, eine Solaranlage, eine Wärmepumpe oder eine bessere Isolierung zu investieren. Sie sagen, das solle er nur tun, wenn er dafür Subventionen bekommt. Wir wünschen uns, dass er das aufgrund eigener Überlegungen tut. Wir wollen gerne entsprechende Anreize setzen, aber immer im Rahmen der Reduzierung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Kernunterschied zwischen Ihrer Politik und unserer ist der folgende: (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch einen Deckungsvorschlag!) Bei unserer Politik steht, wenn das Ziel klar ist, an erster Stelle die Frage, wie ich mit dem Bürger dahin gelangen kann, wie ich dem Bürger auf seinem Weg helfen kann. Sie dagegen geben dem Bürger den Weg vor. (Johannes Kahrs [SPD]: Sie fahren beim Klima doch gegen die Wand! Das ist ja unglaublich!) Dies werden wir nicht machen. Wir werden weiterhin versuchen, den Bürger, die Industrie und andere zu motivieren, mit ihren Investitionen CO2-Reduktionen und -dadurch geringere Emissionen zu erreichen. Wenn dadurch die Zertifikatepreise sinken, haben wir genau das erreicht, was wir alle wollen: weniger Emissionen, den Schutz unserer Umwelt und einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Roland Claus hat das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Roland Claus (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, so leicht wie der Kollege Otto Fricke darf man es sich nicht machen. Erst korrigiert ihr die eigenen Ziele – man kann auch sagen: brecht Versprechen –, (Beifall bei der LINKEN) dann werdet ihr dabei erwischt, und dann beschimpft ihr diejenigen, die euch erwischen und kritisieren, dass ihr mehr Schulden machen wollt. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir finden, der Antrag ist gut und richtig und kommt zur richtigen Zeit. Die Regierung hat gestern im Haushaltsausschuss den Entwurf des Nachtragshaushaltes vorgelegt. Einen Nachtragshaushalt braucht man immer dann, wenn das Geld für das, was man vorhat, nicht ausreicht. Für die Euro-Stabilisierung soll eine Menge eingestellt werden. Jetzt kommt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und sagt: Wenn wir schon korrigieren, dann lasst uns auch dort korrigieren, wo es sonst noch klemmt. An die Adresse der Koalition möchte ich die Frage richten: Wie viel konstruktive Mitwirkung muss Ihnen denn noch entgegengebracht werden? Das ist doch eine ausgestreckte Hand, die Sie auch ergreifen sollten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch wir sind der Meinung, dass der Haushalt 2012 schwere Fehler in der Klimapolitik enthält, die jetzt zu korrigieren wären. Sie haben gute Programme, eigentlich sogar die am besten funktionierenden Förderprogramme des Bundes regelrecht zerstört. Sie haben die energetische Gebäudesanierung vor den Baum gefahren und verschiedene Sondervermögen außerhalb der zuständigen Ministerien geschaffen. Die Koalition wird jetzt sagen, sie habe geringfügig korrigiert und 78 Millionen Euro nachgelegt. Aber Sie bleiben weiter im falschen System; das ist hier ausdrücklich erläutert worden. Es ist nicht so, dass die Bundesregierung und die Koalition nicht gewarnt worden wären. Nicht nur die Opposition im Bundestag hat sich beschwert. Sie hätten auch die Protestschreiben der Bürgermeister – von der Linken und der CSU – mit nahezu gleichlautendem Text ernst nehmen müssen. Dann hätten Sie diesen Mist nicht verzapft. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. -Johannes Kahrs [SPD]) Einer der zuständigen Minister, Minister Ramsauer, hat auf diese Kritik mit einem Zitat von Deng Xiaoping geantwortet, (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Da kennen Sie sich aus!) das da hieß, ihm sei es egal, ob die Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache sie fange Mäuse. Wie wir jetzt feststellen, fängt da niemand nichts. Ein Förderprogramm geht vor die Hunde. Man sollte sich eben nicht so unkritisch kommunistischen Vordenkern aussetzen. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) Die Linke steht für einen sozial-ökologischen Wandel im Denken und Wirtschaften und für eine Energiewende, die alle mitmachen können – nicht nur die Reichen. Es muss dabei sozial zugehen, damit es, von Mehrheiten -akzeptiert, auch stattfinden kann. Die Linke hat auf diesem Weg Erfahrungen gesammelt und auch einen Anteil daran, dass es heute so etwas wie einen ostdeutschen -Erfahrungsvorsprung bei der Einführung erneuerbarer Energien gibt. Die Koalition ist eingeladen zur Nachbesserung. Die Abgeordneten haben es jetzt in der Hand. Wenn der zuständige Umweltminister aus seinem kurzen, aber erfolglosen Wahlkampfurlaub in NRW zurück ist, haben Sie als Abgeordnete etwas für den Klimaschutz und die Energiewende getan. Sie haben die Energiewende nicht hinbekommen. Deshalb sage ich Ihnen zum Stichwort NRW: Auch diese Wende werden Sie vergeigen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ernst Hinsken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle bisherigen Reden hierzu waren engagiert, aber in der Sache nicht immer richtig. (Johannes Kahrs [SPD]: Das stimmt!) Richtungsweisend waren für mich die Reden des Parlamentarischen Staatssekretärs Kampeter und des Kollegen Fricke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Roland Claus [DIE LINKE]: „Richtungsweisend“ stimmt, aber in die falsche Richtung!) In diesen wurde einiges angesprochen, was Sache ist und was heute von Bedeutung sein muss. Grundsätzlich möchte ich hier feststellen: Energiewende mit allen Facetten ja, aber finanziell verkraftbar. (Frank Schwabe [SPD]: Mit Atomkraft?) Dabei ist auch an den steuerzahlenden Bürger und Betriebsinhaber zu denken. Die dürfen finanziell nicht überfordert werden. Herr Kollege Fricke, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Die Hauptwörter in den Reden der Oppositionssprecher waren: ausgeben, ausgeben, ausgeben. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das habe ich mit keinem Wort gehört!) Zwischendurch wird immer wieder geschrien: Aber wir haben auch Deckungsvorschläge. – Hören Sie mir doch auf mit dem, was Sie bisher gebracht haben. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wir haben gesagt, die Einnahmen müssen verstetigt werden!) Das ist nicht brauchbar, das ist nicht umsetzbar, Ihre Vorschläge sind der Sache nicht dienlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Antrag nicht gelesen!) Ich meine, dass wir gerade am Anfang eines schrittweisen Umbaus unserer Energieversorgung stehen. Mit einem umfangreichen Gesetzespaket haben wir im letzten Sommer die Grundlagen dafür gelegt. Damit ist die Energiewende auf den Weg gekommen. Was wollen wir? Ab 2012 wollen wir die Erlöse aus der Versteigerung von CO2-Zertifikaten vom Bundeshaushalt vollständig in den Energie- und Klimafonds verlagern, -soweit diese nicht zur Finanzierung der deutschen Emissionshandelsstelle benötigt werden. Da gibt es für uns klare Prioritäten, die auf dem Tisch liegen: erstens die CO2-Gebäudesanierung, zweitens die Weiterentwicklung der Elektromobilität, drittens der internationale Klima- und Umweltschutz und viertens die Förderung der rationellen und sparsamen Energieverwendung. So wollen wir die Verpflichtungsermächtigungen beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm und bei der Elektromobilität nunmehr vollständig dem EKF zuweisen. Bewusst haben wir zum Beispiel das CO2-Gebäudesanierungsprogramm als zentrales Programm zur Steigerung der Energieeffizienz im Gebäudebereich in 2012 von Kürzungen ausgenommen, setzt es doch auf finanzielle Anreize anstatt auf Zwang und damit auf eine ökonomisch effiziente Steigerung der Energieeffizienz. Dies verstehen wir unter Energie- und Umweltpolitik aus einem Guss, aber nicht das, was Sie von den Grünen machen, die Sie immer nach mehr Geld schreien, das Sie dem Bürger aus der Tasche ziehen wollen. Da machen wir nicht mit. Da setzen wir klar und eindeutig dagegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Frank Schwabe [SPD]: Was heißt hier „schreien“?) Wir wollen in den nächsten zehn Jahren im Gebäudebereich noch einmal 20 Prozent an Energie einsparen und bis 2050 den Primärenergiebedarf in einer Größenordnung von 80 Prozent reduzieren. Hierfür brauchen wir Steueranreize. Es ist ärgerlich, dass bisher Bund und Länder zu keinen Ergebnissen gekommen sind. Ich sage ausdrücklich: Unser aller Aufgabe ist es, auf die Länder einzuwirken, damit diese die Blockadepolitik endlich aufgeben. Von der steuerlichen Abschreibung bei der energetischen Gebäudesanierung wären 80 Prozent der Eigentümer von Wohnungen und Gebäuden betroffen. Das würde einen enormen Schub an Investitionen auslösen und die Binnenkonjunktur weiterhin stärken. Gerade das Handwerk würde davon profitieren; denn 1 Euro an Fördermitteln löst mindestens das Achtfache an Investitionen aus. Dadurch kommt ein großer Teil der Fördermittel zurück. Zudem könnten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Es könnten Arbeitsplätze auf dem Binnenmarkt geschaffen und die Energiewende vorangebracht werden. Ohne eine solide industrielle Basis sind die Energiewende und der Klimaschutz nicht möglich. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Industrie, die zu weiten Teilen die Emissionshandelserlöse finanziert, eine teilweise Rückerstattung braucht. Auch nach der Emissionshandelsrichtlinie sollen die Mitgliedstaaten mindestens 50 Prozent, nicht aber den gesamten Erlös für Klimaschutz und ähnliche Maßnahmen verwenden. Für uns gilt deshalb: Engagement muss belohnt werden, sind doch in Deutschland die Energiesteuern im Vergleich zur EU, aber auch weltweit mit am höchsten. Das ist ein Wettbewerbsnachteil. Wir müssen auch an das Große und Ganze, an Arbeitsplätze und an die Wettbewerbsfähigkeit denken. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sind auf dem Holzweg, wenn Sie jetzt die bei der Einführung der Ökosteuer zu Recht gewährten Steuerentlastungen für die Industrie wieder kippen wollen. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Auch das hat mit dem Energie- und Klimafonds nichts zu tun!) Diese steuerlichen Entlastungen für Unternehmen des produzierenden Gewerbes sind weder ungerechtfertigte noch umweltschädliche Subventionen, sondern sind im Interesse der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der Verhinderung von Standortverlagerungen sowie des Erhalts von Arbeitsplätzen dringend erforderlich. (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht wahr!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wollte in dieser Angelegenheit noch vieles hinzufügen, die Zeit lässt es nicht zu. Ich meine, trotz der Beschränkung auf diese wesentlichen Punkte, die ich genannt habe, abschließend sagen zu können: Merken Sie sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Jede zusätzliche Verknappung des Angebots an Emissionsberechtigungen wird den europäischen Unternehmen einseitig weitere Kosten aufbürden und das Risiko der Verlagerung von Produktion und Beschäftigung erhöhen. (Frank Schwabe [SPD]: Die Kanzlerin ist -dafür!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Unser Vorgehen ist richtig. Wir lassen hier nicht ab, und wir stellen die Weichen für eine positive Zukunft auch im Energiesektor. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Johannes Kahrs (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben erlebt, wie die Abgeordneten der Koalition eine große Luftblase produziert haben, hinter der sie versteckt haben, was sie mit dem Umwelt- und Klimafonds wirklich vorhaben. (Otto Fricke [FDP]: Der heißt Energie- und Klimafonds!) Wir haben hier die schlechteste Rede von Steffen Kampeter erleben dürfen, die er je gehalten hat. Er hat ja von Finanzen durchaus Ahnung, hat aber bewiesen, dass er von Umwelt überhaupt keine Ahnung hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir hatten einmal Programme wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das Programm „Energetische Stadtsanierung“, das Marktanreizprogramm und die Programme zur Elektromobilität. Die waren in den früheren Haushalten alle durchfinanziert. Das Geld war da. (Frank Schwabe [SPD]: So ist das! Das ist das Thema!) Dann hat diese Koalition das Geld für diese Programme genommen, es für andere Dinge ausgegeben (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein -Blödsinn!) und dann gesagt: Als Gegenfinanzierung stellen wir die Erlöse aus CO2-Zertifikaten in einen Fonds ein. In diesen Fonds, den Energie- und Klimafonds, haben Sie all die Programme hineingetan, die Ihre Minister noch nie geliebt haben. Er ist zu einer großen Abladestätte von Programmen geworden, die wir unter Rot-Grün hochgefahren und in der Großen Koalition gehalten haben, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die aber von CDU/CSU und FDP in der Vergangenheit nie wirklich gewollt wurden und deren Gelder sie dann gekürzt haben. Nachdem Sie das Geld diesen Programmen weggenommen hatten, Herr Kampeter, haben Sie als Finanzierung eine Luftbuchung dagegengesetzt und beklagen jetzt, dass Ihre eigene Finanzierung nicht funktioniert und die Programme, die Sie alle so gerne haben wollen, jetzt leider nicht finanziert sind. (Frank Schwabe [SPD]: Das ist das Thema!) Das ist einfach unverschämt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In der Sache stellten die Reden von Ihnen heute nichts anderes als Ablenkungsmanöver dar. Es geht nämlich nicht darum, dass wir mehr Geld ausgeben wollen, (Otto Fricke [FDP]: Aber natürlich!) sondern es geht darum, dass das Geld, das früher für diese Programme vorhanden war, wieder zur Verfügung gestellt werden muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jeder Euro ist da hineingegangen!) – Herr Staatssekretär, Sie gehören auf die Regierungsbank. Ab auf Ihren Platz! – (Otto Fricke [FDP]: Er ist Parlamentarischer Staatssekretär!) Das, was Sie gemacht haben, ist im Ergebnis nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver. In Wirklichkeit wollen Sie es gar nicht. Deswegen haben wir hier alle ein Problem miteinander; denn das, was Sie hier darstellen, ist in der Sache falsch. Sie versuchen, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Unsere Aufgabe als Opposition ist es, ganz klar zu sagen: Das wird nicht funktionieren. Wir halten viel von diesen Programmen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir auch!) Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist von Ihnen in den letzten Jahren immer weiter zusammengestrichen worden, ebenso das Marktanreizprogramm sowie das Programm „Energetische Stadtsanierung“. Das haben wir doch alles erlebt. Die Kanzlerin hat sich hingestellt und hier Elektromobilität groß als die neue Wunderwaffe beworben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sind Sie gegen Elektromobilität, Herr Abgeordneter Kahrs?) Was ist im Ergebnis passiert? Das entsprechende Programm ist nicht ausfinanziert, weil Sie, Herr Kampeter, als Staatssekretär aus dem Finanzministerium nicht das Geld für das, was Ihre Kanzlerin hier laufend propagiert, zur Verfügung gestellt haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist schändlich. Wie es in der Sache war, haben wir alle erlebt: Das Geld des Bürgers war in diesen Programmen bereits angelegt – das wissen Sie, Herr Kollege –, aber Sie haben es herausgenommen. Deswegen ist das, was Sie sagen, unsinnig. Dennoch können wir Sozialdemokraten dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Typisch!) – Etwas mehr geistige Trennschärfe, Herr Staatssekretär, würde Ihnen gut anstehen. – In diesem Antrag ist zwar sehr viel Gutes enthalten. Aber es wird auch gefordert, dass energieintensive Unternehmen stärker belastet werden sollen. Auf der anderen Seite wird von Problemen bei energieintensiven Unternehmen gesprochen, die sich dann ergeben, wenn die Strompreise erhöht werden. Das darf nicht sein; denn wir sind Industriestandort. Die deutsche Industrie muss wettbewerbsfähig bleiben. Es geht hier um Arbeitsplätze. Man muss das eine machen, ohne das andere zu lassen. Lernen Sie von der Sozialdemokratie! Dann wissen Sie, wie es geht. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Vielen Dank und noch einen schönen Tag. (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was für ein Hamburger Schaumschläger!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8919 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (12. Ausschuss) – zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internet-Telefonie in Afghanistan – Drucksachen 17/8895, 17/8795, 17/5908, 17/9057 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Reinhard Brandl Lars Klingbeil Christoph Schnurr Harald Koch Omid Nouripour Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man mit den Soldaten im Einsatzgebiet oder mit ihren Familien spricht, dann weiß man, dass die Betreuungskommunikation, also die Möglichkeit, aus dem Einsatzgebiet mit den Familienangehörigen zu Hause Kontakt aufzunehmen, eines der wichtigsten Anliegen überhaupt ist. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Früher bestand die Betreuungskommunikation vor allem aus Feldpost und Telefon. Auch heute noch gehören sie zu den Kommunikationsmöglichkeiten. Aber darüber hinaus besteht heute der Bedarf nach einigermaßen schnellen Internetzugängen. Aber genau daran hapert es an vielen Einsatzorten. Beschwerden über die Internetanbindung erleben wir auf jeder Reise, insbesondere auf Reisen nach Afghani-stan. Aber auch im Norden des Kosovo und auf hoher See ist die Anbindung nach Meinung vieler Soldaten, nach Meinung des Wehrbeauftragten und auch nach unserer Meinung nicht zufriedenstellend. Wir haben das in den vergangenen Monaten im Verteidigungsausschuss mehrmals thematisiert. Daraus ist der Antrag entstanden, den wir als Koalition gemeinsam mit den Fraktionen der SPD und der Grünen eingebracht haben und über den wir heute abstimmen. Das Signal, das davon ausgehen soll, ist klar: Bei dem Thema Betreuungskommunikation ziehen wir alle an einem Strang. Ich darf mich ganz herzlich bei den Kollegen Schnurr und Klingbeil sowie bei der Kollegin Brugger bedanken, mit denen wir diesen Antrag gemeinsam erarbeitet haben. Das Internet bietet heute Kommunikationsmöglichkeiten, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wären. Es geht nicht mehr nur darum, eine E-Mail aus dem Einsatzgebiet zu schreiben oder auf Webseiten zu surfen. Es gibt heute beispielsweise über Skype die Möglichkeit, Videotelefonie durchzuführen. Genau das wollen die Soldaten und ihre Angehörigen. Die Soldaten wollen das aber nicht in einem Internetcafé quasi öffentlich tun, wo der Kamerad auf dem Platz nebenan mit einem halben Ohr zuhören kann, sondern in den Unterkunftsgebäuden, wo die Soldaten zumindest ein wenig Privatsphäre haben. Natürlich ist es schwierig, im Einsatzgebiet die gleiche Internetperformance wie in Deutschland zu bieten; das versteht jeder. Aber es wird dann schwierig, die Gründe für die schlechtere Performance zu erklären, wenn der Eindruck entsteht, dass andere Nationen ihren Soldaten am gleichen Ort genau diesen Service bieten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn man sich die Details vor Augen führt, mag es sachliche Gründe geben, warum es bei dem einen geht und bei dem anderen nicht. Aber wenn das so ist, muss es sehr transparent sein. Wenn der Eindruck entsteht, die Bundeswehr würde die Betreuungskommunikation ihrer Soldaten im Einsatz vernachlässigen, dann ist das für die Motivation der Soldaten fatal. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist es doch schon!) Es ist nicht so, dass nichts passiert. Man kann sagen: Die Bundeswehr bemüht sich, dem wachsenden Bedarf der Soldaten Rechnung zu tragen. Erst im Juli 2011 hat ein neuer Anbieter, Astrium, die Betreuungskommunikation übernommen. Aber nachdem danach das verbesserte Angebot, das Astrium bereitstellt, immer noch nicht ausreichend war, hat es im November eine umfangreiche Studie gegeben, wie man dieses Angebot im Rahmen des bestehenden Vertrages weiter verbessern kann. Meiner Ansicht nach ist das auch der richtige Ansatz. Jetzt eine Neuausschreibung zu fordern, würde -wieder langwierige Vertragsverhandlungen nach sich ziehen, der bestehende Anbieter würde nichts mehr investieren, und die Infrastruktur müsste gegebenenfalls ab- und neu aufgebaut werden. Es würde den Soldaten, die heute und in den nächsten Monaten im Einsatz sind, überhaupt nichts bringen. Das wäre auch schwer zu vermitteln. Das Ganze würde auch vor dem Hintergrund -geschehen, dass wir in Afghanistan bereits mit den -Abzugsplanungen beginnen. Wir müssen also das Beste aus der Situation machen. Hier gibt es Möglichkeiten zur Verbesserung. Bisher wurden alle Standorte über Satellit versorgt. Kommer-zielle Satellitenkapazitäten, insbesondere über Afghani-stan, sind ein knappes Gut. Im Moment werden die beiden großen Standorte Kunduz und Masar-i-Scharif über ein Glasfaserkabel an das Netz der Afghan Telecom angeschlossen. Wenn diese Leitung steht, dann kann die Anbindung in diesen Lagern darüber verbessert werden und die freiwerdenden Satellitenkapazitäten würden für die Standorte Faizabad, Taloqan oder das OP North zur Verfügung stehen. Aber die Bandbreite ist nur ein Teil des Problems. Auch die WLAN-Ausstattung in den Unterkünften muss verbessert werden. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, dass in Zukunft von Anfang an, wenn solche Unterkünfte aufgebaut werden, eine entsprechende WLAN-Versorgung integriert ist. Das gehört heutzutage dazu, genauso wie der Strom- oder der Wasseranschluss. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Bundeswehr sind die besseren Möglichkeiten der Betreuungskommunikation eine große Chance. Sie kann damit die immer häufiger werdenden Einsätze für die Soldaten und ihre Familien erträglicher gestalten und damit indirekt die Akzeptanz und die Bereitschaft der Soldaten in den Einsatzgebieten erhöhen. Wir Abgeordnete fordern die Bundesregierung und die Bundeswehr auf, diese Chance aktiv zu nutzen und die Situation für unsere Soldaten im Einsatz schnellstmöglich zu verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dies haben wir in einem gemeinsamen Antrag zum Ausdruck gebracht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um Ihre Zustimmung dafür. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Lars Klingbeil (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle kennen die Situation, dass wir mit Soldaten im Auslandseinsatz, etwa in Afghanistan, oder mit Soldatinnen und Soldaten, die aus dem Auslandseinsatz zurückgekehrt sind, im Gespräch sind. Wir Politiker hören dann eine ganze Reihe von Fragen. Eine Frage, die ich häufig höre, ist: Wieso können unsere Kameraden aus den Partnerländern kostenfrei und unbegrenzt mit ihren Familien telefonieren? Eine andere Frage, die auch oft kommt, lautet: Warum ist es deutschen Polizisten in Afghanistan möglich, in den Unterkunftsgebäuden mit ihren Familien zu skypen? Es gibt eine dritte Frage, die uns alle bewegen sollte. Das ist die einfache Frage der Soldatinnen und Soldaten: Warum ist uns das nicht möglich? Aus dieser Frage höre ich einen gewissen Frust heraus. Ich höre außerdem die Vermutung heraus, dass man ihnen nicht genügend Wertschätzung entgegenbringt. Ich will Ihnen ganz offen sagen: Ich hatte noch nie eine Antwort auf diese dritte Frage. Mich hat jedoch das Versprechen bewegt, das ich gegeben habe: Genau um diese Herausforderung will ich mich kümmern. Heute tun wir das gemeinsam als Parlament, wir kümmern uns. Ich bin dankbar dafür, dass wir einen fraktionsübergreifenden Antrag auf den Weg bringen, der die Kommunikationsmöglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz verbessern soll. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag ist ein starkes Signal des Parlaments. Er ist ein Signal an die Soldatinnen und Soldaten, dass wir als Parlamentarier ihre Arbeit wertschätzen und ihnen Anerkennung zollen für das, was sie tun. Er ist zugleich ein starkes Signal an die Bundesregierung, endlich für Kommunikationsmöglichkeiten zu sorgen, die sich auf der Höhe der Zeit befinden. Noch einmal: Hier senden wir ein starkes Signal. Die SPD hat bei vorangegangenen Haushaltsberatungen gefordert, erstens das kostenfreie Telefonieren zu ermöglichen und zweitens die Kapazitäten für Internettelefonie auszubauen. Leider sind diese Anträge abgelehnt worden. Es ist aber richtig, dass wir nicht zurückblicken, sondern dass wir uns zusammen auf den Weg gemacht haben und heute diesen gemeinsamen Antrag verabschieden. Der Kollege Brandl hat es gerade angesprochen, und ich kann es bestätigen: Wenn ich etwa in meiner Heimatstadt Munster, wo es viele Soldaten gibt, die gerade in Afghanistan waren, Gespräche geführt habe, dann waren wir in den Diskussionen immer sehr schnell beim Thema Betreuungskommunikation. Dabei ist es gar nicht viel, was die Soldatinnen und Soldaten erwarten. Es geht gar nicht um Standards, wie wir sie in deutschen Großstädten erleben. Die Soldatinnen und Soldaten sind sehr bescheiden, aber sie fragen: Warum ist es nicht möglich, dass ich in meinem Unterkunftsgebäude meinen Laptop aufklappen und mit meiner Familie skypen kann? Sie fragen: Warum ist es nicht möglich, dass ich mit meiner Freundin auch einmal länger als 30 Minuten kostenfrei telefonieren kann? – Wenn man sieht, dass das in anderen Nationen möglich ist, dann ist es umso notwendiger, dass wir diesen Antrag heute auf den Weg bringen. Wir sind seit zehn Jahren in Afghanistan, und wir alle müssen uns fragen, ob wir mit diesem Antrag nicht ein bisschen spät dran sind. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Der technische Fortschritt hat uns aber auch neue Möglichkeiten eröffnet. Wir müssen uns als Politiker kritisch fragen, ob wir bei vorangegangenen Vertragsverhandlungen mit unseren Forderungen überhaupt auf die richtigen technischen Standards gesetzt haben. Der Deutsche Bundestag definiert heute, was er im Hinblick auf die Betreuungskommunikation und die technischen Möglichkeiten für wichtig hält. Damit setzen wir Standards für künftige Einsätze, die kommen können. Es darf keinen Einsatz der Bundeswehr mehr geben, der nicht auf diese Standards zurückgreift, die wir heute in dem Antrag definieren. Die in den nächsten Wochen anstehenden Verhandlungen mit dem Ministerium versprechen spannend zu werden. Der Kollege Schnurr hat bei einer Pressekonferenz, die wir mit den Initiatoren des Antrags abgehalten haben, gesagt: Unser Motto lautet: „Geht nicht“ gibt’s nicht. Das muss, glaube ich, in den kommenden Wochen die Leitlinie für das Parlament sein. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hätte, diesen Antrag gemeinsam mit allen Fraktionen auf den Weg bringen zu können. Die Streitereien und Differenzen zwischen Union und Linken können wir als So-zialdemokraten an dieser Stelle aber nicht befriedigen. Vielleicht kommen wir irgendwann zu dem Punkt, dass wir in diesem Hohen Hause Anträge, die die Bundeswehr betreffen, auch gemeinsam verabschieden können. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glaube ich eher nicht!) Dieser Antrag sieht im Detail vor, in den Unterkunftsgebäuden eine Technologie vorzuhalten, die Videotelefonie ermöglicht. Dieser Antrag fordert die Bundesregierung auf, ein Finanzierungskonzept vorzulegen, um das Ganze für die Soldatinnen und Soldaten kostenfrei bereitzustellen. Wir fordern auch die Aufhebung der 30Freiminuten-Regelung. Vor allem drängen wir darauf, dass die Möglichkeit auf ausreichende Privatsphäre bei der Kommunikation gewährleistet wird. Ich sage Ihnen: Es geht bei diesem Antrag nicht nur um die Frage der Kommunikation. Bei diesem Antrag geht es auch um die die Frage nach der Attraktivität des Soldatenberufs. Wir alle wissen doch, wie schwierig es in den kommenden Monaten und Jahren wird, ausreichend Nachwuchs für die Bundeswehr zu bekommen. Diejenigen, die bei der Bundeswehr ausscheiden, und diejenigen, die aus dem Auslandseinsatz zurückkommen, sind die wichtigsten Personen, wenn es darum geht, Nachwuchswerbung für die Bundeswehr zu betreiben. Deswegen müssen wir erreichen, dass diese Soldatinnen und Soldaten sagen: Die Politik hat sich um uns gekümmert. Die Politik nimmt uns ernst. – Wir setzen heute mit diesem Antrag ein wichtiges Zeichen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist egal, ob jemand in den ersten Einsatz geht oder in den fünften, es ist egal, ob jemand nach Afghanistan oder in den -Kosovo geht, es ist egal, ob wir von einem Mannschaftsdienstgrad oder von einem Offizier reden: Für alle diese Menschen ist die Trennung von Familie und Freunden eine große Herausforderung. Wir haben uns deswegen darum zu kümmern, dass es eine angemessene, umfangreiche und moderne Betreuungskommunikation gibt. Ich will mich dem Dank anschließen, der von meinem Vorredner formuliert wurde. Ich will hier Herrn Brandl, Frau Brugger und Herrn Schnurr erwähnen, aber auch Herrn Koch, der an den Beratungen beteiligt war, die wir durchgeführt haben. Ich will mich beim Wehrbeauftragten bedanken, der, wie sein Vorgänger, immer wieder auf dieses Thema hingewiesen hat. Ich will mich auch beim BundeswehrVerband bedanken – ich sehe Vertreter des Verbandes oben auf der Tribüne –, der auch immer sehr aktiv war, wenn es darum ging, die Betreuungskommunikation zu verbessern. Wir senden heute als Parlament einen Appell an die Regierung. Unser neuer Bundespräsident hat am Sonntag hier geredet und gesagt: „Was für ein schöner Sonntag!“ Ich glaube, dies kann ein schöner Donnerstag werden. Herr de Maizière, Sie haben es jetzt in der Hand, unsere Vorschläge umzusetzen. Wir wünschen Ihnen -dabei viel Kraft. Auf unsere Unterstützung können Sie sich verlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich habe ich noch eine Minute Redezeit; aber ich glaube, zu diesem Thema ist alles gesagt. Es wird Zeit, dass wir handeln. Vielen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Harald Koch [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Schnurr für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christoph Schnurr (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nahtlos da anschließen, wo mein Vorredner aufgehört hat: Heute ist in der Tat ein sehr schöner Tag, weil wir ein klares Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch hier in Deutschland sowie an ihre Familien senden. Nachdem wir im letzten Jahr das Einsatzversorgungsgesetz auf den Weg gebracht haben, geht es uns heute um die Verbesserung der Betreuungskommunikation in den Auslandseinsätzen. Es ist ein -klares Signal, weil dieser Antrag aus der Mitte des -Parlamentes kommt; er ist fraktionsübergreifend. Auch ich möchte gleich zu Beginn meinen Dank dafür aussprechen, dass wir diesen Antrag in sehr kon-struktiven Gesprächen, in denen es manchmal um sehr -detaillierte Ausformulierungen ging – ich hätte fast gesagt: wir haben beinahe über jedes Komma gesprochen –, -zustande gebracht haben, in einer sehr zügigen Art und Weise. Ich möchte in diesen Dank auch all jene -Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichen Fraktionen einbeziehen, die nicht nur mit unserem Know-how, sondern teilweise auch mit sehr spezifischem technischen Know-how gedient haben, beispielsweise unseren Kollegen Jimmy Schulz. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kollegen, wir befassen uns im Verteidigungsausschuss mit vielen Themen und sind immer bemüht, unseren Soldatinnen und Soldaten nach Möglichkeit eine gute Ausrüstung zu bieten sowie eine persönliche Ausstattung und Ausbildung zu gewährleisten; wir sind immer dabei, sie zu verbessern. In diesem Bereich hat sich eine Menge getan. Einige Maßnahmen haben viel Geld gekostet. Heute geht es um die Betreuungskommunikation, um eine Aufgabe, deren Realisierung nicht gleich zig Millionen Euro kostet, aber für die Truppe enorm wichtig ist und einen hohen Stellenwert hat. Die Bedeutung der Betreuungskommunikation für unsere Soldatinnen und Soldaten, aber insbesondere auch für ihre Familien ist uns allen bewusst. Ob bei Truppenbesuchen im Inland oder im Ausland: Das Thema wird bei jeder Gelegenheit, an jeder Stelle angesprochen. Teilweise erhalten wir E-Mails und Anrufe von Familienangehörigen, die auf die verbesserungsbedürftige Situation hinweisen. Wir wollen – das sagen wir heute ganz deutlich – eine bessere, modernere und angemessenere Betreuungskommunikation für unsere Soldatinnen und Soldaten. Wurde einst hauptsächlich über Briefe via Feldpost kommuniziert, existiert heute eine Vielzahl an Kommunikationsmöglichkeiten: das Telefonieren, das Verschicken von SMS, die Möglichkeiten, die über das Internet geboten werden, beispielsweise das Schreiben von E-Mails, der Download von Videos oder Musik, die man sich anschauen oder anhören kann, aber auch die Nutzung der entsprechenden Nachrichtenportale zur politischen Bildung, ganz besonders natürlich die Nutzung der technologischen Möglichkeiten der Videotelefonie bzw. von Skype. In unserem Antrag geht es uns heute um diese Feldpost 2.0. Die Betreuungskommunikation ist ein wichtiger und nicht kleinzuredender Faktor. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Vorredner hatten es bereits erwähnt: Ein Blick auf andere Nationen lässt die Erwartungen unserer eigenen Soldaten steigen. Teilweise können Telefonate, sogar Videotelefonate, über Dienstgeräte bzw. Dienstsatelliten getätigt werden; nicht so in Deutschland. In Deutschland wird die Betreuungskommunikation durch einen privaten Anbieter bereitgestellt. Durch den neuen Anbieter, der im letzten Jahr beauftragt wurde, hat sich die Situation schon verbessert. Ein vergleichbarer Standard wie hier in Deutschland wird es in Afghanistan auf absehbare Zeit aber nicht geben können. Ein Unterschied in der Übertragungsgeschwindigkeit wird beispielsweise immer vorhanden sein. Das dürfen wir nicht vergessen und nichts anderes versprechen. Die Notwendigkeit für weitere Verbesserungen ist offenkundig und besteht fort. Deshalb fordern wir in unserem Antrag erstens, dass die Videotelefonie in Unterkünften flächendeckend ermöglicht wird, damit in Echtzeit in Bild und Ton Kontakt zur Familie gehalten werden kann, dass die Soldaten sozusagen live mit ihren Familien oder ihrem sozialen Umfeld kommunizieren können, zweitens ein Umsetzungskonzept für eine kostenfreie Nutzung des Internets, drittens, dass die notwendige IT-Infrastruktur künftig in den Unterkünften inte-griert wird, viertens, dass entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, um die Gewährleistung der Privatsphäre von Soldatinnen und Soldaten bei der Nutzung der Videotelefonie zu verbessern, und fünftens, dass die Soldaten im Einsatz die Möglichkeit bekommen, kostenfrei nach Deutschland zu telefonieren. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein Großteil unserer Soldatinnen und Soldaten befindet sich 5 000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in einem herausfordernden und gefährlichen Einsatz. Die Belastungen für die Familien sind enorm und kaum vorstellbar. Die Scheidungs- und Trennungsquoten sprechen für sich. Eine moderne und zuverlässige Betreuungskommunikation ist auch Ausdruck einer Fürsorgepflicht gegenüber unseren Soldaten und deren sozialem Umfeld. Ich würde mich freuen, wenn das Ministerium nach Beschlussfassung hier im Hohen Hause eine rasche Umsetzung der Maßnahmen sicherstellen würde; denn es geht nicht nur darum, dass wir ein klares Signal an unsere Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien senden, Herr Minister, sondern auch darum, dass das Haus weiterhin schnell und möglichst unbürokratisch an der Umsetzung arbeitet. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine moderne Armee braucht mehr als gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge; eine moderne Armee muss auch auf die Wünsche der Soldaten eingehen. Wir wollen die bestmögliche Betreuungskommunikation für unsere Frauen und Männer im Einsatz. Anders formuliert: Deutschland muss auch vom Hindukusch aus erreichbar sein. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Harald Koch. (Beifall bei der LINKEN) Harald Koch (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Elektronische Kommunikationsmedien sind für die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz oftmals die einzige Verbindung zur Heimat und die einzige Möglichkeit, sich frei und uneingeschränkt zu informieren. Trotz eines Anbieterwechsels im Jahr 2011 kritisieren sowohl Bundeswehrangehörige als auch der Wehrbeauftragte weiterhin, dass das Angebot noch immer unzureichend ist und es den Soldatinnen und Soldaten eben nicht ermöglicht, beispielsweise per Skype mit der Familie zu kommunizieren oder via Internet die neuesten Nachrichten zu erhalten. Gerade dies ist aber angesichts immer weiter steigender Zahlen von PTBS und anderen einsatzbedingten psychischen Erkrankungen nicht nur für die Erhaltung der psychischen Gesundheit von zen-traler Bedeutung, sondern auch zur Gewährleistung einer freien, vom Bundeswehrumfeld unbeeinflussten Meinungsbildung. Kostenloses Telefonieren und Surfen mit entsprechenden Bandbreiten sind für die Angehörigen der Streitkräfte anderer Nationen, aber auch für stationierte Polizistinnen und Polizisten längst Standard. Das sollte auch für die deutschen Bundeswehrangehörigen gelten. Der interfraktionelle Antrag von CDU/CSU, FDP, SPD und den Grünen erkennt dieses Problem zwar, wälzt die Verantwortung aber auf die Ministerialbürokratie ab, die prüfen soll, ob eine kostenfreie Nutzung des Internets zukünftig möglich ist. (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sollen wir das selber machen?) Aus unserer Sicht reicht es nicht aus, immer nur zu prüfen. Was dabei herauskommt, können wir seit über zehn Jahren bei der Entschädigung von Radarstrahlenopfern verfolgen. Da wird bis heute geprüft, und die Betroffenen warten, warten und warten. Darüber hinaus fordern wir, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Privatsphäre der Soldatinnen und Soldaten besser zu schützen und so sicherzustellen, dass diese frei von Überwachung über ihre Einsatzerlebnisse berichten können. Abschließend noch ein Wort an alle, die nun vielleicht die Befürchtung haben, mit unserem Antrag werde ein Bruch mit den friedenspolitischen Positionen der Linken eingeleitet. (Lachen bei der CDU/CSU – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Davor haben wir keine Angst!) Ich mache kein Geheimnis daraus, dass einige Abgeordnete meiner Fraktion da anderer Auffassung sind. (Zurufe von der CDU/CSU) – Es gibt dazu entsprechende Erklärungen. – Der Auffassung einiger Abgeordneter von uns, dass damit die Attraktivität des Einsatzes verbessert wird, möchte ich entgegnen: Nicht die Soldatinnen und Soldaten sind unsere Gegner, sondern die Generäle und Politiker, die sie in Kriegseinsätze schicken. (Beifall bei der LINKEN) Den Linken sind die sozialen Belange der Soldatinnen und Soldaten nicht gleichgültig. So haben wir uns beispielsweise für die bessere Versorgung der PTBS-Opfer oder für die Entschädigung von Radarstrahlengeschädigten eingesetzt. Ich bin der Meinung, dass es zynisch ist, wenn Schwarz-Rot-Gelb-Grün Soldatinnen und Soldaten immer häufiger in immer gefährlichere Kriegseinsätze schickt, sich dann aber nicht um die Konsequenzen für die Betroffenen sowie deren Angehörige kümmert. Ich lehne die bisherige Praxis der Bundesregierung, Soldatinnen und Soldaten als Kanonenfutter zu rekrutieren, genauso ab, wie ich konsequent jede Form der Kriegseinsätze ablehne. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!) Nach wie vor haben die sofortige Beendigung aller Bundeswehreinsätze und der unverzügliche Abzug aller Truppen oberste Priorität. Dies würde erübrigen, sich um dieses Thema zu kümmern und Mittel auszugeben. Diese Mittel könnten wir für andere, bessere Zwecke einsetzen. Das wäre ein Gewinn für alle Seiten. Solange die Bundesregierung das aber nicht verstehen will, setzen auch wir Linke uns für das Recht der Bundeswehrangehörigen ein – sie werden trotz unserer Ablehnung mit Bundestagsmandat in diesen Krieg geschickt werden –, über freie und ungestörte Kommu-nikationsmöglichkeiten sowie über einen unkontrollierten Zugang zu Informationen zu verfügen. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Auf Ihre Unterstützung können die Soldatinnen und Soldaten gut verzichten!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Jetzt kommt wieder Sachlichkeit in die Debatte!) Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede und jeder, der eine Fernbeziehung geführt hat, kennt die große Bedeutung von Telefon und Internet. Wir Abgeordneten machen durch die Pendelei zwischen Berlin und Wahlkreis unsere Erfahrungen mit der räumlichen Distanz von der Familie. Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass niemand von uns auf Telefon oder Internet verzichten möchte. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Einsatz sind nicht nur für einige Tage oder Wochen von ihren Familien getrennt, sondern in der Regel für mehrere Monate. Gewalt und Gefahr gehören in dieser Zeit zum Alltag der Bundeswehrangehörigen. Mit diesem Alltag im Einsatz klarzukommen, ist eine enorme He-rausforderung; allein ist das kaum zu schaffen. Der Austausch mit den eigenen Angehörigen ist unverzichtbar für die Bewältigung der Einsatzrealität. Auch die Angehörigen brauchen wiederum die regelmäßige direkte Kommunikation, damit sie mit der Angst um die Soldatinnen und Soldaten auch umgehen können. Das alles ist nichts Neues; denn die Bundeswehr ist seit bald 20 Jahren im Einsatz. Dabei dauern die Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan seit mehr als einem Jahrzehnt an. Auf vielen Reisen hören wir heute immer wieder die gleichen Klagen. Dennoch sah sich das Verteidigungsministerium bis heute nicht in der Lage, für die Soldatinnen und Soldaten die notwendige Infrastruktur für kostenloses Telefonieren, Mailen, Skypen und Simsen zu schaffen. Das ist ausgesprochen bitter, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Es ist richtig, dass wir Grünen bei Auslandseinsätzen manchmal nicht die Meinung der Regierung teilen und leidenschaftlich über ihren Sinn und Zweck sowie über ihre Ausgestaltung diskutieren. Die Frage aber, wie sich der Dienstherr um die Bundeswehrangehörigen im Einsatz kümmert, ist von unserer Zustimmung zu diesem Einsatz unabhängig. Die Bundesregierung muss der Fürsorgepflicht nämlich bei jedem Einsatz gerecht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Im Verteidigungsausschuss wurde die deutliche Vernachlässigung der Fürsorgepflicht wiederholt fraktionsübergreifend und auch in aller Deutlichkeit kritisiert. Eine grundlegende Verbesserung trat leider nicht ein. Im vergangenen Jahr wurde es der Fraktion der Grünen zu bunt. Im Mai 2011 haben wir den Antrag in dieses Parlament eingebracht, den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz endlich in angemessener Qualität und Verfügbarkeit die Internettelefonie zu ermöglichen. Ich freue mich wirklich außerordentlich, dass diese Initiative bei allen Fraktionen Anklang gefunden hat und wir nun einen neuen Antrag einbringen, wenn auch leider nur mit vier Fraktionen. An dieser Stelle danke ich den Kollegen ganz herzlich für die sehr gute Zusammenarbeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich hätte mich noch mehr gefreut, wenn wir diese Initiative zu fünft ergriffen hätten. Immerhin hat sich die Fraktion Die Linke von der Kooperationsverweigerung der Unionsfraktion nicht völlig vergrätzen lassen (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist ein unglaublicher Vorwurf!) und in ihrem eigenen Antrag die Einigkeit in den wesentlichen Punkten demonstriert, unter anderem – auch das muss man sagen –, indem sie Passagen unseres ersten Arbeitsentwurfs wortwörtlich übernommen hat, was uns sehr freut. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit den Linken ist kein Staat zu machen! Mit den Grünen eigentlich auch nicht!) Leider haben Sie aber auch – das hat Ihre Rede gezeigt – ein paar sehr polemische und weniger sinnvolle Punkte ergänzt, sodass wir Ihrem Antrag nicht folgen können. (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist aber bedauerlich!) Dennoch ist diese fraktionsübergreifende Einigkeit heute ein sehr deutliches Signal an die Adresse des Verteidigungsministeriums: Das Parlament nimmt seine Fürsorgepflicht gegenüber der Parlamentsarmee im Einsatz sehr ernst. Es ist unser explizites Anliegen, dass die Möglichkeiten der Kommunikation aus dem Einsatz nach Hause jetzt ausgebaut und angepasst werden. Auch bei zukünftigen Einsätzen müssen die notwendigen Maßnahmen für eine funktionierende Betreuungskommunikation von Anfang an ergriffen werden. Sicherlich, eine so umfassende Betreuungskommunikation kostet Geld. Im Verhältnis zu den Gesamtkosten eines Einsatzes sind die Beträge, über die wir reden, aber eher klein. Es sollte uns jeden Cent wert sein, weil wir den Soldatinnen und Soldaten und ihren Familien dadurch helfen, die Zeit der Trennung zu überstehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Die Bundesregierung ist sehr gut beraten, dieses -Zeichen nicht länger zu ignorieren. Sie sollte schnellstmöglich handeln. Der Ball liegt jetzt bei Ihnen, Herr de Maizière. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Jürgen Hardt von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem EinsatzversorgungsVerbesserungsgesetz ist dies die zweite Initiative aus der Mitte des Parlaments in dieser Legislaturperiode, die echte Verbesserungen für die Soldaten bringt. Ich glaube, dass der 17. Deutsche Bundestag seine Aufgabe als Hüter der Interessen der Soldaten, insbesondere solcher im Auslandseinsatz, sehr gut wahrnimmt. Ich finde es auch schön, dass es eine so breite Unterstützung dieses Anliegens gibt. Dass die Regierung heute hier durch den Bundesverteidigungsminister persönlich vertreten ist, ist ein gutes Zeichen dafür, dass diese Sache auch im Verteidigungsministerium Chefsache ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Bravo!) Ich möchte der Kollegin Brugger einen kleinen Hinweis geben, die nicht ganz zu Unrecht angemerkt hat, dass die deutsche Bundeswehr in den letzten Jahren im Hinblick auf die Kommunikation aus dem Einsatz he-raus ein Stück zurückhing. Ich glaube, einer der Hauptgründe dafür war ein Vertrag mit einem entsprechenden Anbieter, der viel zu umständlich war und eine viel zu lange Laufzeit hatte; dieser Vertrag lief über zehn Jahre. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wer hat ihn geschlossen?) Ich frage mich, wie man in der heutigen Zeit im Bereich der Kommunikationstechnik Verträge mit einer Laufzeit von zehn Jahren abschließen kann, da man doch überhaupt nicht weiß, wie sich die Dinge in den folgenden zehn Jahren entwickeln. Dieser Vertrag, der, wie ich glaube, 2001 von einer anderen Regierung geschlossen wurde, (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das war Rot-Grün!) sollte uns lehren, so etwas nicht noch einmal zu machen; diese Erfahrung sollten wir mitnehmen. Die Verträge, die wir schließen, sollten etwas flexibler sein, damit wir auf neue Entwicklungen reagieren können. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist nicht passiert! Deshalb kann man nicht skypen!) Ich glaube, dass wir alle gut daran tun, nach vorne zu schauen. Zu der Rede des Kollegen Koch möchte ich etwas anmerken. (Harald Koch [DIE LINKE]: Das war eine gute Rede, nicht?) Sie haben hier dialektische Freistilübungen gemacht, um irgendwie zu erklären, warum die Linke bei einem Thema, das mit der Bundeswehr zu tun hat, nun doch das eine oder andere freundliche Wort findet. Ihre Worte müssen Sie an Ihre eigene Fraktion richten; denn uns muss man diesbezüglich nicht überzeugen. Ich glaube, dass die Linke gut beraten wäre, zu überlegen, ob sie diesem Antrag nicht vielleicht doch zustimmen kann – das hat sie beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz auf Betreiben ihres verteidigungspolitischen Sprechers, Paul Schäfer, letztlich getan –, um das schiefe Bild, das in der Öffentlichkeit durch Enthaltungen entsteht, ein Stück weit geradezurücken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Hardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke? Jürgen Hardt (CDU/CSU): Bitte schön. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Kollege, erst einmal herzlichen Dank, dass Sie die Frage erlauben. – Ich möchte gern auf den Kernpunkt der Differenzen zu sprechen kommen. Wenn Sie einseitig in Richtung der Linken fragen, ob wir uns -bewegen, was die Bundeswehr angeht, frage ich zurück: Werden sich die Union und die anderen Fraktionen, die diesen Antrag eingereicht haben – das gilt insbesondere für die Grünen –, bewegen und endlich begreifen, dass die Bundeswehr sofort aus Afghanistan abgezogen werden muss? Das wäre das größte Verdienst; so würde man Solidarität mit den eingesetzten Soldaten zeigen. Das ist der Kernpunkt der Differenzen. Damit muss man sich auseinandersetzen. (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Darum geht es heute nicht!) Es muss doch auch Sie beschäftigen, wenn der Leiter eines Instituts für strategische Forschung in den Niederlanden sagt, dass der Westen diesen Krieg nicht mehr -gewinnen kann, und daraus schlussfolgert, dass die Truppen sofort abgezogen werden sollten, damit die Soldaten und vor allen Dingen die Menschen in Afghanistan nicht weiter gefährdet werden. (Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wir reden über Betreuungskommunikation!) Das ist der Punkt, mit dem man sich auseinandersetzen muss. (Beifall bei der LINKEN) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Herr Kollege, darauf möchte ich eine kurze und klare Antwort geben. Ich hielte den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan für einen Verrat an den Menschen, (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) die im Vertrauen auf unsere Unterstützung und Zuverlässigkeit am Aufbau von stabilen Verhältnissen in Afghanistan mitwirken. Deswegen wäre es ein großer Fehler und eine moralische Ungerechtigkeit, wenn wir die deutschen Soldaten jetzt sofort abziehen würden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Lassen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der im Antrag nicht erwähnt wird, den ich der Regierung aber trotzdem mit auf den Weg geben will. Wir sprechen über Infrastruktur im Auslandseinsatz, insbesondere bei den Landeinsätzen. Wir führen aber auch einige große Marineeinsätze durch, insbesondere die Operation -Atalanta. Die Möglichkeiten der privaten Telefonie, des privaten Surfens und des Skypens auf deutschen Kriegsschiffen sind unzureichend; naturgemäß ist das Telefonieren dort noch komplizierter als an Land. Wenn eine deutsche Fregatte die Meerenge von Gibraltar passiert, dann stürmen die Soldaten auf das Achterdeck und versuchen, mit ihren Handys über ein spanisches oder marokkanisches Telefonnetz eine Botschaft nach Hause zu senden, weil privates Telefonieren an Bord von deutschen Kriegsschiffen nur sehr eingeschränkt möglich ist. Ich würde mir wünschen, dass wir bereits bei der Konzeption neuer Schiffe der Marine, insbesondere solcher Schiffe, die gegebenenfalls für längere Auslands-einsätze, zum Beispiel am Horn von Afrika, vorgesehen sind, prüfen, ob wir durch technische Vorkehrungen die Möglichkeiten des privaten Telefonierens und Surfens, und zwar in Privatsphäre, erleichtern können. Das wäre ein großer Fortschritt für die Soldaten im Einsatz auf See. Ich glaube, damit würden wir allen einen großen Gefallen tun. Es wäre schön, wenn dies berücksichtigt würde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) In dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP, Grünen und SPD fordern wir, dass Videotelefonie in den Unterkünften der Einsatzgebiete flächendeckend ermöglicht wird. Wir fordern kostenfreien Internetzugang in den Unterkünften. Wir fordern, dass mehr Privatsphäre ermöglicht wird, dass die Soldatinnen und Soldaten telefonieren können, ohne dass ihnen dabei Kameraden über die Schulter schauen. In diesem Antrag wird gefordert, dass die Soldaten im Einsatz kostenlos telefonieren können, und zwar länger als 30 Minuten pro Woche. Ein -Telefonat dauert das eine oder andere Mal länger; dies hängt auch von der aktuellen Lebenssituation des Soldaten ab. Man wird nicht immer länger als 30 Minuten -telefonieren müssen, aber manchmal schon. Ich glaube, mit diesen Forderungen haben wir der Bundesregierung ein ordentliches, solides Auftragspaket übermittelt, das abgearbeitet werden kann. Ich bin zuversichtlich, dass wir schon bald Erfolgsmeldungen aus dem Bendlerblock hören werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 17/9057 kommen, gebe ich Ihnen bekannt, dass mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll genommen werden1. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8895 mit dem Titel „Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Frak-tionen bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der Fraktion Die Linke, die sich zum Teil enthalten und zum Teil dagegen gestimmt hat, angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8795 mit dem -Titel „Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für diese -Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Das ergibt kein klares Ergebnis, das wir zu Protokoll nehmen können. Ich muss diese Abstimmung wiederholen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8795 mit dem -Titel „Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz“. Wer stimmt für diese -Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und der Grünen bei Ablehnung eines Teils der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5908 mit dem Titel „Internet-Telefonie in Afghanistan“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese -Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6 auf: 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar -Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Weltwärts – Ein Freiwilligendienst mit Zukunft – Drucksache 17/8769 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Joachim Günther (Plauen), Harald Leibrecht, weiterer -Abgeordneter und der Fraktion der FDP Weltwärts wird Gemeinschaftswerk – Drucksache 17/9027 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es -Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Bärbel Kofler von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Bärbel Kofler (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir nach einer langen Evaluierungszeit – ich meine das durchaus positiv; denn das spricht für die Qualität der Evaluierung – jetzt Erkenntnisse über „weltwärts“ vorliegen haben, die im Wesentlichen deutlich machen, was für ein positives, innovatives und neues Instrument dieser Freiwilligendienst darstellt. Gleichzeitig werden uns aber auch Vorschläge mit auf den Weg gegeben, wo wir mit Verbesserungsmaßnahmen ansetzen können. Vor genau diesem Hintergrund haben wir als SPD-Fraktion uns entschlossen, einen -Antrag einzubringen, um etwas sehr Gutes zu verbessern. (Beifall bei der SPD) Es ist mit „weltwärts“ gelungen – die Evaluierung macht das deutlich –, sehr viele junge Menschen zu -erreichen. Es sind mehr als 10 000 Freiwillige – das war der Stand bis Ende 2010; jetzt sind es natürlich noch -wesentlich mehr – entsandt worden – ich füge kritisch hinzu, dass es noch ein paar mehr hätten sein können, wenn man haushalterisch ein bisschen mehr für das Programm „weltwärts“ gemacht hätte –, und es sind knapp 250 Entsendeorganisationen beteiligt gewesen. Sie alle haben bestätigt, dass „weltwärts“ ein gutes Programm ist, und die entwicklungspolitische Bildungsarbeit, die von „weltwärts“ geleistet wird, gelobt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich finde bereits das Motto des Freiwilligendienstes „Lernen durch tatkräftiges Handeln“ beachtenswert. Denn es geht darum, einen globalen Lerndienst einzurichten, der sich von vielen anderen Austauschprogrammen unterscheidet. Es geht um das wechselseitige Lernen voneinander und miteinander, um entwicklungsfördernd tätig sein zu können. Gerade das ist etwas, was man hätte erfinden müssen, wenn man „weltwärts“ nicht erfunden hätte. -Bereits vor 2007 – 2007 war das Jahr, in dem Heidemarie WieczorekZeul „weltwärts“ aus der Taufe gehoben hat – gab es junge Menschen, die sich in Entwicklungsländern einbringen, sich dort engagieren und mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten zu einer besseren Entwicklungszusammenarbeit beitragen wollten. Eine hohe Hürde für viele von ihnen war, dass sie ihr entwicklungspolitisches Engagement selbst finanzieren mussten. Dies war gerade für junge Freiwillige aus Familien mit einem schmalen Geldbeutel ein Problem. Genau an diesem Punkt setzt „weltwärts“ zu Recht an. Dort wurden neue Maßstäbe gesetzt – auch mit dem Zuschuss, den es für Entsendeorganisationen gibt –, sodass die Freiwilligen jetzt nicht mehr für Kost und Logis bezahlen müssen, ein Taschengeld erhalten können und ordentlich krankenversichert, also abgesichert sind. -Unter diesen Voraussetzungen können sie als junge Menschen mit gutem Gewissen auch in durchaus schwierige Regionen dieser Erde geschickt werden. (Beifall bei der SPD) In der langen Version des Evaluierungsberichts stehen einige ganz wichtige Punkte. Der Ansatz von „weltwärts“ wird in vielem bestätigt. Es wird über die Relevanz der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit gesprochen, und „weltwärts“ wird als positiver Beitrag – ich finde, das ist besonders wichtig – in den Partnerländern vor Ort genannt. Wörtlich steht dort: Neben dem Beitrag zur Arbeit der Einsatzstellen profitieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Zielgruppen und das nähere Umfeld insbesondere durch den interkulturellen Austausch. – Selbstverständlich bringt „weltwärts“ einen Mehrwert für die Freiwilligen selbst und für ihre persönliche Entwicklung. Das ist auch gut so. Es ist damit auch gelungen – diesen Ansatz hatten wir 2007 ebenfalls –, gerade für junge Frauen ein Programm aufzulegen, das es ihnen ermöglicht, im Ausland einen Dienst anzutreten. Wer sich erinnert, der weiß: Das war damals noch nicht der Fall. In den meisten Fällen wurden Auslandsdienste analog zum damaligen Zivildienst von jungen Männern wahrgenommen. Die Evaluierung gibt uns auch einige Hinweise -darauf, wo wir noch etwas tun können und wo wir besser werden müssen. Ein Anspruch von „weltwärts“ war, dass sich nicht nur Abiturienten und Kinder aus der bildungsnahen Schicht oder zum Teil auch aus der sogenannten Bildungselite des Landes für diesen Dienst interessieren können, sondern dass sich gerade Freiwillige, die einen Haupt- oder Realschulabschluss und eine -Berufsausbildung haben, die also aus der Breite der -Bevölkerung kommen, für solch ein Programm interessieren und dass ihnen Angebote für ihre persönliche Entwicklung gemacht werden können, sodass sie die Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie erworben haben, in anderen Ländern einbringen können. Hier besagt der Evaluierungsbericht eines ganz deutlich: Wir müssen an dieser Stelle besser werden. Wir müssen auf diese Zielgruppen anders zugehen. Wir müssen das Programm anders bekannt machen und uns in Bezug auf den einen oder anderen Punkt – das gilt vielleicht auch hinsichtlich arbeitsrechtlicher Fragestellungen – noch einmal Gedanken darüber machen, wie wir hier für die jungen Menschen ein adäquateres Angebot machen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Bericht gibt einige positive Hinweise darauf, wie man die Qualitätssicherung auch bei Entsendeorganisa-tionen vorantreiben und die Ressortabstimmung verbessern kann. Er beinhaltet aber auch einiges – ich betone das noch einmal – zur finanziellen Ausstattung des Freiwilligendienstes. Auch hier gilt: Die Qualität, die wir bei den Programmen, bei der Vorbereitung, bei der Nachbereitung, bei der Rückkehrerarbeit und bei der Bildungsarbeit, die die jungen Menschen leisten sollen und können, einfordern, ist so gut wie der Rahmen, den wir finanziell abstecken. Die Zahl, die genannt wird, stammt nicht von mir und nicht von der Opposition, sondern sie stammt aus dem Evaluierungsbericht. Dort wird davon gesprochen, dass für dieses Programm 70 Millionen Euro notwendig sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Noch einige Worte zur Evaluierung selbst. Es ist vielleicht nicht bekannt, dass diese Evaluierung bereits in der Einführungsphase von „weltwärts“ Bestandteil des Konzepts war – ich denke, es ist wichtig, das noch einmal darzustellen –, dass schon immer geplant war, mit Ende der Einführungsphase 2010 mit der Evaluierung des Programmes zu beginnen. Es war nie etwas anderes geplant, und das ist dann Gott sei Dank von einer unabhängigen Consulting-Agentur auch so durchgeführt worden. Die Evaluierung ist langfristig angelegt worden, und im Rahmen dieser Datenerhebung sind über mehrere Monate in sechs Fallstudienländern flächendeckend Entsendeorganisationen, Freiwilligen- und Partnerorganisationen befragt worden. Ihre Meinungen und Erkenntnisse sind aufgenommen worden. In Deutschland sind insbesondere die Erkenntnisse zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und zur Rückkehrerarbeit aufgenommen worden. Wir als SPD haben uns diesen Bericht sehr genau angeschaut und wollen, dass die Erkenntnisse aus dieser sehr umfangreichen Studie möglichst schnell und zügig umgesetzt werden, dass die daraus folgenden Arbeitsgruppen jetzt tätig werden und noch vor der Sommerpause zu Ergebnissen kommen. Denn es geht darum, schnell und zügig an der Verbesserung und an der Weiterentwicklung von „weltwärts“ zu arbeiten. Uns ist es wichtig, dass junge Menschen mit Berufsausbildung stärker an „weltwärts“ herangeführt werden können. Darüber hinaus wäre es wichtig, zu begreifen, dass es um interkulturelles Lernen geht, dass auch Menschen zu uns kommen müssen, dass der Austausch über die Grenzen in zwei Richtungen funktionieren muss, dass wir eine bessere Zusammenarbeit und einen besseren globalen Lerndienst erreichen können, wenn wir Partnerorganisationen einladen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe mich gefreut, dass zu diesem Thema auch noch ein Koalitionsantrag gestellt wurde. Wenn wir gemeinsam zu der Wertung kommen, dass „weltwärts“ ein gutes Programm ist, und wenn das fraktionsübergreifend festgestellt wird, dann ist das positiv. Bei manchen Ihrer Forderungen frage ich mich aber, wieso Ihnen diese eingefallen sind und warum Sie diese auch noch in den Koalitionsantrag hineinschreiben mussten. Beispielsweise greifen Sie in Ihrem Antrag in Nr. 4 die neuen Zielgruppen auf, denen Sie sich widmen wollen. Da heißt es, dass Sie Zielgruppen aus wirtschaftsnahen Bereichen erschließen wollen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Kofler, Ihre Zeit ist eigentlich abgelaufen. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Was das im Zusammenhang mit „weltwärts“ zu tun hat, ist mir völlig schleierhaft. Nicht nur deshalb ist unser Antrag der bessere. Er ist kompakter und zukunftsweisender. Bitte stimmen Sie dem SPD-Antrag zu „weltwärts“ zu. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klaus Riegert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland circa 23 Millionen bürgerschaftlich Engagierte in unserer Gesellschaft und möchten das Interesse von Freiwilligen für den Entwicklungsdienst und die wirtschaftliche Zusammenarbeit wecken. Deshalb wurde 2007 das Programm „weltwärts“ eingeführt. Es richtet sich an junge Menschen zwischen 18 und 28 Jahren. Es soll erstens das Interesse an einem entwicklungspolitischen Engagement wecken, zweitens einen wirkungsvollen Beitrag zur Entwicklung in den Einsatzländern leisten und drittens entwicklungspolitische Inlands- und Bildungsarbeit ermöglichen. Wir haben dazu eine breite Palette von Entsendeorganisationen. Es gibt heute 6 377 anerkannte Plätze und ca. 200 aktive Entsendeorganisationen. 13 000 Freiwillige sind, wenn man in Abreisen rechnet, in 80 Ländern unterwegs; 42 Prozent sind in Lateinamerika, 37 Prozent in Afrika, 20 Prozent in Asien und 1 Prozent in Osteuropa. Die beliebtesten Länder sind Südafrika mit 1 218, Indien mit 1 053 und Peru mit 803 Abreisen. Die Arbeitsbereiche vor Ort sind der Bildungssektor mit 34 Prozent, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit 35 Prozent; der Gesundheitssektor, „Menschen mit Behinderung“, „Umwelt- und Ressourcenschutz“ sind weitere Einsatzfelder. Die Freiwilligen sind durchschnittlich 12 Monate vor Ort. Sie sind in der Tat, Frau Kofler, zu 61 Prozent weiblich. Die Evaluierung, die von vornherein vorgesehen war, wurde im Oktober 2011 mit sechs Länderstudien, einer Studie zur Inlands- und zur Bildungsarbeit in Deutschland durch die Rückkehrerarbeit und einer Onlinebefragung der Entsendeorganisationen, aller Freiwilligen und der Partnerorganisationen in den Fallstudienländern abgeschlossen. Insgesamt bringt die Evaluierung ein positives Ergebnis. Es heißt: Relevanz, Effizienz und weitgehende Effektivität im Hinblick auf die Erreichung der Ziele, insbesondere auf der Ebene der Freiwilligen. Das ist zunächst einmal ein gutes Ergebnis, das man so festhalten kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub [FDP] und Dr. Bärbel Kofler [SPD]) Die Empfehlung der Evaluation ist die Fortführung und weitere Schärfung, nämlich erstens die Stärkung der Arbeit mit den Rückkehrern, zweitens eine fachlich-pädagogische Begleitung der Freiwilligen und drittens eine Einbeziehung bisher nicht erreichter Zielgruppen. Das BMZ wird das Programm weiterführen, aber auch weiterentwickeln. Wir begrüßen das koordinierte Vorgehen mit den Trägern einschließlich der Kirchen. Ein wichtiger Beitrag zur Verankerung der Entwicklungspolitik wird hier geleistet. Ich darf Jürgen Deile vom Evangelischen Entwicklungsdienst, den Koordinator der Programmsteuerungsgruppe aus der Zivilgesellschaft, zitieren: Gemeinsam mit dem Ministerium nehmen wir die Fortentwicklung des Programms an den Punkten auf, an denen die zivilgesellschaftlichen Träger, die Partnerorganisationen sowie aktive und zurückgekehrte Freiwillige schon seit längerem gerne angepackt hätten. Wir bedanken uns beim Ministerium dafür, dass diese Arbeit zielgerichtet fortgeführt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Ziele der Fortschreibung sind erstens das Schärfen des entwicklungspolitischen Profils, zweitens die Sicherung von Qualität und Wirkung, drittens die Vereinfachung bei Verfahren und Instrumenten und viertens die Novellierung von Mandaten und Verantwortlichkeiten. Insbesondere bitten wir, darauf zu achten, die Subsidiarität zu stärken. Ich habe jetzt über den positiven Teil der Evaluation gesprochen. Wir übernehmen Verantwortung für junge Menschen. Deswegen müssen wir auch den eher nachdenklichen Teil ansprechen. Die Freiwilligen sind durchschnittlich 20 Jahre alt. Man kann also davon ausgehen: Sie haben noch nie allein gewohnt. Sie sind es auch nicht gewohnt, in einem fremden Land zu sein, kennen die kulturellen Sitten nicht, haben wenig Erfahrung mit der Kultur. Trotz entsprechender Vorbereitung sind die Erfahrung, die Souveränität und das richtige Gespür im Umgang mit Menschen und Situationen natürlich noch nicht so ausgeprägt wie vielleicht bei Älteren. Deswegen hatten wir zwischen 2008 und 2010 eine Abbrecherquote von 7 Prozent; denn eine Rundumbetreuung durch Mentoren und Mitarbeiter ist vor Ort nicht realisierbar. Man muss schon sagen: Die Freiwilligen müssen selbstständig sein. Sie müssen Charakter und Persönlichkeit mitbringen. Das zeigt, dass es hier um ein sehr anspruchsvolles Programm geht. Insofern können wir alle denen, die das Programm bisher erfolgreich durchlaufen haben, dafür herzlich danken und zu ihrem Einsatz gratulieren. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bei einem Alter von durchschnittlich 20 Jahren kann – das ist kein Geheimnis – keine nennenswerte Berufserfahrung vorhanden sein. Deswegen soll das Programm jetzt auch junge Menschen ohne Abitur, aber mit beruflicher Qualifikation, das heißt mit abgeschlossener Berufsausbildung, ansprechen. Ich glaube, es würde sich lohnen, gezielt junge Menschen dafür zu gewinnen und sie entsprechend zu fördern. In den Länderstudien hat sich gezeigt, dass 10 Prozent der Jugendlichen nicht die Voraussetzungen und Motivation für das Engagement mitgebracht haben und sich vor Ort oder nach längerer Dauer des Einsatzes überfordert gefühlt haben. „weltwärts“ deckt alle wesentlichen Kosten. Das ist einerseits gut für junge Leute, vor allem für solche aus Familien mit schmalem Geldbeutel, aber andererseits entsteht eine Konsum- und Dienstleistungserwartung gegenüber den Entwicklungshilfeorganisationen. Das wird zumindest aus einigen Organisationen berichtet. Eine ist sogar wieder ausgestiegen. Deshalb müssen wir einen Volunteer-Tourismus vermeiden und das Programm entsprechend fortschreiben. Insofern ist die Frage erlaubt, ob eine partielle Beteiligung an den Kosten nicht ein größeres Verantwortungsgefühl und eine höhere Wertschätzung des Dienstes zur Folge hätte, auch wenn es dann weniger, aber dafür motiviertere Freiwillige gäbe. Im Evaluierungsbericht heißt es dazu – ich zitiere –: Eine Konsequenz der Fokussierung auf Qualität könnte ein Überdenken der quantitativen Ziele (Zahl der Entsendungen pro Jahr) sein. Die SPD fordert wie immer eine Mittelerhöhung. Ansonsten sehe ich keine markanten Unterschiede zwischen unseren beiden Anträgen. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wechselseitiges Lernen!) Wir halten einen solchen Anreiz für falsch. Wir setzen auf Qualität statt Quantität. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben in den Haushalt 2012 wie auch schon 2011 30 Millionen Euro eingestellt. Das entspricht circa 3 500 Entsendungen im Jahr. Die Nachfrage liegt ungefähr in derselben Höhe. Wir werden in Zukunft den Fokus auf die Programmqualität richten und die Reduzierung des organisatorischen und bürokratischen Mehraufwandes anstreben. Die CDU/CSU-FDP-Koalition will erstens die Durchführungsverantwortung der Zivilgesellschaft stärken, zweitens mittelfristig die entwicklungspolitische Begründung von Einsatzplätzen weiter verbessern und drittens das Genehmigungsverfahren im Rahmen der stärkeren Qualitätsverantwortung für die Entsendeorganisationen verschlanken. Wir ermuntern durch unseren Antrag BMZ, Träger und Kirchen, die Pläne und eingeleiteten Maßnahmen entsprechend weiterzuführen. Bereits Ende Juni sind erste Ergebnisse für die Umsetzung der Evaluierung zu erwarten. Wir danken den Engagierten für ihr Engagement und ermuntern junge Leute, insbesondere solche mit Berufserfahrung, sich für dieses Programm zu interessieren, ins Ausland zu gehen und vor allem diese Erfahrung dann auch in unserer Gesellschaft einzubringen. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Gemeinschaftswerk gelingt, und fordere die Opposition zur Sacharbeit auf. Ich glaube, wir sind nicht so weit auseinander, wie es manchmal in anderen Fragen der Fall ist. Ich glaube, dass wir durchaus das gleiche Ziel haben und durch die Umsetzung des Evaluierungsberichtes mit den Entsendeorganisationen, den Kirchen und dem BMZ eine Qualitätsverbesserung erreichen. Ich glaube, dass das Programm „weltwärts“ einer guten Zukunft entgegengeht. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Heike Hänsel. Heike Hänsel (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke unterstützt den Freiwilligendienst „weltwärts“, der nun seit fünf Jahren mehr als 10 000 jungen Menschen nach Schule oder Ausbildung einen Freiwilligendienst in den Ländern des Südens ermöglicht hat. Im Jahr 2011 gab es eine Evaluierung des „weltwärts“-Programms, und die Ergebnisse liegen seit Dezember in der Kurzfassung vor. Die Bundesregierung hat leider in den Haushalten 2010 bis 2012 einen finanziellen Aufwuchs für „weltwärts“ abgelehnt, aber immer mit dem Hinweis auf die ausstehenden Ergebnisse der Evaluierung. Nun gibt es eine Evaluierung, und sie fällt ermutigend positiv aus. Trotzdem gibt es im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen nur schöne Worte, aber keine Mittelerhöhung. Die Mittel stagnieren weiterhin bei 30 Millionen Euro jährlich. Die Linke unterstützt deshalb ausdrücklich den Antrag der SPD (Zustimmung der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) und fordert eine deutliche Erhöhung der Mittel für „weltwärts“, vor allem aber auch der Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre, um Finanzierungs- und Planungssicherheit für alle, für die Trägerorganisa-tionen sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, zu -ermöglichen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Aufgrund der unsicheren Finanzierung – das ist die Information, die wir alle bekommen haben – war es in den letzten Jahren oftmals so, dass viele interessierte Jugendliche abgewiesen werden mussten, die einen solchen Dienst eigentlich gerne angetreten hätten. Es gibt auch Kritik am „weltwärts“-Programm. Stichworte wie „Elendstourismus“, „zu wenig Betreuung und Begleitung vor Ort“, „Abenteueraufenthalt“ und vieles mehr sind gefallen. Die Qualität der Betreuung und Begleitung ist entscheidend für den gesamten Dienst. Es bedarf einer ausreichenden Finanzierung, Herr Riegert, damit sowohl Qualität als auch Quantität stimmen. Das schlagen wir alle vor. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Für viele junge Menschen nämlich handelt es sich oft um den ersten großen Auslandsaufenthalt in ihrem Leben. Er wirkt sehr oft prägend. Das soll er auch. Deshalb ist eine verantwortungsvolle Begleitung notwendig. Wir fordern zudem, dass die Nord-Süd-Ausrichtung des Dienstes erweitert wird, um von einem gleichberechtigten Dialog sprechen zu können. Wir wollen – so wie es die SPD in ihrem Antrag formuliert hat –, dass auch junge Menschen aus den Ländern des Südens sowohl einen Freiwilligendienst hier in Deutschland antreten können als auch vor Ort in Projekten die Möglichkeit bekommen, gemeinsam mit einem Jugendlichen aus Deutschland Freiwilligenarbeit zu verrichten. Dadurch würde nach unserer Ansicht ein verbesserter direkter -Dialog entstehen, mit der Möglichkeit des gegenseitigen Verständnisses und des Voneinanderlernens. Auch wäre es wichtig, verstärkt lokale Partner in den Ländern des Südens zu finden, die Teil sozialer Bewegungen sind und die sich vor Ort für soziale Rechte und Menschenrechte einsetzen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir fordern außerdem, dass Jugendliche – das wurde schon erwähnt – aus allen sozialen Schichten, mit unterschiedlichen Schulabschlüssen und unterschiedlicher beruflicher Ausbildung erreicht werden, zum Beispiel durch gezielte Vorstellung von „weltwärts“ an allen Schulen einschließlich Berufsschulen, Jugendeinrichtungen und Ausbildungsstätten. Auch muss überlegt werden, ob Jugendliche, die keinen Förderkreis zustande -bekommen und für die eine Finanzierung durch das Elternhaus nicht möglich ist, zusätzlich unterstützt werden können, damit eben nicht – wie leider bisher Praxis – der Geldbeutel der Eltern über einen solchen Freiwilligendienst im Ausland entscheidet. Ich bekomme oft Anfragen, ob ich mich einem solchen Förderkreis anschließen will. Ich verfolge in Weblogs, was junge Menschen vor Ort erleben und was sie berichten. Ich glaube, das ist für alle bereichernd, auch für uns. Dieser Freiwilligendienst leistet einen konkreten Beitrag für mehr Solidarität und weltweite Verständigung. Danke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Helga Daub. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Helga Daub (FDP): Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! „weltwärts“, der Name sagt es bereits: hinaus in die Welt, über den Tellerrand schauen. Dieser 2007 eingerichtete entwicklungspolitische Freiwilligendienst bekommt, gutachterlich attestiert, ein weitgehend positives Urteil. Somit ist es folgerichtig, dass das Programm weitergeführt wird. Ein wichtiges Anliegen dieser Bundesregierung ist es, die Entwicklungspolitik in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Mit „Engagement Global“ haben wir einen Träger geschaffen, mit dem breite Bevölkerungsschichten angesprochen und für Entwicklungspolitik interessiert und begeistert werden sollen. Indem es besonders junge und engagierte Menschen anspricht, kann „weltwärts“ einen wichtigen Beitrag leisten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Allerdings sahen die Gutachter auch Schwachstellen, die es zu beseitigen gilt; du, liebe Bärbel Kofler, hast das schon angesprochen. So nehmen insgesamt zu wenige junge Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss oder abgeschlossener Berufsausbildung an diesem Programm teil. Aber gerade die praktische Kompetenz und die berufliche Ausbildung sind eine unverzichtbare Ressource in diesem Freiwilligenprogramm. Hier müssen gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um „weltwärts“ für diese Gruppen attraktiver zu machen. Gegenwärtig wird die Aufarbeitung der Evaluierung in Arbeitsgruppen zusammen mit BMZ, Trägerorganisationen und der Servicestelle „Engagement Global“ vorgenommen. Wichtig dabei sind die Sicherung von Qualität und Wirkung sowie die Vereinfachung der Verfahren. Das Programm ist mit circa 30 Millionen Euro angelegt. Momentan sind durch die eingeplanten Haushaltsmittel circa 3 500 Entsendungen im Jahr finanzierbar. Dies entspricht auch der Nachfrage, die seitens der Entsendeorganisationen im laufenden Jahr vorgebracht wurde. Die Forderung im Antrag der SPD, die Mittel für „weltwärts“ schon im Haushaltsjahr 2013 deutlich zu erhöhen, kommt verfrüht. Ich denke, es ist ein bewährter Ansatz, die Ergebnisse der Arbeitsgruppen abzuwarten, bevor man weitere Mittel anfordert. Nicht umgekehrt! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch wenn es mehr Bewerber gibt, ist zu fragen: Sind die Haupt- und Realschüler schon berücksichtigt? Das müsste doch auch gerade Ihr Anliegen sein. Ich habe schon gehört, dass es das auch ist; da sind wir uns einig. „weltwärts“ soll schließlich kein Elitenprogramm sein. Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen – ich werde nicht müde, das auch in politischen Diskussionen mit den Bürgern vor Ort zu sagen –: Der Mensch beginnt nicht erst mit dem Abitur. Richtig ist natürlich, dass es eine angemessene langfristige Finanzierung geben muss, um Angebot und Nachfrage weiterhin in Einklang zu bringen, aber auch um den circa 200 Entsendeorganisationen Planungs--sicherheit zu geben. Wichtig dabei ist aber auch, dass die Erfahrungen der Rückkehrer viel stärker als bisher berücksichtigt werden, der Rückkehrer, die anschließend auch im entwicklungspolitischen Bereich tätig werden sollen, damit gewonnene Erfahrungen nicht einfach so versanden. Aber auch Doppel- bzw. Paralleleinsätze sollten vermieden werden. Eine weitere Verbesserung der Abstimmung der betroffenen Bundesressorts ist unabdingbar, um die Qualität der Programmumsetzung und das optimale Erreichen der Entsendeziele – damit meine ich nicht die Orte – zu gewährleisten. Darüber hinaus soll mittelfristig mehr Qualitätsverantwortung von den Entsendeorganisationen übernommen und sollen die Verfahren verschlankt werden. Das ist sinnhaft, steigert die Effizienz und verringert die -Bürokratie. Auch das dürfte den Zugang für Haupt- und Realschüler erleichtern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Als das „weltwärts“-Programm aufgebaut wurde, war die aktive Beteiligung einer staatlichen Entsendeorganisation natürlich sinnvoll. Inzwischen ist das Programm hinreichend gut angekommen und angenommen, sodass zum Beispiel die GIZ sich zugunsten der Entsendeorganisationen schrittweise zurückziehen kann. Nur so viel noch zum SPD-Antrag: Natürlich ist ein breiter Austausch von jungen Menschen immer wünschenswert und förderungswürdig. Aber für diejenigen, die in unser Land kommen wollen, um für ihr Heimatland Erfahrungen zu sammeln, gibt es andere Programme. Dafür ist „weltwärts“ eigentlich nicht gedacht. Natürlich, liebe Bärbel Kofler, halten wir unseren -Antrag für den besseren. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Nach der Lektüre beider Anträge wundert mich das jetzt!) Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Ute Koczy vom Bündnis 90/Die Grünen. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „weltwärts“ – das ist eine gute Idee, „weltwärts“ – das zieht junge Menschen an. Denn dieses entwicklungspolitische Freiwilligenprogramm bietet, was viele junge Menschen nach der Schule suchen: etwas Sinnvolles zu tun und gleichzeitig andere Länder und Leute kennenzulernen. Tatsächlich ist dieses Programm ein Beitrag zu mehr Weltoffenheit und zu mehr Bewusstsein für die Lebenswirklichkeit in anderen Ländern. Selbstverständlich lernen die jungen Menschen auch sehr viel über sich selbst. Das ist wichtig, und das ist auch gut so. Aber ein solcher Freiwilligendienst will gut vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet werden. Ohne kompetente Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen in Deutschland mit guten Kontakten in die Partnerländer und die Fähigkeit, die Freiwilligen auch tatsächlich einer sinnvollen Tätigkeit zuzuführen und diese vor Ort zu -begleiten, geht es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) Deshalb haben wir mit Spannung die Ergebnisse der Evaluierung erwartet. Dazu drei grundsätzliche Anmerkungen: Erstens. Was haben die Partnerländer und die Partnerorganisationen davon, wenn sie junge Menschen ohne Berufserfahrung bei sich unterbringen und ihnen zeigen, wie das Leben in anderen Ländern funktioniert? Können die Partner diese Unterstützung wirklich gebrauchen? Diese Fragen sind meiner Meinung nach bislang unterbelichtet. Deshalb ist es aus unserer Sicht höchste Zeit, endlich den nächsten Schritt zu gehen. „weltwärts“ darf nämlich keine Einbahnstraße, also von Deutschland in die Entwicklungsländer, bleiben. Wir fordern, dass im Rahmen von „weltwärts“ auch junge Menschen aus Entwicklungsländern im Gegenzug nach Deutschland kommen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der -LINKEN) Erfahrungen damit wurden bereits gemacht. Entsendeorganisationen haben hier in Pilotprojekten wichtige Erkenntnisse gewonnen. Jetzt kommt es auf die Unterstützung aus dem Ministerium an. Das muss in die Wege geleitet werden. Zweitens. Die Evaluierung benennt ein bekanntes Problem – es ist schon angesprochen worden –: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „weltwärts“-Programms haben einen weitgehend homogenen sozialen Hintergrund. Es handelt sich fast ausschließlich um Abiturientinnen und Abiturienten. Deshalb – das ist nicht überraschend – lautet die Empfehlung der Evaluierung, die bislang nicht erreichten Zielgruppen zu fördern, beispielsweise junge Menschen mit Migrationshintergrund oder junge Erwachsene mit Hauptschul- oder Realschulabschluss. Dafür sind neue Konzepte nötig. Die müssen jetzt aber auch vorgelegt werden. Drittens. Wir dürfen uns nicht auf dem bisher Erreichten ausruhen. Das Prinzip „Klasse statt Masse“ muss -Priorität haben. Das zeigen mir die Ergebnisse der Evaluierung von „weltwärts“. Viele Ziele werden erfüllt. Ja, das Programm hat viele Erfolge vorzuweisen. Das steht außer Frage. Das ist von allen hier benannt worden. Aber die Schwachstellen müssen geregelt werden. Ich nenne hier die Einarbeitung und fachlich-pädagogische Begleitung der Freiwilligen vor Ort, ich nenne die Visapro-bleme – die sind immer noch nicht ausgeräumt –, ich nenne die Frage der Spendenakquise, ich nenne aber auch die mangelnde Zufriedenheit der Durchführungs-organisationen im Hinblick auf die Zusammenarbeit, die Kooperation mit dem BMZ, ich nenne weiter die Überschneidungen von „weltwärts“ mit anderen Freiwilligendiensten der Bundesregierung. Große Fragezeichen habe ich deshalb im Hinblick auf die quantitativen Ziele. Will das BMZ wirklich daran festhalten, jährlich 10 000 Freiwillige zu entsenden? Ich bin skeptisch, dass das ein gutes Ziel ist, solange die oben genannten Probleme nicht überwunden sind. Die Bundesregierung ist jetzt in der Pflicht, auf die aufgezeigten Schwachstellen zu reagieren und nachzubessern. Eine Ausweitung der Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kann erst dann erfolgen. Geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition und der SPD, in Ihren Anträgen gehen Sie auf die Ergebnisse und Empfehlungen der Evaluierung ein. Da teilen wir vieles, wenngleich wir mehr kritische Worte zur Evaluierung nötig gefunden hätten. Denn während Sie, Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, eine Mittelerhöhung auf 70 Millionen Euro bereits für 2013 fordern, lassen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Koalition, die Finanzierungsfrage komplett unter den Tisch fallen. Da machen Sie es sich etwas zu einfach. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir Grünen wollen diese Evaluierung hinterfragen. Wir haben diese Fragen in Form einer Kleinen Anfrage eingereicht. Wir wollen erst die Antworten darauf kennen. Erst danach werden wir uns positionieren. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8769 und 17/9027 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Vereinbarte Debatte Hinrichtung der mutmaßlichen Metro-Attentäter von Minsk in Belarus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Marina Schuster von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marina Schuster (FDP): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann jetzt für das ganze Haus hier sprechen: Wir sind zutiefst schockiert über die Hinrichtung von Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljow – zwei junge Männer, die beschuldigt wurden, ein verheerendes Attentat in der Minsker U-Bahn begangen zu haben, zwei junge Männer, hingerichtet durch Genickschuss. Wir verurteilen die Todesstrafe. Wir verurteilen die Todesstrafe weltweit – (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) in Belarus genauso wie im Iran, in Saudi-Arabien, in China, in Bundesstaaten der USA, in Japan und allen anderen Ländern, in denen die Todesstrafe nach wie vor vollstreckt wird. Wir senden auch einen klaren Appell: Die Todesstrafe gehört in all diesen Ländern – die Liste dieser Länder ist lang, und leider gibt es in manchen Ländern Bestrebungen, für neue Straftatbestände die Todesstrafe einzuführen – abgeschafft. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Unser Mitgefühl gilt in diesen schweren Stunden vor allem den Familien der beiden jungen Männer. Ich denke heute ganz besonders an Frau Kowaljowa, die Mutter von Wladislaw Kowaljow. Frau Beck und ich, wir haben Frau Kowaljowa bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates getroffen. Sie hat uns berichtet, dass sie von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt ist; denn ihr Sohn habe sich zum Zeitpunkt des Attentats auf die Minsker Metro gar nicht am Tatort aufgehalten. Im Prozess selbst wurden rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen getreten: Entlastungszeugen wurden zum Schweigen gebracht oder nicht zugelassen. Die Geständnisse der Verurteilten wurden offensichtlich unter Folter erpresst. Herr Kowaljow fand später den Mut, sein Geständnis zu widerrufen. Indizien wurden offensichtlich manipuliert. Ein Opfer des Anschlags sagte unmissverständlich aus, dass er die beiden jungen Männer gar nicht am Tatort gesehen habe. Es gibt also erhebliche Zweifel an der Schuldhaftigkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundestagsabgeordnete aller Parteien und viele andere haben versucht, Präsident Lukaschenko von der Vollstreckung der Strafe abzubringen. Frau Beck hat einen öffentlichen Appell initiiert. Dafür bin ich ihr ganz besonders dankbar. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir müssen und wir werden immer wieder die Stimme erheben, sei es in Deutschland, sei es beim Europarat, sei es bei der EU, aber auch auf internationaler Ebene, gegenüber allen Staaten, die die Todesstrafe vollstrecken. Vor allem aber werden wir nicht lockerlassen, wenn es sich gerade um die unmittelbare europäische Nachbarschaft handelt – und darüber hinaus um ein Regime, das jegliche rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen tritt. Die Hinrichtungen vom 18. März sind jedoch schauerlicherweise nur die Spitze eines Eisbergs. Die massive Unterdrückung der Zivilgesellschaft ist ein fester Bestandteil des belarussischen Regimes. Nichtregierungsorganisationen können nur schwer ungehindert arbeiten; die meisten arbeiten aus dem Exil heraus. Als es im vergangenen Jahr zu Protesten kam, erlebten wir eine große Verhaftungswelle. Nach wie vor sind Oppositionelle in Haft. Es ist immer unser Ziel gewesen, unseren Nachbarn Belarus an Europa und an die Werte, für die Europa steht, heranzuführen. Dieses Ziel zu erreichen, gilt nach wie vor. Doch geben die jüngsten Entwicklungen auf den ersten Blick wenig Hoffnung in einem immer noch diktatorisch regierten Land. Dass die EU nun mit weiteren Sanktionen reagieren wird, ist richtig. Doch wahr ist auch, dass, solange Moskau schützend die Hand über Minsk hält, Lukaschenko sich minimal bis gar nicht bewegen muss. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Russland ist daher aufgefordert, seinen Einfluss geltend zu machen. Unsere russischen Kollegen haben während der letzten Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des -Europarates Belarus als Brudervolk bezeichnet. Sie haben sogar gefordert, Belarus wieder als Mitglied im -Europarat aufzunehmen. Diesem demonstrativen Schulterschluss muss nun auch die Wahrnehmung von Verantwortung folgen. Die Vorgehensweise der Führung in Belarus gegen die eigene Zivilbevölkerung bestürzt uns. Doch auf eines möchte ich aufmerksam machen: Die Revolutionen in der arabischen Welt haben gezeigt, dass Regime dann besonders aggressiv reagieren, wenn sie sich in ihrer Existenz bedroht sehen. Lukaschenko hat seine Karten beim belarussischen Volk verspielt. Das Land erlebt eine seiner schwersten Wirtschaftskrisen. Hier müssen wir den Hebel geschickt ansetzen. Es geht darum, den Balanceakt zwischen politischem Druck auf das Regime und zivilgesellschaftlichem Austausch mit den Menschen dort, die unter der Herrschaft Lukaschenkos leiden, zu meistern. Hier leistet die Bundesregierung im Verbund mit den EU-Mitgliedstaaten vorbildliche Arbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Trauer und die Wut über den Tod der beiden Männer sind heute bei uns allen zu spüren. Lähmen darf uns diese Wut allerdings nicht; denn sonst hätte Lukaschenko sein Ziel erreicht. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Uta Zapf. (Beifall bei der SPD) Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte heute hier führen können. Die SPD-Bundestagsfraktion war es, die diese Debatte beantragt hat. Aber alle Fraktionen fühlen sich gleichermaßen betroffen. Frau Schuster, ich danke Ihnen für Ihre Worte. Das waren die richtigen Worte, insbesondere mit Blick auf die Situation der Familien der Hingerichteten. Wir bekunden unser Beileid auch von dieser Stelle. Belarus ist das letzte europäische Land – Sie haben es schon gesagt –, das die Todesstrafe noch anwendet. Alle Anstrengungen, die wir unternommen haben, damit Belarus die Todesstrafe abschafft, haben nichts genutzt. Einige Zeit schien ein Moratorium möglich zu sein. Aber auch diese Hoffnung war offensichtlich trügerisch. Dass diese beiden jungen Männer so hastig hingerichtet wurden und dass Beweise offensichtlich vernichtet wurden, wie Frau Beck uns mitgeteilt hat, zeigt, dass dieser Fall rechtsstaatlichen Kriterien nicht gerecht wird. Der Vorwurf, dass Geständnisse unter Folter erpresst wurden, trifft auch in den Fällen von anderen politischen Gefangenen zu, die nach der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 im Jahr 2011 verurteilt wurden. Misshandlungen und Folter im Gefängnis, kein Zugang zu angemessener medizinischer und anwaltschaftlicher Betreuung, so sieht der belarussische Rechtsstaat aus. Anwälte, die politische Gefangene vertreten, geraten unter existenziellen Druck. Sie werden aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Politische Gefangene wie der Präsidentschaftskandidat Sannikow fürchten – das berichtet seine Schwester – aufgrund der ständigen Pression und Misshandlung im Gefängnis um ihr Leben. Das Ziel ist es, ihnen ein Gnadengesuch an Lukaschenko abzupressen, das dieser als Schuldanerkenntnis wertet. Sannikows Gnadengesuch ist gerade in den letzten Tagen mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass es unter Folter erpresst wurde. Das ist die größte Ironie in diesem Fall. Andere politische Gefangene, wie Nikolai Statkevich – zwei meiner Kollegen haben heute mit seiner Tochter telefonieren können –, leben unter ganz bedrückenden Verhältnissen im Gefängnis. Nikolai Statkevich weigert sich, ein Gnadengesuch einzureichen. Er hat gesagt: Ich will lieber sterben, als ein Gnadengesuch einzureichen. – Er sitzt jetzt in verschärfter Haft. Er darf zweimal im Jahr – zweimal im Jahr; ich betone das – Besuch erhalten und einmal im Jahr ein Päckchen mit einem Gewicht von 2 Kilogramm empfangen. Er sitzt in einer feuchten Zelle von 2 mal 2 Metern. Was das für die Gesundheit eines Menschen bedeutet, brauche ich hier nicht auszuführen. Die Situation insgesamt hat sich mittlerweile zu einer veritablen Krise zwischen der EU und Belarus ausgewachsen. Die EU hat Sanktionen verhängt und diese am 28. Februar 2012 nochmals verstärkt. Lukaschenko hat daraufhin die EU-Vertreterin und den polnischen Botschafter ausgewiesen bzw. ihnen empfohlen, ihre Hauptstädte zu Konsultationen aufzusuchen. Er hat seine Botschafter aus Brüssel und Warschau zurückgezogen. Daraufhin riefen alle EU-Länder am 28. Februar 2012 ihre Botschafter zurück. Dies ist ein absoluter Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen der EU und Belarus. Morgen wird die EU über eine erneute Verschärfung der Sanktionen entscheiden. Alle, die sich für Belarus engagieren, sehen ein tiefes Dilemma: Der Dialog, um den wir uns jahrelang bemüht haben, ist abgerissen. Es ist zweifelhaft, ob die Sanktionen etwas bewirken, um Belarus zu demokratischem Verhalten zu motivieren, oder ob sie die Isolation von Belarus verfestigen. Wenn der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Hannes Swoboda, die totale Isolierung Weißrusslands fordert, so ist dies ganz sicher auch ein Reflex auf die jahrelange Düpierung der EU und anderer, die immer wieder die Hand ausgestreckt haben. Dies will ich einmal skizzieren: In den 90er-Jahren gab es ein Step-by-Step-Vorgehen der Europäischen Union. Man hat Angebote gemacht, wenn sich Dinge in die demokratische Richtung bewegt haben. Dieser -Prozess war erfolglos. Dann gab es ein sehr gut ausgearbeitetes Programm der Europäischen Union – zehn Punkte zur Demokratisierung – mit umfangreichen -Angeboten für Belarus, die zum Vorteil für die Bevölkerung gewesen wären. Auch dort ist nichts passiert. Was haben wir gefordert? Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Versammlungsfreiheit, freie und faire Wahlen, die nie stattgefunden haben. Das waren wichtige Schwerpunkte. Unsere Stiftungen haben sich um diese Themen bemüht, ebenso die OSZE-Mission in Minsk. Das Minsk-Forum, das seit über zehn Jahren, von 1997 bis 2010, jährlich stattfand, hatte sich zu einem kritischen Dialogforum zwischen Administration, internationalen Vertretern, Abgeordneten der Nationalversammlung, Menschenrechtsvertretern, Vertretern der freien Presse und der Opposition sowie Wirtschaftsvertretern entwickelt. Das Minsk-Forum findet nicht mehr statt. Das OSZE-Büro ist geschlossen, unsere EU-Botschafter sind zurzeit nicht mehr vor Ort. Ich selbst arbeite seit 1998 in der Working Group on Belarus der OSZE. Wir hatten dieselben Ziele, die auch auf EU-Ebene vertreten worden sind. Wir wollten den Dialog zwischen der Regierung und der Opposition unterstützen, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung einfordern und faire und freie Wahlen ermöglichen. Es hat fünf Jahre gedauert, bis es meiner Arbeitsgruppe gelungen ist, alle gesellschaftlichen Gruppen in Belarus zu mehreren Seminaren, insgesamt drei, an einen Tisch zu bringen. Damals fand ein Dialog statt. Aber das ist seit 2010 vorbei. Jetzt wird uns der Besuch in Belarus verwehrt; wir bekommen keine Visa mehr. Die Europäische Union ist sich auch nicht einig: Lettland und Slowenien lehnen einen harten Kurs in Sachen Sanktionen ab. Das bedeutet ein tiefes Dilemma; wir befinden uns in einer Zwickmühle. Für den Fall, dass morgen noch strengere Sanktionen beschlossen werden, droht der Chef der belarussischen Administration, Herr Makej, es werde von der Opposition im Land nichts übrig bleiben. Bei Nichtverschärfung der Sanktionen allerdings würden die politischen Gefangenen bald freigelassen. Diese Art von politischer Erpressung ist perfide. (Beifall im ganzen Hause) Die Sanktionen sind auch in der Opposition umstritten – ich glaube, wir wissen das –, und damit stehen wir vor demselben Dilemma. Es soll ein neues Angebot der ausgestreckten Hand seitens der Europäischen Union geben; das wurde von Kommissar Piebalgs angedeutet. Wie dieses Angebot genau aussehen wird, ist noch nicht ausgemacht. Es soll jedenfalls ein Dialogprogramm für Belarus sein. Vorgestellt wird es am 29. März, also in ein paar Tagen. Darin werden auch die Zusammenarbeit und die Unterstützung der Zivilgesellschaft angesprochen, was bisher nicht so recht gelungen ist. Ich glaube, in der Realität sind wir heute weit von all dem entfernt, was wir uns im Zusammenhang mit Belarus wünschen. Trotzdem werden unsere Bemühungen nicht aufhören, für Demokratie und Gerechtigkeit zu kämpfen. Ich danke Ihnen. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege Ronald Pofalla. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ronald Pofalla (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Wochenende erhielten wir die schockierende Nachricht von der Hinrichtung der beiden angeblichen Metro-Attentäter von Minsk. Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljow sind tot. Sie waren in einem äußerst fragwürdigen Prozess verurteilt worden. Die Rede war von zurückgezogenen Geständnissen, die unter Folter abgegeben waren. Rechtsmittel waren nicht möglich. Um es klar zu sagen, damit da keine Missverständnisse entstehen: Die Anschläge in der Metro von Minsk waren abscheuliche Verbrechen. Sie sind durch nichts zu rechtfertigen. Dennoch: Weißrussland ist Teil Europas. Und in Europa ist kein Platz für die Todesstrafe. Nie wieder! (Beifall im ganzen Hause) Ich habe mich deshalb mehrfach gegen die Vollstreckung der Urteile und für ein Moratorium bei der Todesstrafe eingesetzt. Zuletzt habe ich zu Beginn der vergangenen Woche in einem langen Gespräch mit dem Leiter der weißrussischen Präsidialadministration noch einmal darum gebeten, die Verhängung der Todesstrafe auszusetzen und in Weißrussland zu einem Moratorium zu kommen. Trotz internationaler Proteste, Appelle und Gespräche hat sich der Staatspräsident gegen eine Begnadigung entschieden und die Tötung angeordnet. Die Todesstrafe ist eine menschenunwürdige Strafe. Sie ist nicht hinnehmbar – egal welche Verbrechen den Angeklagten vorgeworfen werden. Und sie wird selber zu einem Verbrechen, wenn das zugrunde liegende Verfahren, wie in diesen beiden Fällen, eine Farce ist. (Beifall im ganzen Hause) Das Gute an der schon seit über 15 Jahren andauernden Debatte zu Weißrussland ist: Wir alle hier im Deutschen Bundestag haben ein gemeinsames Verständnis von der Situation in Weißrussland. Vielen von uns geht es so, dass unsere weißrussischen Gesprächspartner von einst nun in Haft, unter Hausarrest, im Asyl sind oder keine Ausreisegenehmigung erhalten. Es gibt Berichte von Folter und Gewalt. Seitdem herrscht in der weißrussischen Gesellschaft eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung. Auch Vertreter der Zivilgesellschaft wurden inhaftiert, das „organisierte Nichtstun“ in Gruppen wurde verboten und unter Strafe gestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns eint das gemeinsame Verständnis, dass das, was sich insbesondere seit den Vorfällen nach den Wahlen im Dezember 2010 in Weißrussland abspielt, eine gesellschaftliche und politische Katastrophe ist. Ich sage ganz klar und deutlich: Diese Entwicklung in Weißrussland kann und wird von uns allen niemals akzeptiert werden. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir werden die Sanktionen nach und nach ausweiten, solange die weißrussische Führung nicht reagiert. Aber wir müssen auch weiterdenken. Aus meiner Sicht ist die Vorstellung unerträglich, dass dieses Unrechtsregime, das einsperrt und hinrichtet, durch die Austragung der Eishockeyweltmeisterschaft im Jahre 2014 eine besondere Auszeichnung erfährt. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dem Diktator und Eishockeyfan Lukaschenko ist es ein persönliches Anliegen, diese Eishockeyweltmeisterschaft in seinem Land durchzuführen. Es kann nicht richtig sein, sie dort durchzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass der internationale Eishockeyverband über eine Verlegung der Spiele in ein anderes Land nachdenkt. Wie ich den Presseveröffentlichungen entnehmen kann, wird der Weltverband bei seiner Tagung im Mai erneut über die Frage der Austragung beraten und entscheiden. Ich sage: Ich wünsche mir, dass diese Eishockeyweltmeisterschaft in ein anderes Land verlegt wird. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich bei vielen von Ihnen – ich will keinen persönlich herausgreifen – ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken, die hier wirklich partei- und fraktionsübergreifend stattgefunden hat und auch weiter stattfinden muss. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!) Ich will mit drei Anmerkungen schließen, die im Zusammenhang mit Weißrussland von zentraler Bedeutung sind: Wir stehen auf der Seite der Menschen in Belarus, wir stehen auf der Seite der Menschenrechte, und wir stehen auf der Seite der Freiheit. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Koch [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Stefan Liebich. (Beifall bei der LINKEN) Stefan Liebich (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist jetzt mehrfach gesagt worden, aber ich will es, weil es so schrecklich ist, wiederholen: Der 26-jährige -Wladislaw Kowaljow wurde am vergangenen Wochenende in Belarus durch Genickschuss hingerichtet, wenige Tage zuvor sein mutmaßlicher Komplize Dmitrij Konowalow. Ja, es war ein grauenhafter Terroranschlag, bei dem im April 2011 in einer U-Bahn in der Hauptstadt Minsk 15 Menschen ums Leben kamen und 300 verletzt wurden. Trotzdem ist jeder der hier genannten Vorwürfe berechtigt: Es gab kein rechtsstaatliches Verfahren. An der Schuld der beiden Hingerichteten bestehen erhebliche Zweifel. Selbst wenn sie ohne jeden Zweifel schuldig gewesen wären, müsste unser Haus protestieren, weil wir alle gemeinsam die Todesstrafe ablehnen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich finde es wichtig, dass wir dies in klarer und deutlicher Form dem Diktator – so nennt er sich selbst – -Lukaschenko und seiner Regierung mitteilen. Hier herrscht Einigkeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg. Wir unterstützen hierin den Außenminister ausdrücklich. Auch Konsequenzen wären schön, allerdings bleiben kaum noch Eskalationsmöglichkeiten übrig. Darüber müssen wir ganz offen reden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Botschafter der Europäischen Union – auch der deutsche Botschafter – nicht mehr im Land sind. Sanktionen gegen die politische Führung und gewalttätige Polizisten und Angehörige der Sicherheitskräfte sind bereits verhängt worden – zu Recht. Diese nun auch auf Oligarchen und andere Günstlinge -Lukaschenkos auszuweiten, ist sinnvoll. Aber was dann? Die von Frau Zapf erwähnte totale Isolation, die der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, der Österreicher Hannes Swoboda, vorgeschlagen hat, ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg. Er sagte am Montag der dpa: Wir haben versucht, ins Gespräch zu kommen, aber dieser Weg führt in die Irre. Ich verstehe die Frustration, aber ich finde diesen Weg trotzdem falsch. Wir müssen reden, und wir dürfen die Kontakte auch in diesen schwierigen Zeiten nicht abbrechen. (Beifall bei der LINKEN) Wir diskutieren mit den Parlamentariern aus Belarus bei jeder Beratung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, gerade erst wieder vor wenigen Wochen in Wien. Wenn wir in die Vergangenheit schauen, stellen wir fest, dass Gespräche auch naheliegen. Wer saß denn bei der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1976 an einem Tisch? Selbst 1982, als Polen das Kriegsrecht verhängt hat, sind die Gespräche auf der Madrider Konferenz der KSZE nicht abgebrochen, sondern weitergeführt worden, und das war richtig. Wenn wir Menschenrechtsverletzungen wie solche in Belarus, die ohne jeden Zweifel besonders schlimm sind, thematisieren, dann wären wir glaubwürdiger, wenn wir auch bei anderen nicht schweigen würden. (Beifall bei der LINKEN) Es passt nicht zusammen, Lukaschenko zu verurteilen und den seit 20 Jahren regierenden ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik und jetzigen „Führer der Nation“, Nursultan Nasarbajew, auf dem roten Teppich im Kanzleramt zu begrüßen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Noch im Dezember letzten Jahres wurden streikende Arbeiter von seinen Sicherheitskräften erschossen. Wie verliefe unsere Diskussion heute, wenn in Belarus Öl- und Gasvorkommen existierten und es ebenso reich an Gold, Silber, Uran, Kupfer, Blei, Zink, Bauxit oder Phosphor wäre wie Kasachstan? Wenn wir hier im Plenum über die Vollstreckung von Todesurteilen reden wollten – Frau Kollegin Schuster hat darauf hingewiesen –, dann hätten wir noch viel zu tun. Sie ist überall schlimm, nicht nur in Europa. (Beifall bei der LINKEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben noch viel zu tun!) 25 000 Menschen warten weltweit in Todeszellen auf ihre Hinrichtung. In 58 Staaten ist die Todesstrafe Gesetz, 25 wenden sie regelmäßig an. Es sind nicht nur weit entfernt liegende Staaten, sondern viele, mit denen wir eng zu tun haben: Singapur, die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan. Deshalb fordert unsere Fraktion: Ächten wir die Todesstrafe weltweit. Verständigen wir uns endlich auf Standards zur Einhaltung von Menschenrechten, die wir dann auch von jenen einfordern, die gute Geschäftspartner sein könnten. Verurteilen wir gemeinsam das Regime in Minsk für die Hinrichtung der beiden jungen Männer. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort die Kollegin Marieluise Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe noch nie einer Mutter schreiben müssen, deren Sohn in einem vollkommen willkürlichen Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ich würde auch niemals sagen, dass es sich um mutmaßliche Täter oder um mutmaßliche Komplizen handelt. Denn wer das Protokoll zum Hergang des Sprengstoffattentates genau liest – jedem in unserem Ausschuss, auch Ihnen, Herr Liebich, ist es zugänglich –, weiß, dass nicht einmal die belarussische Justiz behauptet hat, Wladislaw Kowaljow habe sich am Tatort befunden, und dass es einen zuverlässigen Zeugen, einen Betroffenen, gegeben hat, der bezeugt hat, dass auch Dmitrij Konowalow nie am Tatort gesehen worden ist. Für mich sind die beiden Justizopfer. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Vieles spricht sogar dafür, dass sie eher Opfer eines politischen Verbrechens des Lukaschenko-Regimes geworden sind. Bereits 1999 und 2000 verschwanden in Belarus vier Opponenten aus dem nächsten Umfeld von Alexander Lukaschenko. Wir sollten das wieder in Erinnerung rufen. Der Pourgourides-Bericht des Europarates vom Jahr 2004 geht von der Exekution dieser vier Personen aus. Der Bericht stellt außerdem fest, dass die Spuren dieses Verbrechens bis in die höchsten Staatsebenen führten. Zu dieser Zeit – auch damals schon – hieß der Staatschef Alexander Lukaschenko. Es wäre also nicht das erste Mal, dass in Belarus aus politischen Motiven gemordet worden ist. Wie gehen wir nun mit diesem Belarus um? Ich weiß, es mehren sich die zweifelnden Stimmen, was den Erfolg der aktuellen Sanktionspolitik angeht. Tatsache ist, dass eine Sanktionspolitik dann ins Leere zu laufen droht, wenn sie von einem Partner unterlaufen wird. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates forderte im Januar alle Mitgliedstaaten auf, die Sanktionen der EU gegen Belarus mitzutragen. Auch Russland ist Mitglied im Europarat, und zwar freiwillig. (Marina Schuster [FDP]: So ist es!) Russland argumentierte gegen diese Sanktionen und sagte, diese würden die Einwirkungsmöglichkeiten auf Lukaschenko verschließen. Belarus sei ein Brudervolk. Diese Argumentation könnte sogar überzeugen, wenn Russland alles unternommen hätte, um die Hinrichtungen zu verhindern. Ein Anruf aus dem Kreml hätte dem belarussischen Machthaber die Erschießungen verwehren können. Doch Russland hat dies nicht getan. Dass der russische Außenminister jetzt, wenige Tage nach der Hinrichtung, öffentlich verkündet, es sei Zeit für ein -Moratorium, macht mich einfach fassungslos. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Russland unterläuft die Sanktionen. Es zieht sogar aus der Schwäche Lukaschenkos wirtschaftlichen Nutzen und konnte mit dem Erwerb von Beltransgas sein Pipelinemonopol noch weiter ausbauen. Morgen werden die EU-Außenminister über die -Erweiterung der Sanktionen gegen Belarus beraten. Es ist schon gesagt worden, dass aus dem Zentrum des -Lukaschenko-Regimes durchsickert, dass der Diktator einen Deal angeboten hat: Freilassung der politischen Gefangenen, falls keine weiteren Sanktionen erlassen werden. Was bedeutet das? Das Regime erklärt damit selbst, dass es politische Gefangene hat. Außerdem erklärt das Regime, dass es diese Gefangenen als Geiseln hält. Das nennt man gemeinhin Staatsterror. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Das Angebot des Regimes beweist allerdings auch, dass die EU-Sanktionen der Diktatur und dem Diktator offensichtlich wehtun. Auch wenn deutsche Unternehmen von Sanktionen gegen Minsk betroffen wären, muss gelten: Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht vor der Moral stehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich bin dem Kollegen Pofalla sehr dankbar, dass er zur Eishockey-WM so klar Stellung bezogen hat. Wir haben schon vor einem halben Jahr dem Deutschen Eishockey-Bund geschrieben und ihn gefragt, welcher Sportler, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist, neben diesem gnadenlosen Herrscher auf dem Siegertreppchen stehen will. Belarus ist Europa. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Der Internationale Eishockeyverband sollte sich dazu entscheiden, diesem Diktator nicht den Glanz von internationalen Spielen, die immer auch etwas mit Politik zu tun haben, zu organisieren. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Karl-Georg Wellmann hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Niemand von uns ist unberührt, wenn von Staats wegen Menschen getötet werden. Die Todesstrafe widerspricht allen zivilisatorischen Errungenschaften und Werten. Es ist abstoßend, dass Belarus als einziges Land in Europa die Todesstrafe nicht nur verhängt, sondern auch vollzieht. Ich sage aber auch, dass wir alle anderen Länder, wo immer sie liegen, in denen die Todesstrafe vollzogen wird, ebenso kritisieren. Es gibt in der Tat Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit dieses Urteils. Wer der zivilisierten Staatengemeinschaft angehören will, der muss solche Zweifel eben ausräumen. Wenn er das nicht tut, verstärkt er die Zweifel, ob in diesem Prozess alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Belarus ist, was die Stellung zur europäischen Staatengemeinschaft angeht, an einem Tiefpunkt angelangt. Aus Minsk gibt es seit Herbst 2011 kein annähernd positives Signal; im Gegenteil: Es gibt ein verschärftes Vorgehen gegen die Opposition. Seit neuestem ist die Ausreise von Oppositionellen erschwert. Außerdem hat Minsk, wie wir wissen, die diplomatische Krise eskalieren lassen, indem es erst den polnischen Botschafter und dann die EU-Vertreterin zur Ausreise aufgefordert hat. Was wir da erleben, ist auch eine Niederlage von Politik. Wenn die Sozialdemokraten im Europaparlament die totale Isolierung fordern, dann ist das erst recht eine -Niederlage der Politik. Wenn man es mit so empörenden Zuständen wie in Weißrussland zu tun hat, dann ist man geneigt, emotionale Reden zu halten und sich zu empören. Aber es hilft nichts. Wir müssen nach wie vor versuchen, zu politischen Lösungen zu kommen. Wenn es so weitergeht, würde nämlich vor allem die Bevölkerung, die Zivilgesellschaft noch mehr leiden. Wir befinden uns in einer tragischen Situation – wenn es nicht so ernst wäre, würde man sagen: in einer tra--gikomischen Situation –: Die EU will und wird die Sanktionen morgen verschärfen. Der Rat der Außenminister hat aber gesagt: Wenn die politischen Gefangenen vorher freigelassen werden, überdenken wir das noch einmal. Aus Minsk hörten wir heute Nachmittag, dass man bereit wäre, bis Ende März diese und jene politischen Gefangenen zu entlassen und in der Folge alle weiteren, wenn die EU auf Sanktionen verzichtet. Ich will das nicht interpretieren, um den Ton nicht noch weiter zu verschärfen. Gestern und heute haben viele vieles versucht. Ich habe auch gesagt, dass Freilassungen kein Signal der Schwäche von Minsk wären, sondern ein Signal der Stärke und der Souveränität. Offenbar findet man in Minsk aber nicht die Kraft dazu. Leider ist offen, ob bis morgen eine Lösung erreicht werden kann oder ob Intransigenz und Sprachlosigkeit eine Lösung verhindern. Mit verschärften Sanktionen ist niemandem geholfen, nicht den Menschen und schon gar nicht der Opposition, auch nicht der Wirtschaft. Russische Unternehmen würden mit der weiteren Privatisierung belarussischer -Unternehmen ihren Reibach machen. Auch dem Land Belarus und der EU wäre damit auch nicht geholfen. Die verstärkte Hinwendung zu Russland wäre unausweichlich – mit all den politischen Folgen, die sich daraus ergeben. Ich würde abschließend hier gerne noch die Frage stellen, ob wir genug für die Zivilgesellschaft tun. Wir haben hier vor gut einem Jahr etwas beschlossen. Wir haben gesagt: Lassen Sie uns die Programme zur Unterstützung von Studenten verstärken. Frau Pieper hat gestern im Ausschuss gesagt, dass 99 belarussische Studenten mit Stipendien bei uns sind. Wir haben in Deutschland weit über 2 Millionen Studenten und deutlich mehr als 200 000 ausländische Studierende. Gemessen daran sind 99 belarussische Studenten nicht viel, und im Übrigen ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das sagt auch der sehr kompetente Vertreter des DAAD in Minsk. Er sagt, dass er erstklassige Bewerbungen von Leuten mit einem Notendurchschnitt von 1,3 oder 1,2 hat, die er ablehnen muss, weil wir nicht genug Plätze haben. Ich habe vor einigen Tagen zusammen mit unserem Botschafter Weil, der ja in Berlin ist, ein Gespräch mit dem Präsidenten der Freien Universität geführt. Dieser sagte: Mit Kusshand nehme ich weitere Studenten. Die, die ich habe, sind alle im oberen Leistungsviertel. Ich nehme gerne noch mehr. – Bei 20 000 bis 30 000 Studenten ist das auch kein Kapazitätsproblem. Ein Student bei uns kostet 10 000 Euro im Jahr. Mit 1 Million Euro zusätzlich könnten wir die Zahl der belarussischen Studenten in Deutschland verdoppeln. (Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Herr Kollege Pofalla, ich weiß, dass Sie sich für die Zivilgesellschaft in Belarus sehr engagiert haben. Ich bitte Sie und die Kollegen der anderen Fraktionen: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir in dem Haushalt, der 300 Milliarden Euro umfasst, noch eine, so sage ich es einmal, lächerliche Million zusammenkratzen. Dann könnten wir die Zahl der belarussischen Studenten verdoppeln. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Studenten, die wir heute bei uns ausbilden, sind Teil der zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Elite Weißrusslands. Das wäre eine sehr gute Investition. Lassen Sie uns also gemeinsam daran arbeiten, dass wir weitere 1, 2 oder 3 Millionen Euro mobilisieren, um etwas zu tun. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie die Frage von Frau Beck noch zulassen? Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Ja, gerne. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe mich, glaube ich, früh genug gemeldet. – Herr Kollege, Ihr Vorschlag wird von uns allen unterstützt. Sind Sie bereit, nach Wegen zu suchen, um dafür zu sorgen, dass diese Stipendien nicht jungen Menschen zugutekommen, die sehr staatsnah, um nicht zu sagen im Dienste des Staates studieren und dann hierher kommen? Der DAAD ist nach seinen jetzigen Regularien dazu verpflichtet, Stipendien im Benehmen mit den Rektoren der auswählenden Universitäten zu vergeben. Diese sind in Belarus alle an der kurzen Leine des KGB. Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Frau Kollegin Beck, das Problem ist bekannt. Nun sagen einige: Das Kind eines Funktionärs wollen wir nicht in Sippenhaft nehmen. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nicht von einem Kind eines Funktionärs gesprochen!) Aber wir können nicht mehr tun, Frau Beck, als zusätzliches Geld aufzubringen, dieses zweckgebunden an den DAAD zu geben und den DAAD mit seinem sehr kompetenten Vertreter in Minsk und die Deutsche Botschaft dort zu ersuchen, geeignete Stipendiaten auszuwählen. Anders geht es leider nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Investitionen in Antipersonenminen und Streumunition gesetzlich verbieten und die steuerliche Förderung beenden – Drucksachen 17/7339, 17/8016 – Berichterstattung: Abgeordneter Roderich Kiesewetter Uta Zapf Dr. Rainer Stinner Jan van Aken Kerstin Müller (Köln) Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Christoph Schnurr für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Christoph Schnurr (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2006 in einem eigenen Antrag die weltweite Ächtung von Streumunition gefordert. Die Verabschiedung der Oslo-Konvention im Jahr 2008 war deshalb aus unserer Sicht ein großer Fortschritt. Allerdings – ich denke, darüber herrscht hier im Hohen Hause Konsens – wurden mit der Konvention nicht alle Probleme gelöst. Um es noch einmal festzuhalten: Wir sind ganz klar für die Ächtung von Streumunition. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das zentrale Problem bleibt, dass die Besitzer der meisten Streumunition, darunter die USA, Russland und China, das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben. Wäre es anders, müssten wir die heutige Debatte wohl kaum führen. Da wir sie führen, sollten wir unser gemeinsames, unser eigentliches Ziel im Blick behalten. Jedem muss bewusst sein, dass es hier um eine Verlagerung der Strafbarkeit geht. Kriminalisiert werden sollen nicht mehr nur der Einsatz und die Produktion von Streumunition, sondern kriminalisiert werden soll auch die Vorstufe, nämlich die Finanzierung. Durch diese Vorverlagerung müssen meiner Ansicht nach die Anforderungen an ein gesetzliches Verbot streng sein. Mit anderen Worten: Eine gesetzliche Regelung ist nur dann sinnvoll, wenn sie eindeutig, überprüfbar und effektiv ist und wenn alles andere wirkungslos bleibt. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: So ist es!) Lassen Sie mich auf diese Punkte eingehen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, sagen: Ja, eine gesetzliche Regelung könnte die genannten Kriterien erfüllen. Als Belege nennen Sie in Ihrem Antrag Belgien, Luxemburg, Norwegen und Neuseeland. (Uta Zapf [SPD]: Dazu kommt noch die Schweiz!) Sie wollen damit zeigen, dass eine gesetzliche Regelung möglich ist. Tatsächlich zeigen aber gerade diese -Beispiele genau das Gegenteil. Egal wie man ein Investitionsverbot anpackt, es ist immer mit Problemen behaftet. (Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es gar nicht erst versucht!) Das haben uns die Vertreter dieser Länder in unterschiedlichen Gesprächen bestätigt. Es ist kein Zufall, dass sich bisher gerade einmal eine Handvoll Staaten an einem Gesetz in diesem Zusammenhang versucht haben. Es überrascht auch nicht, dass sie alle sehr unterschiedlich an die Sache herangegangen sind. Die einen verbieten Investitionen in die Herstellerfirmen von Streumunition nur, wenn sie vorsätzlich getätigt werden, die anderen nur dann, wenn diese Investi--tionen wissentlich getätigt werden. Eindeutig und glasklar sind diese Formulierungen in meinen Augen nicht. In Belgien kann das entsprechende Gesetz noch immer nicht angewandt werden, weil die schwarze Liste fehlt, und das, obwohl das Gesetz schon seit Jahren existiert. In Norwegen gibt es erst gar kein Gesetz. Der staatliche Pensionsfonds schließt Produzenten von Streumunition zwar aus, eine Bestimmung, die private Anleger dazu verpflichtet, gibt es aber nicht. Kommen wir zum zweiten Punkt. Brauchen wir überhaupt eine gesetzliche Regelung? Für Liberale ist das eine sehr grundsätzliche Frage, weil wir glauben, dass der Staat nicht der bessere Problemlöser ist. Für uns liegen Kompetenz und Verantwortung zunächst bei der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Es gilt: Einsicht ist besser als Aufsicht. (Uta Zapf [SPD]: So viel Einsicht wie -Ackermann, ja?) Diese Einsicht gibt es, Frau Zapf. Nach dem Abkommen von Oslo hat eine Reihe von Finanzdienstleistern reagiert und interne Richtlinien entwickelt, um -Geschäfte mit Streumunitionsherstellern auszuschließen. Die FDP-Fraktion begrüßt das an dieser Stelle ausdrücklich. Gleichzeitig sage ich aber auch ganz klar: Das reicht noch nicht aus. Es reicht nicht aus, was bislang geschehen ist. Aber man ist auf dem richtigen Weg. Wir brauchen noch mehr und umfangreichere Selbstverpflichtungen. Das Entscheidende für uns ist aber, dass momentan Bewegung da ist, dass es Finanzinstitute gibt, die interne Richtlinien prüfen, erarbeiten und -implementieren. Die Finanzdienstleister wissen am besten, wie man dabei vorgehen muss. Sie überprüfen ohnehin jeden Kunden und jede Anlagemöglichkeit. Sie -holen Informationen von Dritten ein und können sich so ein gutes Bild von einzelnen Unternehmen machen. Das alles gehört zum täglichen Geschäft von Banken und kann pragmatisch gehandhabt werden, anders als beim Staat. (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, bevor Sie zu diesem Punkt kommen: Möchten Sie eine Frage der Kollegin Brugger zulassen? Christoph Schnurr (FDP): Ich würde ganz gerne fortfahren. – Ich will, wie -gesagt, auf einen weiteren Punkt eingehen, und zwar ganz konkret auf das, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Da heißt es: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … Unternehmen, die Antipersonenminen und Streumunition herstellen oder entwickeln, schnellstmöglich von der öffentlichen Auftragsvergabe auszuschließen … (Beifall bei der LINKEN) Das fordern Sie in Punkt 5 Ihres Antrags. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wissen Sie eigentlich, was es bedeutet, wenn man das zu Ende denkt? (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Anscheinend nicht!) Die Bundespolizei dürfte dann keine Bell-Hubschrauber mehr bei Textron kaufen. (Inge Höger [DIE LINKE]: Ja! In Ordnung!) Die Bundeswehr dürfte keine Patriots mehr bei Raytheon kaufen, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) keine Navigationssysteme mehr bei Lockheed Martin und keinen Eagle mehr bei General Dynamics bestellen. Das kann nicht Ihr Ernst sein. (Inge Höger [DIE LINKE]: Oh doch!) Was wir gemeinsam wollen, auch die FDP-Bundestagsfraktion, ist die weltweite Ächtung von Streumunition. Dafür müssen wir uns auch bei unseren Partnern im Ausland weiter einsetzen und dort für dieses Anliegen werben. Natürlich – da sind wir einer Meinung – sollten wir auch die Investitionsfrage weiter im Blick behalten. Dazu liegen neue Zahlen auf dem Tisch. Wir sind gerne bereit, auch in Zukunft über dieses Thema mit Ihnen zu diskutieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Uta Zapf hat das Wort für die SPD-Fraktion. Uta Zapf (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schnurr, ich finde es zutiefst beschämend, dass die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP heute den -Antrag auf ein Verbot von Investitionen in Streumunition und Antipersonenminen ablehnen werden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was will der Antrag? Er will sicherstellen, dass Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c der Oslo-Konvention über Streumunition – und analog angewendet auf Antiper-sonenminen – so interpretiert wird, dass das Verbot der Unterstützung der Herstellung von Streumunition auch Investitionen in Herstellerfirmen, direkte und indirekte, umfasst. Welchen Sinn macht es denn, wenn wir uns -damit brüsten, im Gegensatz zu den Ländern mit großen Herstellern – USA, China usw. – auf die Herstellung, den Besitz, die Anwendung, den Export und die Lagerung dieser menschenverachtenden Waffen zu verzichten, uns dann aber weigern, Investitionen in Firmen, die diese geächtete Munition herstellen, ausdrücklich zu verbieten? Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c des Oslo-Übereinkommens verbietet, irgendjemanden zu unterstützen, – „unterstützen“ ist das ausschlaggebende Wort – zu ermutigen oder zu veranlassen, Tätigkeiten vorzunehmen, die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Übereinkommens verboten sind. Das war ein Zitat. Der simple Menschenverstand sagt mir, dass ein Kredit, dass eine Investition sehr wohl eine Unterstützung ist. Wer wollte das denn leugnen, liebe Kolleginnen und Kollegen? (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was sagt die Bundesregierung dazu? Ich zitiere aus der Antwort auf die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3185. Frage 22 lautet: Teilt die Bundesregierung die Interpretation, dass das Verbot der Unterstützung des Einsatzes, der Herstellung und Weitergabe von Streumunition jegliche Form von Unterstützung umfasst, also auch Investitionen in Firmen, die Streumunition in ihrem Portfolio haben? a) Wenn nein, warum nicht? b) Wenn ja, welche Konsequenzen hat das …? Jetzt zitiere ich die Antwort der Bundesregierung: (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt wird es peinlich!) Gemäß Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c des Übereinkommens über Streumunition gilt das Verbot der Unterstützung des Einsatzes, der Herstellung und Weitergabe von Streumunition mit Blick auf alle Tätigkeiten, „die einem Vertragsstaat aufgrund dieses Übereinkommens verboten sind“. Das Übereinkommen – jetzt kommt die Überraschung – enthält jedoch kein ausdrückliches Verbot der Investition … Eine Investition ist also keine Unterstützung. Ob unter das Verbot der Unterstützung des Einsatzes, der Herstellung und Entwicklung von Streu-munition nach dem Übereinkommen im Einzelfall eine Investition in Unternehmen … fallen könnte, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Das verstehe ich überhaupt nicht. – Außerdem schreibt sie: Zu abstrakten Rechtsfragen nimmt die Bundes-regierung grundsätzlich nicht Stellung. Ich sage: Art. 1 Abs. 1 Buchstabe c ist das Verbot von Investitionen. Hier soll eine Entscheidung im Einzelfall nötig sein? Das verstehe ich überhaupt nicht. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben am 22. September 2011 einen Round Table mit den Nichtregierungsorganisationen durchgeführt, -denen ich an dieser Stelle hier noch einmal insbesondere dafür danken möchte, dass sie dieses Thema mit großer Hingabe bearbeiten und uns darüber informieren, was Sache ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Wir haben interpretiert, ob Investitionen durch diesen Wortlaut erlaubt sind oder nicht. Wenn ich es in diesem Gespräch richtig verstanden habe, dann war die Auffassung der FDP und auch der CDU/CSU: Jawohl, diese -Investitionen sind erlaubt, aber nicht wünschenswert. – Da staunt der Fachmann. (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Und der Laie wundert sich!) Sie sind nicht wünschenswert. Sie setzen auf eine Selbstverpflichtung. Lieber Herr Schnurr, haben Sie heute die Zeit gelesen? Es ist das zweite Mal, dass die Zeit davon berichtet, wie ernst die Banken und insbesondere die Deutsche Bank diese Selbstverpflichtung nehmen. (Christoph Schnurr [FDP]: Es besteht auch kein Zweifel daran, dass ich dafür bin, dass die Investitionen zurückgeführt werden! Die Frage ist nur, ob wir eine gesetzliche Maßnahme brauchen oder die Selbstverpflichtung! Das ist der Unterschied!) – Dann brauchen wir ein Gesetz, in dem dieses vor-geschrieben wird. – Sie haben vorhin die Länder auf-gezählt, die entsprechende Gesetze erlassen haben. Es gibt daneben aber andere Länder, wie Großbritannien, Frankreich und Australien, die sagen: Natürlich ist das Verbot schon Teil der Konvention. Deshalb ist unsere Praxis eben, dass wir dies nicht gestatten. – Vor kurzem hat die Schweiz das Streumunitionsverbot in ihrem Kriegsmaterialgesetz beschlossen und dabei ein Finanzierungsverbot ausdrücklich mitbeschlossen. Das kann uns doch nicht kalt lassen. Ich könnte jetzt auch noch die Homepage der Schweizer Tagesschau zitieren, aber das tue ich aus Zeitgründen nicht. Liebe Freunde, unsere Interpretationen sind kontrovers. Lasst uns also einen Gesetzentwurf erarbeiten. Wenn Sie in einem solchen Gesetzentwurf einige -Unstimmigkeiten sehen sollten, dann beraten wir darüber. Es wäre eine große gemeinsame Tat, wenn wir uns darauf einigen könnten, ein praktikables, aber eben prohibitives Gesetz zu diesem Problem auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte jetzt noch einmal darauf eingehen, was uns in der letzten Zeit in Bezug auf die Selbstverpflichtung vorgemacht worden ist. Das war nämlich ein Selbstbetrug bzw. ein Betrug der Öffentlichkeit. Auf der Hauptversammlung im Mai 2011 hat Herr Kapetanovic, ein Minenräumer, sehr drastisch gezeigt, was die Folgen solcher Streumunition sind. Herr Ackermann hat betroffen angekündigt, man werde dieses Engagement überprüfen und man könne zuversichtlich sein, dass die Deutsche Bank aus diesem Geschäft aussteigen wird. Was ist passiert? Im September 2011, also etliche -Monate später, beliefen sich die Investitionen der Deutschen Bank in entsprechende Unternehmen noch immer auf 776,53 Millionen US-Dollar. Heute beläuft sich diese Summe laut einer Recherche der NGO Facing -Finance auf sage und schreibe fast 1 Milliarde Euro an Krediten und Anleihen. Was ist nun? Hat man das Engagement allmählich abgeschmolzen? Komischerweise werden die Zahlen größer. Im Februar 2012 – das ist noch nicht lange her – -behauptete der Chef der Deutschen Bank, Herr -Ackermann, im Fernsehen, die Bank sei völlig aus der Finanzierung von Streubombenherstellern ausgestiegen. Die neue Analyse, die ich gerade erwähnt habe, hat aber genau gezeigt, dass dies gelogen war. Entschuldigung, aber ich halte das für eine Lüge und glaube nicht, dass es ein Versehen war, dass er etwa die Bücher nicht richtig gelesen hat. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Vorsicht!) Ja, es ist richtig, Herr Schnurr, dass die Commerzbank, die Sparkassen und andere Finanzinstitute restriktive Richtlinien eingezogen haben, dass sie die Anteile in ihren Portfolios deutlich reduziert haben und dass manche sogar ganz ausgestiegen sind. (Christoph Schnurr [FDP]: Bereinigt!) Damit es eine einheitliche Handhabung dieser Vorschrift gibt und damit wir die Konvention nicht beschädigen, lassen Sie uns mit einem Gesetz, wie es dieser Antrag vorsieht, Klarheit und Rechtssicherheit schaffen. Ich danke euch. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Wadephul spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Zapf, wir müssen uns nicht in -jeder Debatte so einig sein wie in der vorangegangenen Belarus-Debatte. (Uta Zapf [SPD]: Schön wäre es! Das ist ja kein Grund!) – Na gut, Sie haben mir gerade in der Tat keinen Anlass dazu gegeben. Das gehört aber zum Alltag hier im Parlament, den wir verkraften müssen. Wir sind uns doch in diesem Parlament – und das wissen Sie auch, Frau Kollegin Zapf – völlig einig darin, dass Deutschland alles getan hat und große Anstrengungen unternommen hat, um die internationalen Abkommen von Ottawa und Oslo zum Erfolg zu führen, (Christoph Schnurr [FDP]: So ist es!) und dass wir uns international auch bei unseren Bündnispartnern mit Nachdruck dafür einsetzen, dass sie diesen Abkommen beitreten. Das ist für mich ein Anlass, dieser Bundesregierung für ihr Engagement ganz herzlich zu danken und ihr die Unterstützung dieses Hauses zuzusagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschland hat einfachgesetzliche Maßnahmen -ergriffen, um das umzusetzen. Diese sind Sie gerade leider schlankerhand einfach so übergangen. Wir haben § 18 a Kriegswaffenkontrollgesetz, der nicht nur den Einsatz, das Entwickeln, das Herstellen von oder das Handeltreiben mit derartigen Antipersonenminen und Streumunition unter Strafe stellt, sondern auch die Förderung all dieser Tätigkeiten. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hört! Hört!) Frau Kollegin Zapf, (Uta Zapf [SPD]: Das war doch mein Argument!) wir haben dafür eine gesetzliche Grundlage, die im Übrigen in einem nicht unerheblichen Umfang strafbewehrt ist. Die Mindeststrafe beträgt ein Jahr Freiheitsstrafe, und damit stellt das Delikt ein Verbrechen dar. Das ist also keine Kleinigkeit im deutschen Strafrecht. Sie sagen jetzt allerdings in der Debatte, CDU/CSU und FDP seien der Meinung, dass Investitionen in den Bereich den Tatbestand der Förderung nicht erfüllen würden. So hätten Sie uns in einem Gespräch verstanden. (Uta Zapf [SPD]: Das hat Herr Schnurr auch gerade gesagt!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind zu vielem fähig und in der Lage und auch nicht der Meinung, dass wir als Parlamentarier unser Licht unter den Scheffel stellen sollten, aber ob der Tatbestand der Förderung im Sinne dieses Gesetzes erfüllt ist, entscheiden in Deutschland immer noch Staatsanwälte und insbesondere Gerichte, aber nicht Parlamentarier. (Uta Zapf [SPD]: Entschuldigung, deswegen will ich das Gesetz haben!) Deswegen ist es völlig falsch, uns so etwas zu unterstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ob es, Frau Kollegin Zapf, eine hinreichend klare -Regelung ist, muss sich in der Praxis zeigen, und dass Sie wiederum große Schwierigkeiten haben, Ihr Anliegen konkret zu formulieren, entnimmt man schon mit -einem flüchtigen Blick Ihrem Antragstext. Wir sind ein Gesetzgebungsorgan. Einem Gesetzgebungsorgan sollte man Gesetzentwürfe vorlegen. Gesetzentwürfe können durch den Bundesrat, durch die Bundesregierung und durch Mitglieder des Deutschen Bundestages eingebracht werden. Sie selber sahen sich aber nicht in der Lage, hierzu einen Gesetzentwurf zu unterbreiten, (Zuruf von der LINKEN: Muss auch nicht!) sondern Sie ziehen sich auf die Position zurück: Hier besteht Handlungsbedarf. Dieses Problem müsste die Bundesregierung dadurch lösen, dass sie einen Gesetzentwurf vorlegt. – Machen Sie das doch selber! Setzen Sie sich einmal hin, und unterbreiten Sie uns einen dafür notwendigen Gesetzesvorschlag, der stimmig ist, der den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt und auch hinreichend konkret ist. Legen Sie einen solchen Gesetzentwurf vor. Dann sind wir gerne bereit, darüber zu reden. (Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren doch nicht einmal zu einer abstrakten Formulierung bereit!) Es ist nämlich nicht trivial, um das in aller Ernsthaftigkeit zu sagen, Frau Kollegin Zapf, einfach zu sagen: Der von der Bundesregierung vorzulegende Gesetzentwurf soll ein Investitionsverbot enthalten, und er soll auch alle Umgehungsmöglichkeiten ausschließen. – Ja, das hört sich schön an. Das können Sie möglicherweise auf einer Parteiveranstaltung auch schön sagen. Das ist vom politischen Willen her nachvollziehbar. Aber das in Gesetzesform zu gießen, sodass später Menschen mit dem Gesetz arbeiten können und nicht nur Strafverfolgungsbehörden, ist eine andere Sache. Vielmehr muss der vom Gesetz Betroffene im Einzelnen vorher wissen, wann er etwas Falsches macht, wann er etwas tut, was dieses Gesetz als strafwürdig ansieht. Den Entwurf eines solchen Gesetzes zu formulieren, ist nicht besonders einfach. Im Gegenteil: Ich meine sogar, die Umgehungsmöglichkeiten sind gesetzlich gar nicht klar zu fassen. Deswegen geben Sie den Menschen, denen Sie versprechen, ihr Anliegen durchsetzen zu wollen, Steine statt Brot. Dieser Vorschlag hilft überhaupt gar nicht weiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ähnliches gilt, wenn Sie sagen: Wir sollen bei der öffentlichen Auftragsvergabe entsprechende Unternehmen schnellstmöglich ausschließen. Der Kollege Schnurr hat schon eine Anmerkung gemacht, wer davon alles betroffen wäre. Aus Ihren Reihen hörte man gleich Zurufe: Okay, dann kaufen wir von diesen Unternehmen kein Kriegsgerät mehr. – Das mag man so sagen. Als Sie in politischer Verantwortung waren, insbesondere sozialdemokratische Verteidigungsminister und Finanzminister, ist all das gemacht worden. Jahrzehntelang war das überhaupt kein Problem. (Christoph Schnurr [FDP]: So ist es!) Aber es ist natürlich klar: In dem Moment, in dem man die Seite wechselt und auf der Oppositionsbank sitzt, ist das alles wieder ganz einfach. Aber, Frau Kollegin Zapf, wir können in unser Vergaberecht nicht einfach eine derartige Regelung aufnehmen, ohne einen Konsens in der Europäischen Union zu haben. Das muss EU-rechtskonform sein. Es gibt überhaupt keinen Ansatz in der EU für einen entsprechenden Konsens, um eine derartige Regelung hier aufzunehmen. Sprechen Sie doch einmal mit den Franzosen und den Briten über eine derartige Frage. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie tragen nur Bedenken vor! Ich habe den Eindruck, Sie wollen das nicht!) Ich schaue mir dann in aller Ruhe an, ob Sie dazu in der Lage sind. Deswegen bleiben wir dabei: (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dass Sie es nicht wollen!) Eine Diskussion über diese Punkte ist notwendig. Wir schauen uns mit großer Aufmerksamkeit an, wie die Umsetzung in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelingt. Der Kollege Schnurr hat darauf hingewiesen, dass Belgien ein entsprechendes Gesetz erlassen hat, das derzeit aber keine Zähne hat und nicht greift. Wir können uns auch gerne anschauen, wie das Ganze in Luxemburg und in Neuseeland – Neuseeland ist vielleicht etwas relevanter – in der Realität nachher aussieht. Wir sind da ganz offen. Wir begrüßen in der Tat, dass sich die Commerzbank, Union Investment, Allianz Global Investors öffentlich dazu bekannt haben, sich aus diesem Bereich vollkommen zurückzuziehen. Das ist gut. Das ist positiv. Dieser Weg sollte fortgesetzt werden. (Uta Zapf [SPD]: Ackermann hat gesagt: Wir müssen raus!) Lassen Sie uns bitte wegen der Ernsthaftigkeit des Anliegens keine Unterscheidung dergestalt machen: Das sind die Guten, die eine gesetzliche Regelung fordern. Das sind die Bösen, die das nicht wollen. – Die Sache ist viel komplizierter als Ihr gut gemeinter Antrag, der aber aus meiner Sicht nicht besonders gut ist. Die Sache ist komplexer. Wir wollen uns bei dieser Frage nicht ausei-nanderdividieren. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Der Satz müsste lauten: Wir wollen gar nichts machen! Aber daraus wird nichts!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Inge Höger hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Inge Höger (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Öffentlicher Druck wirkt. Ohne öffentlichen Druck hätten wir heute keine Konvention, kein Verbot von Streumunition und kein Verbot von Minen. Man merkt in dieser Debatte, dass CDU, CSU und auch FDP sich wohl nur öffentlichem Druck beugen. Deshalb brauchen wir weiterhin öffentlichen Druck, damit dieser Konvention auch Konsequenzen folgen. (Beifall bei der LINKEN) Die Übereinkommen zum Verbot von Antipersonenminen und Streumunition sind Meilensteine für den Schutz der Zivilbevölkerung. Es sind Schritte heraus aus der Barbarei des Krieges. Aber es müssen weitere Schritte folgen. Es gibt nach wie vor zahlreiche Staaten, die Minen oder Streumunition produzieren oder einsetzen, wie die USA, Russland, China, Pakistan oder Israel. Wir fordern diese Länder auf, sich dem Verbot anzuschließen, damit wir zu einem wirklich umfassenden Verbot kommen. In all diesen Ländern gibt es aber auch schon Druck aus der Zivilgesellschaft gegen die Herstellung und den Einsatz von Minen und Streumunition. Diesen Initiativen fallen deutsche Finanzinstitute in den Rücken, die nachweislich immer noch die Hersteller finanzieren. Es geht hier nicht um Peanuts, wie die Deutsche Bank in anderen Fällen schon einmal gesagt hat. Es ist vor allem die Deutsche Bank, die US-amerikanische Streumunitionshersteller durch Beteiligungen, Anleihen und Kredite finanziert. Mindestens 1,6 Milliarden Euro aus deutschen Finanzinstituten fließen in das Geschäft mit heimtückischen Minen und Streubomben. Das ist ein unglaublicher Skandal. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nach öffentlichem Druck hatte die Deutsche Bank im November letzten Jahres angekündigt – das wurde eben schon gesagt –, sie werde aus der Finanzierung von Streumunition aussteigen. Inzwischen wissen wir: Diese Ankündigung war ein leeres Versprechen. Die Deutsche Bank hat bereits am Tag nach ihrer Selbstverpflichtung weitergemacht wie zuvor und kontinuierlich neue Geschäfte über diese Waffen abgeschlossen. Wir lernen -daraus: Der Deutschen Bank zu glauben oder auf freiwillige Selbstverpflichtungen zu hoffen, ist ein großer Fehler. Notwendig sind klare gesetzliche Regelungen. Nicht nur die Produktion und der Einsatz von Minen und Streumunition, sondern auch deren Finanzierung muss verboten werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf soll natürlich die Bundesregierung vorlegen. Sie hat das notwendige Personal, um solche Gesetzentwürfe zu erarbeiten. Eigentlich sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein. Viele Staaten haben bereits solche Verbotsregelungen eingeführt. Seit 2009 gibt es mit § 18 a des Kriegswaffenkontrollgesetzes ein Verbot der Förderung von Antipersonenminen und Streumunition. Leider ist darin nicht explizit das Verbot von Investitionen verankert. Diese Lücke nutzen die Deutsche Bank und andere Finanzinstitute aus. Wir müssen diese Lücke schließen. Meiner Ansicht nach kann man die Finanzierung von Streumunition kaum anders nennen als Förderung. Aber wenn das juristisch umstritten ist, dann brauchen wir eine Präzisierung. Dann wird es höchste Zeit, dass dies geschieht. Bereits heute könnte die Bundesregierung nach geltender Rechtslage alle Finanzprodukte überprüfen, die steuerlich gefördert werden. Die Beiträge zur steuerlich geförderten Riester-Rente sollten weder direkt noch indirekt in Minen oder Streubomben investiert werden. Eine Prüfung findet aber nicht statt. Niemand kann deswegen ausschließen, dass staatliche Förderung für die Riester-Rente nicht gleichzeitig eine Förderung von Streumunition ist. Dieser Zustand muss beendet werden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sollten noch einmal darüber reden, um was für Waffensysteme es geht. Minen und Streumunition sind grausam und heimtückisch. Nicht explodierte Minen oder Submunition können ganze Landstriche zu Todeszonen machen. Diese Waffen töten noch Jahre, manchmal Jahrzehnte nach Ende eines Krieges. Die Opfer sind überwiegend Zivilistinnen und Zivilisten, häufig Kinder und alte Menschen. Der zivile Wiederaufbau nach einem Krieg wird dadurch zu einem lebensbedrohlichen Unterfangen. Das Ergebnis sind immer wieder Tote und Verstümmelte. Dieses menschliche Elend muss für uns Verpflichtung sein, weiter Druck zu entfalten. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln und direkte und indirekte Investitionen in Minen und Streumunition zu verbieten. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Agnes Brugger hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen und die Oslo-Konvention zum Verbot von Streumunition trennen in ihrer Entstehung etwa zehn Jahre. Dennoch kann man sie als Geschwisterverträge bezeichnen; denn sie haben vieles gemeinsam. So verdanken beide ihre Entstehung in großem Maße dem unermüdlichen Engagement der Zivilgesellschaft, die mit viel Kraft, Vehemenz und Kreativität für eine weltweite Ächtung dieser barbarischen Waffen gestritten hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) NGOs in Deutschland und weltweit verlieren nicht aus den Augen, was noch vor uns liegt. So läuft in diesen Wochen zum Beispiel die Kampagne „Zeig dein Bein“, mit der auf die Situation von Minenopfern aufmerksam gemacht werden soll. Sie ruft dazu auf, durch eine kleine Geste Solidarität zu zeigen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat vorgestern in einer gemeinsamen Aktion bereits zahlreiche Beine gezeigt. Ich würde mich freuen, wenn Sie es uns gleichtun würden. Zurück zu den Gemeinsamkeiten. Beide Verträge sehen ein strenges und umfassendes Verbot vor und wurden von Deutschland unterzeichnet und mit dem Kriegswaffenkontrollgesetz in nationales Recht umgesetzt. Hier treffen wir auf eine problematische Gemeinsamkeit bei der Umsetzung beider Verträge, die wir als Abgeordnete dringend korrigieren müssen. Bei der Umsetzung des Verbots dieser Waffen klafft eine erhebliche Gesetzeslücke. Trotz der Ächtung können deutsche Banken und Versicherungen in Unternehmen investieren, die Antipersonenminen und Streumunition herstellen. Noch skandalöser ist, dass solche Investitionen über die Riester-Rente sogar staatlich subventioniert werden. Hier sind wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages gefragt, schnellstmöglich für Klarheit zu sorgen und eine entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg zu bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Meine Damen und Herren von der Koalition, inzwischen ist es fast ein Jahr her, dass wir Grüne einen Antrag für eine solche Gesetzesänderung eingebracht und alle Fraktionen – auch und insbesondere Ihre – dazu eingeladen haben, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Wir haben keinen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt, damit Sie sich nicht hinter einzelnen Formulierungen verstecken und sagen können, dass Sie ihn deswegen nicht mittragen können. Aber Sie schaffen es schon, sich von dem abstrakten Ziel zu verabschieden, wie Ihre Reden zeigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Christoph Schnurr [FDP]: Es geht nicht um das Ziel, sondern um die Maßnahmen!) Ich freue mich, dass zumindest unter den drei Oppositionsfraktionen hier schnell Einigkeit herrschte. Seither folgte eine Beratung der anderen. Wir tauschten uns mit NGOs aus und sprachen mit einem Opfer. Wir konsultierten Finanzexpertinnen und -experten, Bankenvertreter und renommierte Testinstitute. Alle befürworten ein gesetzliches Investitionsverbot. Doch was kam von Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen? Außer leeren Worthülsen, Gedruckse und Windungen kam von Ihnen nichts. Das haben auch Ihre Reden gezeigt. Sie sagen zwar, dass Sie das Erreichen des Ziels unterstützen. Aber dann ist Ihnen alles zu kompliziert und doch zu viel. Wenn die Zusammenarbeit mit der Opposition an der vermeintlichen Würde dieser Regierung kratzt, geschenkt! Es ist okay, wenn Sie es nicht mit uns machen wollen, obwohl wir uns in vielerlei Hinsicht sehr kooperationsbereit gezeigt haben. Herr Kollege Dr. Wadephul und Herr Kollege Schnurr, wo zwischen allen Erklärungen Ihrer aufrichtigen Absichten ist Ihre Initiative? Wo ist Ihr Beitrag zur Lösung des Problems? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Oder ist Ihre Tatenlosigkeit schon das Eingeständnis, dass Sie keine guten Gesetzentwürfe machen können? Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, was Sie hier betreiben, ist aus meiner Sicht schlicht Arbeitsverweigerung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es ist doch höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass in Deutschland zukünftig Investitionen in völkerrechtswidrige Waffen gesetzlich verboten sind. (Christoph Schnurr [FDP]: Die Anzahl der Finanzdienstleister, die investieren, hat doch abgenommen!) Es darf nicht sein, dass ein Land wie Deutschland, das jährlich erhebliche finanzielle Mittel für die Räumung von Antipersonenminen und Streumunition weltweit zur Verfügung stellt, Investitionen in die Produktion dieser Waffen erlaubt und teilweise sogar steuerlich fördert. Aber egal ob bei der Regulierung der Finanzmärkte, der Frauenquote oder Investitionen in völkerrechtswidrige Waffen, wenn es um Großkonzerne oder den Finanzsektor geht, setzt Schwarz-Gelb auf Selbstverpflichtung, obwohl das nicht funktioniert, wie man gerade in der Medienberichterstattung verfolgen kann. Trotz aller Selbstverpflichtungen geht die Geschäftemacherei mit diesen barbarischen Waffen uneingeschränkt weiter. (Christoph Schnurr [FDP]: Das stimmt nicht!) Es reicht einfach nicht, die Hände in den Schoß zu legen, abzuwarten, was andere Staaten machen, und darauf zu vertrauen, dass sich die Dinge von selbst regeln. Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es doch, nicht zur Selbstverpflichtung aufzurufen, sondern endlich für Rechtssicherheit zu sorgen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht der Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns hier einig, dass der Einsatz von Streumunition und der Einsatz von Antipersonenminen schreckliches Leiden hervorruft und deshalb geächtet werden muss. Es besteht auch Konsens darüber, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, den Kreis der Staaten, welche die Oslo-Konvention über Streumunition ratifizieren, zu erweitern. Die Bundesregierung bringt sich sehr engagiert in diesen Oslo-Prozess ein. Deutschland wurde beispielsweise die besondere Aufgabe übertragen, Koordinator für die Bestandszerstörung zu sein. Der Antrag, der nun die Idee formuliert, ein Investi-tionsverbot gesetzlich zu verankern, greift zunächst einmal die aktuelle Rechtslage auf, die hier mehrfach angesprochen worden ist. Wir haben im Kriegswaffen-kontrollgesetz verboten, die Herstellung von Streumunition zu fördern. Das war die Gesetzesänderung, mit der die Konvention über Streumunition von Oslo in deutsches Recht umgesetzt worden ist. Dieses Verbot der Förderung der Herstellung von Streumunition ist mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bei vorsätzlichen Verstößen belegt. Es ist richtig, dass ein explizites Investitionsverbot fehlt. Aber mit diesem Verbot der Förderung der Herstellung kann selbstverständlich auch eine direkte Unterstützung der Herstellung bereits nach heutigem Recht verboten sein. (Uta Zapf [SPD]: Was denn nun? Könnt ihr euch entschließen, was es sein soll?) Nun gibt es in der Tat einige Länder – das haben Sie angesprochen –, die Auslegungsschwierigkeiten sehen und versuchen, dieses gesetzliche Verbot zu präzisieren. Aber anders, als Sie hier glauben machen wollen, gibt es kein Land, das eine schärfere gesetzliche Bestimmung verankert hätte, als wir sie im Kriegswaffenkontrollgesetz haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, eine Zwischenfrage. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Sofort. Lassen Sie mich das bitte noch ausführen. Ich komme gleich darauf zurück. Dort, wo man sich an schärferen gesetzlichen Regelungen versucht hat, stößt man auf Probleme der Umsetzung und der Abgrenzung. In Belgien beispielsweise wurde bereits vor Inkrafttreten der Oslo-Konvention ein Investitionsverbot erlassen. 2007 hat man ein Finanzierungsverbot beschlossen, das die Finanzierung von Unternehmen verbietet, die Antipersonenminen oder Streumunition herstellen, nutzen oder damit handeln. Allerdings ist auch eine Klausel enthalten, nach der es nicht verboten ist, in andere Bereiche eines betroffenen Unternehmens zu investieren. Damit stehen Sie vor der Frage der Abgrenzung, was denn nun von dem Investi-tionsverbot erfasst ist. Im Ergebnis ist das Gesetz in Belgien noch nicht umgesetzt worden, weil noch keine Verordnung dazu erlassen worden ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ist jetzt der Moment? Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Ich würde das gerne im Zusammenhang darstellen wollen, Frau Präsidentin. Auch Luxemburg hat ein Finanzierungsverbot erlassen, das die wissentliche Finanzierung von Streumunition unter Strafe stellt. Wir wissen auch aus Luxemburg, dass das Land vor erheblichen Abgrenzungsproblemen steht und deshalb eine Überarbeitung des Gesetzes plant. (Uta Zapf [SPD]: Wenigstens machen die was her!) Die Schweiz beabsichtigt, auch die direkte Finanzierung der Herstellung zu verbieten und zu verhindern, dass dieses Verbot umgangen wird. In Großbritannien hat man bereits 2009 erklärt, dass die Oslo-Konvention mit ihrem Unterstützungsverbot nur die direkte Finanzierung von Streumunitionsunternehmen erfasst. Um die indirekte Finanzierung zu verhindern, hat Großbritannien einen Verhaltenskodex entwickelt, im Übrigen in Zusammenarbeit mit Nicht-regierungsorganisationen und mit Vertretern der Finanzindustrie. Die Frage eines Investitionsverbots, die hier Gegenstand der Diskussion ist und über die auch der Unterausschuss Abrüstung diskutiert hat, ist ein Beleg dafür, dass wir uns über die Umsetzung der Oslo-Konvention ernsthaft Gedanken machen müssen. (Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange denn noch Gedanken machen?) Niemand aus meiner Fraktion möchte mit staatlichen Mitteln, insbesondere mit Fördergeldern, die Herstellung von geächteter Munition fördern. Wir müssen uns aber genau fragen, wie man solche Investitionen tatsächlich verifizierbar verhindern kann und inwieweit der Staat diesbezüglich mit Regulierung etwas erreichen kann. Gut gemeint ist eben noch nicht gut gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich würde dazu raten, nicht zu unterschätzen, welche Möglichkeiten es gibt, öffentlichen Druck aufzubauen, Transparenz zu schaffen und Selbstverpflichtungen einzufordern. Die Anbieter von Finanzanlagen müssen dazu angehalten werden, ethische Kriterien bei der Vermögensanlage zu berücksichtigen. Es sind bereits einige Institute – von Commerzbank über Allianz Global bis Union Investment – genannt worden, die solche Selbstverpflichtungen eingegangen sind. Diese Beispiele belegen, dass Marktmechanismen, die in ihren Wirkungen einem Investitionsverbot gleichkommen, tatsächlich greifen und deshalb in die richtige Richtung weisen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir ist wichtig, zu betonen, dass wir uns in der Zielsetzung einig sind. Man kann über das Verfahren streiten, wie weit man mit gesetzlichen Präzisierungen kommt. Man darf die Gefahren der Abgrenzungsschwierigkeiten und der Nachweisprobleme nicht unterschätzen. Aber wir sollten uns auch nicht auseinanderdividieren lassen. Es besteht Konsens, dass wir Streumunition ächten und dafür sorgen müssen, dass die Oslo-Konvention nicht unterlaufen wird. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt kommt es zum Schwur bei der Abstimmung!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktionen der SPD, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Investitionen in Antipersonenminen und Streumunition gesetzlich verbieten und die steuerliche Förderung beenden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8016, den Antrag auf Drucksache 17/7339 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare – Drucksache 17/1469 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 98 a) – Drucksache 17/1468 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Mechthild Dyckmans hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mechthild Dyckmans (FDP): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir, die Rechtspolitiker, zu dieser schönen Stunde zusammenkommen, um ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag anzugehen und hoffentlich auch zügig zu Ende zu bringen. Zu Recht sind wir stolz auf unser hervorragendes Justizsystem, das im europäischen Vergleich effizient und kostengünstig ist. Aber auch die Justizhaushalte bleiben von den Sparzwängen nicht verschont. Dennoch ist es unser aller Bestreben, den hohen Qualitätsstandard der deutschen Justiz trotz der zunehmenden Sparzwänge der öffentlichen Haushalte aufrechtzuerhalten. Die christlich-liberale Koalition hat daher als Beitrag zur Effi-zienzsteigerung und Entlastung der Justiz die Möglichkeit einer Aufgabenübertragung auf Notare im Koalitionsvertrag vorgesehen. Dementsprechend diskutieren wir heute zwei vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwürfe zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare. Eine solche Übertragung stellt nicht nur eine Entlastung der Justiz dar, sie stärkt auch die Stellung der Notare in ihrer Funktion eines Rechtspflegeorgans. Notare sind unabhängige und unparteiische Betreuer der Beteiligten. Hierzu sind sie aufgrund ihrer juristischen Ausbildung, der erlangten Befähigung zum Richteramt und ihrer Erfahrung befähigt. Für sie gelten ähnliche dienstrechtliche Vorschriften wie für Landesjustizbeamte und Richter, und sie unterliegen der Disziplinargewalt der jeweiligen Landesjustizverwaltung. Nochmals: Notare sind Träger eines öffentlichen Amtes und Teil der vorsorgenden Rechtspflege. Neben der Entlastung der Gerichte sollte die Aufgabenübertragung aber auch Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger bringen. Gerade in Zeiten, in denen die Länder immer mehr kleine Amtsgerichte zusammenlegen oder gar schließen, können die flächendeckend vertretenen Notare ein örtlich und zeitlich gut erreichbarer Ansprechpartner sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Vorschlag des Bundesrates zur Öffnungsklausel für die Übernahme sämtlicher Tätigkeiten des Nachlassgerichts erster Instanz auf die Notare hat zwar einigen Charme; denn Bürgerinnen und Bürger brauchten sich in Nachlasssachen künftig nur noch an einen Ansprechpartner, nämlich ihren Notar, zu wenden. Hierfür ist allerdings – und das sieht der Bundesrat genauso – eine Grundgesetzänderung notwendig, für die ich derzeit keine Mehrheit sehe. Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einige Vorschläge lenken, deren Umsetzung ohne Grundgesetzänderung möglich ist und die ebenfalls sowohl einen Entlastungseffekt für die Gerichte als auch eine Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger bedeuten würde. Im Nachlasswesen könnte den Notaren die ausschließliche Zuständigkeit für die Verwahrung aller notarieller Verfügungen von Todes wegen, das heißt auch der öffentlichen Testamente, übertragen werden. Zu denken wäre auch an eine Übertragung der Verwahrung aller Verfügungen von Todes wegen, also auch der privatschriftlichen Testamente. Auch die Übertragung der Eröffnung von Testamenten und Erbverträgen auf Notare ist in Betracht zu ziehen. Dabei ist allerdings zu überlegen, ob sich die Zuständigkeit nur auf die notariellen bzw. die vom Notar verwahrten Verfügungen von Todes wegen oder eben auch wieder auf alle Verfügungen von Todes wegen beziehen soll. Eine klare Zuständigkeitsregelung könnte zudem dadurch geschaffen werden, dass Notaren das gesamte Erbscheinsantragsverfahren, also die Aufnahme von Erbscheinsanträgen und eidesstattlichen Versicherungen, übertragen wird. Eine bundeseinheitliche Regelung ist auch – so sieht es der Gesetzentwurf schon vor – hinsichtlich der Aufnahme von Nachlassverzeichnissen sinnvoll. Diese Aufgabe wird bereits in einigen Ländern von Notaren erfolgreich durchgeführt. Das Gleiche gilt auch für Nachlass-auseinandersetzungen, die ebenfalls bereits in einigen Ländern von den Notaren vermittelt werden. Des Weiteren könnten Notare neben den Nachlassgerichten auch Ausschlagungs- und Anfechtungserklärungen entgegennehmen. Es ist auch daran zu denken, dass in Randbereichen anderer Rechtsgebiete eine Aufgabenübertragung auf Notare sinnvoll ist, ohne dass es dafür einer Grundgesetzänderung bedarf. Ich möchte hier als auf die Notare zu übertragenen Aufgaben nennen: die Anerkennung notarieller Vollmachtsbescheinigungen als Nachweisvorlage für Grundbuchämter und Registergerichte, aber auch die ausschließliche Prüfung, das heißt das Ob, über die Erteilung weiterer vollstreckbarer Ausfertigungen einer notariellen Urkunde. Dieses Prüfungsrecht obliegt nämlich bisher den Amtsgerichten. Schließlich wäre auch eine Aufgabenübertragung bei Wechsel- und Scheckprotesten denkbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicher im Rechtsausschuss noch ausführlich darüber diskutieren müssen, wie wir die Aufgabenübertragung im Einzelnen ausgestalten. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und über das Ob!) Wir sollten aber die Chancen zur Entlastung der Gerichte nutzen, die sich durch diese Übertragung ergeben. Ich wiederhole es: Auch die Bürgerinnen und Bürger werden von diesen Maßnahmen profitieren. Sehr genau werden wir uns allerdings auch ansehen müssen, ob und wo wir Übertragungen durch Länderöffnungsklauseln umsetzen. Im Interesse der Beteiligten sollte es nicht zu einer unübersichtlichen Zersplitterung durch unterschiedliche Handhabung in den Ländern kommen. Gestatten Sie mir noch zum Schluss den Hinweis da-rauf, dass eine Forderung aus dem Gesetzentwurf der Länder bereits erfüllt ist: Das Zentrale Testamentsregister wird bereits seit dem 1. Januar 2012 erfolgreich bei der Bundesnotarkammer geführt. Meine Damen und Herren, ich freue mich auf kon-struktive Beratungen im Rechtsausschuss. Schönen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Burkhard Lischka hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Burkhard Lischka (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute Abend mit zwei Gesetzentwürfen des Bundesrates, die im Wesentlichen die Organisation des Nachlasswesens in unserem Land betreffen. Solche Gesetzentwürfe, so finde ich, sollten wir zunächst einmal sehr ernst nehmen und auch sorgfältig prüfen; denn die Länder sind immerhin diejenigen hier im Land, die in erster Linie die Justiz vor Ort organisieren und dafür sorgen müssen, dass die Justiz bis in den letzten Winkel unseres Landes gut funktioniert. Wenn dann die Länder mit ihrer besonderen Nähe und Erfahrung Vorschläge unterbreiten, was man möglicherweise beim Nachlasswesen verbessern und verändern kann, dann sind wir, wie ich glaube, gut beraten, uns ernsthaft mit diesen Vorschlägen auseinanderzusetzen und diese Gesetzentwürfe nicht vorschnell beiseitezuschieben. Für die SPD-Fraktion kann ich sagen: Wir werden diesen Gesetzentwurf sehr sorgfältig prüfen. Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass die Notare künftig die zentrale Stelle für die Bearbeitung von Erbscheinsanträgen werden. Das ist eine Aufgabe, die sie schon heute ohne Fehl und Tadel wahrnehmen. Da stellt sich in der Tat die Frage, ob es in Zukunft noch sinnvoll ist, dass zwei Stellen – neben den Notaren sind es derzeit auch die Nachlassgerichte – für Erbscheinsanträge zuständig sind. Meine Erfahrung ist, dass diese doppelte Zuständigkeit für die Bürgerinnen und Bürger oftmals verwirrend ist und in der Praxis nicht selten dazu führt, dass sie von einer Stelle zur anderen geschickt werden. Eine -alleinige Zuständigkeit der Notare in diesem Bereich -erscheint uns auf den ersten Blick durchaus sinnvoll und bürgerfreundlich, und sie könnte in der Tat unsere Nachlassgerichte entlasten. Ein zweites Anliegen des Bundesrates in diesem -Gesetzentwurf – Frau Kollegin Dyckmans, Sie haben es bereits angesprochen – ist inzwischen umgesetzt worden, nämlich ein zentrales und modernes elektronisches Testamentsregister einzuführen. Auch das war ein sinnvoller Schritt. Mit Blick darauf, wie das in anderen europäischen Ländern organisiert ist, sage ich, dass dieser Schritt überfällig war. Seit dem 1. Januar gibt es dieses zentrale Testamentsregister. Ich habe mich darüber erkundigt und kann sagen, dass es gut läuft. Das zeigt die hohe Kompetenz der Notare in diesem Bereich. Skeptisch sind wir allerdings gegenüber Vorschlägen des Bundesrates, alle Nachlasssachen komplett auf die Notare zu übertragen, diese also quasi zum Nachlassgericht erster Instanz zu machen; denn die Entscheidung beispielsweise in strittigen Erbscheinverfahren ist Aufgabe der klassischen Rechtsprechung. Dafür gibt es Gerichte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Diese Aufgabe sollte auch bei den Gerichten verbleiben. Es ist eine Stärke des deutschen Rechtssystems, dass Streitfälle in einem transparenten, offenen und gerichtlich geordneten Verfahren und nicht in irgendwelchen Hinterzimmern entschieden werden. Dabei sollte es nach dem Willen der SPD-Fraktion auch bleiben. Wir nehmen aber gerne Ihr Gesprächsangebot an und werden – ich habe es schon gesagt – die Dinge sorgfältig prüfen. Es gibt den einen oder anderen Ansatzpunkt, über den wir gemeinsam nachdenken sollten. Ich bin mir sicher, dass wir hier zu einer Lösung kommen, die nicht nur die Bundesländer zufriedenstellt, sondern vor allen Dingen auch unsere Bürgerinnen und Bürger. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Andrea Voßhoff hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich begrüße es außerordentlich, dass es gelungen ist, nunmehr die beiden vorliegenden Gesetzesinitiativen des Bundesrates auf die parlamentarische Tagesordnung des Bundestages zu setzen. Damit ist das Thema der Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare endlich auch beim Bundesgesetzgeber angekommen, und, wie ich finde, zu Recht. Seit sicher gut sieben Jahren verfolge ich mit nachhaltigem Interesse das in der Rechtspolitik und der Justiz durchaus umstrittene Thema der Frage: Was sind Kernaufgaben der Justiz? Und: Gibt es im Lichte knapper werdender öffentlicher Kassen Handlungsbedarf für eine nachhaltige Entlastung der Gerichte? Dies kann zum Beispiel durch Übertragung verschiedener, bislang – wie es im Gesetzentwurf des Bundesrates formuliert ist – „den Gerichten zugewiesener Aufgaben aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die Notare erreicht werden“. Dieses Thema ist in den zuständigen Fachkreisen über Jahre sehr kontrovers behandelt worden. Das gehört bei dieser Thematik dazu. Deshalb begrüße ich es, dass sich der Bundestag endlich damit beschäftigt. Der Bundesrat will mit seinen beiden Gesetzentwürfen eine langjährige Diskussion beenden. Wer diese -Diskussion verfolgt hat, weiß, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe getagt hat und dass verschiedene Initiativen ergriffen worden sind. Der Bundesrat will jetzt die Vorschläge, über die sich Länder und Bund geeinigt haben, auf die gesetzgeberische Zielgerade bringen. Auch wenn zu befürchten ist – Frau Kollegin Dyckmans und Herr Kollege Lischka haben es schon angesprochen –, dass es der Regierungskoalition wohl nicht gelingen wird, die erforderliche Zweidrittelmehrheit in diesem Hause für die notwendige Grundgesetzänderung zu erreichen, finde ich es trotzdem richtig und gut, dass wir über diese Gesetzentwürfe debattieren und schauen, was auf Bundesebene möglich ist. Ich freue mich, Herr Kollege Lischka, dass die SPD signalisiert, das sorgfältig prüfen zu wollen, und sich daran durchaus konstruktiv beteiligen will. Das war nicht immer die Haltung der SPD. Insofern ist das außerordentlich zu begrüßen. Ich möchte zu dem Thema einige Gedanken aus Sicht der Union darlegen. Über die Details werden wir in den Ausschüssen intensivst beraten. Mir ist es auch wichtig, etwas zum Thema Justiz insgesamt zu sagen. Der Bundesarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen der CDU hat im Jahr 2006 ein immer noch aktuelles Posi-tionspapier erstellt. Ich finde, es wurde dort sehr treffend festgestellt – ich zitiere –: Erstens. Die Justiz hat eine zentrale Rolle in unserem demokratischen, freiheitlichen und sozialen Staats--wesen. Ihre Funktion liegt vor allem in der Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden durch eine unabhängige Rechtsprechung. … Justiz ist nicht nur eine zentrale Staatsaufgabe, sondern zugleich auch ein immer wichtiger werdender Standortfaktor im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb. Zweitens. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erfüllt die Justiz diese Aufgaben in hervorragender Weise. Sie hat maßgeblich zu einem hohen rechtsstaatlichen Standard beigetragen, von dem Bürger, Wirtschaft und öffentliche Verwaltung profitieren. Nach wie vor braucht sich die Justiz in Deutschland im internationalen Vergleich nicht zu verstecken. Die Rechtsprechung in Deutschland hat eine hohe Qualität. Diese gilt es zu erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens. Die unbestreitbaren Leistungen – so der BACDJ – der Vergangenheit dürfen jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Die Justiz ist Teil der Gesellschaft, diese Gesellschaft befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Maßstab für staatliches Handeln ist deshalb nicht mehr das Wünschenswerte, sondern das unabdingbar Notwendige; selbst dieses zu finanzieren ist schwierig. Viertens. Aus dieser Situation folgt: Justiz schützt vor Unrecht; sie schafft Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Diese rechtsstaatlichen Grundbedingungen und auch die Effekte hieraus für Gesellschaft und Wirtschaft sind unverzichtbar. Für eine auf qualitativ hohem Niveau arbeitende Rechtspflege ist die Justiz auch weiterhin auf eine angemessene finanzielle Ausstattung angewiesen. Diese Feststellung, meine Damen und Herren, ist nach wie vor mehr als aktuell. Parteiübergreifend werden sich alle Rechtspolitiker sehr schnell darüber einig sein, dass wir den von den Finanzministern auch der Länder gestarteten Versuchen, auch die Justizhaushalte dem Spardiktat zu unterwerfen, immer wieder entgegentreten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Aber diese Haltung darf die Augen nicht davor verschließen, dass strukturelle und nachhaltige Reformen auch in der Justiz unumgänglich sind. Hinter dieser allgemeinen Feststellung können wir uns sicher alle finden, und sie ist auch unstreitig. Spannend wird es, wenn strukturelle Reformen konkret werden. Damit sind wir bei der Initiative des Bundesrates. Wie halten wir es mit der Frage, zur Entlastung der Justiz Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf -Notare zu übertragen? Ich fand es sehr passend, dass der Vorsitzende des Deutschen Notarvereins, Dr. Vossius, das einmal schön plakativ umschrieben hat, indem er davon sprach, die „Vertriebsstrukturen der Ware Recht zu reformieren“ und wie es gelingen kann, „die Ware Recht näher an den Kunden zu bringen“. Ich finde den Vergleich nicht nur treffend, er dokumentiert auch, worum es eigentlich gehen sollte: In Zeiten knapper öffentlicher Kassen, was in manchen Ländern auch mit Schließungen – das ist hier schon gesagt worden – von Gerichtsstandorten einhergeht, sollten wir alles daransetzen, eine bürgernahe und flächendeckende Justizversorgung sicherzustellen. Der Gesetzentwurf des Bundesrates will genau hierzu einen Beitrag leisten und hat vorgeschlagen – dies ist heute erwähnt worden –, diverse justizielle Aufgaben aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die Notare zu übertragen. Die freiwillige Gerichtsbarkeit – das wissen die Juristen – steht neben der streitigen Gerichtsbarkeit und betrifft die Bereiche der Rechtsfürsorge und der vorsorgenden Rechtspflege. Auf einem Fachkongress im Jahr 2005 hat Professor Dr. Kirchner aus Berlin zur Historie der freiwilligen Gerichtsbarkeit sinngemäß gesagt, dass die Justiz – das sagt der Name – diese Aufgaben freiwillig übernommen hat. Ich zitiere ihn: Freiwillige Gerichtsbarkeit hieß, das waren Aufgaben, die keine Rechtsprechungsaufgaben waren und die die Justiz freiwillig übernommen hat. … Der Gerichtsbarkeit wurden bestimmte Aufgaben deshalb übertragen, nicht weil sie auf Rechtsprechung spezialisiert ist, sondern weil ihre Unabhängigkeit verfassungsgemäß gewährleistet ist. Gerade deshalb finde ich auch die Überlegungen der Länder konsequent und richtig, darüber nachzudenken, wie dieses für die Bürger so wichtige Rechtsgebiet gestärkt werden kann, wie es seinen Zweck besser erreichen kann und wie unser qualitativ hoch angesehenes Justizwesen auch in diesem Bereich noch effektiver und bürgernäher gestaltet werden kann. Die Vorschläge der Länder führen in die richtige Richtung. Ich teile die hier schon genannte Skepsis, was die Übertragung sämtlicher Tätigkeiten der Nachlassgerichte auf die Notare betrifft. Ich denke auch – es sind hier schon die Gründe genannt worden; diese teile ich –, es handelt sich um ein Unterfangen, das das Ziel nicht erreichen wird. Über alle anderen Problemfelder kann man reden. Ebenfalls wurde bereits gesagt, dass wir als Koalition schon im Bereich „Aufgabenübertragung auf Notare“ -tätig geworden sind, und zwar mit dem Testamentsregister. Das muss ich hier nicht weiter ausführen. Es zeigt, dass wir das Thema nicht nur aufnehmen, sondern auch nach Möglichkeiten suchen, im Sinne der Bürger effektiv und effizient für eine verbesserte und bürgernahe Erledigung justizieller Aufgaben zu sorgen. Des Weiteren ist auch über die Position und die Stellung der Notare sehr intensiv gesprochen worden; auch das brauche ich eigentlich nicht zu wiederholen. Ich fand einen Vergleich, den ich vor einiger Zeit gehört habe, sehr gut, dass nämlich der Notar – Träger eines öffentlichen Amtes – laut dieser Definition im Grunde der -verlängerte Arm der Justiz ist. Deshalb kann man die Aufgabenverlagerung auf Notare auch nicht als „Privatisierung“ bezeichnen, vielmehr agiert der Notar in der Fläche sozusagen als verlängerter Arm der Justiz. Über die Qualität und die Arbeit der Notare in Deutschland ist, glaube ich, hinreichend viel gesagt worden – zu Recht, wie ich finde. Demzufolge ist es aller Mühe wert und sinnvoll – einen Anfang hat die christlich-liberale Koalition mit der Aufsetzung dieses Gesetzentwurfes gemacht –, wenn wir uns mit den einzelnen Punkten auf Bundesebene sehr intensiv auseinandersetzen. Wir sehen – das scheint sich ja abzuzeichnen –, dass es für eine Grundgesetzänderung keine Mehrheit geben wird. Gleichwohl – das hat auch die Kollegin Dyckmans vorgetragen – gehen wir davon aus, dass es eine Vielzahl von Aufgaben gibt, über die wir reden sollten und die auch ohne Grundgesetzänderung umsetzbar sein könnten. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich höre, dass Sie sich daran konstruktiv beteiligen wollen. Das können wir nur begrüßen. Ich sagte es bereits: Im Sinne einer bürgernahen und effizienten Justiz ist es allemal sinnvoll, dieses Thema aufzugreifen und zu einem guten Ergebnis zu bringen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jens Petermann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Jens Petermann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchen Initiativen wir uns hier befassen dürfen. Einige Bundesländer wollen mit diesem Gesetzentwurf, letztlich auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger, ihre Justizverwaltung verschlanken. Eine Reihe von Aufgaben, die bisher von den Gerichten erfüllt werden, soll zukünftig auf die Notare verlagert werden. Die Länder wollen auf die Weise Sach- und Personalkosten einsparen. Sicher wurde diese Idee nicht in den Justizministerien, sondern bei den Sparkommissaren der Finanzministerien geboren. Ich frage mich zum wiederholten Mal, welchen Stellenwert die Justizministerien als zuständige Organisatoren der rechtsprechenden Gewalt innerhalb der Landesregierungen haben. Man hat immer wieder den Eindruck, dass sie das 13. Rad am Wagen sind. Das ganze Vorhaben hat aber auch Züge eines Schildbürgerstreiches. Die Kostendeckung der Nachlassgerichte, deren Aufgaben auf die Notare übergehen sollen, liegt bei weit über 100 Prozent. Damit wäre der Einnahmeverlust für die Justiz bei einem Wegfall der Aufgaben höher als eine denkbare Einsparung bei Personal- oder Sachkosten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Da stellt sich automatisch die Frage, welche Ideologie hinter diesem Plan steckt. Wollen die Bundesländer ernsthaft eine der wenigen Einnahmequellen der Justiz privatisieren? Offensichtlich ja; denn sie versprechen sich höhere Steuereinnahmen durch höhere Gewinne bei den Notaren. Das wäre ganz offensichtlich ein Geschäft zulasten Dritter, nämlich der rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger, die letztlich die Zeche zahlen werden. Das wird mit der Linksfraktion nicht zu machen sein. (Beifall bei der LINKEN) Die Folge wäre: Nachlassverfahren würden erheblich teurer als bisher. Ein Erbscheinverfahren kostete damit mindestens 19 Prozent mehr. Das nicht kostendeckende Beschwerdeverfahren sowie das kostenfreie Erinnerungsverfahren sollen bei den Amtsgerichten verbleiben, während die lukrativen Teile des Nachlassverfahrens auf die Notare übertragen werden sollen. Die mögliche Freisetzung von Personal wird letztlich nur das Bedürfnis der Sparfanatiker auf Stellenstreichungen befriedigen, die Personalausstattung an den Gerichten jedoch keinesfalls verbessern. Die Finanzminister werden die Stellen kassieren und zugleich höhere Steuereinnahmen erreichen, während die Einnahmen und Aufgaben im Justizressort wegbrechen. Daraus ergeben sich neue Argumente für die Diskussion um die Schließung von Gerichtsstandorten; da bin ich mir ziemlich sicher. Das sollten sich die Justizminister, also die in der Exekutive verankerten Sachwalter der dritten Gewalt, eigentlich nicht bieten lassen. (Beifall bei der LINKEN) Die Bürgerinnen und Bürger haben einen gesetzlichen Justizgewährungsanspruch. Eine weitere Aushöhlung durch Privatisierungen werden wir nicht akzeptieren. Die Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Justiz darf durch weitere Privatisierungen nicht gefährdet werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Länder haben gemerkt, dass ihr Vorhaben mit dem Grundgesetz kollidieren wird, und wollen es darum gleich mit ändern; davon war hier schon mehrfach die Rede. Ich hoffe, dass das Vorhaben in diesem Haus keine Mehrheit findet; das zeichnet sich bereits jetzt, in der ersten Lesung, ab. Für diesen Schildbürgerstreich, liebe Kolleginnen und Kollegen, lohnt es sich nun wirklich nicht, das Grundgesetz anzutasten. Der Gesetzentwurf suggeriert, dass es für den Bürger zukünftig nur noch einen besonders qualifizierten Ansprechpartner für Erbsachen gibt: die Notariate. Da diese aber auch beratend tätig werden, besteht ein Interessenkonflikt; Notare kann man nicht zu ihrem eigenen Kon-trollorgan machen. Herr Stadler, an das Haus der Justizministerin gerichtet: Ich denke, Ihnen wird sicher daran gelegen sein, dass es so bleibt, wie es ist. Ich hoffe, dass Sie helfen, das Vorhaben zu beerdigen. Denn diese Vorschläge führen zu einer schlechteren Ausstattung der Gerichte und zu einer Verteuerung justizieller Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger. Das ist diesmal mit Links nicht zu machen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS  90/DIE GRÜNEN – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wir machen nichts mit links! Wir machen alles sehr ordentlich!) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ingrid Hönlinger hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrat beabsichtigt, mit den beiden Gesetzentwürfen, über die wir heute hier im Bundestag debattieren, Aufgaben aus dem Bereich der staatlichen Justiz – es geht vor allem um Nachlasssachen – auf privat tätige Notare zu übertragen. Damit bringt der Bundesrat zwar nicht das Grundgerüst des deutschen Rechtssystems ins Wanken, aber er rüttelt doch an einer der tragenden Säulen unseres Verfassungssystems: an der Justiz als staatliche Kernaufgabe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Der Bundesrat erklärt, die Änderungen seien sowohl im Sinne der Bürgerinnen und Bürger als auch im Sinne der Justiz. Wenn wir die Gesetzentwürfe an ihrer Bürgerfreundlichkeit messen, dann ergibt sich bei Nachlasssachen folgendes Bild: Bisher können Erben ihren Erbschein beim Nachlassgericht beantragen. Die Erbscheinserteilung ist mehrwertsteuerfrei. Geht die Zuständigkeit für die Erteilung von Erbscheinen auf Notare über, fällt Mehrwertsteuer an. Das heißt im Klartext, dass der Erbschein direkt um 19 Prozent teurer wird. Das ist sicher nicht im Sinne der Bürgerinnen und Bürger, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Familienvater verstirbt und hinterlässt eine Witwe und drei Kinder. Nach geltendem Recht beantragen die Erben den Erbschein beim Nachlassgericht am letzten Wohnsitz des Erblassers. Nach der vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderung entfällt das Amtsgericht als zentrale Anlaufstelle. Alle vier Beteiligten aus unserem Beispielsfall können zu unterschiedlichen Notaren gehen. Das hat zur Folge, dass das Verfahren aufgesplittert wird und für alle unüberschaubar wird. Dazu kommt auch noch, dass diese Regelung nicht einheitlich für das Bundesgebiet gelten soll: Die Länder sollen entscheiden können, ob sie die Neuregelung einführen wollen oder nicht. Das führt dann zu einer endgültigen Rechtszersplitterung. Es entsteht ein Flickenteppich, der für die Bürgerinnen und Bürger völlig undurchsichtig ist. Ein solches Vorhaben können wir Grünen nicht unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Messen wir die Gesetzentwürfe an ihrer Entlastungsfunktion für die Justiz, die der Bundesrat ebenfalls als Begründung vorbringt, so zeigt sich Folgendes: Gerade in Nachlasssachen arbeiten die Gerichte in den Ländern vollständig kostendeckend. Sie erzielen sogar Einnahmen, die über den Ausgaben liegen. Hinzu kommt, dass die Verfahrensordnung an den Nachlassgerichten von dem System der freiwilligen Gerichtsbarkeit geprägt ist. Hier gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Dieser sorgt dafür, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufklärt und damit die Rechtsuchenden unterstützt. Diese Fürsorgefunktion ist die Grundlage dafür, dass das Vertrauen der Rechtsuchenden in unsere funktionierende und kompetente Gerichtsbarkeit sehr ausgeprägt ist. Da stellt sich mir schon die Frage: Warum sollen wir ein staatliches System, das funktioniert und zudem kostendeckend arbeitet, privatisieren? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Völlig unberücksichtigt lässt der Gesetzentwurf die Folgen für die Gerichte selbst. Sollten die Nachlasssachen auf Notare übertragen werden, gehen auch die dazugehörigen Akten auf das Notariat über. Das bedeutet in der gerichtlichen Praxis: Andere Abteilungen der Amtsgerichte, die auf die Akten angewiesen sind, zum Beispiel Betreuungs-, Register- oder Insolvenzabteilungen, müssen die Akten beim Notar anfordern und zum Amtsgericht transportieren lassen. Das kann zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen, die wiederum zulasten der Bürgerinnen und Bürger gehen. Aus all diesen Gründen sieht die Richter- und Rechtspflegerschaft keinen Mehrwert in den Gesetzentwürfen, weder für die Justiz noch für die Bürgerinnen und Bürger. Auch mir bleibt der praktische Vorteil des Gesetzentwurfs rätselhaft. Die Justiz, die entlastet werden soll, sieht keinen Nutzen in der Neuregelung. Der Bürger trifft auf Rechtszersplitterung und muss letztlich mehr Kosten tragen; denn beim Notar fällt Mehrwertsteuer an. Eine nicht zu erwartende Entlastung der Justiz hat eine zu erwartende Belastung der Bürgerinnen und Bürger zur Folge. Einem solchen Gesetzentwurf können wir Grünen nicht zustimmen. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Christoph Strässer hat seine Rede zu Protokoll gegeben.2 Insofern schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/1469 und 17/1468 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 8 auf: 14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Movassat, Sevim Da?delen, Stefan Liebich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen und wiedergutmachen – Drucksachen 17/8767, 17/8971 – Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) Heidemarie Wieczorek-Zeul Marina Schuster Stefan Liebich Hans-Christian Ströbele ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden – Drucksache 17/9033(neu) – Hierzu ist es vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marina Schuster (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schrecklichen Gräueltaten, die im Namen des Kaiserreichs an den Volksstämmen der Herero, Nama, Damara und San verübt worden sind, kann man durch nichts ungeschehen machen. Wir bekennen uns zu unserem schweren historischen Erbe und der daraus erwachsenden Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia. Wir bedauern zutiefst die schrecklichen Gräueltaten. Deswegen ist es richtig, dass sich der Bundestag in den vergangenen Jahren immer wieder mit diesem Thema befasst hat; denn die Erinnerung daran darf nicht verblassen. (Beifall im ganzen Hause) Dass es Deutschland und Namibia in Anbetracht unserer beschämenden Vergangenheit dennoch gelungen ist, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, ist eine große kulturelle, politische und auch entwicklungspolitische Leistung unserer Nationen und der jeweiligen Regierungen. Erst vor kurzem konnte ich eine namibische Delegation treffen. Es war ein sehr offenes Gespräch, in dem Punkte der Zusammenarbeit angesprochen worden sind, zum Beispiel die Visapolitik und wirtschaftliche Investitionen. Mein Kollege Michael Kauch, stellvertretender Vorsitzender der Parlamentariergruppe SADC-Staaten, wird noch ausführlich darauf eingehen. Deutschland hat Namibia bei den dringlichen Herausforderungen der jeweiligen Zeit stets unterstützt. So war es auch die intensive Unterstützung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, der sich für die Resolution 435 der Vereinten Nationen eingesetzt hat, die von südafrikanischer Mandatsherrschaft zu namibischer Unabhängigkeit führte. Deutschland leistete zudem finanzielle Starthilfe und gilt als größtes Geberland der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns mit der wichtigen Frage auseinandersetzen, wie wir unserer historischen Verantwortung gegenüber Namibia heute am besten gerecht werden können, dann könnte das dadurch geschehen, dass wir die enge politische, kulturelle, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit weiter intensiv fortführen. Wir setzen auf verschiedene Projekte, zum Beispiel auf die Förderung von Gemeindeentwicklung, kleinbäuerlicher Viehzucht, ländlicher Wasserversorgung, Grundbildungsinfrastruktur und ländlichem Wegebau. Es ist in dem Antrag der SPD und der Grünen auch erwähnt worden, dass die Sonderinitiative – die Namibian-German Special Initiative – nicht immer reibungslos und auch nicht so verläuft, wie wir uns das damals vorgestellt haben. Es wurden ja 20 Millionen Euro bereitgestellt. Ich denke, es wäre sehr an der Zeit, dass wir klären, worin die Ursachen liegen, damit davon ein neuer Impuls ausgehen kann. Daran sollten wir ganz konkret arbeiten. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unserem Antrag zustimmen! Da steht das ja drin!) Ich möchte darauf hinweisen, dass ich es gut fände, wenn wir weiterhin dazu auch über die Fraktionen hinweg im Dialog bleiben würden. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang März hat uns eine Delegation des namibischen Parlamentes – Sie haben es erwähnt, Frau Schuster – hier im Deutschen Bundestag besucht. In all den Gesprächen – alle Fraktionen haben daran teilgenommen – haben wir zugesagt: Wir möchten endlich eine gemeinsame Parlamentarierdelegation einsetzen, die gemeinsam die Vergangenheit aufarbeitet, die aber auch die gemeinsame Zukunft zwischen den Parlamenten und den Menschen in unseren beiden Ländern voranbringt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bitte Sie alle, dass Sie dieser Initiative zustimmen. In dem Antrag, den wir, die SPD-Bundestagsfraktion, und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen eingebracht haben, anerkennen wir die schwere Schuld, die – ich zitiere – „deutsche Kolonialtruppen mit dem Verbrechen an den Herero, Nama, Damara und San auf sich geladen haben“ und betonen, „wie Historiker seit langem belegt haben, dass der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904–1908 ein Kriegsverbrechen und Völkermord war“. Wir sagen: Der Deutsche Bundestag betont deshalb die fortdauernde Verantwortung Deutschlands für die Zukunft Namibias. Und: Der Deutsche Bundestag bittet die Nachfahren der Opfer des im deutschen Namen geschehenen Unrechts und zugefügten Leids an ihren Vorfahren um Entschuldigung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Da diese koloniale Vergangenheit im öffentlichen Bewusstsein – übrigens gilt das auch für die Schulen – oft nicht bekannt ist, will ich noch einmal daran erinnern: Die deutschen Kolonialherren hatten Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung im heutigen Namibia von ihrem Land vertrieben. Als sich die Herero dagegen wehrten, führten die Truppen des Generals von Trotha gegen sie und die Nama einen Vernichtungskrieg. In seinem berüchtigten Schießbefehl befahl General von Trotha, jeden Herero – auch Frauen und Kinder – zu erschießen. Die Überlebenden der Schlacht am Waterberg 1904 wurden in die Wüste getrieben. Sie verhungerten, sie verdursteten. Die Überlebenden wurden in Lager verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen. Viele Tausende haben diese ungeheure Brutalität nicht überlebt. Ich habe für die Bundesregierung in Namibia im Jahr 2004 an der Gedenkfeier zum 100. Jahrestag teilgenommen und in meiner Rede gesagt: Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet werden würde. Und: Der General von Trotha würde heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt werden. Ich habe damals gesagt: Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen Vaterunser um Vergebung unserer Schuld. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Bitte um Vergebung wurde vom späteren namibischen Präsidenten Pohamba – damals war er noch Landwirtschaftsminister – und vom Vertreter der Herero -Riruako, angenommen. Ich habe damals die Verdoppelung der Mittel für deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Namibia angekündigt. Dies habe ich umgesetzt, soweit mir das möglich war. Ich habe auch einen zusätzlichen Hilfsfonds vorgesehen. Die Mittel sollten vor allem für die Entwicklung in den Gebieten eingesetzt werden, in denen die heutigen Nachfahren der Volksgruppen leben, die besonders unter dieser deutschen Unterdrückung leiden mussten. Diese Versöhnungsinitiative und die geplante Unterstützung für die betroffenen Gebiete sind aber nur langsam vorangekommen. Das wurde in den letzten Jahren offensichtlich verschleppt. Der Dialog zwischen den Parlamenten sollte neue Impulse bringen. Der Unterschied zwischen dem Antrag von SPD und Grünen und dem Antrag der Linksfraktion besteht darin, dass wir formelle Wiedergutmachungs- oder Entschädigungszahlungen, insbesondere individuelle, nicht für sinnvoll und möglich halten. Wir sind dem Land Namibia als Ganzem verpflichtet. Individuelle Wiedergut--machungszahlungen sind ohnehin nicht möglich. Ich möchte auch sagen, dass ich in all meinen Gesprächen mit den beteiligten Gruppen in Namibia immer wieder festgestellt habe, dass es ihnen nicht um Reparationszahlungen oder finanzielle Wiedergutmachung geht, sondern darum, dass die Ungerechtigkeit, die ihre Vorfahren erfahren haben, als solche beim Namen genannt und anerkannt wird. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ihre bleibende Verantwortung für Namibia, „die -politische und moralische Verantwortung für das historische Unrecht zu übernehmen“ und das öffentlich anzuerkennen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der letzten Debatte zu diesem Thema – das war die erste Lesung des Antrags der Linksfraktion – ist vonseiten der CDU/CSU argumentiert worden, diese Verbrechen könne und dürfe man nicht „Völkermord“ nennen. Ja, es ist richtig, dass die Konvention der Vereinten Na-tionen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords erst 1948 beschlossen wurde. Das darf uns aber doch nicht daran hindern, zu sagen: Das, was damals, 1904 und danach, begangen wurde, nennen wir heute Völkermord. So unzweideutig sollten wir es bezeichnen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In unserem Antrag verlangen wir, ein weiteres düsteres Erbe der deutschen Geschichte endlich aufzuklären. In dem Vernichtungskrieg gegen die Herero begingen die damaligen deutschen sogenannten Rassenforscher ein anderes widerwärtiges Verbrechen, indem sie sterbliche Überreste von Gefallenen, Hingerichteten oder in den Zwangslagern Umgekommenen nach Deutschland verschleppten, um sie zu konservieren. Es ist eine Schande für unser Land, dass es erst im September des letzten Jahres gelang, 20 Schädel dieser Menschen einer Delegation der Nachfahren der Herero zu übergeben. Diese Delegation kam zur Übergabe der Schädel nach Berlin. Es befinden sich aber weitere sterbliche Überreste in den Asservatenkammern deutscher Universitäten. Es muss in unser aller Interesse liegen, alle diese Gebeine in würdiger Form nach Namibia zu überführen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen die Wissenschaftler in Deutschland unterstützen, die sich dieses Anliegen zur Aufgabe gemacht haben. Über 100 Jahre ist das her; aber es ist noch immer nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Ich hoffe sehr, dass diese Debatte dazu beiträgt. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere an den namibischen Bischof Kameeta erinnern, der im September in einem bewegenden Gottesdienst hier in Berlin aus Anlass der Rückführung der Gebeine in der St.-Matthäus-Kirche der Opfer gedacht hat. Ich habe diesem Gottesdienst beigewohnt. Bischof Kameeta hat gesagt – ich habe seine Worte ins Deutsche übersetzt –: An die politischen Entscheider in Deutschland: Lassen Sie Ihre Gleichgültigkeit und das Verdrängen beiseite. Es geht um eine bessere, ehrliche, vertrauensvolle, respektvolle Beziehung zwischen -Namibia und Deutschland. Übernehmen Sie moralische und ethische Verantwortung für das, was vor hundert Jahren geschah, und sprechen Sie es unzweideutig aus. Wir als Deutscher Bundestag sollten – das ist das Ziel des Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Bischof Kameetas Worte ernst nehmen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dies endlich zu tun. Ich bin ganz sicher: Wir werden gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen in Namibia für eine gute Zukunft zusammenarbeiten. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Dr. Egon Jüttner für die CDU/CSU-Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Mitglieder des Hohen Hauses teilen die -Beurteilung, dass während der deutschen Kolonialzeit zwischen 1884 und 1915 schreckliche Dinge in Deutsch-Südwestafrika passiert sind. Den traurigen Höhepunkt stellt dabei die brutale Niederschlagung des Aufstandes der Herero, Nama und Damara dar, in deren Folge Zehntausende Menschen auf grausamste Weise umkamen. Als im August 1904 der Aufstand der Herero niedergeworfen wurde, floh der größte Teil von ihnen in die fast wasserlose Kalahari-Wüste, wo sie mitsamt ihren Frauen, Kindern und Rinderherden verdursteten. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind dahin getrieben worden!) – Ja. – Von rund 80 000 bis 100 000 Herero im Jahre 1904 lebten 1911 nur noch 15 130. Die verbrecherische und menschenverachtende Vorgehensweise bei der Niederschlagung der Revolte der Herero war bezeichnend für die Denkweise der damals Verantwortlichen. Schon die Rhetorik der damals Handelnden, allen voran der als Vernichtungsbefehl in die Geschichte eingegangene „Aufruf an das Volk der Herero“ des verantwortlichen Generals Lothar von Trotha, lässt uns heute erschaudern und beschämt uns zutiefst. Gefangene Herero und Nama wurden von den Deutschen in eigens für sie errichtete Konzentrationslager gebracht. In diesen Lagern breiteten sich schnell Krankheiten aus, die Tausende von Todesopfern forderten. Nicht einmal die Hälfte der Gefangenen überlebte den Aufenthalt in den Konzentrationslagern. Die umfassende Verurteilung der damaligen Ereignisse ist eine parteiunabhängige Konstante deutscher Außenpolitik. So wurden sowohl im Jahr 1989 unter der CDU/CSU-geführten Bundesregierung als auch im Jahre 2004 unter der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung weitreichende Anträge beschlossen, die das deutsch-namibische Verhältnis betreffen. In diesen Anträgen bekennen sich die Antragsteller zu Schuld und Verantwortung. Diese vom Bundestag verabschiedeten Anträge besitzen selbstverständlich auch für die heutige Bundesregierung volle Gültigkeit und stellen den Wegweiser für ihre Namibia-Politik dar. Wir stehen nach wie vor zu unserer historischen und moralischen Verantwortung für Namibia, wie sie bereits mit der Entschließung des Bundestages im Jahre 1989 zum Ausdruck gebracht worden ist. Wir stehen zu der besonderen Beziehung Deutschlands zu Namibia. So heißt es beispielsweise auf der Homepage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – ich zitiere –: Die Bundesregierung bekennt sich zu der besonderen historischen und moralischen Verantwortung von Deutschland für Namibia. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Namibia-Entschließung von 1989 das Konzept der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia geprägt und in seiner Entschließung von 2004 ausdrücklich -bekräftigt. Dieser Verantwortung wird die Bundesregierung durch eine verstärkte bilaterale Zusammenarbeit, vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit, gerecht. (Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/CSU]) Dieses Bekenntnis macht deutlich, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, an der Spitze die Bundesregierung, der historischen Verantwortung Deutschlands für die Ereignisse im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika bewusst ist und zu ihrer Verantwortung steht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aus dieser Verantwortung ergeben sich die Verpflichtungen für die Gegenwart und für die Zukunft, denen sich die Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit den namibischen Partnern stellt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die von Deutschland eingegangenen Verpflichtungen zeigen, dass sich Deutschland seiner Vergangenheit stellt und daraus Konsequenzen zieht. Diese schlagen sich im Verhältnis Deutschlands zu Namibia nieder. Integraler Bestandteil, tragende Säule und Ausdruck der besonderen Beziehungen zwischen Namibia und Deutschland ist dabei, wie ich schon sagte, die Entwicklungspolitik. Seit der Unabhängigkeit Namibias vor 22 Jahren steht Deutschland in einem besonderen Verhältnis zu Namibia, was die Entwicklungszusammenarbeit betrifft. Erwähnt sei die seitherige Summe der deutschen Entwicklungshilfe, die fast 700 Millionen Euro beträgt. Damit ist Namibia nicht nur afrikaweit Spitzenreiter im Hinblick auf die deutschen Zuwendungen pro Einwohner. Vielmehr war Namibia mit 15,80 Euro pro Kopf im Jahre 2010 auch das Land, das weltweit die höchste Entwicklungshilfeleistung pro Einwohner erhielt. Im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden Fachkräfte entsandt und beispielsweise für den Transportbereich Ausbildungsprogramme erarbeitet. Auch das Straßennetz wird verbessert. Bisher wurden fast 1 000 Kilometer Straße mit deutscher Unterstützung gebaut oder erneuert. Im Jahre 2007 wurde die deutsch-namibische Sonderinitiative begonnen, für die Deutschland 20 Millionen Euro bereitgestellt hat. Mit diesen Mitteln werden Maßnahmen der Kommunalentwicklung in den Siedlungsgebieten derjenigen Volksgruppen finanziert, die unter der deutschen Kolonialherrschaft besonders gelitten haben. Die Sonderinitiative bezieht sich sowohl auf Armutsbekämpfung als auch auf die Förderung der Begegnung und Verständigung in bestimmten Regionen Namibias. Der großen Bedeutung der deutschen Entwicklungshilfe, aber auch deutscher Investitionen sind sich beide Regierungen bewusst. Eine der größten Auslandsinvestitionen in Namibia ist das Zementwerk der deutschen Unternehmensgruppe Schwenk mit einem Investitionsvolumen von 250 Millionen Euro. Für dieses Werk, das rund 300 direkte und 2 000 indirekte Arbeitsplätze geschaffen hat, wurde im Jahre 2009 in Anwesenheit des Staats--präsidenten von Namibia der Grundstein gelegt. Im Fe-bruar 2010 nahm dann Bundesminister Dirk Niebel im Rahmen seiner ersten Reise nach Namibia als Entwicklungshilfeminister gemeinsam mit dem Premierminister am Richtfest für dieses Werk teil. Im Februar des vergangenen Jahres schließlich wurde das Werk in Anwesenheit des Staatspräsidenten, des Premierministers und zahlreicher Mitglieder der namibischen Regierung in Betrieb genommen. Eine derart prominente offizielle Beteiligung von namibischer Seite zeigt die große Anerkennung Namibias für das deutsche Engagement im wirtschaftlichen Bereich. Im kulturellen Bereich, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, gibt es ebenfalls eine gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Namibia. Bereits im Jahre 1991 wurde ein bilaterales Kulturabkommen zwischen beiden Ländern geschlossen. Es umfasst weitreichende Kooperationen in den Bereichen Hochschule, Sprachförderung, Medien, Film, Literatur und Sport. Aus dem Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amts wurden bisher Projekte mit einem Volumen von fast 1 Million Euro gefördert. Das Spektrum reicht von der Restaurierung der Felsmalereien am Brandberg bis hin zur Dokumentation mündlich überlieferter Stammestraditionen. Auch die deutsch-namibische Sportförderung ist erwähnenswert. Ihre Schwerpunktaufgaben liegen in der Jugendförderung und in der Trainerausbildung. (Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie doch mal was zur Sache!) Namibische Übungsleiter werden an der DFB-Sportschule in Hennef und an der Universität Leipzig aus--gebildet. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich zulassen? Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): Ich möchte meinen Vortrag zu Ende führen; danke schön. Die deutschsprachige Gemeinschaft in Namibia zeichnet sich durch ein aktives Kulturleben aus. Zeitungen und Rundfunkprogramme zeugen von der tiefen Verankerung der deutschen Sprache in Namibia. Hierzu tragen auch zehn Schulen bei, an denen muttersprachlicher Deutschunterricht angeboten wird, und über 30 Schulen, an denen man Deutsch als Fremdsprache lernen kann. Dies alles wird von der Bundesregierung aktiv unterstützt. Die Partnerschaft zwischen dem Land Bremen und Namibia, die Städtepartnerschaften der Hauptstadt Windhuk mit Berlin, Bremen und Trossingen sowie der wachsende Tourismussektor mit über 80 000 deutschen Touristen pro Jahr sind weitere Beispiele für die lebendigen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia. Meine Damen und Herren, wir sollten alles tun, um diese guten bilateralen Beziehungen nicht nur zu erhalten, sondern möglichst auch weiter auszubauen, und wir sollten das hohe Niveau der Entwicklungszusammenarbeit ohne Wenn und Aber beibehalten; denn die Entwicklungszusammenarbeit ist eine der tragenden Säulen der besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Niema Movassat (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Jüttner, ich habe mich bei weiten Teilen Ihrer Rede gefragt, was Sie uns hier eigentlich sagen wollen. Wir sprechen über eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, und darauf muss es heute Antworten geben. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zwischen 1904 und 1908 beging das deutsche Kaiserreich in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, einen Völkermord. Deutsche Soldaten ermordeten etwa 100 000 Menschen. Dieser Teil unserer Geschichte wird gerne vergessen. Die Frankfurter Rundschau schrieb zur Verdrängungskultur: Welche Schande für ein Land, das sich auf seine Vergangenheitsbewältigung so viel zugutehält. Heute, einen Tag nach dem namibischen Unabhängigkeitstag, wollen wir als Linke mit unserem Antrag zum damaligen Völkermord einen Beitrag gegen das Vergessen, gegen die Schande und für Versöhnung leisten. (Beifall bei der LINKEN) In der Kolonie Deutsch-Südwestafrika erhoben sich 1904 die Herero gegen die deutschen Besatzer. Sie wollten ein Ende von Rassismus, Willkür und Unterdrückung. Die Vergeltung des Kaiserreichs war grausam. Die Völker der Herero, Nama, Damara und San wurden systematisch vernichtet. Sie wurden erschossen, erhängt, oder man trieb sie in die Wüste und ließ sie dort verdursten. Viele starben in Konzentrationslagern und durch Zwangsarbeit. Was damals passierte, ist ein Verbrechen, eine Schande. Dass sich die deutsche Politik bis heute weigert, die damaligen Geschehnisse überhaupt einmal als Völkermord zu benennen, ist ebenfalls eine Schande. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mit vorgeschobenen rechtlichen Argumenten weigert sich die Bundesregierung bis heute, die moralisch-historische Verantwortung zu übernehmen. Eine Schande ist auch, dass es bis heute keine offizielle Entschuldigung gab. Zwar hat sich die damalige Ministerin Wieczorek-Zeul 2004 mit bewegenden und guten Worten entschuldigt; aber keine Regierung hat diese Worte je als offiziellen Standpunkt übernommen. Stets wurde betont, es handele sich um private Äußerungen. Auch das ist Teil der fortgesetzten deutschen Schande. (Beifall bei der LINKEN) Noch heute leiden die Herero und Nama unter den Folgen der brutalen deutschen Kolonialzeit, beispielsweise bei Landfragen. Wiedergutmachung sollte hier ansetzen. Man sollte einen Beitrag leisten, um die bis heute vorhandenen strukturellen Nachteile auszugleichen. Weil der rot-grüne Antrag die Wiedergutmachung ausklammert und unser Antrag weitergehend ist, werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten. Herr Dr. Jüttner, Sie haben hier den Aspekt Wiedergutmachung mit der Entwicklungszusammenarbeit vermischt. Das muss aber strikt getrennt werden. (Beifall bei der LINKEN) Entwicklungshilfe ist immer an Bedingungen geknüpft, die der Geber einseitig vorgibt. Klar sind Sonderinitiativen und Entwicklungsgelder gut gemeint; aber alle Beteiligten müssen einbezogen werden: Deutschland, Namibia und die Nachkommen der Opfer. Versöhnung lässt sich nämlich nicht einseitig diktieren, sondern erreicht man nur im Dialog. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen auch hierzulande unsere Hausaufgaben machen. Es ist eine Schande, dass heute noch Straßen in unseren Städten nach Kolonialverbrechern benannt sind. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen Schulbücher, die über diese Verbrechen und ihre Ursachen aufklären. Wir brauchen eine Bundesstiftung, um die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Leider wird auch die heutige Abstimmung die Schande weiter verlängern; denn beide vorliegenden Anträge wird die Koalition ablehnen. Aber Sie halten es nicht einmal für nötig, etwas Eigenes vorzulegen. Das ist ein unwürdiger Umgang mit diesem wichtigen Thema. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie schaden so weiterhin den deutsch-namibischen Beziehungen. Hoffnung macht zumindest die Zivilgesellschaft in Deutschland. Über 100 Initiativen haben einen Appell an den Deutschen Bundestag unterschrieben. Vor der Debatte organisierten diese eine Demonstration vor dem Deutschen Bundestag unter dem Motto „Entschuldigung sofort! Völkermord verjährt nicht!“. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Heute hat der Deutsche Bundestag die Chance, einen Beitrag zur echten Versöhnung zu leisten. Lassen Sie uns gemeinsam etwas gegen die anhaltende Schande tun. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Uwe Kekeritz hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen heute sicherlich ein sehr wichtiges Thema. Ich möchte der Linken danken, dass sie dieses Thema auf die heutige Tagesordnung gesetzt hat. Es stellt sich die Frage, warum die Aufarbeitung der Gräueltaten in Namibia vor über 100 Jahren nicht schon längst vollzogen wurde. Dafür mag es viele Gründe geben, und darüber müssen wir sehr intensiv nachdenken. Warum auch immer: Wahrheit muss Wahrheit bleiben. Es ist Deutschlands Pflicht, den Völkermord in Namibia als solchen auch zu bezeichnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) und Namibia in einem würdigen Rahmen um Verzeihung zu bitten. Nur so können wir eine tragfähige Grundlage für eine gute und gemeinsame Zukunft mit Namibia legen. Es ist für mich nicht akzeptabel, wenn dies mit formaljuristischen Argumenten verweigert wird. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Sitzung des AwZ erinnern, in der sich die Vertreter der Regierungskoalition auf die Konvention von 1948 berufen haben. Diese sei nach dem Völkermord verabschiedet worden, und deswegen könne man nicht von Völkermord reden. Ich denke, das ist nicht zu tolerieren. Völkermord ist nämlich zunächst einmal gar kein juristisches Problem. Es ist ein menschliches Problem, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) ein ethisches und ein moralisches Problem. Menschlichkeit und Gerechtigkeit müssen dem kulturellen Bewusstsein entspringen und individuell im Kopf und im Herzen verankert sein. Wenn das gegeben ist, dann ist eine Aufarbeitung durchaus möglich. Paragrafen eignen sich eben nicht dazu, Verantwortung loszuwerden. Wir müssen uns dieser stellen. Mit formaljuristischen Argumenten hätte Deutschland – darüber muss man sich klar sein – auch den Holocaust nicht akzeptieren müssen, und das ist ein undenkbarer Fall. Wir sprechen heute auch über die Frage der moralischen und ethischen Integrität und das Selbstbewusstsein Deutschlands. Die Beantwortung der Fragen zeigt, dass wir uns nicht hinter Paragrafen verstecken können – und auch nicht wollen. Feigheit vor der eigenen Vergangenheit kann keine deutsche Position sein. Zur Aufarbeitung der deutsch-namibischen Geschichte müssen wir die 2004 von der damaligen Ministerin Wieczorek-Zeul beispielgebende Aktion – dafür möchte ich Ihnen noch heute danken; Sie haben damit Geschichte geschrieben –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) die begonnene Versöhnungsinitiative, wieder aufgreifen. Es muss natürlich auch geklärt werden, warum die damals gesteckten Ziele nicht erreicht wurden. Ich gehe jetzt nicht näher auf die Versöhnungsinitiative ein; Frau Wieczorek-Zeul hat sie schon erklärt. SPD und Linke haben immer darauf hingewiesen, wer denn nun von namibischer Seite am Dialog mit den Deutschen beteiligt sein muss. Ich möchte dies ergänzen: Auch die Frage, wer auf deutscher Seite beteiligt sein soll, muss transparent und vor allen Dingen sinnvoll entschieden werden. Ich bin der Meinung, dass die Ergebnisse des Aussöhnungsdialogs sowohl im deutschen als auch im namibischen Parlament würdig und feierlich öffentlich gemacht werden müssen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Aber ich will das schon jetzt laut und deutlich sagen. Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, dass wir einen Schlussstrich ziehen. Wir alle haben den permanenten Auftrag, beizutragen, dass schwere Menschenrechtsverletzungen zukünftig verhindert werden. (Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP]) Wir müssen deshalb auch dafür sorgen, dass bereits in unseren Schulen der Grundstein zu einer verantwortungsbewussten Erinnerungskultur gelegt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Marina Schuster [FDP]) Wir müssen weg von der Verdrängungskultur. Mit dem hoffentlich gemeinsam verabschiedeten Antrag und mit der Versöhnungsinitiative senden wir ein klares, weltweit vernehmbares Signal, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Kein Despot darf sich jemals wieder in Sicherheit wiegen. Wir sollten also heute kein Signal der Schwäche in die Welt senden. Darum bitte ich Sie im Interesse der Würde Deutschlands und einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit Namibia um die Zustimmung zu unserem Antrag. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt erklär, dass ihr zustimmt oder euch enthaltet!) Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben Verantwortung vor der Geschichte, und wir haben Verantwortung für die Zukunft. Verantwortungsübernahme für die Vergangenheit zeigt sich in der Übernahme von Verantwortung durch Handeln, nicht allein durch Worte. Deshalb finde ich es schon befremdlich, wenn hier gesagt wird, die Debatte über die bilaterale Zusammenarbeit unserer beiden Länder gehöre nicht zum Thema. Es gehört zum Thema; (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Aber selbstverständlich!) denn die Übernahme der Verantwortung für die Vergangenheit zeigt sich eben auch in den besonderen Beziehungen, die wir mit Namibia haben, die wir dadurch zeigen, dass dieses Land pro Kopf der Bevölkerung die größte Hilfe im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands mit Afrika erhält. Das zeigt sich darin, dass unsere Länder auch kulturell weiterhin verbunden sind. Kein Land in Afrika, keine ehemalige Kolonie in Afrika hat noch so viele Wurzeln deutscher Tradition und deutscher Kooperation, wie das in Namibia der Fall ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Kauch, der Kollege Liebich möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Michael Kauch (FDP): Bitte. Stefan Liebich (DIE LINKE): Herr Kollege Kauch, Sie haben recht: Die binationale Zusammenarbeit ist ein Thema. Aber Worte – damit haben Sie eingeführt – spielen auch eine wichtige Rolle. Deswegen interessiert mich tatsächlich und ganz im Ernst: Was hindert die FDP-Fraktion eigentlich daran, sich für einen Völkermord, den sie bereit ist, so zu nennen, zu entschuldigen? (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Michael Kauch (FDP): Die Kollegin Schuster hat die Frage nach der historischen Schuld und der historischen Verantwortung unseres Landes für Namibia beantwortet. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Eindeutig!) Ich glaube, dass der Deutsche Bundestag in seinen Resolutionen, die übrigens zum Teil in rot-grüner Regierungszeit verabschiedet worden sind, hierzu die treffenden Worte gefunden hat. Ich finde es unpassend, wie hier parteipolitisch instrumentalisiert wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Niema Movassat [DIE LINKE]: Unglaublich!) – Lieber Kollege, wenn beispielsweise Frau Wieczorek-Zeul, der ich das persönliche Engagement abnehme (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber gerade noch so!) und deren Worte, die sie damals gefunden hat, ich sehr beeindruckend finde, gemeinsam mit der Fraktion der Grünen einen Antrag stellt, deren damaliger Außenminister erklärt hat: „Das ist die Privatmeinung von Frau Wieczorek-Zeul“, dann zeigt das, dass es keine Frage der Fraktionszugehörigkeit ist, welche Worte man findet, sondern dass es darum geht, dass alle Bundesregierungen an ihrer Wortwahl und ihrer völkerrechtlichen Einschätzung festgehalten haben. Das ist eben keine parteipolitische Auseinandersetzung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb sollten wir uns der Frage widmen, wie wir für die Zukunft vorankommen können, um dem namibischen Volk deutlich zu machen, dass wir unsere historische Verantwortung und unsere besonderen Beziehungen tatsächlich als solche anerkennen. Das Erste ist, glaube ich, dass wir Anwalt Namibias in Europa sein müssen. Ein Punkt ist sicherlich die Frage der Visapolitik, also wie wir namibische Staatsbürger im Schengen-Raum und namibische Geschäftsleute behandeln. Es ist weder in unserem Interesse, noch ist es fair und angemessen gegenüber einem Land, das nicht nur deutsche Kolonie war, sondern für das wir als Land auch besondere Schuld und Verantwortung tragen. Das muss sich ändern. Wir können das nicht alleine tun, sondern wir müssen uns im Schengen-Raum dafür einsetzen, dass die Visapraxis für die namibischen Staatsbürger verbessert wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen die umfangreiche Entwicklungszusammenarbeit fortführen und intensivieren. Wir müssen auch darauf achten, dass insbesondere die Landstriche Namibias Berücksichtigung finden, wo Herero, Damara und Nama leben. Ich war diesen Januar in Damaraland und weiß, dass es eine der ärmsten Regionen des Landes ist. Deshalb muss man bei der Zusammenarbeit darauf achten, dass die Hilfe genau dort landet. Wenn wir wie 2004 aus der Sonderinitiative Projekte finanzieren, dann müssen wir auch darauf achten, dass dies beispielsweise im Rahmen der Landreform den Menschen zugutekommt, die dort leben. Es ist nicht akzeptabel, wenn Mittel vergeben werden, mit denen Menschen aus Windhuk Land kaufen, und diejenigen, die vor Ort leben, vertrieben werden. Auch bei der Umsetzung dieser Projekte gibt es Probleme. Das zeigt, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinkommen wollen. Das sind Dinge, die wir im Blick auf die Vergangenheit berücksichtigen müssen, aber eben auch im Blick auf die Zukunft. – Da will jemand eine Zwischenfrage stellen. Vizepräsidentin Petra Pau: Das ist nicht mehr möglich. Sie ignorieren schon eine ganze Weile das Minuszeichen. Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin, ich möchte als einziger Vertreter der Parlamentariergruppe der SADC-Staaten in der Debatte nur auf einen Punkt eingehen. Vizepräsidentin Petra Pau: Nein, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. Michael Kauch (FDP): Ich würde mich freuen, wenn dieses Parlament wenigstens in der nächsten Wahlperiode eine Deutsch--Namibische Parlamentariergruppe einsetzen würde. Wir haben besondere Beziehungen zu diesem Land. Sie machen auch besondere Lösungen im Rahmen der Parlamentariergruppen erforderlich. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht doch im Antrag! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Dann stimmen Sie doch zu! Das steht im Antrag!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Die deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen und wiedergutmachen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8971, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8767 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 8. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9033 (neu) mit dem Titel „Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und Deutschlands historischer Verantwortung gerecht werden“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters (Nationales-Waffenregister-Gesetz – NWRG) – Drucksache 17/8987 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Sportausschuss Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Günter Lach für die Unionsfraktion, Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion, Serkan Tören für die FDP-Fraktion, Frank Tempel für die Fraktion Die Linke und Wolfgang Wieland für die Fraktion Die Grünen. Günter Lach (CDU/CSU): Es ist uns allen bekannt, dass die Struktur der deutschen Waffenverwaltung äußerst heterogen und komplex ist. Insgesamt sind gegenwärtig fast 600 dezentrale Waffenbehörden in den Ländern und Kommunen mit der Registrierung und Archivierung im Zusammenhang mit dem Waffengesetz befasst. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Systemen und sind nicht miteinander vernetzt. Darunter gibt es Waffenbehörden, die noch keine Waffendatei in elektronischer Form führen, sondern -herkömmliche Karteikarten nutzen. Darüber hinaus existieren bisher auch keine einheitlichen Standards bei Erfassung, Speicherung und Archivierung waffenrechtlicher Daten. Dies soll sich mit der Einführung des Nationalen Waffenregisters in Deutschland nun ändern. Die Schaffung eines computergestützten Nationalen Waffenregisters spätestens bis zum 31. Dezember 2014 ist ein klarer Auftrag der EU-Waffenrichtlinie für alle Mitgliedstaaten der EU. Diesem Auftrag kommt die Bundesregierung nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nach. Mit § 43 a des Waffengesetzes wurden die Vorgaben der EU in nationales Recht umgesetzt. Dabei sind wir über die Mindestvorgaben der EU-Waffenrichtlinie hinausgegangen und haben uns zum Ziel gesetzt, das Waffenregister in Deutschland bereits zwei Jahre früher, bis zum 31. Dezember 2012, zu errichten. In einer zweiten Stufe, beginnend 2013, sollen die Recherchemöglichkeiten weiter ausgebaut werden und Informationen von Beschussämtern sowie vonseiten der Wirtschaft, Waffenhersteller und Waffenhändler, einbezogen werden. Ab 2014 ist dann in einer dritten Stufe auch die elektronische Abwicklung von Verwaltungsvorgängen vorgesehen. Mit der Errichtung des Nationalen Waffenregisters machen wir in Deutschland einen entscheidenden Schritt zur Modernisierung des Waffenwesens. Es werden verbindliche Standards für die gesamte Waffen-verwaltung eingeführt, um den legalen privaten Waffenbesitz in Deutschland zu erfassen. Ziel ist es dabei, wesentliche Informationen über eine Waffe und deren Verbleib zentral zu speichern. Dafür sollen für mindestens 20 Jahre Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber, Seriennummer von Waffen sowie Namen und Anschriften von Lieferanten und der Person, die die Waffe erwirbt oder besitzt, registriert und gespeichert werden. Unter Beibehaltung der föderalen Strukturen werden die in bisher 577 lokalen Waffenbehörden erfassten Informationen nun aufbereitet und in eine zentrale Datenbank überführt. Die Datenerfassung und -aktualisierung wird dabei weiterhin von den örtlichen Waffenbehörden vorgenommen werden. Von dort werden die Daten über sichere Netze ans Nationale Waffenregister übermittelt. Erstmals wird dadurch die genaue Anzahl der legalen Waffenbesitzer und Schusswaffen in einer Datei national erfasst. Zur Aktualität der Daten trägt auch die Einbeziehung der Meldebehörden bei. So werden Vorgänge wie der Umzug einer Person durch eine erleichterte Abwicklung schneller im Waffenregister vermerkt. Der schnellere Informationsfluss ist auch im Fall von Überlassen und Erwerben von registrierten Waffen gewährleistet. Häufig sind in diesen Fällen dann zwei unterschiedliche Waffenbehörden zuständig. So erhält die für den Erwerber zuständige Stelle durch einen automatischen Daten-aktualisierungshinweis bereits frühzeitig Kenntnis von dem Vorgang. Diese Mechanismen unterstützen die Waffenbehörden vor Ort. So ist es mit dem neuen elektronischen Waffenregister möglich, den Verbleib jeder legalen, erlaubnispflichtigen Waffe nachzuvollziehen, und zwar stets aktuell und umgehend abrufbar. Mit Blick auf die Abfragemöglichkeit zeigt sich neben der Modernisierung ein weiterer Nutzen eines zentralen Waffenregisters. Dadurch wird die tägliche Arbeit der zuständigen Behörden, sei es Polizei, Verfassungsschutz oder Justiz, bedeutend erleichtert. Über das Nationale Waffenregister ist jederzeit schnell und unkompliziert ein Zugriff auf alle Daten möglich. Dies ist vor allem außerhalb der Bürozeiten der zuständigen Stellen wie am Abend und an den Wochenenden von Vorteil. Bislang ist eine Abfrage bei der Vielzahl von Waffenbehörden ungeheuer aufwendig und zeitintensiv, weil jede Anfrage an eine der 577 Waffenbehörden gestellt werden muss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird die Arbeit der Behörden in Zukunft um ein Vielfaches erleichtert. Damit leistet die Bundesregierung einen Beitrag dazu, Straftaten in Zukunft noch effektiver verfolgen und aufklären zu können. Das Nationale Waffenregister leistet damit einen wichtigen Beitrag zur weiteren Gewährleistung der inneren Sicherheit. Besonders in außerordentlichen und unvorhersehbaren Situationen sind aktuelle und schnell abrufbare Informationen zum besseren Schutz unserer Bevölkerung enorm wichtig. Uns allen sind die schrecklichen Amokläufe von Winnenden und Erfurt noch immer im Gedächtnis, und wir werden diese auch niemals vergessen können. In solch dramatischen Fällen wie Amokläufen, aber auch bei Geiselnahmen und anderen Gewalttaten brauchen die Sicherheitsbehörden sofortige und umfassende Informationen über Täter und Bewaffnung. Dadurch können Gefahrenlagen von den Einsatzkräften besser beurteilt und die angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen und zur Sicherheit unserer Polizeibeamten ergriffen werden. Aktualität und Verfügbarkeit von Informationen sind in diesen Situationen entscheidend. Hier dient die Errichtung des Nationalen Waffenregisters vor allem der Gefahrenabwehr und bietet mehr Sicherheit. Mit der zentralen Abfrage- und Recherchemöglichkeit zu den im Privatbesitz befindlichen erlaubnispflichtigen Schusswaffen über das Nationale Waffenregister wird eine langjährige polizeiliche Forderung nun realisiert. Im vorliegenden Errichtungsgesetz wird genau abgegrenzt, wer mit welchen Rechten was sehen darf. Dabei werden die Daten prinzipiell nur auf Anfrage übermittelt. Vorgesehene Nutzer sind die Waffenbehörden, die Bundes- und Länderpolizei, Justiz- und Zollbehörden, der Verfassungsschutz von Bund und Ländern, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst. Bei jeder Anfrage tragen die ersuchenden Stellen die Verantwortung hinsichtlich der Zulässigkeit der Datenübermittlung. Das grundsätzlich vorgesehene Verfahren zur Datenabfrage ist die Einzelauskunft. Dabei ist das Objekt umfassend bekannt. Für die Datenabfrage müssen Mindestangaben zum Objekt gemacht werden. Um besonders polizeiliche Ermittlungen zu erleichtern und zu beschleunigen, werden in dringenden Fällen und bei mangelhafter Informationslage Gruppenauskünfte anhand spezifischer Merkmale ermöglicht. Zu diesen besonderen Fällen zählen beispielsweise Situationen mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person. Das dritte Verfahren und ein zentraler Vorteil bei der Ausgestaltung des Nationalen Waffenregisters ist das automatisierte Verfahren. Um den Datenabruf möglichst effizient zu gestalten, können diese Stellen die Eilfälle sofort abrufen. Durch die verbesserte Informationslage und die somit erleichterte Lagebeurteilung tragen wir wesentlich zum Schutz der Betroffenen und unserer Einsatzkräfte bei. Vor dem Hintergrund der Sensibilität von personenbezogenen Daten wird bei der Errichtung des Nationalen Waffenregisters großer Wert auf Datensicherheit und Datenschutz gelegt. Die bereits heute hohen Anforderungen, die an die Waffenbehörden diesbezüglich gestellt werden, bekommen durch die große Menge des zu erwartenden waffenrechtlichen Datenbestands hier eine besondere Bedeutung. Für Datenübermittlungen und Auskünfte aus dem Nationalen Waffenregister sind ausschließlich Verwaltungsnetze zugelassen. Eine Kommunikation mit der zentralen Komponente über das Internet ist ausgeschlossen. In Abstimmung mit dem Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, wird vom Bundesverwaltungsamt, BVA, als Registerbehörde der Einsatz obligatorischer Verschlüsselungstechniken vorgegeben. Weiterhin muss jede örtliche Waffenbehörde ein IT-Sicherheitskonzept erstellen und bestehende Maßnahmen zur Datensicherheit gegebenenfalls ausbauen. Diese hohen Sicherheitsanforderungen sind vor dem Hintergrund der komplexen föderalen Struktur unabdingbar. Strenge Maßstäbe gelten auch für die abfragenden Stellen. Erstens werden bei Statistiken und Auswertungen keine personenbezogenen Daten verarbeitet. Zweitens ist die Datenabfrage auch in Eilfällen und beim automatisierten Verfahren nur nach strengen Vorgaben zu nutzen. So ist beispielsweise bei jeder Abfrage ein Verwendungszweck anzugeben. Hierbei müssen die abfragenden Stellen sicherstellen, dass die Übermittlung der Information zulässig ist. Drittens hat die Registerstelle strikt vorgegebene Protokollierungspflichten. Dadurch erfolgen die Datenschutzkontrolle, die Datensicherung und die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Datenverarbeitung. Jede Nutzung darf ausschließlich mit dem dafür entwickelten Datenaustauschstandard „XWaffe“ erfolgen. Deutschland gehört zu den Ländern mit den schärfsten Waffengesetzen weltweit. Die Hürden zum Erwerb von legalen Feuerwaffen in Deutschland sind sehr hoch. Wer eine Waffe erwerben und besitzen möchte, muss das gesetzliche Mindestalter haben sowie ein entsprechendes Bedürfnis nachweisen, zum Beispiel als Sportschütze oder Jäger. Damit verbunden sind hohe Anforderungen an Aufbewahrung, Zuverlässigkeit und persönliche Eignung. Hinzu kommt eine Prüfung von Sachkunde und Umgang mit Waffen. Auch wenn in der Kriminalstatistik legale Waffen bei Gewaltverbrechen kaum eine Rolle spielen, so kann durch die Erfassung legaler Waffenbesitzer bereits ein Sicherheitsgewinn erzielt werden. Uns liegt hier ein Entwurf vor, der die Anforderungen der EU erfüllt und das Waffenwesen in Deutschland sinnvoll weiterentwickelt und modernisiert. Von einem aktuellen und jederzeit abrufbaren Register profitieren vor allem auch unsere Polizeibeamten. Denn insbesondere die Sicherheitsbehörden werden so bei der Bewältigung von Einsatzlagen und bei polizeilichen Ermittlungen unterstützt. Vielleicht ist das Nationale Waffenregister auch ein erster Schritt hin zu einer internationalen Dokumentation des gesamten Lebenszyklus einer Waffe, ähnlich wie die Fahrgestellnummer im Bereich der Automobilherstellung. So könnte der Strom von Waffen auf den illegalen Markt besser kontrolliert und verringert werden. Denn dies sollte unser aller Ziel sein. Die Reduzierung von illegalen Waffen ist ein weiterer Schritt zu mehr Sicherheit in unserer Gesellschaft. Gabriele Fograscher (SPD): In der Richtlinie 2008/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 heißt es in Art. 4 Abs. 4: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass spätestens bis 31. Dezember 2014 ein computergestütztes zentral oder dezentral eingerichtetes Waffenregister eingeführt und stets auf dem aktuellen Stand gehalten wird, in dem jede unter die Richtlinie fallende Waffe registriert ist, und das den zuständigen Behörden den Zugang zu den gespeicherten Daten gewährleistet. In diesem Waffenregister werden für mindestens 20 Jahre Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber, Seriennummer sowie Namen und Anschriften des Lieferanten und der Person, die die Waffe erwirbt oder besitzt, registriert und gespeichert.“ Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der dem Bundestag am 14. März 2012 zugeleitet wurde, soll diese EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden. Gerne hätten meine Fraktion und ich uns bereits früher mit diesem Gesetzentwurf befasst, doch leider hat das zuständige Bundesinnenministerium den Text Mitte letzten Jahres nur dem Bundesrat und den Koalitionsfraktionen zugeleitet. In einer schriftlichen Frage zu diesem Zeitverzug erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Schröder, dass die förmliche Beteiligung der Fraktionen im Rahmen der Ausschussberatungen stattfinden werde. Das ist ein grober Verstoß gegen die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, die in § 48 Abs. 2 vorschreibt, dass ein Gesetzentwurf, wenn er den Ländern zugeleitet wird, auch den Geschäftsstellen der Fraktionen zur Kenntnis zu geben ist. Das ist in diesem Falle nicht geschehen. Ich fordere das BMI auf, das Parlament künftig zu respektieren und sich an die rechtlichen Vorschriften zu halten. Bei der letzten Novellierung des Waffenrechts 2009 haben wir in § 43 a festgeschrieben: „Bis zum 31. Dezember 2012 ist ein Nationales Waffenregister zu errichten, in dem bundesweit insbesondere Schusswaffen, deren Erwerb und Besitz der Erlaubnis bedürfen, sowie Daten von Erwerbern, Besitzern und Überlassern dieser Schusswaffen elektronisch auswertbar zu erfassen und auf aktuellem Stand zu halten sind.“ Es ist gut, dass das Waffenregister zwei Jahre früher kommt, als die EU-Richtlinie es fordert. Ein solches Register ist längst überfällig. Derzeit gibt es in Deutschland rund 570 Waffenbehörden, die untereinander nicht vernetzt sind. Um diese miteinander zu vernetzen, müssten die Funktionalität und der Datenbestand denselben Anforderungen entsprechen. Das ist nicht der Fall. Damit aber die Sicherheitsbehörden im Einsatzfall Zugriff auf diese für sie im Ernstfall lebenswichtigen Daten haben, müssten sie mit allen 577 Waffenbehörden vernetzt sein. Das ist nicht praktikabel und auch zeitlich nicht leistbar. Das zu errichtende nationale Waffenregister, das beim Bundesverwaltungsamt angesiedelt werden soll, soll nun alle Daten zusammenführen, die Erhebung der Daten soll aber weiterhin hin bei den Waffenbehörden liegen. Dadurch werden erstmals in Deutschland verlässliche Daten über die Anzahl von Besitzern und legalen Waffen vorliegen. Der gesamte Lebenszyklus einer legalen, erlaubnispflichtigen Waffe wird vom Hersteller bis zum Endbesitzer mit allen Angaben unter anderem zu Modell und Kaliber nachvollziehbar sein. Lange Ermittlungsverfahren der Polizei werden so überflüssig. Bereits vor einem Einsatz können die Sicherheitsbehörden dann abfragen, ob sie am Einsatzort mit legalen Waffen zu rechnen haben. Die im Nationalen Waffenregister überörtlich vernetzten Waffendaten werden den Waffenbehörden des Bundes und der Länder sowie auch der Polizei zur Verfügung stehen, die damit auf verlässliche, überregionale Informationen zu Waffen, Erlaubnissen und deren Inhabern zugreifen können. Das Waffenregister soll in drei Stufen aufgebaut werden. Bis Ende dieses Jahres soll das zentrale Waffen-register aufgebaut und mit den dezentralen Systemen der Waffenbehörden verbunden werden. So werden alle Daten zusammengeführt, und bundesweite Abfragen werden ermöglicht. In der zweiten Stufe sollen der Datenbestand gereinigt, Hersteller und Händler eingebunden und die Recherchemöglichkeiten ausgebaut werden. Ab 2014 sollen dann Onlinelösungen für die Bürgerinnen und Bürger eingerichtet werden. Waffenrecht ist ein sehr emotionales Thema. Jede Veränderung der geltenden Vorschriften führt zu angeregten Diskussion, sowohl auf der Seite der legalen Waffenbesitzerinnen und Waffenbesitzer als auch auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger, die keine Waffen besitzen. Das ist auch bei dem Vorhaben, ein Nationales Waffenregister zu erstellen, so. In den einschlägigen Foren, in denen sich Waffenbesitzer austauschen, wird gegen das Waffenregister Stimmung gemacht. Meine Fraktion und ich unterstützen die Errichtung dieses Waffenregisters. Das tut auch die Gewerkschaft der Polizei. Der GdP-Vorsitzende Bernhard Witthaut erklärte dazu: „Wir hoffen, dass das Gesetz zügig beschlossen wird und in Kraft treten kann. Es ist für die Polizei überlebenswichtig, bei einer Fahndung oder vor einem Einsatz schnell erfahren zu können, ob sie Personen antreffen, die über – zumindest legale – Waffen verfügen oder ob Waffen im Haus sind. Dabei hilft die geplante zentrale Leitstelle.“ Durch das Waffenregister wird niemand kriminalisiert oder unter Generalverdacht gestellt. Wenn wir heute über das Waffenrecht diskutieren, sollten wir auch überlegen, wie es verhindert werden kann, dass Rechtsextremisten legal Waffen erwerben können. Nach § 5 Waffengesetz gelten Antragsteller wie Waffenbesitzer als unzuverlässig, wenn sie Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung verfolgen oder unterstützen. Ihnen kann die Zuverlässigkeit aberkannt bzw. gar nicht erst zuerkannt werden. Das Land Nordrhein-Westfalen plant eine Initiative zur Änderung des Waffengesetzes. Bisher gebe es keine Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern, um Erkenntnisse über die Verfassungsfeindlichkeit des Antragstellers einer waffenrechtlichen Erlaubnis erlangen zu können, erklärte der NRW-Innenminister Jäger. Deshalb müsse der Verfassungsschutz bei der waffenrechtlichen Zuverlässigkeitsprüfung zukünftig immer beteiligt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt diesen Vorschlag. Serkan Tören (FDP): Auf der heutigen Tagesordnung steht ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einrichtung eines Nationalen Waffenregisters. Worum geht es bei diesem neuen Register, und müssen wir so etwas in Deutschland einführen? Mit der Einrichtung dieses Nationalen Waffenregisters kommen wir internationalen, europäischen und nationalen Verpflichtungen nach. Auf internationaler Ebene ist dies das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, -genauer gesagt die Bekämpfung des unerlaubten Waffenhandels. Auf europäischer Ebene sind dies zwei Richtlinien, die Teil der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen sind und auf europäischer Ebene zu einer Kontrolle des Erwerbs und des Besitzes von Waffen führen werden. Schließlich wird mit dem Gesetzentwurf auch eine Verpflichtung aus dem deutschen Waffengesetz umgesetzt, die uns dazu verpflichtet, bis Ende 2012 ein computergestütztes Nationales Waffenregister einzuführen. Worum geht es nun im Einzelnen? Man könnte sich ja die Frage stellen: Wie werden denn bisher die legalen Waffen in privater Hand registriert und verwaltet? Bis jetzt scheint doch auch alles wunderbar funktioniert zu haben. Derzeit gibt es insgesamt 577 Waffenbehörden in Deutschland, von denen jede für sich die legalen Waffen registriert und verwaltet. Eine einheitliche Lösung gibt es in Deutschland bis heute nicht. Dies wiederum führt zu dem Umstand, dass niemand eigentlich genau weiß, wie viele legale Waffen es in Deutschland überhaupt gibt. Mit der nun geplanten Einführung des nationalen Registers bekommen wir diesbezüglich Klarheit. Zudem werden die 577 Waffenbehörden in Deutschland auf einen einheitlichen Stand gebracht. Insellösungen, ob auf Papier oder digital, wird es dann nicht mehr geben. Mit dem neuen digitalen System bekommt Deutschland eine einheitliche Verwaltung legaler Waffen und der dazugehörigen waffenrechtlichen Erlaubnisse. In einem modernen Staat sollte so etwas eigentlich Standard sein. Diese moderne Art der Verwaltung der Waffen wird sowohl für staatliche Stellen als auch für den Bürger einen Mehrwert bringen. Staatliche Stellen sind schneller in der Lage, waffenrechtliche Abfragen im Rahmen ihrer Ermittlungen und Aufgaben durchzuführen. Dies wird sicherlich in dem einen oder anderen Fall Ermittlungen im Rahmen von Verbrechen beschleunigen. Aber auch Waffenbesitzer, die bei Jagden oder bei sportlichen Veranstaltungen ihre Waffen vertauscht haben, können diese schneller wieder zurücktauschen. Die bisher langwierigen Abfragen bei anderen Waffenbehörden werden wegen des Registers zukünftig entfallen. Bei einer zentral geführten Datenbank wird der eine oder andere sicherlich Befürchtungen bezüglich der Sicherheit der sehr sensiblen Daten haben, die dort geführt werden. Hierzu möchte ich anmerken, dass wir als FDP im Bereich der Datensicherheit ein ganz besonderes Augenmerk darauf legen werden, dass diese neue Datenbank den höchsten Sicherheitsansprüchen genügen wird. Sie sehen, Sicherheit und eine moderne und effiziente Staatsverwaltung liegen uns Liberalen am Herzen. Wo immer möglich, werde ich mich dafür einsetzen, dass die Sicherheit der Bürger an oberster Stelle steht. Allerdings lehne ich reine Symbolpolitik ab. Apropos Symbolpolitik: Rot-Grün ist derzeit dabei, in Bremen einen Feldzug gegen Jäger und Sportschützen zu planen. Zunächst wurde der Senat durch die Bürgerschaft der Hansestadt aufgefordert, die Einführung einer Waffensteuer zu prüfen. Diese Idee hat der Bremer Senat nun gestoppt. Begründet wurde dies damit, dass der fiskalische Nutzen einer solchen Steuer in keinem Verhältnis zu dem Aufwand steht, der für die Eintreibung der Steuer nötig wäre. Zudem fürchtet der Senat ein mögliches Prozessrisiko, welches die Einführung einer Waffensteuer nach sich ziehe würde. Nun ist eine Gebühr für die Kontrolle der Legalwaffenbesitzer in Höhe von 150 Euro im Gespräch. Die Zielrichtung ist aber die gleiche wie bei der angedachten Steuer. Gesetzestreuen Jägern und Schützen will man das Hobby bzw. ihre Arbeit vermiesen und sie auf diesem Wege zur Abgabe ihrer Waffen zwingen. Aber glaubt denn jemand ernsthaft, dass Deutschland sicherer wird, wenn Jäger und Schützen aufgrund hoher Gebühren ihre Waffen notgedrungen abgeben? Dies ist eine Illusion. Die Gefahr geht von den illegalen Waffen aus, die in Deutschland zirkulieren. Dies zeigt jede Statistik. Legalwaffenbesitzer sind nicht die Gefahrenquelle in Deutschland. Kommen Sie mit Ideen, die eine echte Steigerung der Sicherheit oder einen anderen Mehrwert bringen. Darüber können wir immer reden. Dieses neue Nationale Waffenregister wird allen Beteiligten vieles erleichtern. Darum unterstützen wir als FDP die Einführung des Registers. Frank Tempel (DIE LINKE): Waffen stellen ein hohes Gefährdungspozenzial für die Gesellschaft dar. Deshalb ist der Eingriff in verfassungsmäßige Rechte von Bürgerinnen und Bürgern zum Beispiel in das informelle Selbstbestimmungsrecht, das mit der Einrichtung des Nationalen Waffenregisters einhergeht, durchaus angemessen. Für den Einsatz von -Polizeikräften ergibt sich aus dem Wissen um das Vorhandensein von Waffen ein deutlicher Sicherheitsgewinn. In meiner kriminalpolizeilichen Tätigkeit gab es des Öfteren Situationen, in denen die Einsatztaktik mit dem Wissen um das Vorhandensein von Waffen, zum Beispiel bei Hausdurchsuchungen zu Anklagen schwerer Kriminalität, durchaus anders ausgefallen wäre. Der Staat hat nun einmal eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Beamtinnen und Beamten. Mit der Einrichtung des Waffenregisters nimmt er dieses war. Weiterhin wird es möglich, den Lebensweg von Waffen nachzuvollziehen und somit Verstöße gegen das Waffenrecht oder gar das Verschwinden von Waffen im illegalen Markt erheblich zu erschweren. Ein zusätzlicher Effekt ist der verringerte Aufwand in den Waffenbehörden und ein schnellerer Zugriff auf die Daten. Bisher mussten 577 Behörden abgefragt werden, um Informationen zu einer Waffe oder zu Waffenbesitzern zu erhalten. Der Datenabgleich zwischen den Behörden bei Umzug von Besitzern, bei Verkauf oder bei der Überlassung von Waffen war fehlerbehaftet und der Eintrag mit Verzögerungen verbunden. Zu Anfang sagte ich, dass der Eingriff in die Grundrechte, der mit diesem Register verbunden ist, verhältnismäßig sei. Das rechtfertigt aber nicht, dass die Koalitionsfraktionen und der Bundesrat den Datenschutz wieder einmal hintenanstellen. Was soll zum Beispiel diese locker gehandhabte automatisierte Abfragemöglichkeit? Eine einmalige Beantragung ist für eine Institution ausreichend, um letztlich einen immerwährenden Datenbankzugriff zu erhalten. Geht es nach der Stellungnahme des Bundesrates, soll sogar die Begründungspflicht von Übermittlungsersuchen wegfallen. Dann gäbe es keinerlei Überprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit von Abfragen. Diese liegt laut Gesetz bei der abrufenden Behörde. Dies ist an sich schon problematisch, weil eine Selbstkontrolle von Institutionen üblicherweise wenig effektiv ist. So bleibt also eine rein technische Protokollierung, welche das allgemeine Zugriffsrecht, aber nicht die Rechtmäßigkeit der einzelnen Abfrage überprüft. Die im Gesetz vorgesehene Zugriffsmöglichkeit für Geheimdienste ist nun gar nicht mehr nachvollziehbar. Wieso sollten Institutionen, die keine Strafverfolgungsbehörden sind, die keine Hausdurchsuchungen vornehmen und niemanden in Gewahrsam bringen dürfen, Zugriff erhalten? Aber solcherlei Fragen sind den meisten Innenministerien dieser Bundesrepublik offensichtlich völlig fremd. Konsequenterweise will dann auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme die letzten Beschränkungen des Zugriffs der Geheimdienste auf das Waffenregister aus dem Gesetzentwurf verbannen. Da kann man nur noch sarkastisch nachfragen, ob dann wenigstens die Überprüfung der „persönlichen Eignung“ von vorbestraften Rechtsextremen besser realisiert werden wird. Verschiedene Prinzipien des Datenschutzes sind Ihnen, sehr geehrte Kollegen der Regierungskoalition, offensichtlich unbekannt. Auf jeden Fall haben Sie diese nicht wirklich verinnerlicht. Datenminimierung, Zugriffsbeschränkung auf die wirklich betroffenen Behörden, äußere und innere Kontrolle von Zugriffsberechtigungen bei anbietenden und abfragenden Behörden, inhaltliche Protokollierung und damit rechtliche Nachprüfbarkeit – alles Dinge, die nicht wirklich gewährleistet werden. Datenschutz wird bei Ihnen offensichtlich nur noch als Behinderung der Ermittlungsarbeit und nicht als Element unserer demokratischen Grundordnung wahrgenommen. Trotz des sinnvollen Ansatzes kann die Bundestagsfraktion der Linken diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als Grüner steht man der Einführung neuer Dateien ja zunächst grundsätzlich skeptisch gegenüber. Denn allzu oft wird da mehr der Sammeltrieb befriedigt, als auf die Verhältnismäßigkeit geachtet. Dann wird eine grundsätzlich zweckdienliche Datei mit so vielen Hintertüren versehen und mit so vielen Eintragungsgründen aufgeblasen, dass sie ihren Zweck kaum noch erfüllt, aber die Grundrechte erheblich beeinträchtigt werden. Das Nationale Waffenregister, die Datei, über die wir heute reden, kann ich trotz dieser skeptischen Grundhaltung nur begrüßen. Nicht, weil es um Schützen und -Jäger geht und wir deren Rechte nicht so ernst nähmen – das Gegenteil ist der Fall –, sondern weil es um Waffen geht, also um potenziell tödliches Gerät. Bisher werden Waffen nur lokal registriert, und in vielen Kommunen liegt bei den zuständigen Ämtern einiges im Argen – zu geringe Ausstattung und Mängel in den Verfahren führen zu reichlich Defiziten im Vollzug. Das kann nicht so bleiben, das muss besser werden, auch im Sinne dieses Gesetzes. Durch bundesweite Zusammenführung der Daten über Waffen, die entsprechenden Erlaubnisse und Einschränkungen entsteht für jede Waffe gewissermaßen eine Biografie; für jede Schusswaffe lässt sich feststellen, wo sie sein sollte. Es wird also ein für alle interessierten Behörden zugängliches Verzeichnis geschaffen, mit dem im Bedarfsfall festgestellt werden kann, ob an einem bestimmten Ort Waffen zu vermuten sind, ob -aufgefundene Waffen legal besessen werden und wo sie herkommen. Das ist – das sei hier auch gesagt – kein Allheilmittel. Die Erfahrungen mit einem verbesserten Waffenregister in Hamburg waren gut, und wir haben die Hoffnung, dass auch dieses Nationale Waffenregister einen entsprechenden Mehrwert schafft. Das Register wird nicht reichen, um die Problematik illegaler Waffen zu beseitigen; aber es wird dazu beitragen, legale Waffen besser kontrollierbar zu machen und Missbrauch vorzubeugen. Ich möchte an dieser Stelle auch ganz klar sagen: Es geht hier nicht darum, eine Datei zu schaffen, weil wir die Betroffenen für grundsätzlich verdächtige und gefährliche Personen halten würden. Wir wissen, dass Schützen und Jäger in aller Regel sehr verantwortungsvoll mit ihren Waffen umgehen. Es geht uns nicht um die Kontrolle der Waffenbesitzer, es geht uns um die Kon-trolle der Waffen. Denn Sportwaffen können immer auch zu Mordwaffen werden; das wird niemand bestreiten können. Und weil das so ist, weil Waffen dieses tödliche Potenzial haben, sind auch die Einrichtung einer solchen Datei und die genaue Registrierung der Waffen -nötig. Dabei gilt natürlich auch für alle Waffenbesitzer das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wir werden mit Argusaugen darüber wachen, dass die Bestimmungen des Datenschutzes genau eingehalten werden. Das ist und bleibt unser Grundsatz, und das ist nicht abhängig vom Thema oder von den Betroffenen. Ich war kürzlich in Brake. Dort haben Schüler zum Gedenken der Toten des Amoklaufes von Winnenden ein Mahnmal entworfen und gebaut. Dort ist mir einmal mehr klar geworden: Wir können bei Schusswaffen niemals davon absehen, dass es im Zweifelsfall, im Fall einer versagenden Kontrolle und des Missbrauches, Tote und Schwerverletzte gibt. Das Nationale Waffenregister ist ein Baustein im Kampf gegen eine tödliche Gefahr. Die Beteiligung der EU an den Initiativen der UNO zur Bekämpfung des weltweiten Kleinwaffenhandels ist ein weiterer, sehr wichtiger Baustein. Denn das birgt die Chance, endlich etwas gegen illegale Kleinwaffen zu tun, die in riesigen Stückzahlen auf der Welt kursieren und erheblich zur Kriminalität mit Schusswaffen, zum bewaffneten Mord und Totschlag beitragen. Wir müssen, last, but not least, unser eigenes Waffenrecht weiter verbessern. Dazu haben wir Grüne Vorschläge vorgelegt, die wir bald in einer Anhörung im -Innenausschuss diskutieren werden. Da geht es um Beschränkungen von großkalibrigen Waffen, um die getrennte Lagerung von Munition und Waffen und um -weitere Maßnahmen. Unsere Forderung nach einem -Nationalen Waffenregister schickt sich die Regierung ja jetzt immerhin zu erfüllen an. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/8987 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich fortfahre, bitte ich diejenigen, die dringend Gespräche führen müssen, dies draußen zu tun und sonstige Umgruppierungen, die notwendig sind, so vorzunehmen, dass wir gleichzeitig weiterhin abstimmen können. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen – Drucksache 17/8796 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der Kollegin Halina Wawzyniak sowie der Kollegen Norbert Geis, Burkhard Lischka, Sebastian Edathy, Jörg van Essen und Volker Beck.3 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8796 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ehrlicher Dialog über europäische Grundwerte und Grundrechte in Ungarn – Drucksache 17/9032 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ungarische Mediengesetz – Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen – Drucksachen 17/4429, 17/8710 – Berichterstattung: Abgeordnete Karl Holmeier Michael Roth (Heringen) Joachim Spatz Thomas Nord Manuel Sarrazin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion. Michael Roth (Heringen) (SPD): Schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse eines Landes ist ein Relikt des 19. und des 20. Jahrhunderts. In einem vereinigten Europa, in der Europäischen Union gibt es die Pflicht zur Einmischung, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) und zwar in allen Bereichen, in denen unsere Grundwerte infrage oder zur Disposition gestellt werden. In der Europäischen Union, die maßgeblich von der Bereitschaft zum Kompromiss lebt, gibt es einen Bereich, in dem es niemals Kompromisse geben darf. Dabei geht es um die Frage, wie wir mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit umgehen. Hier muss es einen staaten- und bürgerinnen- und bürgerübergreifenden Konsens geben. Leider ist dieser Konsens in einem Land, dem wir uns seit vielen Jahrzehnten freundschaftlich verbunden fühlen, nicht mehr gegeben. Deshalb ist es gut, dass wir nun – wenn auch zu später Stunde – im Deutschen Bundestag über die derzeitige politische Lage in Ungarn sprechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Niemand der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD stellt infrage, dass die ungarische Regierung – um diese geht es im Kern – nicht demokratisch legitimiert ist. Selbstverständlich ist diese Regierung demokratisch legitimiert. Sie verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Wenn man aber eine solche eindeutige parlamentarische Mehrheit besitzt, entsteht daraus gerade in einem Land, das politisch und gesellschaftlich vermutlich so gespalten ist wie kein zweites in der Europäischen Union, ein großes Maß an Verantwortung, Brücken zu bauen, zu versöhnen und Konsens zu stiften. Die Bereitschaft, das Land wieder zu einen, vermisse ich. Insofern werden Ministerpräsident Orban, seine Regierung und die ihn tragenden Parteien ihrer Verantwortung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht gerecht. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Wenn wir in diesen Tagen zu Recht ganz strenge Maßstäbe an diejenigen anlegen, die bereit und gewillt sind, der Europäischen Union beizutreten, müssen diese strengen Maßstäbe doch erst recht für die Staaten gelten, die seit Jahren oder auch seit Jahrzehnten der Europäischen Union angehören. Es kann auch im Nachhinein keine Rabatte geben. Insofern haben wir es als unsere Pflicht angesehen, nachdem nun endlich auch die Europäische Kommission aktiv geworden ist, die Debatte darüber zu führen, was schiefläuft und wie es in Ungarn baldmöglichst wieder besser laufen könnte. Die Kommission hat mehrere Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Sie wird damit nicht nur ihrer Verantwortung als Hüterin der europäischen Verträge gerecht, sondern sie ist insbesondere auch Hüterin der Grundwerte und der Demokratie in der Europäischen Union. Wenn es denn richtig ist, dass es diesbezüglich keine Rabatte und Kompromisse geben kann, verdient die Europäische Kommission die uneingeschränkte Unterstützung des Deutschen Bundestages. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Nun weiß ich ja, welche Bedenken, auch hier im Plenum, wieder vorgebracht werden: Das sei doch alles gar nicht so schlimm, und man müsse das doch nicht übertreiben. Das seien doch alles ganz normale Entwicklungen. Die Regierung habe vielleicht in der einen oder anderen Frage ein wenig überzogen oder vielleicht ein wenig zu schnell agiert. Es geht eben nicht allein um die Mediengesetze. Es geht nicht allein um die Unabhängigkeit der Justiz. Es geht nicht allein um die Rolle des Datenschutzes. Es geht nicht allein um bestimmte Elemente der Verfassung, die uns befremdlich erscheinen. Und es geht nicht allein um das Zustandekommen von Gesetzen. In der Summe ist das, was wir seit 2010 in Ungarn erleben, gefährlich für die Demokratie. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Und deshalb muss es zum Thema gemacht werden. Selbstverständlich üben wir als Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die Ungarn viel zu verdanken haben, mitnichten Kritik an der ungarischen Bevölkerung. Wir üben Kritik an denen, die derzeit in Ungarn in der politischen Verantwortung stehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass es seitens der Regierung und seitens des Ministerpräsidenten auch nur ein Quäntchen Einsicht gegenüber dem gibt, was derzeit in der Europäischen Union diskutiert wird. Ich darf aus einem Interview zitieren, das kürzlich in einer renommierten deutschen Zeitung veröffentlicht wurde, die mitnichten im Verdacht steht, ein Organ der Linken oder der Linksradikalen in Europa zu sein. Dort sagt Orban: Wir werden „von der internationalen Linken radikal attackiert. Aber die internationale Rechte … beschützt uns.“ Wenn er mit der internationalen Rechten Frau Merkel und die CDU/CSU meint, dann mag er wohl recht haben. Aber wenn er von der internationalen Linken spricht, dann frage ich mich allen Ernstes, wen er damit eigentlich meint. Meint er damit die Europäische Kommission mit 27 Mitgliedern, von denen, wenn man großzügig ist, gerade einmal sechs der europäischen Sozialdemokratie angehören? Meint er damit vielleicht den Europäischen Rat? Meint er damit das Europäische Parlament? In keiner dieser Institutionen, geschweige denn in der großen Mehrzahl der Mitgliedstaaten verfügt – ich darf sagen: leider – die Sozialdemokratie und damit die demokratische Linke über eine parlamentarische und politische Mehrheit. Wenn Sie sich einmal die deutsche Medienlandschaft anschauen, dann sehen Sie, dass auch die Zeitungen und Rundfunkanstalten massive Kritik üben, die nicht im Verdacht stehen, irgendeine Nähe zu den sogenannten internationalen Linken zu haben. (Otto Fricke [FDP]: Zum Beispiel?) Insofern kann ich überhaupt nicht verstehen, dass es in Ihren Reihen so viele gibt, die abwiegeln, das Ganze in rosaroten Farben malen und meinen, das verteidigen zu müssen, was andere, die sich nicht sozialdemokratisch oder grün schimpfen, offensiv und immer wieder deutlich kritisieren. Ebenso peinlich und beschämend finde ich es, wenn Herr Orban versucht, Brüssel mit Moskau gleichzusetzen und eine Brücke von der Sowjetunion zur Euro-päischen Union zu schlagen. Das ist eine Beleidigung unseres gemeinsamen Europas und dessen, wofür Deutschland und Ungarn seit über 20 Jahren gemeinsam einstehen, nämlich des demokratischen, föderalen und rechtstaatlichen Europas. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ungarn ist nicht der Sündenbock in Europa. Deshalb ist es auch nicht ein Fehler, jetzt die aktuellen Missstände in Ungarn anzuprangern. Ich will aber selbst--kritisch hinzufügen: Es war ein Fehler, bei einer Reihe von Infragestellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, beispielsweise in Italien, zu lange und zu beharrlich geschwiegen zu haben. Hier hätten wir früher und deutlicher Kritik üben müssen. Insofern kann ich den einen oder anderen Ungarn verstehen, der uns fragt: Warum habt ihr zu den Vorgängen geschwiegen, die in den großen Mitgliedstaaten abgelaufen sind, und warum übt ihr jetzt alleine an Ungarn Kritik? Wenn wir Kritik an der ungarischen Regierung üben, muss das präjudizieren, dass wir zukünftig gemeinsam immer wieder deutliche Worte finden, wenn es um die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht. Diese ungarische Regierung hat das Land in eine politische und wirtschaftliche Isolation geführt. Wenn wir auch Gesprächsbereitschaft gegenüber der ungarischen Regierung und gegenüber der Zivilgesellschaft zeigen – das sollte aus meiner Sicht eine pure Selbstverständlichkeit sein –, dann heißt das, dass wir zwar verstehen wollen, aber das heißt nicht, dass wir für alles Verständnis haben dürfen. Anlässlich des 20-jährigen Geburtstags des deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrages hätte ich mir gewünscht, dass wir in dieser Frage einen breiten parlamentarischen Konsens hätten finden können. Aber leider waren die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP nicht dazu bereit, obwohl es auch Vertreterinnen und Vertreter in der Bundesregierung gegeben hat – ich erinnere an die deutlichen Worte der Kritik von Staatsminister Hoyer, und ich erinnere an das engagierte Auftreten des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Markus Löning –, die Kritik geübt haben. Ich bedaure, dass Sie trotz dieser klaren und deutlichen Worte nicht dazu bereit waren, mit uns einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Das ist mehr als schade. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Johann Wadephul das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihre Einleitung, Herr Kollege Roth, hat gezeigt, dass Sie in einer Rechtfertigungssituation sind. Sie haben sich selber in diese Sackgasse hineingeritten, und wir werden Ihnen nicht heraushelfen. Es ist vollkommen klar, dass wir in Europa uns unter Freunden bewusst sind, was wir miteinander gemeinsam haben. Mit den Ungarn haben wir Deutsche sehr viel gemeinsam. An allererster Stelle sind wir ihnen für das dankbar, was sie 1989 geschafft haben. Sie haben den Eisernen Vorhang durchschnitten und eine entscheidende Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Eiserne Vorhang fallen konnte und dass Deutsche von Deutschland Ost nach Deutschland West kommen konnten. Dafür sind wir den Ungarn nach wie vor dankbar. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wir auch!) In diesem Geiste sollten wir die Diskussion hier miteinander führen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das rechtfertigt doch nicht alles! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir ja auch, Herr Wadephul!) Das schließt nicht aus, dass insbesondere dazu berufene Organisationen auf europäischer Ebene auch die Mitgliedstaaten kritisch beurteilen, wie das gang und gäbe in der Europäischen Union ist, wie das jetzt auch die EU-Kommission gegenüber Ungarn mit einigen Vertragsverletzungsverfahren, die sie angekündigt hat, gemacht hat und wie wir alle das erleben können. Die Bundesrepublik Deutschland hat das schon erlebt. Ich hoffe nicht, dass es bei der Vorratsdatenspeicherung dazu kommt. Wir unternehmen Anstrengungen, damit es nicht geschieht. Das ist ganz normal. Dass sich alle Mitgliedstaaten immer wieder an den europäischen Werten messen lassen müssen und dass man darauf aufmerksam macht, ist klar. Dass auch die Venedig-Kommission Punkte in Ungarn kritisiert hat, ist auch vollkommen klar. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates freue ich mich darüber. Auch das ist eine Institution, die dazu da ist, so etwas zu kritisieren und Punkte anzusprechen. Wofür wir hier im Deutschen Bundestag aber nicht da sind – das ist der Fehler, den die Opposition hier macht, Herr Kollege Roth –, ist: Wir sind nicht die bessere ungarische Opposition. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir machen hier nicht ungarische Innenpolitik und verteilen, wie Sie es gerade gemacht haben, Zensuren dafür, was Herr Orban jetzt gerade richtig oder falsch macht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich will Ihnen etwas vorhalten. Wir haben heute ein Schreiben des Bundes Ungarischer Organisationen in Deutschland, der mehr als 120 000 Mitglieder hat, bekommen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie uns das vielleicht zuleiten, Herr Wadephul? – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 120 000 Mitglieder, das gibt es gar nicht!) Darin werden wir ganz herzlich auf Folgendes aufmerksam gemacht – ich erlaube mir, mit Ihrer freundlichen Genehmigung, Frau Präsidentin, zu zitieren –: Völlig unzutreffende Schlagworte, Verallgemeinerungen, der Rassismusverdacht und an den Haaren herbeigezogene historische und aktuell politische Vergleiche werden bemüht, um die mit überwältigender Mehrheit demokratisch gewählte bürgerlich-christliche ungarische Regierung und auch den größten Teil der ungarischen Wähler in die rechtsradikale, totalitäre Ecke zu rücken. Dies offenbart nicht nur eine völlige Unkenntnis des ungarischen Parteienspektrums, es ist auch zutiefst beleidigend, wenn man dem Freund und Bündnispartner die demokratische Gesinnung abspricht und nicht glauben möchte, dass für ihn die europäische Werteordnung zur fundamentalen Grundüberzeugung gehört. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Sarrazin? Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Ja. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrter Kollege Wadephul, zunächst muss ich Ihnen leider mitteilen, dass dieser Brief uns bisher nicht erreicht hat. Es wäre sicherlich freundlich, wenn Sie ihn uns zustellen könnten. Es ist auch interessant, dass Sie hier die Botenrolle übernehmen, statt uns Ihre eigenen Formulierungen vorzutragen. Ich möchte Sie aber doch fragen, wie Sie vor dem Hintergrund Ihrer Ausführungen hinsichtlich der Rolle des Deutschen Bundestags als neuer Opposition die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Drucksachennummer 17/8709 bewerten. Hier steht: Die Bundesregierung hat wiederholt ihrer Sorge über die innenpolitischen Entwicklungen in der -Republik Ungarn Ausdruck verliehen, so zuletzt der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, … und der Sprecher der Bundesregierung usw. usf. (Beifall beim BÜNDNIS 90 DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich fahre weiter unten fort: Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass die Europäische Kommission erklärt hat, ihre Prüfung nicht auf gesetzestechnische Details zu beschränken, sondern die europäischen Grundwerte in diese Prüfung einzubeziehen. Ist damit die schwarz-gelbe Bundesregierung die bessere ungarische Opposition? (Beifall bei der SPD) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Nein, das ist sie nicht, lieber Herr Kollege Sarrazin. Ich werde Ihnen gerne diesen offenen Brief zur Verfügung stellen, der heute in meinem Büro eingegangen ist. Ich weiß nicht, wie der Verteiler aussah. Ich glaube, es ist sinnvoll, dass Sie einbezogen werden und davon auch Kenntnis nehmen; da stehen nämlich noch weitere interessante Dinge drin. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist eine absurde Einlassung!) Ich habe vorhin ganz klar gesagt – ich habe auch nichts von dem zurückzunehmen, was vorher von der Bundesregierung gesagt wurde –, dass natürlich Punkte angesprochen werden können. Aber in der Art und Weise, wie das mit Ihrem neuerlich vorgelegten Katalog passiert, in dem einzelne politische Projekte aus der ungarischen Innenpolitik dezidiert herausgegriffen werden, geht das nicht. Außerdem wollen Sie, dass sich der Deutschen Bundestag zu diesen einzelnen Punkten eine Meinung bildet, und versuchen, uns zu überreden, dem auch noch zuzustimmen. Das hieße ja, dass wir hier ungarische Innenpolitik betrieben. Dazu sind wir nicht da. Das lehne ich nach wie vor klar ab, lieber Herr Sarrazin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn!) Ich bin vielmehr der Auffassung – um das fortzusetzen –, dass die Ungarn selber sehr gut in der Lage sind, ihre Sachen miteinander zu besprechen und zu klären und auch in den Institutionen einer Lösung zuzuführen. Was Sie verschwiegen haben – auch der Kollege Roth hat bedauerlicherweise vergessen, darauf einzugehen –, ist, dass das, was der vormalige Staatsminister des Auswärtigen Amtes Hoyer hier zum Mediengesetz angesprochen hat, mittlerweile durch eine Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichtes weitgehend erledigt ist; denn viele Regelungen, über die man in der Tat – das hat Herr Hoyer vollkommen zu Recht getan – kritisch denken und die man auch infrage stellen konnte, sind mittlerweile durch das ungarische Verfassungsgericht für unwirksam erklärt worden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wirklich nicht unsere Angelegenheit, uns in dieser Art und Weise einzumischen. Wir sollten vielmehr zur Kenntnis nehmen, was die Ungarn selber geschafft haben und -erreicht haben – und das ist gut so. Im Übrigen hat sich beispielsweise die im ungarischen Mediengesetz enthaltene Vorschrift der sogenannten Ausgewogenheit der Berichterstattung – das ist ja auch ein Punkt, den wir hier alle miteinander sehr kritisch gesehen haben – mittlerweile so ausgewirkt, dass auch die Regierungspartei darunter gelitten hat. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wurde im Juni 2011 von der Medienaufsicht zu einer Geldbuße verurteilt, weil in ihm die Meinung der Regierungspartei zu stark zur Geltung gekommen ist. Das ist also eine Angelegenheit, bei der durchaus Ausgewogenheit herrscht. Man kann die ungarische Mediengesetzgebung, die nicht unseren Wertvorstellungen hundertprozentig entspricht – das ist ja vollkommen klar – – (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die vom ungarischen Verfassungsgericht gekippt wurde!) – Sie müssen auch einmal darüber reden, was vorher in den ungarischen Medien los gewesen ist. Jeden Tag wurde Gewaltverherrlichung bis hin zur Pornografie in einem großen Ausmaß ausgestrahlt. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch kein Grund!) – Herr Kollege, wir haben doch auch in Deutschland eine Medienaufsicht. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Zum Glück nicht so eine!) Wir bekennen uns doch bei aller Medienfreiheit auch in Deutschland dazu, dass nicht jedes Kleinkind schon Gewaltfilme und Pornografie im Vorabendprogramm sehen soll. Das gehört ebenfalls zu unserem Kulturgut. Gleiches muss doch auch in Ungarn möglich sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt beleidigen Sie aber Ungarn und das Vorabendprogramm in Ungarn!) Herr Kollege Roth, Sie haben sich selber des Fehlers geziehen, dass Sie sich um Italien nicht schon früher gekümmert haben. Sie hätten sich aber – diese Einsicht habe ich bei Ihnen vermisst – schon früher um Ungarn kümmern müssen. Was ist nämlich in Ungarn los gewesen? In Ungarn hat eine sozialistische Regierung das Land in den Bankrott gewirtschaftet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Da waren Sie gar nicht im Parlament!) – Ich sage Ihnen, dem europapolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, dass diese Regierung in Ungarn die EU-Kommission nach Strich und Faden belogen hat. Ich erinnere an die berühmte Balaton-Rede des früheren sozialistischen ungarischen Ministerpräsidenten. Darauf haben Sie im Deutschen Bundestag überhaupt nicht reagiert. Auf dem Auge waren Sie blind. (Dr. Eva Högl [SPD]: Was hat das mit dem Thema zu tun?) – Frau Kollegin, angesichts der Tatsache, dass man in der Vergangenheit nicht reagiert hat, kann man sich heute nicht als der große Ankläger hinstellen. Sie hätten schon früher einschreiten müssen. Jetzt sieht es sehr danach aus, dass Sie sich über das Wahlergebnis ärgern. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das eine ist konkrete Politik, und das andere sind Verfassungsrechte! Da gibt es Unterschiede!) Es hat eine klare Mehrheit für diese Regierung in Ungarn gegeben. Sie sollte sich an europäischen Werten orientieren. Die europäischen Institutionen sollten einschreiten, wenn es nötig ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Maulkorb für das Auswärtige Amt!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Stefan Liebich das Wort. Stefan Liebich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Wadephul, Sie haben gesagt, dass der Bundestag nicht die Organisation sei, die dazu berufen ist, sich mit ungarischer Innenpolitik zu befassen. Mir fällt aber eine Organisation ein, die sich mit den Thesen von Viktor -Orban befassen könnte, und das ist die Europäische Volkspartei, dessen stellvertretender Vorsitzender Orban ist. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das heißt, alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion sind in der Partei, in der Viktor Orban, der Regierungschef von Ungarn, stellvertretender Vorsitzender ist. Auch ich habe das große Interview von Viktor Orban in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – ich nenne jetzt den Namen, Herr Roth – mit Entsetzen gelesen. Dabei sind mir einige „Schmuckstückchen“ aufgefallen. Ich will einmal folgende Stelle zitieren: Es gibt nämlich eine Auslegung der europäischen Geschichte, der europäischen Zukunft, wonach wir aus der Religiosität in die Säkularisation, aus dem traditionellen Familienmodell in Richtung verschiedenartiger Familienmodelle und aus den Nationen in Richtung Internationalismus oder zur Integration marschieren. Was ich denke, geht klar in die andere Richtung. Wenigstens ist er ehrlich. Er beschreibt das Europa, das er erreichen möchte. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dieses Europa wollten, dann würde ich mir wirklich Sorgen machen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Welches Europa wollen Sie denn, Herr Liebich? Erzählen Sie mal!) Ich weiß es besser; denn wir führen viele Diskussionen. Ich würde mir daher wünschen, dass Sie diese Diskussion mit Viktor Orban in Ihrer gemeinsamen Partei, also in der Europäischen Volkspartei, führen. (Beifall bei der LINKEN und der SPD – -Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Drehen Sie es mal nicht um!) – Es ging in diesem Fall gar nicht um die FDP. Sie sind so fair und stehen selbst bei Punkten fest zusammen, bei denen Sie inhaltliche Differenzen haben. Das finde ich sehr solidarisch von Ihnen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir stehen wie eine Eins!) Ich will noch erwähnen, dass mir die Position des Kollegen Hoyer, die hier schon gelobt worden ist, deutlich sympathischer war. Ich hoffe, dass dieser Teil in der FDP immer noch vor Ort ist und zu diesem Thema etwas sagt. Das angesprochene Mediengesetz lohnt eine genauere Debatte. Es ging dort nicht einfach um die Bekämpfung von Pornografie, sondern es ging darum, dass staatliche Kontrolle von Medien in einem Maße eingeführt werden sollte, die jeder Beschreibung spottet. Bevor es nun zu einem entsprechenden Zwischenruf kommt, will ich sagen: Gerade aufgrund der Geschichte unserer Partei und unserer Vorgängerpartei weiß ich, dass staatliche Kontrolle von Medien der grundfalsche Weg ist. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen ist es vollkommen richtig, dass die Europäische Union gegen diese Politik Protest einlegt. Aber es geht nicht nur um das Mediengesetz. Es geht auch um die vorgelegte Verfassung. Einen Tag, nachdem sie in Kraft getreten ist, protestierten 100 000 Menschen dagegen. Diese Verfassung und vor allem das Verfahren bieten tatsächlich Anlass zur Kritik. Es kann doch nicht sein, dass sich einige Fidesz-Parteifunktionäre eine -Verfassung ausdenken und diese dann, nur weil man im Moment eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat, durchdrücken. Was wurde nicht alles in diese Verfassung geschrieben! Beispielsweise wird in der Verfassung – dies wird nun kein Weg sein, den die FDP gehen will – der Einkommensteuersatz festgeschrieben, damit er künftig nicht mehr geändert werden kann. So etwas ist absurd; es ist eine Einschränkung parlamentarischer Gestaltungsmöglichkeiten. So etwas sollten wir nicht hinnehmen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Linksfraktion insgesamt fand es daher sehr richtig, dass ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurde. Wir sind froh, dass sich auch die Bundesregierung für dieses Verfahren ausgesprochen hat. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie lehnen doch die Verträge ab!) Orbans Europa von Religion, Nation und Familie wollen wir nicht. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Das glaube ich!) Wir lassen uns auch nicht das Recht nehmen, das hier im Deutschen Bundestag zu thematisieren. Wir wollen eine demokratische, eine soziale und eine friedliche Europäische Union auf der Basis gleicher Rechte. Ich hoffe, dass die Debatten, die wir hier führen, eine Kritik formulieren, die auch bei den Ungarinnen und Ungarn ankommt. Ich finde den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen daher sehr richtig. (Beifall des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir unterstützen ihn sehr gerne. Auch der neu vorgelegte Antrag beider Fraktionen geht in die richtige Richtung. In diesem Antrag ist das kleine Wort „endlich“ eingefügt worden. Man erwartet also, dass die Bundesregierung „endlich“ deutlich macht, dass etwas getan werden muss. Ich verstehe das als subtil formulierte Kritik, die wir teilen. Ich finde, dies ist genau der richtige Weg. Ich bitte die CDU/CSU, ihre Verteidigungspolitik infrage zu stellen. Ich glaube, dass ihre Fidesz-Parteifreunde mit ihrer gegenwärtigen Politik keine Verteidigung verdienen. Ich hoffe, dass wir zu einem gemein-samen europäischen Weg zurückkehren. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Jens -Ackermann das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – -Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nun Kollege, alle Erwartungen ruhen auf Ihnen!) Jens Ackermann (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ungarn und Deutschland verbinden besondere Beziehungen. Das wird natürlich auch in Symbolen deutlich. Ich möchte darauf hinweisen, dass auf der Außenseite des Reichstages eine Plakette in deutscher und ungarischer Sprache angebracht ist. Es ist ein einmaliges Symbol, das die besondere Freundschaft unserer Völker zum Ausdruck bringt. Es ist angesprochen worden: Wir haben den Ungarn viel zu verdanken. Die deutsche Wiedervereinigung wäre so nicht möglich gewesen, wenn die Ungarn nicht das erste Glied zerschnitten hätten. Damit haben sie den Eisernen Vorhang, die Mauer, brüchig gemacht. Daran muss man erinnern. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Heute reden wir über, leider nicht mit Ungarn. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist nun mal im Parlament so!) Ungarn ist ein Mitglied der EU und gehört zu unserer europäischen Wertegemeinschaft, die durch Freiheit und Demokratie geprägt ist. Die Ungarn sind ein besonders freiheitsliebendes Volk. Dies wird in der Geschichte deutlich – die Ungarn sind Freiheitskämpfer –: 1848, 1956, aber auch 1989. Daran möchte ich erinnern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jetzt zum Jahr 2012. In der letzten Zeit wurde viel Kritik an der Politik der ungarischen Regierung geübt. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die große Mehrheit der Mandate unbestritten in freien, gleichen und geheimen Wahlen zustande gekommen ist. Sowohl an der Legalität als auch an der Legitimität dieser Mehrheit besteht keinerlei Zweifel. Ungarn ist ein Land, welches über eine mit großer Mehrheit demokratisch gewählte Regierungspartei verfügt. Eine solch große Unterstützung im Volk wünscht sich jede Regierung. Die Tatsachen darf man den Ungarn nicht zum Vorwurf machen. Eine solch große Mehrheit ist allerdings stets Verpflichtung, mit ihr sensibel umzugehen. Es sind Zweifel angebracht – darauf möchte ich hinweisen –, ob die ungarische Regierung das nötige Fingerspitzengefühl gezeigt hat. Sicher gab es seit 2010 Maßnahmen und Vorkommnisse, die zu kritisieren sind. Große Reformen sind angegangen worden, zum Beispiel der Abbau des Haushaltsdefizits oder die Weiterentwicklung des Rentenversicherungssystems. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass die ungarische Regierung tatkräftig das angepackt hat, was wir momentan von anderen Euro-Ländern erwarten: umfassende strukturelle Reformen. Ein so wichtiges Gesetz wie das Mediengesetz zu modifizieren, ist eine umfangreiche Arbeit. Das Ganze birgt die Gefahr, Fehler zu machen. Solche Fehler sind auch angesprochen worden. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist leider über ein Jahr alt. Inzwischen gab es positive Bewegungen und Veränderungen. Nach der Kritik der Europäischen Kommission hat die Regierung mehrere Paragrafen des Gesetzes zu Beginn des Jahres 2011 korrigiert. Trotzdem hat das Verfassungsgericht Ungarns noch bestimmte Punkte aufgegriffen. Dies zeigt, dass das demokratische System in Ungarn funktioniert. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts Ungarns am 19. Dezember 2011 wurden einige Punkte als nicht verfassungskonform erklärt: Verpflichtung zur Offenlegung der Quellen. Das Institut des Beauftragten für Medien verstößt gegen die Pressefreiheit und ist überflüssig. Bei der Aufklärung eines Falls darf der Medienrat bei den Medienanbietern nicht um mehr Daten als nötig bitten, um weitere Ermittlungen zu führen. – Die Fraktion der FDP hat sich kritisch über solche Passagen geäußert. Deshalb begrüßen wir besonders die Entscheidung des Verfassungsgerichts, nach der die Quellen der Journalisten geschützt werden müssen. (Beifall bei der FDP) In dem Antrag, der heute diskutiert wird, geht es auch um den ungarischen Radiosender Klubradio, der kritische Berichte über die Regierung sendet. Nach einer Entscheidung des Gerichtes in Budapest vom März dieses Jahres war die Vergabe der Frequenzen an einen anderen Sender nicht korrekt. Es wurde deutlich gemacht: Das demokratische System funktioniert auch hier. Es bestehen gute Chancen, dass Klubradio weiterhin senden und seine Frequenzen behalten kann. Das bestätigt sogar der Generaldirektor von Klubradio. Damit wird ein akutes Problem in der Debatte um die oppositionellen Medienmöglichkeiten gelöst. Ich komme zu den Vertragsverletzungsverfahren. Die Europäische Kommission hat im Januar dieses Jahres auf drei Gebieten ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet: erstens wegen Missachtung der Unabhängigkeit der Zentralbank, zweitens wegen Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz – Pensionierung von Richtern durch Herabsetzung des Renteneintrittsalters – und drittens wegen Missachtung der Unabhängigkeit von Datenschutzbeauftragten. Die Verfahren auf dem zweiten und dritten Gebiet laufen derzeit noch. Beim ersten Punkt, Zentralbank, gibt es unterschiedliche Auffassungen zwischen der Kommission und der ungarischen Regierung. Die Diskussionen sind noch nicht abgeschlossen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, so weisen immer drei Finger auf einen selbst zurück. Ich möchte daran erinnern: Das Thema Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten hat uns im Jahre 2010 ebenfalls eine Rüge aus Luxemburg beschert. Gegen Deutschland laufen derzeit 80 weitere Vertragsverletzungsverfahren. Das anzumerken, gehört zur Ehrlichkeit dazu. Wir sollten hier nicht mit zweierlei Maß messen. Herr Kollege Roth, Sie haben die Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Das ist ein hohes Gut, das wir verteidigen wollen. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Ungarn: ein Land mit 10 Millionen Einwohnern; Nordrhein-Westfalen: ein Land mit 17 Millionen Einwohnern. Dort hat die rot-grüne Regierung versucht, einen Haushalt vorzulegen, der eindeutig verfassungswidrig ist, und da-rüber abstimmen zu lassen. So viel zur Rechtsstaatlichkeit von Rot-Grün. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau so ist das! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Fremdschämen! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: NRW, das Ungarn Deutschlands!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, vorhin ist das Thema Freundschaft angesprochen worden. In diesem Zusammenhang möchte ich darum bitten, dass wir fair, sachlich und mit der entsprechenden Würde mit unseren Freunden und Partnern umgehen. Wir können die Kritikpunkte ansprechen, allerdings sachlich und verbindlich im Ton. Dann, denke ich, können wir zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zurückkehren. Wir sollten hier im deutschen Parlament keine ungarische Innenpolitik vertreten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Manuel Sarrazin das Wort. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst kann man diesem Hause nicht vorwerfen, nicht auch mit Ungarn zu reden. Ohne die ungarische Botschaft jetzt zu sehr loben zu wollen, kann ich sagen: Es gibt wohl kaum einen Botschafter, der so sehr dafür sorgt, dass wir mit allen Meinungen im Dialog sind. Deswegen kann der Vorwurf, wir redeten nur über und nicht mit Ungarn, dieses Haus nicht wirklich treffen. Herr Wadephul, ich muss vor allem die ungarische Botschaft davor schützen, dass diese Behauptung hier so im Raume stehen bleibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]) Wir haben mit diesem Antrag ein Interesse an der Versachlichung der Debatte. Wenn Sie ihn lesen, merken Sie das auch. Entschuldigung, aber Sie haben bei dieser Debatte dieses Interesse ad absurdum geführt und alle möglichen Argumente bemüht, anstatt dem sehr konnotierten und prononcierten Stil dieses Antrags folgen. Das finde ich schade. Ich kann mich allem anschließen, was Sie über die Geschichte Ungarns und Deutschlands gesagt haben. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Vereidigung von Joachim Gauck morgen ohne Ungarn eigentlich nicht denkbar wäre; da sind wir uns einig. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass Jagland, der Generalsekretär des Europarates, heute in der FAZ sagt – Zitat –: … es gehe nicht darum, Ungarn von außen Regeln aufzudrängen: „Es geht um Verpflichtungen, die Ungarn sich selbst auferlegt hat …“ (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja!) Das ist richtig. Wir alle haben den Vertrag von Lissabon und die Beitrittsakten unterschrieben. Damit haben wir uns zu den europäischen Werten aus dem EUV und aus der GrundrechteCharta bekannt. Wir haben zusammen mit der SPD diesen Antrag vorbereitet, weil wir uns um diese Grundwerte und Grundrechte in Ungarn Sorgen machen. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sie sind aber nicht Herr Jagland! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie müssen ganz andere Sorgen haben!) Mit diesen Sorgen stehen wir eben nicht allein da. Ich muss Ihnen sagen: Da geht es nicht nur um das Mediengesetz. Nach Verabschiedung der neuen Verfassung im April 2011 hat das Auswärtige Amt in Person von Herrn Hoyer formuliert: Unsere im Zusammenhang mit den Mediengesetzen aufgekommenen Befürchtungen werden mit der heute verabschiedeten Verfassung – und ihrem Zustandekommen – bestärkt statt entkräftet. Es ist doch eine eindeutige Sache, dass wir eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Wenn wir uns mit diesem Antrag aber eindeutig im Rahmen der Haltung der Bundesregierung befinden, frage ich mich: Warum konnten CDU/CSU und vor allem die FDP bei der Entwicklung dieses Antrags eigentlich nicht mitmachen? Das ist mir wirklich ein Rätsel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Es geht in unserem Antrag nicht darum, über einzelne ungarische Gesetze zu sprechen oder der ungarischen Regierung zu erklären, wie man Politik macht. Es geht darum, dass wir uns als Teil der Europäischen Union über Grundwerte und Grundrechte in der EU Gedanken machen müssen. Wer behauptet, dass solch eine Debatte nicht hierher gehört, hat etwas nicht verstanden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Die EU ist nicht einfach ein Verbund souveräner Nationalstaaten; wir sind eine Gemeinschaft, die auf Werten basiert. Zur Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie gehört auch, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten funktionieren. Wir machen uns ganz konkrete Sorgen. Ich könnte Ihnen drei Beispiele vortragen, werde es aber zeitlich nicht schaffen. Ein Punkt ist mir dennoch sehr wichtig: die Rechte der parlamentarischen Opposition. Ich bin oft in Budapest gewesen; viele Gäste aus Budapest sind hier. Die Opposition legt uns immer wieder dar, dass die neue Hausordnung des Parlaments dazu führt, dass Gesetze nicht mehr adäquat beraten und diskutiert werden können, bevor sie verabschiedet werden. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ja! Wie bei Putin!) Die neue Regelung in der Hausordnung, nach der jetzt 24-mal im Jahr ein gesamtes Gesetzgebungsverfahren, von der Einbringung eines Gesetzes bis zu seiner Verabschiedung, innerhalb von 24 Stunden stattfinden kann, erscheint doch nicht nur uns abstrus. Wie kann da noch wirkliche Beratung stattfinden? Auch Ihre Kollegen von Fidesz und KDNP teilen diese Skepsis; aber Sie trauen sich nicht, hier einmal Stellung zu beziehen. Das finde ich schade. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Die Kardinalgesetze in Ungarn sind nichts Neues. Es ist meiner Ansicht nach aber auch eine neue Qualität, dass jetzt auch die sogenannte Flat Tax unter die alte Praxis der Kardinalgesetze fällt. Es würde gerade uns gut anstehen, das zu benennen. Denn meiner Ansicht nach sollte die Hürde der Zweidrittelmehrheit grundsätzlich nur bei Änderung der Verfassung oder ähnlich weitreichender Regelungen notwendig sein. Ich halte es für schwierig, wenn künftig gewählten Parlamentsmehrheiten möglicherweise nicht mehr die Verfügung über das Budget möglich ist, weil ein wesentlicher Teil der Einnahmeseite der Kontrolle des Parlaments entzogen ist. Das halte ich für ein aufkommendes Demokratiepro-blem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Das ist kein Ungarn-Bashing, sondern schlicht und einfach Sorge aus Interesse an dem Land. Abschließend möchte ich sagen: Wir möchten einen fairen Dialog über die Vereinbarkeit der gesamten geänderten ungarischen Rechtsordnung mit den Grundwerten der EU. Wir wollen diesen Dialog versachlichen und uns mit einem unabhängigen Bericht sozusagen ein Gesamtbild verschaffen, auf dessen Grundlage wir uns gemeinsam Gedanken machen und einen fairen Dialog führen können. Die besondere Freundschaft zu Ungarn heißt, dass wir einen Dialog führen; Kritik und offene Worte sind für uns Teil dieser Freundschaft. Danke sehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Petra Pau: Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Karl Holmeier aus der Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie, die Ungarn, haben dem Freiheitswillen der Deutschen Flügel verliehen. Dieses Zitat stammt von unserer Bundeskanzlerin, anlässlich eines Besuches in Ungarn im Jahre 2009. Unsere Kanzlerin hat recht: Ungarn war immer ein freiheitsliebendes Volk. Gerade wir Deutschen haben den Ungarn aufgrund dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich wage, zu sagen, dass die deutsche Einheit ohne das Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheit nicht möglich gewesen wäre. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) Das scheinen einige inzwischen völlig vergessen zu haben. Seit dem Regierungswechsel im Jahre 2010 sieht sich Ungarn heftiger Kritik ausgesetzt, vor allem vonseiten der deutschen Opposition. Der ungarischen Regierung wird vorgeworfen, dass die europäischen Grundrechte verletzt sowie Demokratie und Rechtstaatlichkeit missachtet werden. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Stimmt!) Statt heuer im Jubiläumsjahr des deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrages einen Antrag zur Würdigung dieser Freundschaft einzubringen, haben die Opposi-tionsfraktionen im Deutschen Bundestag nichts Besseres zu tun, als unsere ungarischen Freunde zu brüskieren und ihnen das Verständnis von Demokratie und Rechtstaatlichkeit abzusprechen. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Wo steht das?) Ich kann Ihnen nur ans Herz legen: Finden Sie auf den Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Umgang zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hören Sie auf, durch pauschale Kritik ein ganzes Volk an den Pranger zu stellen. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Wo steht das? – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut doch keiner!) Das gilt erst recht für das ungarische Volk, dem wir Deutsche historisch in ganz besonderer Weise verbunden sind. (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie ein Beispiel!) Wenn Sie sachliche Kritik anbringen möchten, tun Sie das bitte in direktem Dialog mit den ungarischen Kollegen. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Machen wir!) Ja, in Ungarn regiert eine Zweidrittelmehrheit. Die Regierungspartei wurde von der Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit gewählt. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 53 Prozent!) Dieses Ergebnis hatte seinen Grund in der katastrophalen Bilanz der Vorgängerregierungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das demokratisch zustande gekommene Ergebnis sollte jeder respektieren. Mit der jetzigen Mehrheit ist die -Regierung Orban in der Lage, jahrelang aufgeschobene Reformen anzustoßen, und das tut sie auch. Sicher stoßen die zahlreichen Reformen und ihre schnelle Umsetzung bei dem einen oder anderen auf Kritik. Das ist halt so in einer Demokratie – und das ist auch gut so. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ist alles in -Ordnung! Dann brauchen wir ja nicht darüber reden!) Zum Teil ist die Kritik in der Sache sogar berechtigt. Aber der Deutsche Bundestag hat nicht darüber zu befinden, ob die Verfassung und die Gesetze anderer Länder gegen EU-Recht verstoßen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber mit der Regierung nichts zu tun!) Darum kümmert sich derzeit die Europäische Kommission und, wenn es notwendig ist, gegebenenfalls der -Europäische Gerichtshof. Es ist inakzeptabel und aus meiner Sicht ein diplomatischer Fehltritt erster Güte, einen anderen Staat aufzufordern, seine eigene Verfassung einem Dritten zur Überprüfung vorzulegen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon einmal etwas von der Venedig-Kommission gehört?) Das widerspricht jedem Selbstverständnis eines souveränen Staates. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Wir sind -Parlamentarier!) Wir alle sollten die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass den Kritikern im In- und Ausland nach wie vor eine große Mehrheit von ungarischen Bürgerinnen und Bürgern gegenübersteht, die die ungarische Regierungspolitik befürworten. Auch das gibt es. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Es gibt auch noch Minderheiten!) Ich mahne daher dringend dazu, diese Menschen nicht vor den Kopf zu stoßen. Noch einmal: Finden Sie auf den Weg zu Sachlichkeit und respektvollem Umgang zurück. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie gerade sagen!) Ich möchte an dieser Stelle auf ein paar Tatsachen hinweisen und die Rechtswirklichkeit darstellen. Ich weiß nicht, wie viele der Kritiker sich die ungarische Verfassung einmal angesehen haben. Wer sich die Mühe macht, wird feststellen, dass Ungarn über eine Verfassung verfügt, die ausführlich die Grundrechte und Grundfreiheiten anerkennt und diese festschreibt. An dem Bekenntnis zu Gott und zum Christentum in der ungarischen Verfassung kann ich nichts Anstößiges erkennen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie so einen Satz bei uns gefunden?) Das gehört ohne Zweifel zur europäischen Geschichte und findet daher auch im deutschen Grundgesetz seine Niederschrift. Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass das ungarische Verfassungsgefüge intakt ist, ist das vielfach gescholtene Mediengesetz. Das ungarische Verfassungsgericht hat wesentliche Teile dieses Gesetzes kassiert und damit -gezeigt, dass Meinungsfreiheit und Pressefreiheit in -Ungarn nach wie vor gelten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. -Joachim Spatz [FDP]) Die Regierung muss das Urteil jetzt umsetzen, und sie hat zugesichert, es zu tun. Das Ergebnis werden dann die zuständigen Organe beurteilen, unter anderem auch die Europäische Kommission, aber nicht der Deutsche Bundestag. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie beurteilen doch gerade! Was -machen Sie denn gerade, wenn Sie nicht beurteilen?) Das gilt im Übrigen auch mit Blick auf die eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren. Tatsache ist, dass es nichts Ungewöhnliches ist – das wurde schon angesprochen –, wenn die Europäische Kommission Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Auch gegen Deutschland laufen zahlreiche solcher Verfahren. Tatsache ist, dass Ungarn zu den Fragen der Europäischen Kommission ordnungsgemäß Stellung genommen und Änderungen angeboten hat. Tatsache ist auch, dass zwischenzeitlich bei einem Großteil der Fragen ein Kompromiss gefunden werden konnte. Davon ist in dem Antrag der Opposition allerdings keine Rede. Es wird offenbar auch ausgeblendet, dass sich der Punkt zum Zentralbankgesetz weitgehend erledigt hat. Die beiden übrigen Verfahren laufen noch, und ich halte es für unangemessen, sich seitens des Deutschen Bundestages in dieses Verfahren einzumischen. Vor allem finde ich es anmaßend, die Europäische Kommission ermuntern zu wollen, hier ordnungsgemäß und gründlich zu prüfen. Ich denke nicht, dass die Kommission derart weise Ratschläge von der Opposition braucht. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung! Wissen Sie das eigentlich?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammenfassend muss ich leider feststellen, dass der angeblich ehrliche Dialog, den die Opposition hier führen möchte, alles andere als ehrlich ist. Es mangelt vor allem stark am notwendigen Respekt gegenüber einem befreundeten europäischen Land und dessen Menschen. Leider -erkennt der Antrag die Tatsachen auch nicht in der gebotenen Ehrlichkeit an. Ich bitte Sie daher, den Antrag -abzulehnen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen schönen Abend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – -Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir würden die Hände abfallen, da noch zu klatschen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das ungarische Mediengesetz – Europäische Grundwerte und Grundrechte verteidigen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8710, den -Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4429 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Presse-Grosso gesetzlich verankern – Drucksache 17/8923 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Georg Nüßlein, Wolfgang Börnsen, Martin Dörmann, Ulla -Lötzer und Tabea Rößner sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim Otto.4 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8923 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 18: Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Streichung des Begriffes „Rasse“ aus der deutschen Rechtsordnung und internationalen -Dokumenten – Drucksache 17/4036 – Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden von Dr. Stephan Harbarth, Gabriele Fograscher, Christoph Strässer, Stephan Thomae, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Die Ächtung und Bekämpfung von Rassismus jeder Art ist nicht nur Ziel unserer Politik, sondern zugleich Auftrag unserer Verfassung. Wir als Union bekennen uns klar und unmissverständlich zu einem respektvollen Miteinander aller Menschen in unserem Land. Wir wenden uns gegen jede Form der Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus und Antisemitismus. Wir müssen und werden alles dafür tun, dass in unserer Gesellschaft hierfür kein Platz ist. Der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz muss Markenzeichen unserer wehrhaften Demokratie sein. Dies setzt viele Maßnahmen voraus. Nur einige seien genannt: Bei Kindern und Jugendlichen muss nicht nur das Demokratiebewusstsein gestärkt werden, um sie vor Extremismus jeglicher Art zu schützen. Sie müssen auch zu tolerantem Verhalten erzogen werden. Wir müssen den Opfern extremistischer Gewalttaten mehr Aufmerksamkeit staatlicherseits entgegenbringen und Opferorganisationen unterstützen. Vor allem bedürfen diejenigen, die der Gefahr rassistischer Übergriffe ausgesetzt sind, auch des Schutzes durch unseren Staat. Wichtig bei der Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist nicht zuletzt auch das ehrenamtliche Engagement aus der Mitte unserer Gesellschaft. Für die vielen Zeichen der Hoffnungen in diesem Zusammenhang sagen wir herzlichen Dank. Der von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag, der darauf abzielt, den Begriff Rasse aus der deutschen Rechtsordnung und internationalen Dokumenten zu streichen, stellt jedoch kein taugliches Instrument der Bekämpfung von Rassismus dar. Gerade aufgrund der deutschen Geschichte halten wir es für den falschen Weg, diese Begriffe zu streichen. Die nationalsozialistischen Rassentheorien und der nationalsozialistische Rassenwahn erfordern, dass wir durch den Wortlaut unserer Verfassung und unserer einfachen Gesetze klarstellen: Für Rassentheorien und Rassenwahn gibt es in unserer Gesellschaft ebenso wenig Platz wie für die Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen aus rassistischen Motiven. Dies sollten wir in unserer Verfassung und unseren Gesetzen bewusst und ausdrücklich betonen. Nicht ohne Grund haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die die Nazidiktatur selbst erlebt hatten, Art. 3 unserer Verfassung denn auch so deutlich formuliert. Klar ist für uns dabei auch: Wir machen uns Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, nicht zu eigen. Bei uns ist für derartiges Gedankengut kein Raum. Den Antrag der Fraktion Die Linke werden wir ablehnen. Gabriele Fograscher (SPD): Gestern war der Internationale Tag gegen Rassismus. Der 21. März wurde 1967 von den Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag zur Überwindung des Rassismus“ deklariert. Gerade nach dem Bekanntwerden der schrecklichen Mordserie der Zwickauer Terrorzelle haben viele Organisationen, Vereine und Gruppen den gestrigen Tag genutzt, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. In Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Dieser Grundrechtsartikel verwendet immer noch den Begriff Rasse. Von vielen Seiten der Gesellschaft wird schon seit mehreren Jahren gefordert, diesen Begriff aus der deutschen Verfassung zu streichen und durch eine andere Formulierung zu ersetzen. Diese Forderung wurde auch gestern erneut geäußert. In der Vergangenheit wurden Menschen in unterschiedliche Rassen eingeteilt, und es wurden gute und schlechte Rassen unterschieden. Rassentheorien wurden herangezogen, um Hierarchien, Unterdrückung, Ausgrenzung bis hin zur Gewalt und Ermordung von Juden zu rechtfertigen. So wurden zum Beispiel die Sklaverei und die Rassentrennung in Südafrika damit begründet, dass die „weiße Rasse“ die überlegene sei. Im Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie stand der Rassenkampf. Es wurde behauptet, dass es höherwertige und minderwertige Rassen gebe. Bei der Einteilung von Menschen in Rassen ging man davon aus, dass Rassen sich nicht nur biologisch, also durch körperliche Merkmale, unterscheiden, sondern auch durch feststehende und unveränderbare Merkmale hinsichtlich ihrer Mentalität, ihres Charakters und ihrer Intelligenz. Die Einteilung des Menschen in Rassen entspricht nicht dem Stand der Wissenschaft, schon gar nicht menschenrechtlichen Standards. Es gibt keine menschlichen Rassen. Eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe der UNESCO-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“ am 8. und 9. Juni 1995 in Österreich hat eine Erklärung zur Existenz menschlicher Rassen abgegeben. Darin heißt es: „‚Rassen‘ des Menschen werden traditionell als genetisch einheitlich und untereinander verschieden angesehen. Diese Definition wurde entwickelt, um menschliche Vielfalt zu beschreiben, wie sie zum Beispiel mit verschiedenen geografischen Orten verbunden ist. Neue, auf den Methoden der molekularen Genetik und mathematischen Modellen der Populationsgenetik beruhende Fortschritte der modernen Biologie zeigen jedoch, daß diese Definition völlig unangemessen ist.“ Und weiter heißt es in dieser Erklärung von 1995: „Rassismus ist der Glaube, daß menschliche Populationen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert unterscheiden, so daß bestimmte Gruppen gegenüber anderen höherwertig oder minderwertig sind. Es gibt keinen überzeugenden wissenschaftlichen Beleg, mit dem dieser Glaube gestützt werden könnte. Mit diesem Dokument wird nachdrücklich erklärt, daß es -keinen wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche Vielfalt mit den starren Begriffen ‚rassischer‘ Kategorien oder dem traditionellen ‚Rassen‘konzept zu charakterisieren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff ‚Rasse‘ weiterhin zu verwenden.“ Deshalb unterstützen wir als SPD-Bundestagsfraktion grundsätzlich das Anliegen, den Begriff Rasse aus deutschen Gesetzestexten zu streichen. Dazu heißt es in einer Ausarbeitung des Deutschen Instituts für Menschenrechte mit dem Titel: „… und welcher Rasse gehören Sie an?“: „Daher sollte der Begriff ‚Rasse‘ keine Verwendung mehr in Gesetzestexten finden. Dies umso mehr, als Gesetzestexte zur Bewusstseinsbildung beitragen können und eine gewisse -Vorbildfunktion haben sollten. Die Vorbildfunktion rechtlicher Texte wird in jedem Fall dann relevant, wenn es um menschenrechtliche Anliegen geht wie die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus.“ Dennoch werden wir als SPD-Bundestagsfraktion dem Antrag der Linksfraktion nicht zustimmen; wir werden uns enthalten. Die von den Linken vorgeschlagene Formulierung „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ anstatt des Begriffs Rasse ist unbefriedigend, weil sie den Schutzbereich der Norm einengt. Wir als SPD-Bundestagsfraktion folgen der Argumentation des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Deshalb befürworten wir die Formulierung „rassistische Diskriminierung“. Mit dieser Begrifflichkeit in der deutschen Verfassung würden wir uns klar und deutlich von jeglicher Art Rassismus distanzieren. Der Antrag der Linken wird heute keine Mehrheit erhalten. Damit ist das Thema für uns aber nicht erledigt. Wir werden versuchen, eine mehrheitsfähige Lösung herbeizuführen, um den Begriff Rasse aus der deutschen Rechtsordnung zu streichen. Christoph Strässer (SPD): Es ist eine absurde Paradoxie, dass gerade Gesetze und Texte gegen Rassismus den Begriff Rasse immer noch benutzen. Das führt zu seltsam anmutenden stilistischen Verrenkungen. So heißt es in der EU-Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft (Richtlinie 2000/43/EG): „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ … impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“ Aber warum verwendet man den Begriff, wenn man sich gleichzeitig dafür rechtfertigen und die weitere Verwendung begründen muss? In der deutschen Übersetzung der Allgemeinen -Erklärung über Bioethik und Menschenrechte der UNESCO-Generalkonferenz von 2005 heißt es: „Die Übersetzung dieser Erklärung wurde leicht angepasst im Hinblick auf den Begriff ‚Rasse‘, der in Anführungszeichen gesetzt wurde. Dieser veraltete Sprachgebrauch suggeriert fälschlich die tatsächliche Existenz verschiedener menschlicher Rassen, was nach einhelliger wissenschaftlicher Überzeugung und gemäß vieler Veröffentlichungen der UNESCO nicht zutrifft.“ Auch hier scheint sich der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes, vom dem die Übersetzung stammt, nicht ganz wohl mit den Begrifflichkeiten gefühlt zu haben. In vielen wissenschaftlichen Texten wird der Begriff Rasse in Anführungszeichen gesetzt oder sehen die Verfasser sich gezwungen, eine ergänzende und klarstellende Fußnote einzufügen. Der Begriff Rasse ist nicht neu und wird auch in den Rechtsordnungen anderer Länder angewendet. In Deutschland ist der Begriff aber extrem historisch belastet. So wird der Begriff in Deutschland in Wissenschaft und Rechtsprechung sehr reflektiert benutzt. Trotzdem müssen Gerichte und Parlamente immer wieder herausstellen, dass sie das Konzept der „Rasse“ selbstverständlich ablehnen, auch wenn sie den Terminus verwenden. Das zeugt von Sensibilität, aber auch von einem Unbehagen. Zu Recht, denn der Begriff der Rasse ist von Biologie und Anthropologie als wissenschaftliches Konzept desavouiert. Allein rassistische Theorien gehen von der Annahme aus, dass es unterschiedliche menschliche Rassen gebe. Durch die Verwendung des Begriffs wird die Vorstellung von der Existenz menschlicher Rassen am Leben gehalten. Heiner Bielefeldt, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, hat deshalb zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff Rasse nicht „unschuldig“ verwendet werden kann. Der Ausarbeitung des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz lagen laut der Kommentarliteratur zum Grundgesetz im Wesentlichen die Zielvorstellungen der Vergangenheitsbewältigung des Rassismus und die Vermeidung seiner Wiederholung zugrunde. Die Akten des Parlamentarischen Rates lassen nicht erkennen, dass der Begriff der Rasse bei Einführung des Grundgesetzes und des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz problematisiert wurde. Ob bei Beratungen des Parlamentarischen Rates Alternativbegriffe diskutiert wurden, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die Formulierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz wurde aus der badischen Verfassung übernommen. Doch diese Formulierung in der Verfassung führt zu einem eklatanten Widerspruch. Nach der augenblicklichen Lage müssen Opfer im Falle rassistischer Diskriminierung geltend machen, aufgrund ihrer „Rasse“ -diskriminiert worden zu sein. Sie müssen sich gewissermaßen selbst einer vermeintlichen „Rasse“ zuordnen und werden so gezwungen, selbst rassistische Terminologie und rassistisches Gedankengut verwenden zu müssen. Die UNESCO hat sich schon 1995 in einer Erklärung gegen den Rasse-Begriff gewendet, ebenso das Europäische Parlament im Jahre 1997, und auch das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt, den Begriff aus deutschen Rechtstexten zu entfernen. Andere staatliche Institutionen wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes verwenden den Begriff bereits nicht mehr. Gesetzestexte tragen auch zur Bewusstseinsbildung bei und sollten eine Vorbildfunktion haben. Dass dies auch möglich ist, zeigen bereits mehrere europäische Länder wie Schweden, Finnland und Österreich, die alternative Begrifflichkeiten nutzen. Die finnische Verfassung sieht zum Beispiel den Begriff Herkunft statt Rasse vor. Im schwedischen Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2000/43/EG wird auf „ethnische Zugehörigkeit“ Bezug genommen. Der Begriff der Rasse findet auch hier keine Verwendung. In Frankreich ist in unterschiedlichen Rechtsvorschriften von der vermuteten Rasse die Rede. Im Gegensatz zur Richtlinie 2000/43/EG verzichtet das österreichische Gesetz auch ganz auf den Begriff. Noch mehr Details können der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages „Zur Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ auf europäischer und nationaler Ebene“ entnommen werden, die ich angesichts der Bedeutung, die wir dem Thema beimessen, in Auftrag gegeben hatte. Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, in dem sie den Begriff aus dem Grundgesetz und anderen Gesetzestexten streichen will. Dieser Intention ist aus den genannten Gründen grundsätzlich zuzustimmen. Deshalb lehnt meine Fraktion den Antrag auch nicht ab. Es sprechen aber zwei Gründe gegen eine Zustimmung zu diesem Antrag. Zum einen fordert der Antrag, dass sich Deutschland auf internationaler Ebene dafür einsetzen soll, dass der Begriff Rasse keine Aufnahme in Dokumente mehr findet und schrittweise entfernt wird. Das ist zwar richtig. Aber erst sollte Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und die eigene Rechtsordnung sprachlich modernisieren. Zum anderen – und das ist der entscheidendere Grund – ist der alternative Formulierungsvorschlag juristisch so nicht annehmbar. Der Antrag fordert, den Begriff Rasse durch „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Die „soziale Herkunft“ wird im Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz aber schon durch das Merkmal „Herkunft“ abgedeckt, so wie „territoriale Herkunft“ durch „Heimat“ abgedeckt ist. Eine doppelte Erwähnung ist überflüssig und führt zu Abgrenzungsschwierigkeiten. Fraglich bleibt außerdem, ob „ethnische Herkunft“ den Begriff Rasse juristisch und sprachlich ersetzen kann. Dadurch könnte der Schutzbereich verengt werden. Benachteiligungen, die an die tatsächliche oder vermeintliche Ethnie einer Person anknüpfen, sind nach derzeitiger Auffassung in einigen Kommentaren nur ein Teilaspekt des Diskriminierungstatbestandes „Rasse“. Aus sprachlicher Sicht stellt sich zudem die Frage, ob man einen Begriff nicht durch einen ähnlichen Begriff wieder ersetzt. Zu überdenken ist – so wie es das Deutsche Institut für Menschenrechte vorschlägt –, grundsätzlich von „rassistischer Diskriminierung“ zu sprechen. Dadurch wird verdeutlicht, dass es keine Rassen gibt, sondern diese rassenideologische Vorstellung nur von außen verbreitet wird. Für Art. 3 Grundgesetz Abs. 3 Grundgesetz schlägt das Institut für Menschenrechte konkret vor: „Niemand darf -rassistisch oder wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Dieser Vorschlag ist eine denkbare Lösung. Es gilt in jedem Fall, eine Regelung zu finden, die den sachlichen Gehalt des Grundrechts nicht einengt. Doch über Detailformulierungen brauchen wir heute nicht beraten, denn die Koalition scheint das Grund-anliegen des Antrags nicht zu tragen, was ich bedauere. Schon im Dezember 2010 stellte sich bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Frage, ob und wie die Begriffe Rasse bzw. rassisch in § 130 StGB aufgenommen werden sollte. CDU/CSU und FDP hatten unseren Wunsch abgelehnt, für eine Klarstellung im -Gesetz zu sorgen, zumindest den Begriff Rasse in weiteren Beratungen kritisch zu hinterfragen und nach Alternativen zu suchen, was bedauerlicherweise zurückgewiesen wurde. In meiner Position als Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Menschenrechte unterstütze ich die Forderung, den Begriff Rasse aus den deutschen Rechtstexten sukzessive zu streichen, letztlich auch aus dem Kontext unseres Grundgesetzes. Dabei ist darauf zu achten, dass eine Alternativformulierung keine Verschlimmbesserung darstellt. Aus diesem Grunde kann ich mich deshalb nur enthalten. Ich würde aber jeden Vorstoß zur Suche einer gemeinsamen interfraktionellen Lösung begrüßen. Stephan Thomae (FDP): Ihrem Antrag, die Formulierung Rasse aus Gesetzes- und Dokumentationstexten zu streichen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, können wir Liberale nicht zustimmen. Wir müssen uns klarmachen, dass es bei der Debatte um ein Wort geht. Und ein Wort selber kann nicht verwerflich sein, sondern lediglich die Bedeutung, die wir diesem Wort beimessen. Der Begriff Rasse muss nicht zwangsläufig negativ sein. Erforscht man den Begriff näher, so stößt man beim Ursprung des Wortes Rasse darauf, dass es vom lateinischen Wort radix – Wurzel – abstammt. Übersetzt man nun den Begriff in diesem Sinne, so kann man die Verwendung der Formulierung auch so verstehen, dass der Verwender „stolz auf seine Wurzeln“ ist. Der Begriff ist zunächst wertneutral und erhielt in der Geschichte durch missbräuchliche Verwendung den zwielichtigen Beigeschmack. Für die FDP-Fraktion möchte ich in aller Deutlichkeit festhalten, dass wir uns mit großer Entschlossenheit gegen jede Form von Diskriminierung, Intoleranz und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft wenden. Genau das will auch unsere Rechtsordnung. Damit unser Recht das ausdrücken kann, muss man dem Gegenstand einen Begriff geben. Wir vertreiben das Böse nicht aus der Welt, indem wir unsere Sprache der Möglichkeit berauben, es auszudrücken und beim Namen zu nennen. Wollte man nun den Begriff in Dokumentartexten, Rechtstexten und sogar im Grundgesetz ändern, müssten wir dabei das Telos betrachten, mit dem dieser Begriff in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Die geistigen Schöpfer des Grundgesetzes haben, aufgrund der negativen Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus, ganz bewusst die Gleichheit der Rassen und das Verbot der Rassendiskriminierung in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz formuliert und fixiert. Damit wurde der Begriff Rasse positiv hervorgerufen und besonders gedeutet. Dem Art. 3 des Grundgesetzes ist nicht ansatzweise eine Akzeptanz von Rassekonzeptionen zu entnehmen. Die Vorschrift unterstellt nicht, dass es Rassen gebe, sondern verbietet, Menschen aufgrund einer etwa behaupteten Rasse zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Auch eine Änderung der Formulierung von § 1 des AGG ist nicht gerechtfertigt. Der Begriff Rasse im AGG ist von der Antirassismusrichtlinie (2000/43/EG) vorgegeben, deren Umsetzung das AGG unter anderem dient. Im Rahmen der Verhandlungen zu dieser Richtlinie wurde die Frage der Formulierung, die auch wir heute debattieren, von den Mitgliedstaaten eingehend diskutiert. Dabei kam man überein, an dem Begriff Rasse festzuhalten, weil dieser den sprachlichen Anknüpfungspunkt zu dem Begriff Rassismus bildet. Dies hat -Signalwirkung. Und diese Signalwirkung soll zur konsequenten Bekämpfung rassistischer Tendenzen genutzt werden. Vielleicht ist die Verwendung des Begriffs Rasse nicht mehr wissenschaftlich zu begründen; jedoch sollte diese positive Entwicklung des Begriffs weitergetragen werden. Der Antrag von Ihnen, meine Damen und Herren der Linken, würde diesen besonderen Schutz schmälern. Er zielt politisch nur darauf ab, Aufmerksamkeit zu erregen. Gerade wir Freien Demokraten sind der Freiheit und dem Schutz des Grundgesetzes besonders verpflichtet und lehnen Ihren Antrag deswegen ab. Wichtiger, als über Formulierungen zu streiten, wäre es, über konkrete Verbesserungsmöglichkeiten, Aktionen und Hilfen für Opfer von Rassismus zu sprechen. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Die Versuche, Menschen in Rassen zu unterscheiden, gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert unterteilte der Philosoph Christoph Meiners die Menschheit in die schöne weiße und die hässliche dunkle Rasse. Der biologisch-wissenschaftliche Begriff Rasse -jedoch ist ein rechtes Kind des 19. Jahrhunderts. Er ist das Geistesprodukt der Sozialstatistik, Phrenologie, Physiognomik, Anthropologie und später der Eugenik – allesamt modische oder auch zum Teil Pseudowissenschaften dieser Zeit. Der Begriff Rasse – angewendet auf Menschen – beinhaltet die Idee, dass diese sich nach optischen Kriterien wie Hautfarbe, Knochen, Winkel, Größen, später Gene, biologisch in Gruppen klassifizieren lassen. Eine der Hauptstützen moderner Rassentheorien wurde das Konzept des Sozialdarwinismus. Aus der Klassifizierung folgte die Hierarchisierung, und von da waren es nur noch kleine Schritte hin zur Diskriminierung, Misshandlung, zur Sanktionierung von Vernichtungsfeldzügen gegen Menschen, die anders -aussehen, sprechen, eine andere Kultur haben, andere Sitten pflegen. Lange bevor das Hitler-Regime die Macht übernahm, hatten zahlreiche Rassefanatiker Thesen propagiert, die auf Völkermord abzielten. Aber erst die Nationalsozialisten setzten die Übermenschfantasien, die Rassetheorien, die sozialdarwinistischen Leitvorstellungen und den immer stärker gewordenen Rassismus, der sich mit dem Antisemitismus verband, in eine unvergleichlich grausame Praxis um. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte und in Kenntnis dessen, dass der Begriff Rasse – bezogen auf -Menschen – längst wissenschaftlich widerlegt, historisch überholt und ideologisch extrem belastet ist, gehe ich davon aus, dass unser Antrag, diesen Begriff aus der Rechtsordnung und allen internationalen Dokumenten zu streichen, die Zustimmung aller Bundestagsabgeordneten finden wird. Wir beziehen uns mit diesem Antrag auf die Antirassismusrichtlinie 2000/43 EG und darauf, dass auf Ini-tiative der UNESCO bereits 1995 eine Erklärung beschlossen wurde, sich ganz vom Rassebegriff zu verabschieden. Andere Staaten sind der damit verbundenen Aufforderung, auf die Verwendung des Begriffs Rasse zu verzichten, längst nachgekommen. In Deutschland steht er noch immer in vielen Gesetzestexten, zum Beispiel im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3 Satz 1, wo es heißt: „Niemand darf wegen seines -Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Es ist nicht zeitgemäß, nicht angemessen und zugleich beschämend, dass wir in unserer Verfassung weiterhin vom Vorhandensein verschiedener menschlicher Rassen ausgehen. Sprache ist verräterisch, im Schlechten wie im Guten. Wir stehen in der Pflicht, im geschriebenen und gesprochenen Wort zu verraten, dass wir die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen haben. Der Vorschlag meiner Fraktion lautet, den Begriff Rasse durch die Formulierung „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Die ist zwar länger als ein Wort, aber so viel Zeit muss und sollte ab jetzt immer sein. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Blut- und Rassenwahn der Nationalsozialisten war ideologische Grundlage der Euthanasie, der Vernichtung der Sinti und Roma und des ungeheuerlichen Menschheitsverbrechens der Auslöschung des europäischen Judentums im Holocaust. Millionen von Menschen sind, zum Teil nach unbeschreiblichen Qualen, wegen dieses Wahns ermordet worden. Die Blut- und Rassenlehre der nationalsozialistischen Bewegung, die nach 1933 als Rassegesetzgebung in das deutsche Recht integriert wurde, basiert auf zwei Behauptungen. Erstens soll die äußerliche Unterschiedlichkeit von Menschen nach Hautfarbe und Gesichtsausdruck unter anderem auf sogenannten verschiedenen Rassen von Menschen beruhen, und zweitens soll es eine wesensmäßige, qualitative Unterschiedlichkeit dieser sogenannten Rassen geben. Der Antrag der Linken führt richtig aus, dass solche Pseudotheorien wissenschaftlich widerlegt sind. Gibt es angesichts dieser ungeheuerlichen geschichtlichen Belastung und unzweifelhaften wissenschaftlichen Widerlegung noch Gründe, im Alltag und in der Umgangssprache am Gebrauch des Wortes Rasse im Bezug auf Menschen festzuhalten? Ich meine nicht. Es ist viel mehr als nur ein Ausdruck einer „political correctness“, wenn wir alle auch in unserer Kommunikation zum Ausdruck bringen, dass die Einteilung von Menschen nach Rassen falsch ist und bei uns der Vergangenheit angehört. Nicht umsonst forderte die UNESCO bereits 1950, in der Umgangssprache das Wort Rasse im Bezug auf Menschen nicht mehr zu verwenden. Allerdings, bis heute und auch noch in der Zukunft, gibt es – nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt – Menschen, die dem Rassenwahn anhängen und diesen auch aggressiv und kämpferisch propagieren. Gegen diese Menschen und ihr menschenverachtendes Treiben hilft es nichts, selbst auf den Gebrauch des Wortes Rasse konsequent zu verzichten und es durch andere Begriffe wie zum Beispiel ethnische Herkunft zu ersetzen. Schauen wir uns an, wo und in welchem Zusammenhang in völkerrechtlichen Verträgen, im europäischen Recht und auch in unserer Rechtsordnung der Begriff der Rasse verwendet wird. Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet alle Mitglieder „auf den Grundsatz der allgemeinen Achtung der Menschenrechte für alle ohne Unterschied der Rasse“. Die Erklärung der Menschenrechte der UNO proklamiert die „Gleichheit aller Menschen ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse“. Die Erklärung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1960 verurteilt den Kolonialismus und alle damit verbundenen Praktiken der Rassentrennung, und in der Erklärung der VN vom 20. November 1963 wird „die Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung“ gefordert. Die europäischen Verträge wenden sich ausdrücklich „gegen jegliche Diskriminierung aus Gründen der Rasse“ und die Charta der Grundrechte „gegen Diskriminierungen wegen der Rasse“. Das Grundgesetz erklärt unmissverständlich: „Niemand darf wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Allen diesen Festlegungen liegt zugrunde, dass sie nicht affirmativ den Begriff der Rasse als richtig und vorgegeben übernehmen, sondern alle verurteilen und geißeln die unterschiedliche und damit diskriminierende Behandlung von Menschen, die mit der Begründung vorgenommen wird, sie würden unterschiedlichen Rassen angehören. Schon im Jahre 1966 heißt es im Rassendiskriminierungsbeseitigungs-Übereinkommen, in dem übrigens auch von zu bekämpfenden Unterscheidungen gesprochen wird, die auf der „Rasse beruhen“, unmissverständlich, dass „jede Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlich falsch, moralisch verwerflich sowie sozial ungerecht und gefährlich ist“. Wenn wir uns gegen Rassismus – wo auch immer und in welcher Form auch immer – wehren wollen, kommt es darauf an, das Übel beim Namen zu nennen. Dies ist der einzige Grund, am Gebrauch des Wortes Rasse festzuhalten. Ihn auch im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Rassismus tilgen und durch politisch korrekte Worte ersetzen zu wollen, ist nicht zielführend und kann im schlimmsten Fall von Rassisten als Signal verstanden werden, dass ihr paranoider Rassenwahn nicht mehr geächtet und verfolgt wird. Deshalb folgen wir auch nicht der Forderung der Linken, den Begriff der Rasse aus allen internationalen Dokumenten zu entfernen, ganz abgesehen von der völligen Unmöglichkeit der Durchsetzung solcher Forderungen. Erkennbar basiert der Antrag der Linken auf zwei Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Im Gegensatz zu dem Antrag der Linken heißt es jedoch in diesen Veröffentlichungen ausdrücklich, dass „es nicht ausreichend erscheint, den Begriff der Rasse einfach wegzulassen und allein auf andere Begriffe wie ‚ethnische Herkunft‘ oder ‚soziale Zugehörigkeit‘ abzustellen“. Auch der Verweis der Linken auf die Deklaration von Schlaining gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung aus dem Jahr 1995 ist verfehlt. Sie fordert die Abkehr vom „veralteten ‚Rassen‘-Konzept“ und seine Ersetzung „durch Anschauungen und Schlussfolgerungen auf der Grundlage des heutigen Verständnisses genetischer Vielfalt in ihrer Anwendung auf die menschliche Bevölkerung.“ Dies ist etwas anderes als die Forderung, auf den Begriff Rasse beim Kampf und der Ächtung des Rassismus und von Rassisten zu verzichten. So gut gemeint der Ansatz der Linken ist, sich von jeglicher Rassenideologie im Bezug auf Menschen zu verabschieden und in Zukunft nicht mehr von Rassen im -Bezug auf Menschen zu sprechen, so falsch und kontraproduktiv scheint uns der Ansatz, in allen Völkerrechtsverträgen, im europäischen Recht und im Grundgesetz das Wort Rasse zu streichen und durch „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ zu ersetzen. Damit nehmen wir diejenigen, die von Rassen reden und rassisch diskriminieren, aus dem Fokus und ermuntern Rassisten, ihr Unwesen weiter zu treiben. Einem solchen Antrag werden wir nicht zustimmen. Vizepräsidentin Petra Pau: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4036. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 19: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheit--lichen Nutzen von Medizinprodukten besser gewährleisten – Drucksache 17/8920 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dietrich Monstadt, Dr. Marlies Volkmer, Jens Ackermann, Kathrin Vogler und Dr. Harald Terpe. Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Wir debattieren heute einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der Mängel des bestehenden Zulassungs- und Überwachungsverfahrens kritisiert und Konsequenzen aus dem Skandal um die Brustimplantate des französischen Herstellers PIP vorschlägt. Der Antrag beruft sich dabei auch auf die Häufigkeit von Revisionsoperationen bei Endoprothesen. Des Weiteren fordert der -Antrag, eine frühe Nutzenbewertung bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im SGB V einzuführen, als Voraussetzung der Erstattungsfähigkeit. In der Tat gehört es zur Verantwortung des Gesetzgebers, zu prüfen, wo sich in dem Geschehen Mängel des geltenden Medizinprodukterechts erkennen lassen und welche Verbesserungsansätze sich daraus ableiten lassen. Unser gemeinsames Ziel muss sein, ähnlichen Fällen in der Zukunft möglichst vorzubeugen oder diese wenigstens rascher aufzudecken, um die Gefährdung und Schädigung weiterer Menschen zu verhindern. Bevor wir Lösungsvorschläge diskutieren, müssen wir uns die Fakten und die Rechtslage ins Bewusstsein rufen. Medizinprodukte werden, je nach Zweckbestimmung der Produkte und dem Gefährdungspotenzial für den Patienten, den vier Risikoklassen I, IIa, IIb oder III zugeordnet. Brustimplantate und Endoprothesen, die in den Körper des Patienten implantiert werden, gehören zur Klasse III. Sie sind sogenannte Hochrisikoprodukte, für die ein höchstmögliches Sicherheitsniveau erforderlich ist. Medizinprodukte unterliegen in der Europäischen Union keinem behördlichen Zulassungsverfahren, sondern erlangen ihre Verkehrsfähigkeit nach den Regeln des „new approach“. Bei Medizinprodukten der höchsten Risikoklasse III führt der Hersteller unter Einbeziehung einer Benannten Stelle eine Konformitätsbewertung durch. Die Benannte Stelle wiederum ist von dem EU-Mitgliedstaat, in dem sie ansässig ist, akkreditiert. Das geltende regulatorische System für Medizinprodukte hat sich aus meiner Sicht grundsätzlich bewährt. Skandale mit Medizinprodukten der Klasse III zeigen jedoch, dass dieser Ansatz, der auf Verantwortungsbewusstsein und Vertrauenswürdigkeit der Hersteller -basiert, nicht geeignet ist, unseriöse oder kriminelle Praktiken rechtzeitig aufzudecken. Dies gibt Anlass, das vorhandene Instrumentarium auf nationaler und europäischer Ebene daraufhin zu prüfen, wie kriminellem Handeln Einzelner besser vorgebeugt bzw. wie solches Handeln durch Überwachung möglichst rasch aufgedeckt werden kann. Beim PIP-Skandal ist Kern des Geschehens ein bislang ungekanntes Maß an krimineller Energie aufseiten der Herstellerfirma. Der Hersteller PIP hat mit erheblicher krimineller Energie etwa 75 Prozent seiner Produktion mit einem nicht der CE-Zertifizierung des Originalproduktes entsprechenden Material vermarktet. Der Benannten Stelle TÜV Rheinland wurden bei Audits die einwandfreien 25 Prozent der Produktion vorgeführt. Unbestritten ist, dass der französische Hersteller sich vorsätzlich kriminell verhalten und in Betrugsabsicht gegen Gesetze und andere Vorschriften verstoßen hat. Vor diesem Hintergrund ist zu klären, welche Bedeutung das kriminelle Handeln von PIP hinsichtlich der Regelung des Inverkehrbringens von Produkten der Klasse III hat. Eine andere Regelung des Marktzugangs – etwa das im vorliegenden Antrag geforderte behördliche Zulassungsverfahren anstelle des seit 25 Jahren praktizierten „new approach“ – hätte dieses vorsätzliche kriminelle Verhalten nicht mit Sicherheit verhindert. Denn auch einer Zulassungsbehörde hätte der Hersteller eine gefälschte Dokumentation und eine unbedenkliche Probe vorlegen können, so wie er es gegenüber dem TÜV Rheinland getan hat. Die Problematik liegt daher nicht in den Voraussetzungen für das erstmalige Inverkehrbringen, sondern in der Kontrolle der laufenden Produktion und der Überwachung der Anwendung. Der TÜV Rheinland als Benannte Stelle sowie deutsche und französische Behörden haben sich im Konformitätsbewertungsverfahren bzw. bei der Überwachung, soweit ich es übersehen kann, korrekt verhalten. Nach der Information durch die französische Behörde hat das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte dem jeweiligen Informationsstand entsprechend gehandelt. Die gegenwärtige Empfehlung des BfArM lautet, Implantate des Herstellers PIP in jedem Fall entfernen zu lassen. Natürlich wird jetzt die Frage gestellt, ob man das Gefährdungspotenzial der betroffenen Brustimplantate nicht früher hätte erkennen können. Die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) verpflichtet unter anderem Händler, Ärzte und Krankenhäuser, die „Medizinprodukte beruflich oder gewerblich betreiben oder anwenden“, zur Meldung von „Vorkommnissen“. Die Definition eines „Vorkommnisses“ steht in § 2 Nr. 1 MPSV: Danach ist „‚Vorkommnis‘ eine Funktionsstörung, ein Ausfall oder eine Änderung der Merkmale oder der Leistung oder eine Unsachgemäßheit der Kennzeichnung oder der Gebrauchsanweisung eines Medizinprodukts, die unmittelbar oder mittelbar zum Tod oder zu einer schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Patienten, eines Anwenders oder einer anderen Person geführt hat, geführt haben könnte oder führen könnte“. Die Ruptur eines Brustimplantats, das Auslaufen bzw. Ausschwitzen des Silikongels und gesundheitliche Folgen wie die Bildung schmerzhafter Lymphknoten, die eine operative Entfernung der Implantate erforderlich machen, genügen der Definition eines „Vorkommnisses“. Sie müssen daher entsprechend den Regelungen der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung gemeldet werden. Legt man die Schätzung von 7 500 in Deutschland mit PIP-Implantaten versorgten Frauen zugrunde, wie dies auch der vorliegende Antrag annimmt, so hätten 75 Prozent von ihnen – das sind 5 625 Frauen – ein Implantat mit dem nicht der CE-Zertifizierung entsprechenden Silikongel erhalten. In Frankreich waren laut BfArM mehr als 1 000 Fälle von gerissenen PIP-Brustimplantaten gemeldet worden; die Gesamtzahl von Patientinnen mit PIP-Brustimplantaten liegt dort bei 30 000. Rechnet man dieses Verhältnis von Meldungen zu Implantaten auf die deutsche Zahl der PIP-Implantate um, so wären 250 gemeldete Rupturen zu erwarten. Dennoch wurden in Deutschland bis zum 22. Dezember 2011, über 14 Jahre nach dem erstmaligen Inverkehrbringen der PIP-Implantate, nur insgesamt 19 Fälle von Rupturen gemeldet, was auf ein hohes Meldedefizit hindeutet. Die Verringerung dieses Meldedefizites dient dem Schutz von Patienten und gegebenenfalls Anwendern, da die Bundesoberbehörde frühere und konkretere Produktwarnungen aussprechen kann. So hätte ein pflichtgemäßes Meldeverhalten bereits der ersten Vorkommnisse die Behörden zum Handeln veranlassen können. Die Verwendung der gefährlichen Implantate hätte schon vor Jahren eingestellt werden können. Ein pflichtgemäßes Meldeverhalten hätte verhindern können, dass weiterhin über viele Jahre hinweg weitere Tausende Frauen mit PIP-Implantaten versorgt und damit hohen Gesundheitsrisiken sowie jetzt der Explantation ausgesetzt wurden. Die tatsächliche Erfüllung der in der MPSV verankerten Meldepflicht dient der Sicherheit und dem -Gesundheitsschutz der Allgemeinheit. Daher ist zur -effektiveren Durchsetzung der Meldepflichten die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung um eine Bußgeldvorschrift zu ergänzen, die sich an der entsprechenden Vorschrift der GCP-Verordnung orientieren sollte. Gegen eine solche Sanktion zur Absicherung der Meldepflicht werden immer wieder Einwände vorgebracht. So dürfe etwa ein Arzt bei einem Vorkommnis, das entweder auf einem Produktfehler oder aber einem von ihm zu verantwortenden Behandlungsfehler beruhen kann, nicht durch die Sanktion zur Erfüllung seiner Meldepflicht und damit quasi zur Selbstanzeige verpflichtet werden. Wäre dieser Einwand tragfähig, so wäre nicht nur die Sanktion, sondern bereits die Meldepflicht selbst abzulehnen. Das Interesse eines Arztes, eine mögliche Strafverfolgung wegen Körperverletzung oder Tötung oder einen Haftpflichtfall zu vermeiden, kann nicht das öffentliche Interesse an der Sicherheit von Medizinprodukten überwiegen. Im Übrigen würde sich gerade der Arzt, der ein Vorkommnis nicht gemeldet hat, in einem möglichen Gerichtsverfahren dem Verdacht aussetzen, die Erfüllung seiner Meldepflicht zur Verdeckung eines Behandlungsfehlers unterlassen zu haben. Zwei weitere Einwände gegen eine Sanktionsbewehrung der Meldepflicht sind, dass aus Angst Meldungen vollkommen unterbleiben bzw. dass es zu einer Flut von Bagatellmeldungen kommt. Beide Befürchtungen teile ich nicht. Ein weiteres wichtiges Element ist die Überwachung durch die zuständigen Landesbehörden, die eben nicht erst dann tätig werden sollen, wenn bereits zahlreiche Menschen gesundheitlich geschädigt worden sind. Von daher ist es richtig und begrüßenswert, dass nach der neuen, im Dezember vom Bundeskabinett verabschiedeten Medizinprodukte-Durchführungsvorschrift, MPGVwV, die zuständigen Behörden anlassunabhängig zu inspizieren haben. Dabei können beispielsweise bei Herstellern, Handel und Gesundheitseinrichtungen Stichproben von Medizinprodukten genommen werden. Auch sollten Benannte Stellen zu unangekündigten Fertigungsstättenkontrollen mit Stichprobenziehungen sowohl im Fertigungsprozess als auch bereits vermarkteter Produkte verpflichtet werden. Damit dies für in der ganzen EU verkehrsfähige Produkte Wirkung entfaltet, bedarf es klarer Vorgaben im europäischen Recht. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, im europäischen Recht stichprobenartige Kontrollen direkt vor der Anwendung bzw. der Implantation des Medizinproduktes vorzuschreiben. Solche Kontrollen sind bei Arzneimitteln seit 1968 vorgesehen. Apotheker sind verpflichtet, Fertigarzneimittel stichprobenweise zu überprüfen, und das Ergebnis ist in einem Prüfprotokoll festzuhalten. Nach geltendem europäischem Recht kann der Hersteller eines Medizinproduktes der Klasse III zwischen zwei Konformitätsbewertungsverfahren wählen. Einerseits gibt es die EG-Baumusterprüfung nach Anhang III der MDD, wobei die Benannte Stelle die Produktdokumentation prüft und auch am Produkt selbst Prüfungen durchführt. Im Gegensatz dazu wird bei der EG-Konformitäts-erklärung nach Anhang II der MDD das Produkt von der Benannten Stelle nur anhand des vom Hersteller eingereichten Dossiers bewertet. Zusätzlich erfolgt eine regelmäßige Überprüfung des Qualitätssicherungssystems des Herstellers durch die Benannte Stelle. Wichtig ist, dass bei der Konformitätserklärung das Produkt selbst von der Benannten Stelle nicht geprüft wird. Im Interesse der Sicherheit von Patienten und der Vertrauenswürdigkeit europäischer Medizinprodukte sollte jedoch die Baumusterprüfung für die Klasse III obligatorisch werden. Dafür ist eine Änderung des europäischen Rechts erforderlich. Schließlich erscheint es unerlässlich, dass nicht nur die Benannten Stellen zur Meldung von Vorkommnissen an die zuständigen Behörden verpflichtet sind, sondern auch umgekehrt die Benannten Stellen von den Behörden unterrichtet werden, falls eines der von ihnen bewerteten Produkte auffällig wird. Die Arbeitsgruppe Gesundheit der CDU/CSU hat im Januar in Brüssel mit den Kollegen im Europäischen Parlament und mit Kommissar Dalli über sinnvolle -Verbesserungen des Medizinprodukterechts beraten. Schriftlich haben wir gegenüber Kommissar Dalli nochmals insbesondere auf die anwendungsnahe Stichprobennahme abgehoben. In seiner Antwort hat sich Kommissar Dalli für Stichproben und unangekündigte Audits der Benannten -Stellen ausgesprochen. Für die Überarbeitung der europäischen Richtlinien kündigt er die Stärkung der Marktüberwachung durch die zuständigen nationalen Behörden und ein europäisches Referenzlabor zur Testung von IVF-Diagnostika und Hochrisikoprodukten an. Ich habe einige Ansätze vorgestellt, die geeignet sind, ähnlichen Fällen wie dem PIP-Skandal in der Zukunft so weit wie möglich vorzubeugen. Wir werden in der christlich-liberalen Koalition und in Zusammenarbeit mit unseren Partnern auf EU-Ebene die geeigneten Umsetzungswege sorgfältig prüfen. Der heute vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist von anderer Qualität als der im Februar eingebrachte Antrag der Linken. Über einige Vorschläge kann man in eine ernsthafte Diskussion einsteigen, beispielsweise über den Aufbau von Registern. Anderen im vorliegenden Antrag erhobenen Forderungen, wie etwa dem behördlichen Zulassungsverfahren, kann ich mich nicht anschließen. Aber ich anerkenne, dass die Autoren sich bemüht haben, Schlüsse aus dem Geschehen zu ziehen und Vorschläge zu erarbeiten, die man diskutieren kann. Es wird in naher Zukunft eine Sachverständigenanhörung zu dem Antrag der Linken stattfinden, der sich allerdings darauf beschränkt, die Kostenbeteiligung von Patienten bei Folgeerkrankungen medizinisch nichtindizierter Schönheitsoperationen abzuschaffen. Dem Plenarprotokoll vom 9. Februar kann man entnehmen, dass alle anderen Fraktionen die Auffassung teilen, als einzige Konsequenz aus dem PIP-Skandal sei dies völlig ungenügend. Wir sollten daher die Zeit sinnvoller nutzen und die geplante Anhörung zu den tatsächlich relevanten Fragen des Medizinprodukterechts nach dem PIP-Skandal durchführen. Die christlich-liberale Koalition ist zu einer offenen, am Ziel der Patientensicherheit orientierten Debatte bereit. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Aktuell befinden sich etwa 400 000 Medizinprodukte auf dem Markt, jährlich gelangt eine vierstellige Anzahl dazu. Das potenzielle Gesundheitsrisiko einiger dieser Produkte ist mit dem von Arzneimitteln durchaus vergleichbar. Trotzdem gelten selbst für den Marktzugang von Medizinprodukten hoher Risikoklassen bislang andere Anforderungen als für Medikamente. Sie werden als technische Güter betrachtet und nicht als medizinische, daher wird ein CE-Siegel als ausreichend betrachtet. Mit dem Kennzeichnen erklärt der Hersteller, dass sein Produkt den geltenden Anforderungen genügt. Dafür hat er in einem sogenannten Konformitätsverfahren einer Benannten Stelle gegenüber nachgewiesen, dass die grundlegenden Anforderungen des Medizinproduktegesetzes eingehalten werden, dass das Medizinprodukt -sicher ist und dass es die ihm zugeschriebenen medizinischen Leistungen erbringt. Ein Großteil der Medizinprodukte fällt in eine niedrige Risikoklasse. Das sind etwa Spatel, Rollstühle, Verbände und Ähnliches. Bei diesen Produkten funktioniert das aktuell praktizierte Verfahren. Bei Medizinprodukten höherer Risikoklassen wie Stents, Herzschrittmacher und Endoprothesen ist zwar eine klinische Bewertung Pflicht, diese liefert aber meistens keine Informationen darüber, wie sich Medizinprodukte im menschlichen Körper verhalten. Das haben wir zuletzt bei den Metall-auf-Metall-Hüftprothesen gesehen, die im Körper giftige Metall-Ionen freisetzen, welche das Krebsrisiko erhöhen und Leber, Milz und Nieren belasten. In Zusammenhang mit den betrügerischen Handlungen eines französischen Unternehmens werden zurzeit Änderungen des Medizinprodukterechts verstärkt diskutiert, die schwarz-gelbe Regierung ist jedoch bislang untätig geblieben. Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel der Überarbeitung der Medizinprodukte-Durchführungsvorschrift. Diese wurde mit der letzten Novelle des Medizinproduktegesetzes im März 2010 beschlossen, ein Entwurf liegt seit Dezember 2011 vor, mit einer Umsetzung ist dieses Jahr nicht mehr zu rechnen. Vermutlich können wir zum Thema Medizinprodukte in dieser Legislaturperiode von der Regierung nichts mehr erwarten. Dieses Versagen der schwarz-gelben Koalition ist durch nichts zu entschuldigen. Die Fragen, die wir uns stellen müssen, sind schließlich offensichtlich: Wie können in Zukunft Betrugsversuche durch Hersteller von Medizinprodukten unterbunden, bzw. früher aufgedeckt werden? Welche grundsätzlichen Änderungen an den bestehenden gesetzlichen Regelungen zur Zulassung und Überwachung von Medizinprodukten sind notwendig, um ihre Sicherheit zu erhöhen? Die Fraktion der Grünen hat mit dem vorliegenden Antrag einige gute Antworten auf diese Fragen vorgelegt. Wir sehen es ebenfalls als notwendig an, dass das Zulassungsverfahren für Medizinprodukte der hohen Risikoklassen geändert wird. Allerdings wollen wir nicht auf die Benannten Stellen verzichten, sie verfügen über die notwendige Ausstattung und Expertise, um Hersteller und Produkte zu überprüfen. In anderen Punkten stimmen wir den Antragstellern jedoch zu. Die Erstattungsfähigkeit von neuen Produkten muss sich an ihrem Nutzen für die Patientinnen und Patienten orientieren. Die verpflichtende Veröffentlichung aller Studienergebnisse, auch der negativen, im Deutschen Register für Klinische Studien, ist sowohl im Arzneimittelbereich als auch bei den Medizinprodukten längst überfällig. Der Forderung nach einer verpflichtenden ausreichenden Produkthaftpflichtversicherung für Hersteller von Medizinprodukten hoher Risikoklassen wird von uns ebenfalls begrüßt. Ein verbindliches Register zur Langzeitüberwachung von implantierten Medizinprodukten und eine bessere Umsetzung der geltenden Meldepflichten bei Vorkommnissen im Zusammenhang mit Medizinprodukten sind auch aus unserer Sicht notwendig. Leider bleiben die letzten beiden Punkte im vorliegenden Antrag etwas unkonkret. Wir sollten uns die Gründe für unter-bleibende Meldungen ansehen und prüfen, mit welchen Maßnahmen das Meldeverhalten deutlich verbessert werden kann. Nun wurden von allen Seiten, auch von den Grünen, immer wieder Maßnahmen zur strengeren Überwachung des Herstellungsprozesses gefordert. Diese Forderung ist richtig und Änderungen sind hier dringend notwendig. Allerdings fehlen im vorliegenden Antrag Vorschläge, wie mit bereits im Markt befindlichen Produkten umgegangen werden soll. Ich erinnere Sie an die hohe Zahl bereits zugelassener Produkte. Hier schlummern immer noch potenzielle Risiken für die Patientinnen und Patienten. Auch kriminellen Unternehmen kann man nur durch unangekündigte Kontrollen und Stichproben aus verkauften Produkten auf die Spur kommen. Ein Vorschlag von Ihnen hat mich dann aber wirklich verwundert. So sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um Angaben zu implantierten Medizinprodukten auf der elektronischen Gesundheitskarte der Patientinnen und Patienten speichern zu können. Verwundert war ich nicht über die Idee an sich, die aus meiner Sicht durchaus vernünftig ist. Damit ließe sich langfristig auf einen separaten Implantat-Ausweis verzichten. Im Notfall, beispielsweise bei einer Einlieferung ins Krankenhaus, wären die behandelnden Ärztinnen und Ärzte einfacher informiert. Nein, es wundert mich, dass dieser Vorschlag von der gleichen Fraktion kommt, die in den letzten Wochen vorrangig dadurch aufgefallen ist, dass sie die fraktionsübergreifend getroffene Lösung zur Speicherung der Organspendebereitschaft auf der elektronischen Gesund-heitskarte aus Datenschutzgründen infrage stellt. Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass sich die Regierung, der es offensichtlich an guten Ideen mangelt, einige der hier präsentierten Vorschläge zu Herzen nimmt. Jens Ackermann (FDP): Im letzten Monat hatte bereits die Linksfraktion versucht, mit dem Thema der fehlerhaften Brustimplantate zu punkten. Dieser Antrag bezog sich auf die Finanzierung von Folgekosten ästhetischer Eingriffe, wie zum Beispiel des Einbaus von Brustimplantaten. Ein Antrag, der sehr ärgerlich war, da er sich ein Folgethema des Skandals herauspickte, ohne auf dessen mögliche Ursachen oder Konsequenzen einzugehen. Der von Bündnis 90/Die Grünen eingereichte Antrag geht da schon weiter. Sie fordern eine bessere Gewährleistung der Sicherheit, Wirksamkeit und des gesundheitlichen Nutzens von Medizinprodukten. Das ist schon mal eine löbliche Absicht. Leider merkt man jedoch auch diesem Antrag die Folgen aktionistischer Reflexe an. Gründlichkeit vor Schnelligkeit sollte das Prinzip sein, wenn wir die Konsequenzen aus diesem Skandal ziehen, und nicht umgekehrt. Im Antrag wird ja auch auf die kriminelle Energie des Herstellers in Frankreich hingewiesen. Aufgrund dieser eingesetzten kriminellen Energie ist die Aufarbeitung dieses Skandals zunächst eine Frage des Strafrechts. Ich wünsche mir, dass die französischen Strafgerichte hier ein Zeichen setzen, das zukünftig andere davon abhält, aus reinem Gewinntrieb die Gesundheit von Tausenden Menschen aufs Spiel zu setzen. Im Übrigen finden Kriminelle, die es darauf anlegen, immer einen Weg, selbst das beste und strengste Kontrollsystem zu überlisten. Dieser Skandal muss uns veranlassen, zu überprüfen, was bei uns besser gemacht werden muss, um in Zukunft die Wahrscheinlichkeit solch krimineller Handlungen zu verringern oder diese früher aufzudecken und die Pa-tientensicherheit insgesamt zu verbessern. Schnellschüsse aus der Hüfte, so wie seinerzeit der Antrag der Linksfraktion oder wie heute der vorliegende Antrag der Grünen, helfen uns da nicht weiter. Wir dürfen zukünftig jedoch nicht zulassen, dass durch eine Überbürokratisierung der Zulassungs- und Kontrollverfahren medizinische Innovationen langsamer als bisher zu den Patienten kommen. Denn wir müssen uns vor Augen führen, dass der Primärzweck medizinischer Produkte – dazu gehören eben auch Brustimplantate – nicht die Verschönerung des Körpers ist, sondern das Lindern menschlichen Leids und von Schmerzen. Lassen Sie mich auf den Antrag genauer eingehen. Der Antrag schießt über das Ziel hinaus. Bei dem Skandal waren Fragen der Sicherheit berührt. Sie stellen aber gleich den gesundheitlichen Nutzen von Medizinprodukten und dessen Bewertung infrage und in den Mittelpunkt der Betrachtung. Mit dem Antrag stellt der Antragsteller aufgrund der Kriminalität eines Einzelnen eine ganze Branche unter Generalverdacht. Die daraus resultierenden Reflexe sind nicht im Sinne der Versorgungsqualität und Sicherheit der Patienten. Im Antrag wird gefordert, das bestehende Zertifizierungssystem über die sogenannten benannten Stellen durch ein rein staatliches Zulassungsverfahren zu ersetzen. Damit ziehen die Antragsteller ein weiteres Mal die falschen Konsequenzen. Wir sind uns doch darin einig, dass hohe kriminelle Energie im Spiel war. Warum stellen Sie dann an die Spitze des Forderungskataloges ein neues Zulassungsverfahren? Kriminelle Energie kann man doch eher über ein revidiertes Überwachungs- und Kontrollverfahren bekämpfen. Bereits heute müssen die Hersteller von Medizinprodukten der hohen Risikoklassen sehr hohe Anforderungen erfüllen: Risikoanalyse, ein umfassendes Managementsystem, wie mit diesen Risiken umgegangen wird, klinische Prüfungen zu Sicherheit, Effektivität und Evidenz. Bereits vor über eineinhalb Jahren haben wir mit der Verordnung zur Prüfung von Medizinprodukten einen weiteren Baustein hinzugefügt, mit dem man jedoch auch nicht in der Lage ist, kriminelles Fehlverhalten auszuschließen. Das System der klinischen Prüfungen ist bei weitem nicht perfekt, aber viele Experten sagen, dass es mit dem von Arzneimitteln qualitativ ebenbürtig sei. Ein strengeres und bürokratisches Zulassungsverfahren birgt ebenso wie die geforderte Einführung einer frühen Nutzenbewertung von Medizinprodukten die Gefahr, dass innovative und hilfreiche Medizinprodukte in Zukunft langsamer auf den Markt kommen und Leid und Schmerzen verspätet lindern können. Bei der Weiterentwicklung unseres Zulassungs- und Kontrollsystems sollten das Kriterium der Versorgungsqualität und der Fähigkeit, Leiden zu mindern, auf einer Stufe mit dem Kriterium der Sicherheit stehen. Für problematisch erachtet meine Fraktion auch die letzte Forderung des Antrages, nach der die Hersteller implantierbarer Produkte zu umfassenden Produkthaftpflichtversicherungen oder vergleichbarer Deckungsvorsorge verpflichtet werden sollen. Die meisten verantwortungsbewussten Firmen haben doch bereits so etwas. Oder wollen Sie den Umfang der Versicherung erhöhen? Dann wäre es der typische Reflex der Grünen und anderer hier im Haus, die Wirtschaft möglichst stark zu belasten. Auch diese Regelung führt letztlich zu einer Einschränkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen, da Mittel, die für zusätzliche Produkthaftpflichtversicherungen und die Deckungsvorsorge benötigt werden, in der Forschung fehlen würden. Eine mögliche Verteuerung der Produkte müsste letztlich auch die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten bezahlen – mit -allen Konsequenzen für die Höhe des Krankenkassenbeitrags und die gesamte Leistungsfähigkeit des Systems. Die Forderung nach einer Pflichthaftpflicht führt uns ein weiteres Mal vor Augen, dass die Grünen den Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate nicht verstanden haben. PIP hätte eine noch so hohe Haftpflichtversicherung haben können. Diese hätte niemals gezahlt, da es sich um Betrug, um Vorsatz handelte. Auch mit dieser Forderung würde keine Verbesserung der Situation erreicht. Wenn wir über mögliche Belastungen der Hersteller sprechen, sollten wir deren wirtschaftliche, aber auch medizinische Bedeutung nicht vergessen. Wir sprechen hier über eine mittelständisch geprägte Branche, die 170 000 Menschen Arbeit bietet. Die qualitativ hochwertigen Produkte dieser Branche sind im Interesse der Patientensicherheit und der medizinischen Versorgungsqualität in Deutschland, in Europa und der ganzen Welt. Wir alle hier im Haus sind uns einig darin, dass Konsequenzen aus dem Skandal um die fehlerhaften Brustimplantate gezogen werden müssen. Uneinig sind wir uns darin, in welchem Umfang diese Konsequenzen gezogen werden müssen und wo wir im System ansetzen müssen. Lassen Sie mich als Gegenentwurf kurz meine Gedanken zu den notwendigen Konsequenzen ausführen. Wie bereits dargelegt, war es aus meiner Sicht vorrangig ein Überwachungsproblem, das diesen Skandal ermöglicht hat. Dementsprechend sollten wir zunächst hier ansetzen. Bereits heute haben die benannten Stellen die Möglichkeit, unkontrolliert die Produktionsstätten aufzusuchen – zur Kontrolle, ob das, was zertifiziert wurde, und das, was produziert wird, einander gleichen oder voneinander abweichen. Darum sollte man vielleicht zunächst bei den benannten Stellen beginnen und diese stärker beaufsichtigen bzw. vor ihrer Benennung strengere Maßstäbe anlegen. Vielleicht hätten wir danach zwar in der EU weniger als die bisher 70 bis 80, aber dafür leistungsstärkere und solche, die die Sicherheit der Medizinprodukte besser gewährleisten könnten. Auch die zuständigen Landesbehörden haben bereits heute die Möglichkeit zu unangemeldeten Kontrollen. Hier mangelt es an Koordinierung und Informationsaustausch untereinander. Vermutlich auch an der Manpow-er, um alle Kontrollmöglichkeiten auszunutzen. Was mich auch verwunderte, waren beobachtete Mängel im Meldewesen seitens der Anwender von Medizinprodukten. Hier sind nicht alle Beteiligten immer ihren vorhandenen Meldepflichten nachgekommen. Hier sehe ich erheblichen Optimierungsbedarf. Dieser sollte sich aus meiner Sicht nicht in einer Verschärfung der Meldepflicht oder einer Sanktionsbewehrung niederschlagen. Angemessener wäre dabei eine bessere Information der Anwender, zum Beispiel im Rahmen der Aus- und Fortbildung sowie durch die Fachgesellschaften. Wir sollten diesen Antrag im Ausschuss sachlich besprechen; denn er beinhaltet Dinge, die auch sinnvoll sein könnten. Ich werde mir in der Ausschussarbeit gern ein Bild dazu machen. In der jetzigen Form führt er aber nicht dazu, die Sicherheit von Medizinprodukten in Deutschland und Europa zu verbessern. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vor drei Monaten tauchten in den Medien er-schreckende Berichte auf. Hunderttausende von Frauen wurden Opfer schadhafter Brustimplantate, die auf -kriminelle Weise weltweit vertrieben wurden. Die -gesundheitlichen, psychischen und finanziellen Folgen für diese Frauen sind erheblich. Dieser Skandal hat auch hier im Parlament eine Debatte darüber ausgelöst, dass Medizinprodukte künftig deutlich strenger reguliert werden müssen. So wurden schnell Forderungen laut, dass die Messlatte für Herzklappen, Hüftprothesen und Brustimplantate ähnlich hoch gelegt werden sollte wie für Arzneimittel. Doch ganz so einfach sind die Regelungen für Zulassungskriterien und für Kontrollen nach der Zulassung von Arzneimitteln nicht auf Medizinprodukte zu übertragen. Darum müssen wir uns hier darüber unterhalten, welche sinnvollen Maßnahmen zur Verbesserung der -Sicherheit und des Nutzens von Medizinprodukten hoffentlich noch in dieser Legislaturperiode Eingang in das Medizinproduktegesetz und in die europäischen Richt-linien finden, im Interesse der Patientinnen und Patienten. Dazu sehe ich in mehreren Fraktionen positive -Ansätze, wenngleich es teilweise nicht nur im Detail -Unterschiede gibt. Die Linke meint: Die Zertifizierung könnte sinnvollerweise wie bei den Arzneimitteln durch eine Behörde und nicht durch private Unternehmen erfolgen. Und: Eine reine Dokumentenprüfung darf jedenfalls für Produkte höherer Gefahrenklasse nicht ausreichen; das Produkt selbst muss untersucht und begutachtet werden. Für Medizinprodukte der Klassen II b und III sollte eine Bewertung des patientenrelevanten Nutzens oder auch eine Kosten-Nutzen-Bewertung als Grundlage für die Erstattungsfähigkeit in der GKV erwogen werden. Schließlich muss im Zentrum stehen, was den Patientinnen und Patienten wirklich hilft. Insbesondere will die Linke strengere Kontrollen auch bei bereits eingeführten Artikeln. Staatliche Aufsichtsbehörden sollen unangemeldete Stichproben durchführen – und zwar in der gesamten Produktions- und Lieferkette, vom Hersteller über den Zulieferbetrieb bis zum OP-Tisch –, und bei höheren Gefährdungsklassen auch verdachtsunabhängig. Wenn es trotzdem zu Schädigungen kommt, muss die Regulierung patientenfreundlicher erfolgen. Erweiterungen bei der Produkthaftpflichtversicherung und auch die Einführung eines Haftungsfonds sind hier zu überlegen. Darum hat die Linke auch einen Antrag für eine schnelle Entschädigung der Opfer des PIP-Skandals vorgelegt. Durch Einrichtung von Medizinprodukteregistern – eines für alle in den Körper verbrachten Implantate und eines für alle Schadensmeldungen – könnten Unregelmäßigkeiten schneller auffallen, könnten die betroffenen Patientinnen und Patienten rascher informiert und -andere vor Schaden bewahrt werden. Wichtig wäre -dabei, dass auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ihrer Meldepflicht besser nachkommen. Zudem wollen wir die Informationspflichten der Ärztinnen und Ärzte erweitern, damit die Patientinnen und Patienten gesundheitliche Risiken durch die Medizinprodukte besser einschätzen können. Wir begrüßen, dass auch aus anderen Fraktionen eine Verbesserung der Studienlage angeregt wird. Das fordert die Linke schon seit Jahren, aber hier im Haus wurden Forderungen der Linken nach einem Studien-register und nach einem öffentlich finanzierten unabhängigen Studienfonds immer abgelehnt. Insgesamt gehen einige Überlegungen der Opposi-tionsfraktionen in die gleiche Richtung. Selbst bei der CDU/CSU wird über schärfere Kontrollen für Medizinprodukte nachgedacht. Und der französische Gesundheitsminister, der Chef der europäischen Arzneimittelaufsichtsbehörde und der oberste Arzneimittelprüfer in Deutschland fordern strengere Regelungen für Medizinprodukte. Nur Gesundheitsminister Bahr und seine FDP stehen bislang treu und tapfer an der Seite der Industrie und lehnen strengere Zulassungskriterien und Kontrollen ab. Herr Bahr, wenn demnächst die Revision der europäischen Medizinprodukterichtlinien ansteht und eine -europaweite Regelung, den Marktzugang von Medizinprodukten zu verschärfen, an Ihnen scheitert, dann -bekommen Sie vielleicht vom Verband der Medizinproduktehersteller den goldenen Herzkatheter für Ihre Verdienste um das Wohl der Gesundheitswirtschaft verliehen, aber um die Belange der Patientinnen und Patienten machen Sie sich so nicht verdient. Die Linke meint: Die Interessen der Patientinnen und Patienten haben Vorrang vor Wirtschaftsinteressen. -Gesundheit ist keine Ware! Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Offenbar muss leider immer erst etwas passieren, damit sich etwas zum Positiven verändert. Der Skandal um die mangelhaften Brustimplantate der französischen Firma PIP hat deutlich gemacht, dass das Überwachungssystem für Medizinprodukte vermutlich in ganz Europa nicht so funktioniert, wie es die Patientinnen und Patienten erwarten dürfen. Neben erheblicher krimineller Energie ist auch eine monate- wenn nicht jahrelange Gedankenlosigkeit und Verantwortungsschwäche bei vielen Behörden offenbar geworden. Spätestens durch das Marktverbot für PIP-Implantate April 2010 war den deutschen Länderbehörden bekannt, dass mit den französischen Implantaten etwas nicht stimmt. Aber erst im Dezember 2011 haben sie angefangen, sich zum Beispiel einen Überblick darüber zu verschaffen, welchen Patientinnen und Patienten eigentlich ein solches Implantat eingesetzt wurde. Natürlich ist es richtig, ausgehend von diesen Erfahrungen, die Marktüberwachung und die Kontrollen zu verbessern und den Benannten Stellen zum Beispiel die Möglichkeit zu geben, unangemeldet bei den Herstellern von Implantaten Prüfungen durchzuführen. Auf diese Weise lassen sich sicher Schlampereien oder kriminelles Treiben wirksamer verhindern. Aber werden wir damit dem Problem gerecht? Wir meinen: Nein. Die Probleme bei den Medizinprodukten sind nur zu einem Teil mangelnder Kontrolle geschuldet. Wir müssen leider feststellen: In dem ganzen System von Überwachung und Zulassung von Medizinprodukten und speziell von Implantaten steckt der Wurm drin. Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen illustrieren. Vor wenigen Tagen war in dem Fachjournal „Lancet“ ein Artikel über metallene Hüftimplantate zu lesen. Die Forscher haben in einer mehrjährigen Studie unter Einbeziehung von fast 400 000 Hüftoperationen herausgefunden, dass es bei der Verwendung dieser Prothesen vermehrt zu erheblichen Komplikationen bei den betroffenen Patientinnen und Patienten gekommen ist. Berichtet werden Zerstörungen des Knochens, Schädigungen des umliegenden Gewebes und das Versagen des Implantates. Gleichzeitig zeigten die wenigen überhaupt vorhandenen Studien, dass diese Hüftendoprothesen überhaupt keinen Vorteil gegenüber herkömmlichen Produkten haben. Im August 2010 musste ein Hersteller sein Produkt aufgrund erhöhter Revisionsraten vom Markt nehmen. Die Probleme waren dem Hersteller allerdings schon seit Jahren bekannt. Ohnehin sind die Revisionsraten bei Hüft-, aber auch bei Endoprothesen erheblich. Neuere Untersuchungen auf der Grundlage von GKV-Routinedaten zeigen, dass 3,45 Prozent aller Hüftendoprothesen innerhalb von zwei Jahren nach der Implantation ausgetauscht werden mussten. Ursächlich waren in fast 70 Prozent der Fälle mechanische Komplikationen. Unter den 390 000 im Jahr 2010 eingebauten Hüft- oder Knieendoprothesen waren immerhin 37 000 Wechseloperationen. Ein weiteres Beispiel: Im Jahre 2007 wurde in den USA eine große Studie veröffentlicht, die zeigte, dass der Nutzen von Gefäßprothesen, so genannten Stents, bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße gegenüber der alleinigen medikamentösen Therapie zumindest in bestimmten Fällen – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdig ist. Die Patientinnen und Patienten in der Studie hatten durch die Verwendung der Gefäßprothese überhaupt keinen Vorteil, weder war die Überlebensrate höher noch konnte die Herzinfarktrate gesenkt werden. Eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2006, in der es ebenso um den Einsatz von Implantaten bei Herzerkrankungen ging, konkret um so genannte Ballonkatheter, konnte ebenfalls keinen Vorteil gegenüber der medikamentösen Therapie aufzeigen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass wir uns zu wenig damit beschäftigen, welchen Nutzen bestimmte implantierbare Medizinprodukte eigentlich haben. Und ich will Ihnen noch ein drittes Beispiel nennen. Seit einigen Jahren wird zur Behandlung von Schmerzen infolge einer teilweisen oder vollständigen Wirbelfraktur sowie zur Stabilisierung der Wirbel Zement in die betroffene Körperregion gespritzt. Neuere Studien zeigen jedoch, dass bei diesem Vertebroplastie genannten Verfahren das Risiko von Frakturen in benachbarten Wirbeln ansteigt. Andere Studien zeigen, dass die schmerzlindernde Wirkung dieser Methode nicht größer ist als bei Verwendung eines Placebos. Dieses alles legt den Schluss nahe: Mit schärferer Überwachung und Kontrolle allein, wie es sich offenbar Bundesregierung und Medizinproduktehersteller gemeinsam auf die Fahne geschrieben haben, kommen wir da überhaupt nicht weiter. Es darf nicht länger sein, dass hochinvasive Herzkatheter genauso behandelt werden wie Kondome oder gar Stützstrümpfe. Prothesen, Herzkatheter und andere implantierbare Medizinprodukte sind mit ähnlichen gesundheitlichen Risiken verbunden wie Arzneimittel. Wir brauchen also ein vergleichbar gestaltetes Zulassungsverfahren wie bei den Arzneimitteln. Deshalb fordern wir, implantierbare Medizinprodukte schon vor dem Marktzugang genauer unter die Lupe zu nehmen und anstelle der CE-Kennzeichnung für diese Produkte eine zentrale Zulassung beispielsweise durch das BfArM oder die Europäische Arzneimittelbehörde einzuführen. Die derzeit von den Herstellern bei der Zulassung der Implantate vorzulegenden Studien sind überhaupt nicht ausreichend, um Auskunft über Nutzen, therapeutische Wirksamkeit und Risiken zu geben. Wir brauchen daher auch höhere Anforderungen an die Studien, die die Hersteller bei der Zulassung vorlegen müssen. Das betrifft beispielsweise die Dauer der Studien und die Anzahl der einzubeziehenden Patientinnen und Patienten. Soweit dies im Einzelfall möglich und sinnvoll ist, müssen auch randomisierte Studien zur Voraussetzung bei der Zulassung gemacht werden. Nötig ist zudem ein verbindliches Register für alle Implantate. Auch hier kann ich nicht erkennen, warum sich die Bundesregierung so vehement dagegen sträubt, ein verbindliches Register einzuführen. Die Vorteile eines solchen Registers liegen auf der Hand. In Schweden konnte die Revisionsrate nach Einführung eines solchen Registers nahezu halbiert werden. Durch eine langfristige Marktbeobachtung kann schnell erkannt werden, wenn sich bei einem Produkt die Komplikationen -häufen. In Verbindung mit einem wirksameren Vigilanzsystem für Medizinprodukte kann die zuständige Medizinproduktebehörde dann schnell die nötigen Konsequenzen ziehen und das Produkt vom Markt nehmen. In unserem Antrag sind noch weitere Vorschläge enthalten, auf die ich hier nicht vertiefend eingehen möchte. Wir brauchen beispielsweise auch eine bessere Nutzenbewertung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Es kann nicht sein, dass Gelder der solidarischen Krankenversicherung für fragwürdige Behandlungsmethoden ausgegeben werden. Wir müssen zudem gewährleisten, dass Patientinnen und Patienten vor der Implantation einer Prothese umfassend über die Risiken aufgeklärt werden. Die Bundesregierung und ganz konkret die Koalitionsfraktionen müssen nun die Frage beantworten, ob sie bereit sind, Patientinnen und Patienten durch eine umfassende Reform der EU-Medizinprodukterichtlinien wirksamer vor gesundheitlichen Risiken insbesondere durch implantierbare Medizinprodukte zu schützen. Wenn sie wie angekündigt nur ein bisschen an den Kontroll- und Überwachungsverfahren herumdoktern, setzen sie sich dem Vorwurf aus, die Interessen der Medizinproduktehersteller über die der Patientinnen und Patienten zu stellen. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reisen für Kinder und Jugendliche ermöglichen – Förderung sicherstellen und „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterentwickeln – Drucksache 17/8924 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden von Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Gabriele Hiller-Ohm, Helga Daub, Jörn Wunderlich und Markus Tressel. Marlene Mortler (CDU/CSU): Wir freuen uns, dass nach unserem Koalitionsantrag zum Kinder- und Jugendtourismus vom Januar 2012 jetzt im März auch die SPD einen eigenen Antrag zu diesem Thema vorgelegt hat. Und wir freuen uns, dass nun auch die SPD die große wirtschaftliche, pädagogische und soziale Bedeutung von Kinder- und Jugendreisen erkannt hat. Wer als junger Mensch, ganz gleich ob als Gast aus dem In- oder aus dem Ausland, die Qualitäten des Reiselands Deutschland kennenlernt, wird diese auch als -Erwachsener zu schätzen wissen. Der Jahresumsatz von Reisen in Jugendherbergen, Schullandheime, Kinderferienlager, Jugendhotels sowie Einrichtungen kirchlicher und privater Träger liegt bei 12 Milliarden Euro. Allein die 10,2 Millionen Übernachtungen in Jugendherbergen bewirken eine Wirtschaftsleistung von etwa 1 Milliarde Euro. Obwohl Kinder- und Jugendreisen helfen, den Tourismusstandort langfristig attraktiv zu halten, wird ihre -Bedeutung leider noch oft unterschätzt. Im Gegensatz zu anderen Tourismussegmenten können sie auch dazu beitragen, wichtige pädagogische Ziele zu erreichen. -Solche Reisen ermöglichen Kindern und Jugendlichen intensive Gruppenerfahrungen, das Kennenlernen der eigenen Heimat sowie den wertvollen frühzeitigen Kontakt mit anderen Ländern und Kulturen. Auch Angebote für gesunde Ernährung und Bewegung gehören zu den pädagogischen Aspekten dieser Reisen. Deshalb ist eine weitere Verbesserung der Qualität von Kinder- und -Jugendreisen eine wichtige gesamtgesellschaftliche -Aufgabe. Wir freuen uns, dass genau diese Punkte jetzt auch von der SPD in ihren Antrag übernommen wurden. Eine besondere Unterstützung sollte dem Ziel des Deutschen Jugendherbergsverbandes gelten, den wie bei Klassenfahrten leider noch sehr geringen Anteil von Migranten zu erhöhen, deren Einbindung in entsprechende Gemeinschaftserlebnisse auch gesamtgesellschaftlich wichtig ist. Wie im SPD-Antrag zu Recht ausgeführt wird, fördert die Bundesregierung bereits mit erheblichen Mitteln Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveranstaltungen, die internationale Jugendarbeit, den Bau von Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie von Jugendherbergen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich für eine noch intensivere Unterstützung bei der internationalen Vermarktung, der Vernetzung und Kooperation jugendtouristischer Angebote und den möglichen Aufbau einer Internetplattform ein. Auch die Qualifizierung von im Kinder- und Jugendtourismus tätigen Mitarbeitern und ehrenamtlichen Helfern soll weiter gefördert werden. Es soll geprüft werden, wie eine bessere Vernetzung und Kooperation bei den Anbietern jugendtouristischer Angebote erreicht und unterstützt werden kann. Die Bundesregierung soll auch an geeigneter Stelle auf die Einsatzmöglichkeiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugendtouristischen Einrichtungen hinweisen. Einige dieser Punkte, die wir in unserem Koalitionsantrag aufgelistet haben, sind im SPD-Antrag aber leider noch nicht einmal erwähnt. Und ich wundere mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, über Ihre Forderung, dass die Bundesregierung den 2002 ins Leben gerufenen „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterentwickeln soll. Denn dieser sogenannte Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus ist kein wirklicher -Aktionsplan, sondern lediglich der Titel eines im Bundestag beschlossenen Antrags der damaligen rot-grünen Koalitionsfraktionen. Es ist also kein Aktionsplan der Bundesregierung, und es gibt weder gegenwärtig noch gab es früher einmal einen entsprechenden Haushaltstitel im Bundeshaushalt. Eine Weiterentwicklung dieses Aktionsplans durch die Bundesregierung ist also gar nicht möglich. Der damalige „Aktionsplan“ beschreibt verschiedene Maßnahmen zur Qualitäts- und Quantitätssteigerung und sieht vor, dass die Bundesregierung im Tourismuspolitischen Bericht Stellung zum Stand der Umsetzung des Aktionsplans nimmt. Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung bereits auf vielfältige Weise nachgekommen. So wurden im Rahmen der -Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft zwei Grundlagenuntersuchungen zur Datenlage des Kinder- und Jugendtourismus sowie Veranstaltungen des BundesForum Kinder- und Jugendreisen e. V. unterstützt. Mit diversen Einzelmaßnahmen aus dem Kinder- und Jugendplan des -Bundes wurde die Arbeit an bundesweiten, trägerübergreifenden Fragen der Qualität des Kinder- und Jugendreisens mit jährlich bis zu 450 000 Euro gefördert. Dazu zählen Fort- und Weiterbildungsangebote, Informations- und Beratungstage sowie Publikationen. Außerdem wurde gemeinsam mit der Stiftung Deutsche -Jugendmarke die bundesweite, trägerübergreifende Klassifizierung von Kinder- und Jugendunterkünften in Deutschland gefördert. Mit dem Beschluss der Bundesländer für bundeseinheitliche Qualitätsstandards der Jugendleitercard im Juni 2009 konnte ein weiteres Ziel des Aktionsplans erreicht werden. Darüber hinaus kommen viele Maßnahmen des Bundes im Jugendbereich dem Jugendtourismus zugute. So sind im Bundeshaushalt 2012 beim Kinder- und Jugendplan des Bundes für die internationale Jugendarbeit -Zuschüsse und Leistungen an Länder und Träger und für Aufgaben der freien Jugendhilfe in Höhe von 20,3 Mil-lionen Euro veranschlagt. Für den deutsch-französischen und den deutsch--polnischen Jugendaustausch ist ein Betrag von insgesamt 15,2 Millionen Euro vorgesehen. Bis heute konnte damit rund 8 Millionen jungen Deutschen und Franzosen sowie mehr als 2 Millionen jungen Deutschen und Polen die Teilnahme an Austauschprogrammen und Einzelmaßnahmen ermöglicht werden. Auch wir wissen, dass mittlerweile nicht mehr alle Anträge für Gruppenaustauschprogramme, Einzelstipendien und andere -Projekte gefördert werden können. Es ist aber fraglich, inwieweit eine weitere, grundsätzlich sicherlich wünschenswerte Aufstockung dieser bereits erheblichen -Mittel – wie im SPD-Antrag gefordert – angesichts der angespannten Haushaltslage wirklich realistisch ist. Wir sind ja nicht in Nordrhein-Westfalen! Ich möchte noch darauf hinweisen, dass auch eine deutsch-israelische Jugendbegegnung – vom Deutschen Jugendherbergswerk organisiert – jährlich in beiden Ländern stattfindet. Sie wird ebenfalls aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans des Bundes gefördert. Außerdem werden der Bau, der Erwerb, die Einrichtung und die Bauerhaltung von zentralen oder überregionalen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie von Jugendherbergen pro Jahr mit jeweils 5 Millionen Euro unterstützt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, auch wir fordern in unserem Koalitionsantrag eine Auflistung, welche Bundesländer eigene Aktionspläne zum Kinder- und Jugendtourismus aufgestellt haben und mit welchen Maßnahmen dieser Bereich jeweils gefördert wird. Denn die Zuständigkeit für viele Punkte liegt bei den Bundesländern. Aber wir teilen nicht Ihre Auffassung, dass eine bessere Förderung des Kinder- und -Jugendtourismus nur dann gelingen kann, wenn alle Länder solche Aktionspläne aufstellen. Angesichts der Kritik der SPD an unserem Koali-tionsantrag in der Plenumsdebatte im letzten Monat sind wir enttäuscht, wie wenig Substanz der SPD-Antrag selbst enthält und wie wenig eigene konkrete Vorschläge gemacht werden. Wir hoffen, dass dies bei den Beratungen im Tourismusausschuss nachgeholt wird, damit wir gemeinsam den wichtigen Bereich der Kinder- und -Jugendreisen weiter stärken können. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Es ist gerade sechs Wochen her, dass wir hier im Plenum über Kinder- und Jugendtourismus diskutiert haben. Grundlage der damaligen Debatte war unser Antrag der Koalitionsfraktionen, mit dem wir eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt haben, mit denen wir den Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern wollen. Heute debattieren wir wieder über dieses Thema – weil inzwischen auch die SPD dieses Thema erkannt hat. Es ist gut, dass auch Sie sich jetzt diesem Thema widmen, nachdem wir im vergangenen Monat herausgearbeitet haben, welch große Bedeutung der Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland hat: sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht, wenn ich allein an über 10 Millionen Übernachtungen in Jugendherbergen mit einer Wirtschaftsleistung von etwa 1 Milliarde Euro denke, aber auch hinsichtlich der sozialen und pädagogischen Bedeutung dieses Segments für junge Menschen. Bei der damaligen Debatte hat die SPD-Fraktion groß ausgeholt und unseren Antrag in Bausch und Bogen verdammt. Angesichts der großen Sprüche, die Sie damals gewagt haben, ist das Ergebnis Ihres heute vorgelegten Antrages aber reichlich mickrig. Zunächst fällt auf, dass Sie mit finanziellen Forderungen beginnen. Dies mag alles schön und wünschenswert sein – aber Haushaltsberatungen haben wir heute nicht, und wir alle sollten uns davor hüten, unabhängig von Haushaltsberatungen, unabhängig von der Notwendigkeit, auch Finanzierungsvorschläge vorzulegen, einfach neue Erwartungen zu wecken, was alles finanziert werden könnte. Stattdessen stehen wir doch heute vor der Aufgabe, mit möglichst effizientem Mitteleinsatz möglichst viele positive Anreize zu setzen. Und es geht um inhaltliche, um qualitative Entwicklungen, nicht nur darum, möglichst viel Geld zu versprechen. Dabei leisten wir, leisten die Bundesregierung und die Koalition, im Bundeshaushalt bereits viel für den Kinder- und Jugendtourismus. Ich habe darauf bereits in der Debatte am 9. Februar hingewiesen. Meine Kollegin Marlene Mortler wird darauf noch in ihrem Debattenbeitrag eingehen. Ein wichtiges Ziel für den Kinder- und Jugendtourismus ist aus unserer Sicht eine bessere Vernetzung der Akteure. Darauf sind wir in unserem Antrag eingegangen. Dies wollen wir unterstützen, zum Beispiel auch durch einen Aufbau einer gemeinsamen Internetplattform „Jugendtourismus in Deutschland“. Dies halte ich allemal für zielführender als den Vorschlag der SPD-Fraktion, eine interministerielle Arbeitsgruppe und einen einheitlichen Ansprechpartner in der Regierung zu schaffen. Abgesehen davon, dass wir mit dem Tourismusbeauftragten, Staatssekretär Ernst Burgbacher, bereits einen einheitlichen Ansprechpartner für alle Angelegenheiten des Tourismus in der Regierung haben, der seine Arbeit sehr gut macht, müssen wir nicht mehr -Bürokratie bewegen oder in den Ministerien neue Arbeitsgruppen bilden, sondern wir müssen die handelnden Akteure in der Branche zusammenbringen und unterstützen. Darum geht es; das möchten wir befördern. Im Antrag der SPD-Fraktion vermisse ich zahlreiche Themen, die wir mit unserem Antrag aufgegriffen haben. Wir beschäftigen uns mit der inhaltlichen Fortentwicklung von Klassenfahrten, auch wenn dies die originäre Kompetenz der Bundesländer ist. Aber wenn wir uns mit dem Thema Kinder- und Jugendtourismus befassen, dann gehört dazu, dass wir entsprechende Anregungen gegenüber den Bundesländern mit ansprechen. Es geht uns auch um die Qualifizierung, um Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch der ehrenamtlichen Helfer im Kinder- und Jugendtourismus. Wir sprechen auch das Thema von Sexualität und sexueller Gewalt an. Ein sicherlich schwieriges Thema, das aber leider in der Vergangenheit spektakulär negative Schlagzeilen gemacht hat. Gerade dies ist ein wichtiger Aspekt in der Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter im Jugendbereich. Hier müssen wir die Sensibilität aller Beteiligten schärfen und die Initiativen, die es dankenswerterweise bereits gibt, unterstützen. Wir sprechen auch die Vernetzung von Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugendhilfe und Schulen an, die für uns ein wichtiges Thema ist. Außerdem thematisieren wir die Einsatzmöglichkeiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugendtouristischen Einrichtungen. Der Bundesfreiwilligendienst hat sich als Ersatz für den ausgelaufenen Zivildienst als wahres Erfolgsmodell herausgestellt und kann gerade für jugendtouristische Einrichtungen neue Perspektiven bieten. Alle diese Themen vermisse ich im Antrag der Sozialdemokraten. Stattdessen heben Sie ab auf den „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“, den es aber eigentlich gar nicht gibt. Es gibt lediglich einen Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2002, aber auch die damalige SPD-geführte Bundesregierung hat keinen eigenen Aktionsplan aufgelegt. Aus dem, was 2002 im Bundestag beschlossen wurde, ist viel umgesetzt worden. Sie beantragen lediglich, dass die Bundesregierung über die Umsetzung berichten möge. Da sind wir schon deutlich weiter. Wir haben in unserem Antrag bereits zahlreiche Maßnahmen aufgelistet, um zu zeigen, was die vergangenen Bundesregierungen und die heutige Bundesregierung für den Kinder- und Jugendtourismus leisten, auch auf der Basis des damaligen Bundestagsbeschlusses. Der SPD-Antrag enthält also nette finanzielle Versprechungen, die aber ungedeckte Schecks sind, bürokratische Vorschläge und Berichtsanforderungen. Echte Inhalte fehlen. Angesichts der Fundamentalkritik, die die SPD in der vergangenen Debatte an unserem Antrag geübt hat, ist dies ein mageres Ergebnis. Dies ist umso bedauerlicher, als Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag sehr wohl viele gute Ansätze aufgeschrieben haben, die sich mit unseren Vorstellungen decken. Schließlich sind wir in der Zielsetzung ja auch nicht auseinander, dass der Kinder- und Jugendtourismus ein wichtiges touristisches Segment darstellt, dass sich die Anstrengungen lohnen, diesen Bereich weiter zu unterstützen und fortzuentwickeln, aber dass auch bereits viel auf dem Weg ist, sowohl staatlicherseits als auch seitens der vielen Akteure im Kinder- und Jugendtourismus: seien es zum Beispiel die Jugendherbergen mit über 1 000 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, gemeinnützige Vereine und Organisationen oder Unternehmen, die sich in diesem Bereich engagieren und attraktive Angebote machen. Dies alles lohnt, in den Ausschussberatungen vertiefend über dieses Thema zu diskutieren. Dies wollen wir tun, und ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Wir sprechen heute über ein ganz bedeutendes Thema: Es geht um Kinder- und Jugendreisen. Die SPD-Fraktion hat dazu einen wegweisenden Antrag vorgelegt. Warum muss uns dieses Thema am Herzen liegen? Wir alle wissen: Reisen ist für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig. Wir SPD-Abgeordnete wollen, dass alle Kinder unabhängig vom Geldbeutel der Eltern reisen können. Klar ist: Wer schon als Kind Erfahrungen in anderen Regionen und Ländern sammeln konnte, hat einen deutlichen Bildungsvorsprung. Wenn junge Menschen durch Deutschland reisen, lernen sie ihr eigenes Land kennen. Im Ausland erfahren sie früh eine Menge über andere Länder, Menschen und Kulturen. Reisen verbindet und macht toleranter. Auch das wissen wir. Deshalb ist es so wichtig, Kindern und Jugendlichen sehr früh die Möglichkeit zu geben, sich fern von zu Hause einmal in einer neuen Rolle auszuprobieren. Das stärkt die persönliche Entwicklung und das soziale Verhalten. Das macht Kinder selbstbewusster und stark. Klassenfahrten und andere Gruppenreisen tragen auch dazu bei, dass Integration und der Zusammenhalt im eigenen Klassenverband gefördert werden. Natürlich brauchen wir für Kinder- und Jugendreisen besonders gute und pädagogisch hochwertige Angebote. Attraktive Unterkünfte in reizvoller Umgebung tragen stark zum Erfolg einer Reise bei. Zum Glück gibt es viele gemeinnützige Einrichtungen, die sich dies auf ihre Fahnen geschrieben haben. Jugendverbände, Sportvereine und Kirchen leisten hier wichtige Arbeit. Die Angebots-palette von gemeinnützigen, aber auch von gewerb-lichen Kinder- und Jugendreisen ist breit und vielfältig. Es ist beeindruckend, wie viele Einrichtungen wir in Deutschland haben. Ich zähle einige auf: 530 Jugendherbergen, 400 Naturfreundehäuser, 350 Schullandheime, 920 Häuser in konfessioneller Trägerschaft. Hinzu kommen zahlreiche Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten. Sie alle stehen für preiswerten, nachhaltigen und pädagogisch wertvollen Jugend-urlaub. Die SPD-Fraktion setzt sich dafür ein, dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig vom Einkommen der Eltern reisen können. Wir wissen, dass Kinder aus -armen Elternhäusern sehr viel schlechtere Bildungschancen haben als Kinder aus wohlhabenderen Elternhäusern. Das ist eine große Ungerechtigkeit. Nun gibt es eine Studie, die sagt, dass deutlich weniger Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten verreisen und sich dadurch nicht wie andere Kinder weiterbilden können. Dies verstärkt die Kluft bei den Chancen weiter. Das dürfen wir nicht hinnehmen! Das müssen wir -ändern! Auch die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP haben einen Antrag zum Kinder- und Jugendtourismus vorgelegt. Die Überschrift des Antrags lautet „Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern“. Stellen Sie sich vor: Ich habe mich darüber gefreut, als ich dies gesehen habe. Toll, dachte ich, die machen mal was für unsere Kinder. Als ich den Antrag dann aber gelesen habe, war ich schon nach wenigen Sätzen ernüchtert. Ich hatte erwartet, dass es um Förderung geht. So steht es ja in der Überschrift. Und wo Förderung draufsteht, muss auch Förderung drin sein! Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU und FDP, Sie machen keine Aussage darüber, wie viel Geld die Bundesregierung in den nächsten Jahren in die Hand nehmen soll, um Qualitätsangebote zu sichern und neue zu entwickeln. Besonders schlimm finde ich, dass Sie noch nicht einmal Ihre Rotstiftattacke bei den Jugendherbergen zurücknehmen. Diese Geschichte verschweigen Sie. Wir haben das nicht vergessen! Im letzten Haushalt wollten Sie die Gelder für den Bau und die Erhaltung von Jugendherbergen und Bildungsstätten um sage und schreibe 40 Prozent kürzen! Nur durch unseren kraftvollen Einsatz konnten wir dies verhindern. Gekürzt haben Sie – wenn auch nicht um 40 Prozent – dann aber trotzdem. Unglaublich ist dabei auch, dass Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass die überregionalen Jugendbildungsstätten und Jugendherbergen pro Jahr mit 5 Millionen Euro unterstützt werden. Diese Zahl ist schlichtweg falsch! Es ist viel weniger Geld. Ich fordere Sie auf: Stellen Sie dies richtig! Sie selbst sagen, die Jugendherbergen müssen ihre Häuser in Schuss halten, damit Kinder und Jugendliche sich dort wohl fühlen. Gleichzeitig hauen Sie den Bildungsstätten und Jugendherbergen aber das Geld für notwendige Investitionen weg. Das geht gar nicht! Sie streuen den Menschen Sand in die Augen. So fördern Sie den Kinder- und Jugendtourismus nicht. Zum Glück gibt es die SPD. Mit unserem Antrag bringen wir die Bundesregierung wieder auf den richtigen Weg. Wir wissen, worauf es ankommt: Ohne Moos nix los! Wir fordern erstens, den Haushaltstitel, den Sie -gekürzt haben, wieder auf 5 Millionen Euro anzuheben. Wir wollen, dass die Jugendherbergen und Bildungs- und Begegnungsstätten vernünftig planen können. Zum Zweiten fordern wir, dass die Bundesmittel für den Kinder- und Jugendtourismus in voller Höhe erhalten bleiben. Also: Hände weg vom Rotstift! Drittens. Wir wollen den internationalen Jugendaustausch stärken. Uns liegen die Beziehungen zu unseren Nachbarn Polen und Frankreich besonders am Herzen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der französischen und der polnischen Regierung hierfür das nötige Geld zur Verfügung zu stellen. Ein wichtiges Anliegen ist uns viertens, den vor zehn Jahren von Rot-Grün aufgelegten „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ fortzuführen und weiterzuentwickeln. Hiermit haben wir in den ersten Jahren viel angeschoben. Leider ist der Aktionsplan -unter Schwarz-Gelb ins Stocken geraten. Wir wollen den Motor wieder anwerfen. Nun ist ja nicht nur der Bund für einen guten Kinder- und Jugendtourismus verantwortlich. Auch die 16 Bundesländer – von Schleswig-Holstein bis Bayern – sind gefordert. Es muss eine gute Abstimmung erfolgen, und die einzelnen Aktivitäten müssen stärker miteinander verzahnt werden. Über die Fortschritte soll die Bundesregierung dann in ihrem Tourismuspolitischen Bericht regelmäßig Auskunft geben. Da ist noch viel Musik drin! Die Angebote können noch weiter verbessert werden. Gesundheit ist auch für Kinder und Jugendliche ein großes Thema geworden. Hier brauchen wir noch mehr -Angebote. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat mit ihrer Jugendaktion „GUT DRAUF“ -einen guten Aufschlag gemacht. Dann gibt es noch einen weiteren Bereich, in dem wir besser werden können. Wie sieht es mit den vielen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Betreuerinnen und -Betreuern im Kinder- und Jugendtourismus aus? Stellen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, genügend Geld und Power bereit, damit sie sich vernünftig qualifizieren und weiterbilden können? Nein, das tun Sie nicht. Auch hier muss eindeutig mehr -geschehen. Wir brauchen feste Mindeststandards für alle Veranstalter, ob gemeinnützig oder gewerblich. Fünftens ist uns wichtig, die vorhandenen Kompetenzen im Kinder- und Jugendtourismus zusammenzuführen und die verschiedenen Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung zu bündeln. Jetzt ist es so, dass viele Ministerien zuständig sind, und selbst in den einzelnen Ministerien gibt es wieder unterschiedliche Ansprechpartner. Das geht so nicht! Dieses unübersichtliche Wirrwarr muss gelichtet werden! Wir wollen, dass es -einen festen Ansprechpartner gibt, an den sich Vereine, Verbände und alle Akteure wenden können. Sie sollen sich nicht länger im Dschungel der Ministerien verirren. Wichtig ist uns auch eine bessere Zusammenarbeit der einzelnen Ministerien beim Kinder- und Jugendtourismus. Deshalb schlagen wir die Einrichtung einer -interministeriellen Arbeitsgruppe vor. Mit unseren Forderungen schaffen wir eine solide Grundlage für hochwertigen Kinder- und Jugendtourismus. Kein Kind darf dabei auf der Strecke bleiben. Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Deshalb haben wir uns dafür eingesetzt und durchgesetzt, dass ein- und mehrtägige Klassenfahrten für Kinder aus armen und einkommensschwachen Familien vom Staat bezahlt werden. Das ist uns wichtig, denn wir wollen, dass alle Kinder gute Chancen erhalten. Bildungsgerechtigkeit darf kein leeres Wort bleiben! Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat in jedem Jahr ein bestimmtes Motto. Im kommenden Jahr wird dies das „Junge Reiseland Deutschland“ sein. Kinder und Jugendliche sollen besonders angesprochen werden. Ich freue mich sehr darüber und hoffe, dass dieses Motto uns gemeinsam anspornen wird. Ich freue mich, mit Ihnen im Tourismusausschuss weiter zu diskutieren, und werbe schon an dieser Stelle: Schließen Sie sich unserem Antrag an! Helga Daub (FDP): Es gibt Beratungspunkte auf der Tagesordnung des Hohen Hauses, die sich eigentlich schon von selbst erledigen. Dieser Punkt gehört dazu. Nicht etwa, weil das Thema unwichtig ist. Der Kinder- und Jugendtourismus ist sehr bedeutsam, und deswegen hatten wir als Koalitionsparteien erst vor wenigen Wochen einen Antrag dazu eingebracht und mehrheitlich beschlossen. Vorher hatte sich der Tourismusausschuss ausgiebig damit beschäftigt, und auch die SPD hatte bei dieser Gelegenheit ihre Standpunkte vertreten. Besonders pikant finde ich allerdings, dass in der -Begründung des Antrags, der hier auf dem Tisch liegt, schon Argumente dafür gegeben werden, warum er -eigentlich obsolet ist. Dort ist beispielsweise von dem Themenjahr „Junges Reiseland Deutschland“ die Rede, das uns die Deutsche Zentrale für Tourismus auch auf der diesjährigen ITB vorgestellt hatte. Die Vielfalt der Angebote an Kinder- und Jugendreisen in Deutschland wird ebenso erwähnt wie der Aufwärtstrend bei Jugendherbergen und die steigenden Umsatzzahlen generell. Worum geht es also heute? Wieder einmal wollen die Sozialdemokraten ihre altbekannten und längst verworfenen Instrumente auspacken. Hier soll ein Haushaltstitel angehoben werden, dort sollen Bundesmittel erhöht werden, Statistiken erstellt und neue bürokratische Positionen geschaffen werden. Das alles kostet ein Heidengeld! Mit Verlaub: Wohin diese Form von SPD-Politik führt, sehen wir ja gerade in NRW. Unverändert richtig bleibt: Kinder und Jugendliche werden als bedeutende Zielgruppe für die Reisebranche häufig unterschätzt. Beim Reisen entwickeln die jungen Menschen den Blick für Neues und anderes. Die soziale Kompetenz wird gestärkt oder auch erst richtig erlernt, denn zunehmend sind die Jugendlichen in der Familie Einzelkinder. Nie mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und aufnahmebereit wie gerade in der Jugend, und gerade deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtourismus mehr in den Fokus zu nehmen. Das wir das tun wollen, ist aber längst klar. Die Initiative der DZT beweist das. Insgesamt hilft die öffentliche Hand an vielen Stellen bereits heute bei notwendigen Finanzierungen. Mit McPom, einem speziellen Angebot für Klassen- und Jugendreisen aus Mecklenburg-Vorpommern, gibt es ein Beispiel dafür, was auf Länderebene noch alles getan werden kann. An diesem Beispiel könnten sich auch andere Bundesländer orientieren und evaluieren, welche touristischen Angebote für Kinder und Jugendliche vorhanden sind und wo Verbesserungen möglich sind. „Action am Strand“, Rangertouren im Wald oder „Paddeln statt Pauken“ sind Ideen, die sich nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern umsetzen lassen. Man muss eben nur einmal genau hinsehen. Ich will mich an dieser Stelle nicht wiederholen, verweise aber auch noch einmal beispielhaft auf die Entwicklung eines einheitlichen Qualitätssiegels. Das BundesForum Kinder- und Jugendreisen hat deswegen für die Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystems -unsere Anerkennung verdient. Die positiven Rückmeldungen aus dem ganzen Land sprechen für sich. Mittlerweile sind nach Angaben des Forums über 400 Häuser in Deutschland beteiligt. Hinzu kommt nun noch eine Zertifizierung der Rahmenbedingungen für Reisebegleiter. Die bessere Vernetzung von Vermittlung steht ebenfalls bereits auf dem Programm. Richtig bleibt: Die Bundesregierung wird diesen wichtigen touristischen Bereich weiter unterstützen; -finanziell – aber auch dort, wo es gilt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Aber Gießkannenpolitik à la SPD bringt uns auch beim Kinder- und Jugendtourismus nicht weiter. Gute Ideen sind gefragt, und die waren in dem bereits beschlossenen Koalitionsantrag längst enthalten. Wir sehen deswegen überhaupt keinen Grund, jetzt diesem überflüssigen Antrag der SPD zuzustimmen. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Unsere Fraktion hält es für richtig, dass sich der Bundestag zum zweiten Mal in diesem Jahre mit dem Thema Kinder- und Jugendreisen befasst. Der Antrag der Koalition vom Februar vermittelte dazu ohnehin nur den Eindruck einer Pflichtübung anlässlich der jährlichen Internationalen Tourismusbörse. Die Linksfraktion beobachtet seit längerem, dass in diesem wichtigen Tourismussektor bei weitem nicht nur Resultate vorhanden sind, die mit der Elle des Umsatzes gemessen werden können – wie Sie es, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, meist tun. Auch wir wissen natürlich, dass 20 Prozent aller Inlandstouristen Jugendliche und junge Erwachsene sind, die der deutschen Tourismuswirtschaft jährlich zu einem Umsatz von 12 Milliarden Euro verhelfen. Das reicht uns aber nicht! Wir meinen, auch die Qualität von Kinder- und Jugendreisen, die die Koalition einseitig in die Verantwortung der Träger von Kinder- und Jugendreisen delegiert und zwischen den Zeilen ihres Antrags mit Kritik belegt, ist nicht der einzige Punkt, dem unsere ganze Aufmerksamkeit gelten muss. Insofern freuen wir uns, dass der SPD-Antrag einen Teil der wirklichen Probleme anspricht. Wir sind alarmiert, wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel der Haushalte, in denen Kinder unter 16 Jahren leben, aus finanziellen Gründen unerschwinglich sind. Dies ermittelte das Statistische Bundesamt im Rahmen der Untersuchung „Wie leben Kinder in Deutschland?“ für das Jahr 2008. Das bedeutet für rund 4 Millionen junger Menschen erhebliche Defizite an geistiger Bildung, kulturellem Austausch, Gesundheits- und Erholungsmöglichkeiten. Diese Zahlen verwundern nicht. So legte der Paritätische Wohlfahrtsverband erst unlängst dar, dass jedes siebte Kind unter 15 Jahren von Hartz IV lebt, in Ostdeutschland sogar jedes vierte. Und wenn in Deutschland jeder vierte Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor arbeiten muss, dann wirkt sich das unmittelbar auf die Familienbudgets aus. Es gehört zu den Verdiensten des BundesForum Kinder- und Jugendreisen, BuFo, im Rahmen einer umfassenden Studie wichtige soziale Aspekte des Kinder- und Jugendtourismus in die öffentliche Debatte gebracht zu haben. Danach verreisen deutlich weniger Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten – im Vergleich zu allen anderen Jugendlichen – einmal im Jahr. Gleichzeitig wurde nachgewiesen, dass die Zahl öffentlich geförderter Kinder- und Jugendreisen seit Jahren rückläufig ist. Es geht also nicht allein um Qualität auf diesem Gebiet – wofür sich im Übrigen Tausende Ehrenamtliche und oft schlechtbezahlte Hauptamtliche – Jahr für Jahr mit hohem Einsatz bemühen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die soziale Spaltung unserer Gesellschaft vor dem Tourismus nicht haltmacht und seit einigen Jahren auch im Kinder- und Jugendtourismus angekommen ist. Dem ist mit der Wiederholung des Koalitionslippenbekenntnisses zur Teilhabe aller Bevölkerungsschichten am Tourismus nicht abzuhelfen. Hier sind Taten gefragt, die zu Veränderungen führen. Und die kosten Geld! Allein mit Prüfaufträgen, Appellen, Absichtserklärungen, Anregungen und Hinweisen an Dritte, wie sie die Koalition in ihrem Antrag vom Februar inflationär verbreitete, ist wenig zu bewegen. Aber braucht man denn mehr? Wo doch die Regierung laut eigenem Antrag im Wesentlichen genug für Kinder- und Jugendreisen tut. Ich nenne das Veränderungswillen bei Verhaltensstarre. Denn die Bundesregierung tut nichts, um wenigstens ein paar der – von Trägern und Verbänden, aber auch von der Opposition – geforderten Schritte in die Wege zu leiten. Hierzu gehört unter anderem der Aufbau einer aussagekräftigen Statistik zu Kinder- und Jugendreisen, die nach unserer Auffassung in eine generell notwendige Statistik zu sozialen Aspekten des Tourismus eingebettet sein sollte. Auch hier hat das BundesForum Kinder- und Jugendreisen mit seiner Studie bereits Vorarbeit geleistet. Der SPD-Fraktion ist völlig zuzustimmen, wenn sie eine Evaluierung des „Aktionsplanes Kinder- und Jugendtourismus“ und dessen Weiterentwicklung in Zusammenarbeit von Bund und Ländern fordert. Eine ganze Reihe der in diesem Antrag gestellten Forderungen können wir unterstützen. Wie notwendig eine Bündelung der Kompetenzen im Bereich des Kinder- und Jugendtourismus und eine Verbesserung der interministeriellen und länderübergreifenden Zusammenarbeit der für Kinder- und Jugendreisen verantwortlichen Institutionen sind, hatte die Koalition selbst peinlich offenbart. So waren den Verfassern bestimmte positive Entwicklungen zum Beispiel auf dem Gebiet des Qualitätsmanagements für Jugendübernachtungsstätten überhaupt nicht bekannt. Sonst hätte man im Antrag darauf verweisen und auf eine bundesweite Übernahme dieser Erfahrungen orientieren müssen, statt allgemein über Qualität zu schwafeln. An dieser Stelle sei mir eine Frage an die Koalition und die Vertreter der Regierung erlaubt: Warum haben Sie auf den reichen Erfahrungsschatz der Akteure auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendreisen verzichtet und hinter verschlossenen Türen mit einigen wenigen den Antrag erstellt? Welches Interesse hatten Sie an einem Verzicht auf eine gemeinsame Diskussion? Beschämend kommt für mich hinzu, dass die heute Ausgeschlossenen morgen den Aktionsplan umsetzen sollen. Die Hauptaufgaben einer Regierungskoalition beim Thema Kinder- und Jugendreisen können doch nicht darin bestehen, Auflistungen zu erstellen, Bundesländer auf positive Effekte hinzuweisen und Prüfaufträge anzuregen. Die Absicht der Antragsteller war klar: Alles darf möglichst wenig, am besten gar nichts kosten! Aber sozialer Tourismus ist – wie auch der SPD-Antrag zeigt – nicht zum Nulltarif zu haben. Von der Regierungskoalition hätte man schon erfahren wollen, welche Weichen im Haushalt anders gestellt werden müssten, um allen Kindern und Jugendlichen künftig jährlich eine erlebnisreiche Urlaubsreise zu ermöglichen, und was getan werden soll, um den besorgniserregenden Trend des Rückgangs öffentlich geförderter Kinder- und Jugendreisen umzukehren. Vielleicht können wir heute dazu etwas erfahren? Wie wäre es, wenn sich die Bundesregierung zu einer konzertierten Aktion gemeinsam mit den Bundesländern unter dem Motto „Alle Familien und Kinder sollen reisen können!“ entschließen könnte? Es ist doch bekannt, dass sich bereits sieben der sechzehn Bundesländer von der Förderung von Familienreisen verabschiedet haben. Wir möchten an dieser Stelle einige weitere Forderungen und Vorschläge an die Bundesregierung richten, die unmittelbar aus der Tätigkeit einer Reihe von Trägern für Kinder- und Jugendreisen resultieren und die über die Forderungen der SPD hinausgehen. Dazu gehört: den Anspruch auf Kinder- und Jugendreisen im SGB festzuschreiben und die entsprechenden Mittel dafür bereitzustellen; den „Aktionsplan Kinder- und Jugendreisen“ zu evaluieren und fortzuschreiben; die Mittel für individuelle und institutionelle Förderung von Kinder- und Jugendreisen aufzustocken; darunter fällt auch, Klassenfahrten wieder in der schulischen Bildung zu verankern und die Lehrer entsprechend vorzubereiten; die Qualifizierung von Begleitern im Bereich Kinder- und Jugendreisen, die sich um Kinder und Jugendliche mit Behinderung kümmern, besonders zu unterstützen; pädagogisch wertvolle Programme für Kinder- und -Jugendreisen zu fördern, breiter anzuwenden und in diesem Zusammenhang den Erfahrungsaustausch zu intensivieren; die Qualitätsentwicklung im Kinder- und Jugendtourismus durch die Einführung gesetzlicher Mindeststandards auf der Grundlage bereits vorliegender Erfahrungen zu stärken; Grundlagen für die wissenschaftliche Begleitung von Kinder- und Jugendreisen zu schaffen; die Inklusion auf dem Gebiet von Kinder- und Jugendreisen umfassend zu fördern und die dafür erforderlichen materiellen und finanziellen Voraussetzungen zu schaffen; politische Lösungen für die Sicherung der erforderlichen Arbeitsplätze im Bereich Kinder- und Jugendreisen im Zusammenhang mit der Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen zu schaffen. Auf welchen Boden werden wohl diese Forderungen bei der Koalition fallen? Wer sich dem internationalen Trend des Sozialtourismus mit dem Argument verweigert, Deutschland tue bereits genug, damit auch Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten reisen können, bei dem werden sie sicher auf taube Ohren stoßen – nicht aber in der Öffentlichkeit, die die Debatten des Bundestages verfolgt. Nicht nur die Linken waren es, sondern auch der Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU, der die Mitgliedstaaten seit längerem auf ihre Verantwortung für die soziale Dimension des Tourismus hinweist. Wir als Linksfraktion unterstützen deshalb den Antrag der SPD, weil wir nicht hinnehmen wollen, dass sich im Tourismus eine Zweiklassengesellschaft etabliert und verfestigt, nur noch jede zweite Familie verreisen kann und Erholungsurlaube immer kürzer werden. Ihnen von der Regierungskoalition kann ich auf den sogenannten guten Weg nur mitgeben: Greifen Sie die Vorschläge und Forderungen der Opposition auf, und stellen Sie damit unter Beweis, dass Sie den europäischen Zug des Sozialtourismus noch nicht völlig verpasst haben. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Tourismuspolitik im Bundestag zeigt immer wieder, dass wir uns über Parteigrenzen hinweg einigen können. So war das in der Vergangenheit auch beim Kinder- und Jugendtourismus, wo stets das Interesse an interfraktionellen Verhandlungen bestand. Vonseiten der grünen Bundestagsfraktion besteht dieses Interesse auch weiterhin, nicht zuletzt, weil wir mit dem Aktionsplan eine erfolgreiche Basis im Jahr 2002 gelegt haben. Die erhobenen Zahlen und Erkenntnisse, mit denen wir heute argumentieren, sind maßgeblich darauf zurückzuführen. Ich hoffe, dass die Initiative der SPD dazu führt, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und ein politisches Signal aus der Mitte des Deutschen Bundestages zu senden. Der Antrag der Koalition hat eine schöne Prosa, aber einen – um es ganz freundlich zu formulieren – ausbaufähigen Forderungsteil. Aber das soll nicht heute im Fokus stehen. Denn der heutige Antrag der SPD geht in seinen Forderungen schon weiter. Das zeigt: Die Zuwendung aus der Opposition kann nur guttun. Wir sehen jedoch weitere Punkte, die wir gerne gemeinsam mit Ihnen diskutieren würden. Denn es fehlen weiterhin einige wichtige Zielstellungen. Der vorliegende Antrag der SPD weist zumindest in der Begründung darauf hin, dass wir eine soziale Dimension zu beachten haben. Einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge besteht für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland die Gefahr, nicht am Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen zu können. Betroffen von Armut sind oft junge Menschen, die in Familien leben, in denen die Eltern arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen, welche einen Migrationshintergrund haben, welche kinderreich sind oder die aus Alleinerziehenden bestehen. Die Teilhabe am Reisen unterstützt jedoch eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Über die positiven Effekte von Kinder- und Jugendreisen besteht aber ohnehin Konsens. Deshalb lassen sie uns dieses Ziel gemeinsam erreichen. Wenn wir es denn wirklich ernst meinen, müssen wir gemeinsame Antworten finden, anstatt uns im politischen Klein-Klein zu streiten. Ich muss auch darauf aufmerksam machen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in den Ländern hier entscheidende Rollen einnehmen. Es wäre also dringend geboten, im Rahmen einer Bund-Länder-Koordinierung für gemeinsame Ziele zu werben. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass es wichtig wäre, wenn alle Fraktionen des Deutschen Bundestages eine solche Initiative unterstützen würden. Sie kennen die Mehrheitsverhältnisse in den Ländern. Es wäre also nicht allein des politischen Prozesses wegen äußerst hilfreich, hier interfraktionell zu agieren. Ich habe es vor wenigen Wochen gelassen, und ich unterlasse es auch heute, genauer auf den Antrag einzugehen. Dazu bleibt in den Ausschüssen genug Zeit. -Stattdessen möchte ich neben der Bedeutung eines interfraktionellen Antrags auch die Ziele grüner Politik darlegen. Wir wollen, dass auch Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien am Tourismus teilnehmen können. Das betrifft mehr als 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Sie nehmen schon heute deutlich weniger an Reisen teil. Auch öffentlich geförderte Kinder- und Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext von Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die internationale Jugendarbeit seit den 1990er-Jahren rückläufig. Es wundert daher nicht, dass die Urlaubsintensität der Deutschen bis zu 13 Jahre ein Rekordtief seit seiner Erfassung erreicht hat. Um dem wirkungsvoll zu begegnen, helfen keine Prüfaufträge. Da hilft nur gemeinsames Agieren! Wir brauchen zudem Maßnahmen im Bereich Ernährung, Verpflegung, Gesundheitsvorsorge, Prävention und nachhaltiger Bildung. Heutzutage gibt es doppelt so viele übergewichtige sowie adipöse Kinder und Jugendliche wie vor 20 Jahren. Wir müssen auch Antworten auf den „Sauftourismus“ finden. 35 Prozent der jungen Erwachsenen als auch 35 Prozent der Jugendlichen ohne Begleitung wählen Spaß-, Fun- und Partyurlaub. Was wir brauchen, ist eine Sensibilisierung für bundesweite Qualitätsstandards. Höchstens 5 Prozent der Unterkünfte sind mit dem Qualitätssiegel Kinder- und Jugendreisen zertifiziert. Weitere Siegel sind „QMJ Sicher Gut!“, „Mit Sicherheit pädagogisch!“ und „GUT DRAUF“. Sie alle sind kaum bekannt. Qualität und Nachhaltigkeit gehören zusammen. Doch knapp 50 Prozent der Schüler fällt nichts zum Thema Nachhaltigkeit ein, und nachhaltige Angebote im Kinder- und Jugendreisebereich liegen unter 10 Prozent. Wenn wir den Kinder- und Jugendreisesektor stärken wollen, müssen wir seine zunehmende ökonomische Bedeutung in den Vordergrund stellen. Das kann allerdings zu einer wachsenden Kommerzialisierung des Sektors führen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders problematisch, wenn gemeinnützige Träger unter einer dramatischen Senkung öffentlicher Förderung um 30 Prozent leiden. Wir brauchen auch Kenntnisse über den Zustand der Einrichtungen im Kinder- und Jugendreisebereich. Es herrscht aber nicht nur Unwissenheit über den Zustand der Einrichtungen, es fehlen auch weiterhin geeignete Maßnahmen. Das Einzige, was wir quantifizieren können, ist die Zertifizierung der Häuser: Nur 300 von 6 000 bis 8 000 sind zertifiziert. Wir haben also einiges vor uns. Die Qualifizierung der meist ehrenamtlichen Betreue-rinnen und Betreuer inklusive einer Bescheinigung ist ebenso vonnöten wie der bundesweite Erwerb der Jugendleitercard. Seit Juni 2009 gibt es bundeseinheitliche Qualitätsstandards der Jugendleitercard, und mittlerweile besitzen circa 300 000 Ehrenamtliche das Dokument. Das müssen wir weiter konstruktiv begleiten. Über die internationale Dimension ist bislang wenig gesprochen worden. Ein Ausbau der Beziehungen zu den EU-Staaten und den Nachbarländern ist aber wichtig. Durch das EU-Aktionsprogramm „JUGEND“ wurden von 2006 bis 2010 13 Millionen Euro für Deutschland bereitgestellt. Es werden auch etwa 400 000 Jugendliche durch Förderprogramme des Familienministeriums erreicht. Dazu muss man in diesem Zusammenhang über Stiftungen, Erasmus, InWEnt gGmbH, DED, Auslands-BAföG, Freiwilligendienstprogramme und vieles mehr diskutieren. Der Austausch von Kinder und Jugendlichen, insbesondere von Schulklassen muss gestärkt werden. Ein Wettbewerb, den man mit positiven Zielen wie Nachhaltigkeit, Qualität, Ernährung, Bewegung etc. verbinden sollte, würde auch die Kinder und Jugendlichen bei der Ausgestaltung einer solchen Reise unterstützen und sie spielerisch lehren, sich damit auseinanderzusetzen. Das betrifft im Übrigen etwa 2 Millionen Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen einer Schulfahrt pro Jahr verreisen. Das bringt etwa einen Umsatz von 300 Millionen Euro. Doch laut Experten ist auch hier die Tendenz fallend. Ich komme zum Schluss: Der Kinder- und Jugendtourismus steht erst am Anfang einer notwendigen (Weiter-) Entwicklung. Das Ziel, allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am Reisen zu ermöglichen, ist noch lange nicht erreicht. Lassen Sie uns zusammenarbeiten sowie konstruktiv und erfolgversprechend auf dieses Ziel hinarbeiten. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8924 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des aufenthalts- und freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs – Drucksache 17/8921 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Da?delen, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europarecht beim Ehegattennachzug umsetzen – Drucksache 17/8610 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir nehmen auch hier die Reden zu Protokoll. Das betrifft die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Sevim Da?delen und -Memet Kilic. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Als der SPD-Kollege Dieter Wiefelspütz vor wenigen Wochen bei einer Veranstaltung mit vielen Leitern der Goethe-Institute aus aller Welt im Rahmen einer Podiumsdiskussion Ihre Initiative zur Abschaffung der verpflichtenden Deutschkenntnisse vor dem Ehegattennachzug präsentierte, da war die Reaktion völlig eindeutig: Kopfschütteln, bei einigen Entsetzen. Nach der Veranstaltung kamen etliche von diesen Leitern der Goethe-Institute zu mir und sagten ganz klar, dass sie zwar nicht Stammwähler der CDU/CSU seien, aber dass wir mit diesem Instrument der Vorintegration einen sehr wichtigen Schritt für einen wirklich nachhaltigen Integrationsprozess unternommen haben und sie deshalb für das Vorgehen und den Kurswechsel der SPD kein Verständnis haben. Nur zur Erinnerung: Wir haben in der Zeit der Großen Koalition die verpflichtenden Deutschkenntnisse vor dem Ehegattennachzug gemeinsam eingeführt. Die SPD nimmt jetzt Abschied von einer erfolgreichen Neuausrichtung in der Integrationspolitik. Sie liefern mit Ihrem Gesetzentwurf und vor allem mit Ihrer Begründung dafür einen integrationspolitischen Offenbarungseid ab. Frei nach Margot Käßmann: Nichts ist gut in Ihrem Antrag, und vor allem stimmt nichts von den Argumenten, mit denen Sie ihn begründen. Wenn man das liest, was Sie da aufgeschrieben haben, könnte man glauben, Sie seien in einen langjährigen integrationspolitischen Tiefschlaf verfallen. Ihr zentrales Argument lautet: Die nachziehenden Ehegatten können Deutsch doch im Inland nach ihrem Umzug lernen. Das ist nun wirklich abwegig. Unsere zentrale Überlegung in der Zeit der Großen Koalition für die Einführung des Sprachnachweises war doch gerade die Erfahrung aller, die sich in Sachen Integrationskursen auskennen, dass wir nun leider gerade die, die es am nötigsten hätten, mit unserem Angebot nicht erreichen. Das sind doch gerade die, die in abgeschotteten Verhältnissen leben und in deren Lebensalltag Deutsch leider keine Rolle spielt. Das sind gerade die Familien, in denen auch die in Deutschland geborenen Kinder aufwachsen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, wodurch sie von vornherein schlechtere Chancen in Schule und Ausbildung haben. Das können wir uns angesichts unserer demografischen Entwicklung aber nicht mehr leisten. Weil es uns um ein echtes Zusammen- und nicht Nebeneinanderleben geht, müssen wir in jede Migrantenfamilie die klare Botschaft aussenden: Ohne Deutsch geht es nicht! Es ist sehr unehrlich, wenn Sie in der Begründung Ihres Antrags darauf verweisen, dass der Besuch der Integrationskurse verpflichtend sei. Das ist theoretisch richtig. Sie wissen aber genauso gut wie ich, dass wegen des EU-Assoziierungsabkommens und aus anderen rechtlichen Gründen es praktisch nicht möglich ist, einen Ehegatten wieder des Landes zu verweisen, weil er seiner Pflicht zum Besuch eines Integrationskurses nicht nachgekommen ist. Insofern ist die Verpflichtung ein eher stumpfes Schwert. Und Sie wollen es in der Praxis doch auch gar nicht anwenden: Es ist der Gipfel der Unehrlichkeit, wenn Sie jetzt plötzlich davon sprechen, dass mit der Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre 2011 die Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtung zum Besuch des Integrationskurses „effektiver wurde“, wie Sie jetzt plötzlich in ihrem Antrag schreiben. Als wir die letzte Änderung des Aufenthaltsgesetzes im vergangenen Jahr debattiert haben, da haben Sie genau das noch kritisiert und uns vorgeworfen, wir würden unsere ausländischen Mitbürger mit Katalogen von Sanktionen traktieren. Ihr Antrag und Ihre Argumentation sind von vorne bis hinten falsch und unehrlich. Es ist ebenso nur schwer erträglich, wie Sie mit der Frage umgehen, ob es denn verfassungsrechtlich zulässig sei, von den nachziehenden Ehegatten vor der Einreise einfache Deutschkenntnisse zu verlangen. Ich habe noch sehr genau im Ohr, wie diejenigen in der SPD, die schon immer für eine andere Ausländerpolitik standen, wie Herr Edathy etwa, uns prophezeit haben, wir würden mit diesem Instrument sowieso vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Das Gegenteil ist eingetroffen: Die Karlsruher Richter haben dieses wichtige Instrument der Integration und der Verhinderung der Zwangsehe für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Das erwähnen Sie am Rande Ihres Antrags und schreiben dann, die eigentlich zutreffende Auffassung hätten die von Ihnen in der Anhörung bestellten Sachverständigen vertreten, die unsere Vorschrift für verfassungswidrig erklärt hätten. Zu Deutsch: Ein Professor und eine Verbandsvertreterin legen das Grundgesetz zutreffender aus als das Bundesverfassungsgericht. Da fällt mir der zutreffende Spruch ein: Ideologen sind Menschen, die sich auch von Tatsachen nicht beirren lassen. Das alles wäre ja nicht ganz so schlimm, wenn Sie nicht Ihre ausländerpolitische Ideologie auf dem Rücken insbesondere von Frauen, aber auch von vielen jungen Männern austragen würden, die das Angebot der Goethe-Institute und vieler anderer Schulen und Sprachkursanbieter dankbar annehmen. Das war ja gerade das Ergebnis der Tagung der Leiter der Goethe-Institute, von der ich eingangs berichtet habe: Es gab keinen Einzigen, der nicht gesagt hätte, das sei richtig, was wir an Maßnahmen der Vorintegration beschlossen hätten. Die Sprachkurse sind deshalb wertvoll, weil unsere zukünftigen Mitbürger eben nicht nur die deutsche Sprache erlernen, sondern auch sehr viel über unser Land, über Lebensgewohnheiten, unsere Kultur und unsere Gesetze erfahren. Durchgehend wird uns berichtet, dass die Teilnehmer für die Vorbereitung auf das ihnen doch so fremde Land dankbar sind. Was soll die abwegige Frage nach belastbarem empirischem Material, wie viele Zwangsehen denn nun konkret verhindert worden sind? Sie wissen ganz genau, dass es solche Statistiken naturgemäß nicht geben kann. Aber die Berichte der oftmals ja weiblichen Kurslehrer sind eindeutig und sie sind positiv. Sie berichten auch von einer erstzunehmenden Zahl von jungen Frauen, die absichtlich durch die Prüfung fallen, um nicht nach Deutschland verheiratet zu werden. Es muss doch eigentlich auch für jedermann nachvollziehbar sein, dass die besten Hilfs- und Beratungsangebote in Deutschland völlig leerlaufen, wenn eine Frau sich am Telefon noch nicht einmal Hilfe holen kann, wenn sie familiärer Gewalt ausgesetzt ist. Natürlich ist es ganz klar ein wirksames präventives Mittel gegen Zwangsehen, wenn die in Deutschland lebenden und meist fundamentalistisch geprägten Familien wissen: Da kommt eine junge Frau, die kann Deutsch, und sie weiß um ihre Rechte und unsere Gesetze. Es ist völlig unverständlich, dass Sie jungen Frauen, die wir stärken möchten, denen wir Selbstvertrauen vor dem für sie oftmals schwierigen Umzug nach Deutschland geben, diese Unterstützung verweigern wollen. Es ist außerdem wirklich dreist und unehrlich, wenn Sie die Ungleichbehandlung zwischen den Frauen, denen wir einfache Deutschkenntnisse abverlangen, und solchen Frauen beklagen, die aus Ländern stammen, mit denen Visafreiheit besteht. Es sind die Vertreter der SPD bei den damaligen Koalitionsverhandlungen gewesen, der Kollege Wiefelspütz und unser damaliger Kollege Bürsch, die genau auf diese Regelung gedrängt haben. Ihre Argumentation war damals, dass wir, wegen des schon seinerzeit von Ihnen beklagten mangelnden Zuzugs von hochqualifizierten Arbeitskräften, mit den verpflichtenden Deutschkenntnissen für die Ehegatten eine weitere Hürde für die Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt aufbauen würden. Wenn Sie heute in Ihrem Antrag schreiben, dass von der Staatsangehörigkeit dieser nachziehenden Ehegatten nicht automatisch auf einen geringeren Integrationsbedarf geschlossen werden kann, dann haben Sie völlig recht. Aber das war damals gerade unser Argument, das Sie nicht gelten lassen wollten. Von mir aus können wir diese Privilegierung sofort aufheben, weil es in der Tat widersprüchlich ist, dass eine Türkin ohne Deutschkenntnisse zwar nicht zu einem Türken nachziehen dürfte, aber zu einem Japaner. Diesen Widerspruch hat uns aber die SPD in den Koali-tionsverhandlungen eingebrockt. Die CDU/CSU wollte das noch nie! Sie dramatisieren auch die angeblichen Probleme beim Spracherwerb im Ausland. In nahezu allen Hauptherkunftsländern gibt es auch in kleineren Städten Sprachkursangebote. Gerade im Falle der Türkei hat eine Reihe von Rückkehrern aus Deutschland sich durch die Gründung kleiner Sprachschulen sogar eine wirtschaftliche Existenz aufgebaut. Die sehr verzweigten familiären Netzwerke führen auch dazu, dass es kein Problem darstellt, einen gewissen Zeitraum bei Verwandten in größeren Städten zu leben und dort Deutsch zu lernen. Es gibt vielfältige mediale Sprachkursangebote, die von den in Deutschland lebenden Ehegatten zur Verfügung gestellt werden können, und auch die Deutsche Welle bietet im Internet einiges. Es ist auch kein Versagen unserer Visastellen im Ausland, in denen hochprofessionell gearbeitet wird, wenn zwischen dem Besuch des Sprachkurses und dem Umzug nach Deutschland zum Teil mehrere Monate liegen und, wie Sie in Ihrem Antrag erwähnen, die Deutschkenntnisse wieder verloren gehen. Zunächst einmal ersetzt der Spracherwerb im Ausland ja nicht die Verpflichtung zum Besuch eines Integrationskurses im Inland. Das Niveau, das im Ausland erreicht werden muss, ist A1 nach dem europäischen Referenzrahmen. Das Niveau, das am Ende des Integrationskurses erreicht worden sein soll, ist B1, wie Sie ja sehr genau wissen. Wir müssen einfach von den Familien verlangen, dass sie den Umzug nach Deutschland etwas gewissenhafter vorbereiten und alle Dokumente vorliegen, wenn der Ehegattennachzug beantragt wird. Die Unvollständigkeit der Dokumente ist in aller Regel das Problem. Im Grunde sollte der Sprachkurs erst zu einem Zeitpunkt begonnen werden, zu dem alle anderen notwendigen Unterlagen vorliegen. Dann kann es zwischen Ende des Sprachkurses und Erteilung des Visums zur Einreise nach Deutschland sehr schnell gehen. Ansonsten sind die Kommunen vor Ort aufgefordert, für einen schnellen Besuch von Integrationskursen nach dem Umzug zu sorgen. Was Sie hier vortragen, sind doch alles vorgeschobene Argumente. Sie wollen mit Ihrer Haltung jetzt bei den Landtagswahlen und später bei der Bundestagswahl, insbesondere bei türkischstämmigen Wählern, Stimmen abgreifen. Das ist das einzig wahre Ziel, das hinter Ihrem Antrag steckt. Das ist nun wirklich schlimm: Auf der einen Seite hat die SPD nicht den Mumm, Herrn Sarrazin aus der SPD auszuschließen, weil man weiß, dass er eben gerade auch in der SPD-Wählerschaft auf Resonanz stößt, und die will man nicht verprellen. Auf der anderen Seite -wollen Sie gleichzeitig die Stimmen von Integrationsverweigerern einkassieren, denen die Verpflichtung zum Deutschlernen ein Dorn im Auge ist. Das hat alles mit seriöser Politik nichts mehr zu tun, und deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Rüdiger Veit (SPD): Zwar ist richtig: Die Regelung des Spracherwerbs vor Ehegattennachzug, die wir mit unserem heute eingebrachten Gesetz abschaffen wollen, wurde unter der Großen Koalition eingeführt und somit notgedrungen auch von uns mitgetragen. Viele von uns – ich gehörte auch dazu – haben aber insbesondere die Einführung des Kriteriums Spracherwerb damals schon für falsch gehalten und das an dieser Stelle wiederholt zum Ausdruck gebracht. Dass die meisten von uns dem Gesetz dennoch zugestimmt haben, lag einzig und allein darin, dass die Kompromisse, insbesondere die Verschärfungen im -Familiennachzug, der „Preis“ für die erstmalige Einführung einer gesetzlichen Altfall- und Bleiberechts--regelung waren. Die Einführung dieses Spracherwerbserfordernisses im Jahre 2007 sollte neben der Verbesserung der Inte-grationschancen für nachziehende ausländische Ehegatten vor allem ein Mittel zur Bekämpfung von Zwangs-ehen sein; so lautete die Begründung der CDU. Heute, fünf Jahre nach Einführung der Regelung, fehlen weiterhin jedwede empirische Belege dafür, dass dieses Ziel mit der Einführung des Spracherfordernisses vor Einreise erreicht worden wäre. Ein Gesetz aber, dessen erklärtes Ziel nicht erreicht wird, hat keine Berechtigung und muss entweder abgeschafft oder modifiziert werden. Das geltende Recht führt zudem in vielen Fällen zu unverhältnismäßigen und, wie wir meinen, nicht mit Art. 6 Grundgesetz vereinbaren Härten. So gibt es in vielen Ländern gar keine Goethe-Institute, oder die Institute sind zu weit vom Wohnort entfernt. Dies wiederum kann zu unüberwindbaren finanziellen Belastungen führen, wenn aufgrund der großen Entfernung zum Wohnort eine Wohnung in Kursnähe angemietet und gleichzeitig die Arbeitstätigkeit am Wohnort aufgegeben werden muss. Dazu kommen dann noch die Kurskosten selbst, die gemessen an den Lebenshaltungskosten im Herkunftsland häufig recht hoch sind. Dabei wird meist aus dem Blick verloren, dass es sich hier nicht allein um aus der Türkei stammende nachzugswillige Ehegatten handelt. Als -Beispiel möchte ich vielmehr eine in Vollzeit arbeitende Fabrikarbeiterin an der ostsibirischen Beringsee nennen. Sie hat bis zum nächsten Goethe-Institut in Novosibirsk eine Anfahrt von 6 000 Kilometer Luft-linie. Sollte sie dann noch ein Kind alleine erziehen, steht sie endgültig vor unüberwindbaren Hindernissen. Nicht erst seitdem der EuGH das in seinem Urteil vom 4. März 2010 in der Rechtssache Chakroun – C-578/08 – festgestellt hat, ist es so, dass „der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden“ darf, „die das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde.“ Genau das ist jedoch geltende Rechtslage bei uns und mit Art. 6 Grundgesetz und Art. 8 EMRK nur sehr schwer vereinbar, die beide Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellen. Zwar haben das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass die Regelung des Spracherfordernisses vor Einreise nach Deutschland sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist. In einem Kostenbeschluss wurde vom Bundesverwaltungsgericht kürzlich jedoch angedeutet, dass diese -nationale Rechtsprechung im Lichte der EuGH-Entscheidung wohl nochmals überprüft werden müsse. In den vergangenen fünf Jahren haben Berichte von Rechtsanwälten und Verbänden sowie zahlreiche Petitionen von Einzelpersonen gezeigt, dass es viele Menschen gibt, denen das Leben ihrer Ehe aufgrund des für die Zusammenführung geforderten Spracherfordernisses auf unbestimmte Zeit unmöglich gemacht wird. Dieser konkret gelebten und von Menschen in unserem Land täglich erfahrenen Not können und wollen wir uns nicht verschließen. Dennoch sagen wir deutlich: Ausländische Ehepartner müssen Deutsch lernen, aber eben erst hier in Deutschland – und zwar mit dem Ziel der Prüfung des zwei Stufen höheren Sprachniveaus B1. Nur so können sie sich in Deutschland integrieren. Das Aufenthaltsgesetz verpflichtet sie, sich unverzüglich nach ihrer -Einreise in Deutschland zu einem Integrationskurs anzumelden. Das ist geltendes Recht, und das soll auch so bleiben. Aber wir wollen das Erfordernis des Spracherwerbs vor Einreise auch noch aus einem anderen Grund abschaffen: Es führt zu großen Ungleichbehandlungen und insbesondere zu einer deutlichen Inländerdiskriminierung. Wenn ein in Deutschland lebender Ausländer zu der Gruppe von Ausländern gehört, die visumsfrei nach Deutschland einreisen dürfen, dann muss der nachziehende Ehegatte keine Deutschkenntnisse bei Einreise nachweisen. Wenn also beispielsweise ein Türke zu -seiner in Deutschland lebenden koreanischen Ehefrau ziehen möchte, muss er vor der Einreise kein Deutsch lernen; der türkische Ehemann, der mit seiner in Deutschland lebenden deutschen Ehefrau zusammen--leben möchte, muss dies jedoch vor Einreise tun. Aus dem EuGH-Urteil Metock folgt, dass die EU-Mitgliedstaaten schon seit 2008 im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie keine eigenen -Regelungen die Familienzusammenführung betreffend einführen können. Die brasilianische Ehefrau eines in Deutschland lebenden Franzosen muss demnach keinen Deutschtest vor Einreise machen, die brasilianische Ehefrau eines Deutschen kann jedoch nur mit Sprachkenntnissen zu ihrem Ehemann ziehen. Und schließlich – so berichten Verbände und Sprachschulen – vergehen zwischen Bestehen des Deutschtests im Ausland und der Erteilung des Visums und der Einreise nach Deutschland häufig Monate. In dieser Zeit vergessen viele Menschen das Erlernte wieder, weil sie es nicht anwenden können. In Deutschland beginnen sie dann nicht selten bei Null, und viel Mühe und Zeit sind für wenig Nutzen investiert worden. Aus den dargelegten Gründen halten wir das Sprach-erwerbserfordernis vor Einreise für ungeeignet, überflüssig, mehrfach diskriminierend und europarechtswidrig. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die SPD hat in gemeinsamer Regierungskoalition mit der Union den Sprachnachweis für den Ehegattennachzug eingeführt. Dass sich die SPD jetzt, ein halbes Jahrzehnt später, davon distanziert, ist wohl als reine Taktik zu bewerten. Sollte die SPD wieder einmal regieren, wird sie anders reden als jetzt in der Opposition. Dass von Personen, die ein Visum zum Zwecke des Ehegattennachzuges nach Deutschland beantragen, die Fähigkeit zur Verständigung in deutscher Sprache „auf einfache Art“ verlangt wird, ist nicht nur zumutbar, sondern sogar ganz im Sinne der Zuwanderer. In der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich des Erwerbs und des Nachweises der erforderlichen Sprachkenntnisse gab es anfänglich Berichte über eine Anwendungspraxis, die die Antragsteller vor zusätzliche, in Einzelfällen unzumutbare Hürden stellt. Inzwischen hat eine Evaluierung ergeben, dass es mittlerweile vielfältige Möglichkeiten gibt, Deutsch im Herkunftsland zu lernen. So hat sich die Anzahl der öffentlichen und privaten Sprachlernzentren erhöht. Was die Abnahme der notwendigen Sprachprüfung vom Niveau „Start 1“ betrifft, sind neben den Goethe-Instituten eine Reihe anderer Institutionen, wie telc, eine Tochter des Deutschen Volkshochschul-Verbands e. V., prüfungsberechtigt. Diese sind insbesondere auf dem Balkan und in der Türkei vertreten, woher eine hohe Zahl von Personen stammt. Ebenso wird das österreichische Sprachdiplom anerkannt. In den wichtigsten Herkunftsländern, zum Beispiel Türkei, Kosovo und Russische Föderation, gibt es auch in ländlichen Gebieten Privatschulen und Privatlehrer, die Deutsch anbieten. Ferner gibt es kostenlose Internetdeutschkurse der Deutschen Welle und weitere Selbstlernkurse. 2009 haben weltweit 65 Prozent der Teilnehmer die Sprachprüfung bestanden; bei Teilnehmern, die zuvor einen Sprachkurs des Goethe-Instituts besucht hatten, lag die Bestehensquote sogar bei 81 Prozent. Dem Deutschen bleibt es ferner unbenommen, seinen ausländischen Ehepartner persönlich zu unterstützen. Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierung nichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keine Sprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familienangehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgern keine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlung lässt sich nicht ganz vermeiden, ist in Relation zu dem Ziel der verbesserten Integration jedenfalls als nachrangig anzusehen. Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Sie sind aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linken wie die Sozialdemokraten wollen, wie sie auch mit den vorliegenden Anträgen zeigen, etwas anderes: Sie wollen die Abschaffung der Nachzugsregelung. Damit werden sie, wie immer mit solchen Anträgen zur Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, indem sie falsche Erwartungen wecken und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördern. Wir wollen weiter die Möglichkeiten verbessern, im Ausland Deutsch zu lernen. Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stets gemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Auch wenn SPD und Linke das nicht wahrhaben wollen: Art. 6 Grundgesetz ist von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nie als Freibrief für unkontrollierte und bedingungslose Zuwanderung nach Deutschland gedacht gewesen. Bis heute wird er von der Rechtsprechung auch nicht so interpretiert. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 30. März 2010 (Az. 1 C 8.09) – das auch im Gesetzentwurf erwähnt wird – entschieden, dass die Regelung zum Sprachnachweis beim Ehegattennachzug in der geltenden Form verfassungsgemäß und mit europäischem Recht vereinbar ist. Das Gericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Regelung auch ohne allgemeine Härtefallregelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist und dass der Erwerb einfacher Deutschkenntnisse im Herkunftsland auch nicht deshalb unzumutbar sei, weil die türkische Klägerin des Ausgangsverfahrens Analphabetin ist. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist durch einen Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25. März 2011 (Az. 2 BvR 1413/10) noch einmal bestätigt worden Ich finde es befremdlich, dass die SPD mit ihren gegenteiligen Ausführungen meint, das Verfassungsgericht tadeln zu müssen. Die Oppositionsparteien verwenden jeden beliebigen Vorgang aus der Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwanderung das Wort zu reden. Wachsenden Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme und ansteigende Ausländerfeindlichkeit nehmen sie dafür billigend in Kauf. Wenn etwa die SPD zur Untermauerung der Deutschlernpflicht von nachgezogenen Ehegatten eine entsprechende Sanktionierung fordern würde, wäre sie glaubwürdiger. Wir sollten doch so ehrlich sein, gemeinsam anzuerkennen, dass abgeschottete Migrantenbiotope mit Ehegattenimport aus unseren gesellschaftlichen Werten fernstehenden Zonen nicht unbedingt zu einem friedlichen Zusammenleben in Deutschland beiträgt. Die FDP hat ihre Kritikpunkte an der Ehegattennachzugsregelung nie versteckt, hält das Integrationsziel aber für übergeordnet. Wenn die Oppositionsparteien endlich einmal nicht nur mit Anträgen der vorliegenden Art um Migrantenstimmen buhlen, sondern auch die Anliegen des friedlichen Zusammenlebens und der Bekämpfung der Gettobildung ernst nehmen wollten, wären ihre Initiativen ernst zu nehmen. Wir Liberalen gestalten dagegen die Zuwanderungspolitik mit der Union neu. Statt politischer Nachsicht mit Integrationsfehlleistungen einerseits und daraus resultierenden Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwanderer andererseits wollen wir eine Steuerung der -Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien, die die Integra-tionsziele klar benennt und einfordert. Wer dauerhaft hier leben und Bürgerrechte ausüben will, muss Deutscher werden wollen. Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohne Wenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur „territorial“ nach Deutschland kommen, sondern auch in unserem Land und unserer Gesellschaft wirklich ankommen wollen. Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu lernen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oder Linke, für bemitleidenswerte und unfähige Menschen, denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort „Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden sollen. Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfolgen muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedrigenden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich positiv denken. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für diejenigen, die das geschafft haben. Wir halten integrierte Zuwanderer mit ihren Erfahrungen für eine große Bereicherung unserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejenigen, die sich erfolgreich integriert haben! Sie können stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind dankbar und stolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben. Sevim Da?delen (DIE LINKE): Am 1. März lief die Frist zur Stellungnahme zum Grünbuch der EU-Kommission zur EU-Familienzusammenführungsrichtlinie ab. Die Linke hat, wie zahlreiche andere Verbände und die Bundesregierung auch, eine entsprechende Stellungnahme abgegeben. Die Um-setzung der Familienzusammenführungsrichtlinie in Deutschland im Jahr 2007 und insbesondere die Sprach-anforderungen beim Ehegattennachzug durch CDU/CSU und SPD haben wir damals wie heute scharf kritisiert. Namentlich der Fraktion Die Linke habe ich die EU-Kommission aufgefordert, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung einzuleiten, weil die jetzige deutsche Rechtslage und Praxis eindeutig gegen die geltende Richtlinie, die Rechtsprechung des -Europäischen Gerichtshofes und die Auslegung der Richtlinie durch die EU-Kommission widersprechen. Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichst umfassendes Recht auf Familienzusammenführung ein, das insbesondere auch nicht von der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht werden darf. Insofern sehen wir auch einige Anforderungen der Richtlinie, etwa zur Lebensunterhaltssicherung, kritisch, die im Grünbuch nicht infrage gestellt werden. Die Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie in Deutschland im Jahr 2007 kritisieren wir aber insbesondere deshalb, weil sie dazu genutzt wurde, um den Familiennachzug nach politischen Nützlichkeitserwägungen des Aufnahmelandes einzuschränken. Die Neuregelung der Sprachnachweise im Ausland wirkt sozial ausgrenzend. Sie trifft insbesondere wirtschaftlich, sozial und bildungsbenachteiligte Menschen, ältere Menschen, Analphabetinnen und Analphabeten und die ländliche Bevölkerung mit schwierigem Zugang zu Sprachkursen usw. Die von der deutschen Gesetzeslage geforderten mündlichen und schriftlichen Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen stellen nach Kenntnis der -Linksfraktion die höchsten Anforderungen in der Europäischen Union dar. Die Behauptung der damaligen schwarz-roten Bundesregierung, die Neuregelung solle angeblich dem Kampf gegen Zwangsverheiratungen bzw. einer besseren (Vor)Integration der Betroffenen dienen, war von Anfang an heuchlerisch und zynisch. Einen Beleg für diese absurde Behauptung ist die Bundesregierung bis heute schuldig geblieben. Was damit allerdings erreicht wurde, war die Verfestigung von Ressentiments gegenüber Migrantinnen und Migranten allgemein und Türkinnen und Türken im Besonderen. Das war schon damals schäbig und ist es bis heute. Die Linke. hat seit 2007 zahlreiche parlamentarische Initiativen zur Rückgängigmachung dieser Verschärfung des Ehegattennachzugs unternommen, darunter mehr als 15 Kleine Anfragen an die Bundesregierung. Im Mai 2010 haben wir den Antrag „Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermöglichen“ eingebracht. Die Bundesregierung will aber offensichtlich an dieser menschenfeindlichen Regelung aus politischen Gründen so lange wie nur irgend möglich festhalten, obwohl längst klar ist, dass spätestens der Europäische Gerichtshof die deutsche Praxis stoppen wird, nachdem die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland leider so kläglich versagt hat. Die Bundesregierung stellt sich auf parlamentarische Anfragen hin taub und nimmt nicht zur Kenntnis, dass selbst das Bundesverwaltungsgericht seine bisherige Auffassung ändern musste und nunmehr eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof für erforderlich hält. Sie ignoriert die Rechtsauffassung der EU-Kommission genauso wie das überzeugende Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes und die Rechtsprechung und Praxis unseres Nachbarlandes Niederlande. Unser aktueller Antrag fasst die Entwicklung und Argumente im Europarecht zusammen. Die Bundesregierung argumentiert rein formal – und nimmt Menschenrechtsverletzungen im staatlichen Gewand damit sehenden Auges in Kauf. Wer jedoch die Gewährleistung von Menschenrechten vom Nachweis von Deutschkenntnissen abhängig macht, verletzt das Grundgesetz und die Menschenrechte mehr, als es die vermeintlichen Integrationsverweigerer je könnten. Hören Sie also endlich auf, unter dem Deckmantel der Integration die Rechte von Migrantinnen und Migranten einzuschränken! Nunmehr will auch die SPD auf der Oppositionsbank die selbst eingeführte Regelung der Sprachanforderung wieder zurücknehmen. Wie bei der sogenannten Optionspflicht bzw. Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft sowie der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige sieht sich die SPD genötigt, den Schulterschluss mit den – potenziell – -Betroffenen zu suggerieren. In ihrer elfjährigen Re-gierungszeit jedenfalls hat sie entsprechende parlamentarische Initiativen immer abgelehnt. Doch nun ist schließlich wieder Wahlkampf in mehreren Bundesländern. Und da setzt die SPD mal wieder auf die Vergesslichkeit der Migrantinnen und Migranten. Doch, liebe Migrantinnen und Migranten, die Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug im Jahr 2007 wurden bekanntlich mit der SPD beschlossen. Warum sollte man der SPD glauben, dass sie wirklich ihre grausamen Gesetze, die sie trotz massiver Kritik und Proteste der Betroffenen und vieler Verbände hier im Bundestag beschlossen hat, zurücknehmen wird? Mir jedenfalls fällt kein Grund ein. Doch die SPD fordert nicht einmal etwa eine uneingeschränkte und bedingungslose Umsetzung von Menschen- und Grundrechten. Nein! Die SPD hält am Zwang zum Deutscherwerb fest. Auch wenn dieser erst nach der Einreise erfolgen soll, so wird er dann umso vehementer eingefordert. Dass Kenntnisse der deutschen Sprache zwar wichtig, aber nicht ausreichend sind für die Integration in die Gesellschaft, ist der SPD genauso wenig wichtig wie der Umstand, dass viele Migrantinnen und Migranten die deutsche Sprache beherrschen, das jedoch nichts bzw. kaum etwas an ihrer Situation in Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt ändert. Völlig kritiklos wird in der Begründung darauf Bezug genommen, dass die aufenthaltsrechtlichen Zwangs- und Sanktionierungsregelungen zum Spracherwerb zum 1. Juli 2011 verschärft wurden – in dem Antrag heißt es euphemistisch: „effektiviert“. Dass Migrantinnen und Migranten jeweils nur eine längstens einjährige Aufenthaltserlaubnis erhalten sollen, solange sie nicht Sprachkenntnisse des Niveaus B1 nachgewiesen haben, hält die SPD offenbar für unproblematisch. Die Linke ist strikt dagegen, die Gewährung grundlegender Rechte vom Nachweis von Deutschkenntnissen eines bestimmten Niveaus abhängig zu machen und Integration durch Zwangsmittel erreichen zu wollen. Angebote zum Deutsch-Spracherwerb im In- und Ausland müssen freiwillig ausgestaltet werden. In Bezug auf die größte Migrantengruppe in Deutschland, türkische Staatsangehörige, folgt dies übrigens schon aus dem Verschlechterungsverbot des Assoziationsrechts – wie die Gerichte und Behörden in den Niederlanden längst begriffen haben. Leider scheint das bei Ihnen noch immer nicht angekommen zu sein. Die Linke fordert, dass die Einschränkung des Menschenrechts auf Familienzusammenleben endlich ohne Wenn und Aber beendet wird. Die Bundesregierung muss dem niederländischen Vorbild folgen und die europarechtswidrigen Sprachanforderungen beim Ehe-gattennachzug sofort zurücknehmen. Auch die Bundesregierung muss diesem Beispiel folgen, will sie nicht hinter die rechtspopulistisch beeinflusste Regierung in den Niederlanden zurückfallen. Die FDP scheint zumindest dies bereits begriffen zu haben. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schon vor meiner Wahl in den Bundestag war es mir ein wichtiges Anliegen, die Familienzusammenführung zu vereinfachen. Als Jurist habe ich diesbezüglich viele Fälle behandelt. Etliche Paare müssen über Jahre un-zumutbare und unnötige Trennungen durchleben. Dies ist ein großes menschenrechtliches Problem. Unmittelbar nach meiner Wahl in den Bundestag erreichten mich viele Beschwerden wegen der restriktiven Einwanderungsregelungen beim Ehegattennachzug. Die Beschwerden erfolgen immer noch, in Form von Briefen, Anrufen und eingereichten Petitionen. Vorab möchte ich mitteilen, dass ich für den Gesetzentwurf der SPD und den Antrag der Linkspartei eine Zustimmung empfehle. Unsere Fraktion hat bereits letztes Jahr einen Gesetzentwurf zum Ehegattennachzug eingereicht. Damit wollen wir ebenfalls die im Jahr 2007 eingeführten Verschärfungen wieder aufheben. Insbesondere geht es uns um die Aufhebung des sogenannten Spracherfordernisses sowie um die Lebensunterhaltssicherungspflicht beim Nachzug zu Deutschen. Der Sprachnachweis wurde von der Großen Koalition damit begründet, dass Sprachkurse Zwangsehen verhindern würden (vergleiche Bundestagsdrucksache 16/7288). Belege dafür konnte die Regierung bislang nicht vorlegen. Auch die FDP ist der Ansicht, die Regelung ist pro-blematisch, weil sie auf die Staatsangehörigkeit des Stammberechtigten und nicht des nachziehenden Ehegatten abstellt. Darüber hinaus ist auch sie der Meinung, dass die Regelung unverhältnismäßig ist, weil der Erwerb von Sprachkenntnissen für die Ehegatten im Ausland oft unzumutbar ist (aus der Rede zum Antrag der Linken zum Ehegattennachzug, siehe Protokoll vom 20. Mai 2010). Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gesprochen werden. Der Spracherwerb in Deutschland ist viel leichter, schneller, günstiger und weniger belastend für die betroffenen Familien als im Ausland. Grundsätzlich ist die Teilnahme an Integrationskursen in Deutschland sogar seit 2005 verpflichtend und kann mit Mitteln des Verwaltungszwangs durchgesetzt werden. Abschließend möchte ich auf drei Umsetzungs--verstöße im deutschen Recht hinweisen: Erstens. Das Spracherfordernis beim Ehegattennachzug verstößt gegen die Familienzusammenführungsrichtlinie. Das ergibt sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Chakroun sowie für assozia-tionsrechtberechtigte türkische Staatsangehörige aus der Entscheidung des EuGH in der Sache Toprak. Dies hat die Europäische Kommission in einer schriftlichen Stellungnahme vom Mai 2011 in dem Verfahren Imran vor dem EuGH bezüglich der dem deutschen Recht vergleichbaren niederländischen Regelung festgestellt. Die Richtlinie verbiete es den Mitgliedstaaten, Sprachtests als „Bedingung“ zu verstehen, von der das Recht auf Familienzusammenführung selbst abhängig ist. Zweitens. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum -Familiennachzug in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Nur im Ausnahmefall darf nach deutschem Recht von der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung abgesehen werden. Nach der Chakroun-Entscheidung darf die mangelnde Lebensunterhaltssicherung nicht zu einer Regelnachzugssperre führen. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allen Fällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug eine Einzelfallabwägung. Drittens. Gemäß § 29 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz kann der Zugang zum Arbeitsmarkt für nachgezogene Ehegatten von Drittstaatsangehörigen für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren eingeschränkt werden. Die Familienzusammenführungsrichtlinie berechtigt die Mitgliedstaaten, Bedingungen aufzustellen, nach welchen Familienangehörige aus Drittstaaten eine Erwerbstätigkeit ausüben können. Gemäß Art. 14 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie dürfen diese Bedingungen -jedoch nur eine Frist von zwölf Monaten vorsehen, in der die Mitgliedstaaten eine Arbeitsmarktüberprüfung durchführen können, bevor sie den Familienangehörigen die uneingeschränkte Ausübung einer Erwerbstätigkeit gestatten. Wir sollten nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof uns aufträgt, die geltenden Regelungen aufzuheben. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/8921 und 17/8610 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph -Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Novelle des Bundesberggesetzes und anderer Vorschriften zur bergbaulichen Vorhaben--genehmigung – Drucksache 17/9034 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wir nehmen die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll. Dies betrifft Andreas G. Lämmel, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Eva Bulling-Schröter und Oliver Krischer. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Im Januar hatten wir bereits über einen Antrag der Grünen debattiert, der den Bergbau in Deutschland wirtschaftlich zum Erliegen bringen würde. In eine ähnliche Richtung geht nun der vorliegende Antrag der Linken. Der Antrag der Grünen war keine Überraschung und er entsprach in seiner teils wirtschaftsfeindlichen Ausrichtung auch sicher allen Erwartungen. Dass nun ausgerechnet die Linken einen solchen Antrag einbringen, ist doch überraschend, wenn nicht grotesk. Ihre große Vorgängerpartei, die SED, hat über 40 Jahre brutalen Raubbau an Kultur, Mensch und Natur in Ostdeutschland betrieben, und nun fordern ausgerechnet Sie Mechanismen zur Konfliktregelung, welche „die Interessen der Umwelt und der vom Abbau betroffenen Menschen und Unternehmen angemessen berücksichtigt“. Aus -Ihrer Feder ist diese Forderung nicht notwendig, da dies im gegenwärtigen Berg- und Umweltrecht bereits so vorgesehen ist. Dies gilt ebenso für die von Ihnen geforderten Umweltverträglichkeitsprüfungen, UVP. Sie suggerieren, in Deutschland gäbe es keine Abwägung zwischen den Interessen der Anwohner, des Bergbaus und der Umwelt. Das ist schlicht unzutreffend. Bevor ich auf den Inhalt Ihres Antrages zu sprechen komme, muss ich aber auf die Glaubwürdigkeit des Antragsstellers eingehen. Unter der Verantwortung der Vorgängerpartei der Linken, der SED, wurden in der ehemaligen DDR unter rücksichtsloser Zerstörung von Kultur, Mensch und Natur Rohstoffe abgebaut. Die zwei großen Sünden lauten Uran- und Braunkohleabbau. Erstens zum Uranabbau der Wismut in Sachsen und Thüringen. Bis 1990 wurden in dicht besiedelten Gebieten circa 230 000 Tonnen Uran abgebaut und in die -Sowjetunion geliefert. Die Hinterlassenschaften waren circa 3 700 Hektar radioaktiv kontaminierte Halden und Betriebsflächen. 300 Millionen Kubikmeter Bergmaterial wurden gefördert und auf 48 Halden abgelagert. 160 Millionen Kubikmeter schadstoff- und uranbelastete Schlämme wurden produziert. Nach der Wiedervereinigung wurde der Abbau sofort gestoppt und erste Sanierungskonzepte ausgearbeitet, diese fehlten zu DDR--Zeiten völlig. Aus dem Haushalt des Bundes wurden bis Ende 2011 5,6 Milliarden Euro ausgegeben, um diese gewaltigen Umweltzerstörung zu korrigieren. Manche Sanierungsprojekte werden noch bis 2020 dauern. Bis 2040 werden die Sanierungsmaßnahmen insgesamt voraussichtlich 7,1 Milliarden Euro gekostet haben. Zweitens zum Braunkohleabbau. Hier war das Bild ähnlich verheerend wie beim Uranabbau. 120 000 Hektar durch Tagebau und Braunkohleveredlungsanlagen zerstörte Landschaft, extrem hohe Pro-Kopf-Belastung an Schwefeldioxid und Staub, dazu schwerwiegende Eingriffe in den Wasserhaushalt der Abbauregionen und die Verklappung von Abbauresten und Industrieabfällen in ausgebeuteten Tagebauen. Nun alle Notwendigkeiten der Sanierung aufzuzählen, sprengt den zeitlichen Rahmen, daher nur drei Punkte: Das Defizit an Grundwasser in den ostdeutschen Braunkohlerevieren betrug 12,7 Milliarden Kubikmeter. 100 000 Tonnen industrielle Rest- und Schadstoffe in 100 Betriebsanlagen (Kokereien, Kraft- und Heizkraftwerke etc.) waren fachgerecht zu entsorgen. 215 Tagebaurestlöcher wurden vorgefunden. Der Bund sowie die Länder Brandenburg, Sachsen, Sachsen--Anhalt und Thüringen haben für die Sanierung dieser Hinterlassenschaften seit 1990 bis 2012 fast 9,1 Milliarden Euro ausgeben. Von den Zerstörungen kultureller Güter sowie der menschlichen Gesundheit habe ich noch gar nicht -gesprochen. Allein im Uranbergbau sind knapp 9 000 Bergleute mit Berufskrankheiten durch ionisierte Strahlung – Klartext: Lungenkrebs – und 38 000 Menschen mit bergbautypischen Krankheiten anerkannt. All die Maßnahmen zur Sanierung und Renaturierung wurden erst nach 1990 unter Geltung des neuen Bergrechts möglich. Die freiheitlich-demokratische Marktwirtschaft hat die ökologischen Verbrechen der sozialistischen Planwirtschaft geheilt. Vielleicht bedenken Sie das bei der Linken, wenn Sie mal wieder nach neuen -Wegen in den Kommunismus suchen. Inhaltlich erwähnt der Antrag wenigstens die wirtschaftliche Bedeutung der Verfügbarkeit von Rohstoffen, jedoch wird diese Bedeutung im Forderungsteil nicht -erneut aufgegriffen. Stattdessen unterbreiten Sie Vorschläge, die entweder längst Realität sind oder den Bergbau in Deutschland bis zur praktischen Undurchführbarkeit einschränken würden. Sie erwähnen nicht, dass ein in Deutschland einheitliches Bergrecht in dieser Form seit den frühen 80er-Jahren besteht. Das Bergrecht wurde seit seinem Inkrafttreten 1982 ständig an umweltrechtliche Vorgaben, insbesondere denen des EU-Rechts, angepasst. Auch in der ständigen Rechtsprechung der Gerichte wurden keine Differenzen zwischen dem Bergrecht und bestehenden umwelt- oder verfahrensrechtlichen Regelungen angemahnt. Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck, die Rohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies geschieht natürlich unter Abwägung der Interessen Dritter, primär der ansässigen Bevölkerung und der Natur. So ist seit 1990 für größere Vorhaben die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens inklusive Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung obligatorisch. Speziell für den Braunkohlenbergbau ist noch das raumordnerische Braunkohlenplanverfahren vorgesehen, welches mehrere Jahre in Anspruch nimmt und unter Durchführung von Umweltprüfungen, Öffentlichkeitsbeteiligung und auf Basis von zahlreichen Gutachten die gesamtheitliche Abwägung der Braunkohlengewinnung im Tagebau mit allen anderen berührten Belangen vollzieht. Die Wiedernutzbarmachung der Erdoberfläche nach erfolgtem Abbau ist ein weltweit einmaliger Bestandteil eines Bergrechts. 98 Prozent -aller Umsiedlungsfälle werden gütlich geregelt, und Grundabtretungsverfahren werden vermieden. Das geltende Bergrecht erfüllt also seinen Zweck: Es schafft bereits Ausgleich zwischen den Interessen der Menschen, der Natur und der Rohstoffgewinnung. Viele der Forderungen sind daher überflüssig. Besonders fragwürdig und wirklichkeitsfremd ist Ihre Forderung unter Punkt 8. Bergbauprojekte sind kapitalintensive Unternehmungen, die sich oft über Jahrzehnte erstrecken und daher umfassende Rechtssicherheit benötigen. Eine ständige Überprüfung erteilter Genehmigungen, wie von Ihnen gefordert, steht dem aber entgegen. Sie würden jede Investitionsentscheidung im Bergbau de facto verhindern. Auch verhindern Sie damit Rechtssicherheit und Klarheit für die Betroffenen, um die es Ihnen doch vordergründig geht. Wir benötigen Bergbau zur Gewährleistung der Rohstoffversorgung und zur Sicherung des Know-hows in Deutschland. Das geltende Bergrecht berücksichtigt dabei die Interessen anderer Beteiligter. Erneut empfehle ich Ihnen Urlaub in Sachsen. Dort können Sie in der Lausitz beobachten, wie aus alten Braunkohletagebauen touristische Destinationen entstehen und sich die Natur vom Raubbau der Planwirtschaft erholt. Oder fahren Sie ins Erzgebirge und lassen Sie sich zeigen, wie die Menschen vor Ort mit Stolz die -Tradition des Bergbaus pflegen und die Folgen der -Devastierung einer Landschaft wegen eines fehlenden Bergrechts fast nicht mehr zu finden sind. Belehrungen von den Linken sind in dieser Frage weder notwendig noch glaubwürdig. Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einer Revision des Bergrechts. Auslöser der Debatte ums Bergrecht ist die aktuelle Situation beim unkonventionellen Erdgas. Das geltende Bergrecht verfügt aus unserer Sicht über Unzulänglichkeiten bei den Regelungen zur Aufsuchung und Förderung. Daher haben wir einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der sich mit der Transparenz und der Umweltverträglichkeit von Fördermethoden beim Fracking be-schäftigt. Im Antrag der Fraktion Die Linke finden wir für eine mögliche Weiterentwicklung des deutschen Bergrechts einige gute Ideen, jedoch sind da auch Mängel. In Deutschland bildet der industrielle Sektor das Fundament für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze. Eine Grundlage für diesen industriellen Kern ist die Versorgung mit Rohstoffen und Materialien. Deutschland gehört zu den größten rohstoffverbrauchenden Ländern weltweit. Die deutsche Wirtschaft ist auf die Nutzung heimischer Rohstoffe angewiesen, denn sie macht uns unabhängiger von Rohstoffimporten. Und: Deutschland ist nicht rohstoffarm. In Deutschland werden jährlich Tonnen von Sanden, Erden, Tonen oder Kohle abgebaut. Von den nichtmetallischen Rohstoffen stammen vor allem Kali- und Steinsalz sowie der größte Teil der Steine und Erden aus heimischer Produktion. Damit decken wir größtenteils unseren Bedarf. Bei den fossilen Energierohstoffen importieren wir dagegen circa 98 Prozent des Erdöls, 87 Prozent des Erdgases und etwa 77 Prozent der Steinkohle. Vor dem Hintergrund des steigenden Anteils erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung – Wind, Photovoltaik – und der damit verbundenen höheren Volatilität müssen wir mindestens für eine Übergangszeit andere nichtvolatile Stromerzeugungsarten nutzen, um eine stabile und sichere Stromversorgung zu garantieren. Dabei kann der Fokus nicht allein auf Gaskraftwerke gelegt werden. Die SPD sieht auch die Konkurrenzen zwischen Rohstoffabbau und anderen Nutzungen des Bodens und des Untergrunds. Jedoch legen wir großen Wert auf eine echte Güterabwägung im Sinne eines fairen Chancen-Risiken-Vergleichs. Ich hatte es schon in der letzten Debatte gesagt: Der deutsche Bergbau und damit auch das deutsche Bergrecht verkörpern eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte. Die enorme Beschäftigungsentwicklung, der Aufschwung der Bergbauregionen oder der schnelle Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wären ohne die Nutzung der energetischen und nichtenergetischen Rohstoffe aus heimischen Lagerstätten nicht möglich gewesen. Wir sehen aber auch, dass manche Teile des historisch gewachsenen Bergrechts trotz mancher Weiterent-wicklung nicht mehr in eine moderne, aufgeklärte und an Teilhabe interessierte Gesellschaft zu passen scheinen. Eine Überarbeitung muss deshalb angemessene Regelungen zu Transparenz und frühzeitig beginnender Bürgerbeteiligung enthalten. In unserer Gesellschaft spielen heute, im Gegensatz zu der Zeit, aus der das Ursprungsberggesetz stammt, umwelt- und wasserrecht-liche Aspekte eine wichtige Rolle. Diesen Aspekten muss Rechnung getragen werden. Im Antrag der Linken sind konkrete Änderungspunkte aufgeführt. Bei einer möglichen Weiterentwicklung des deutschen Bergrechts sollten wir über die Aufteilung der Bodenschätze in grundeigene und bergfreie diskutieren. Auch können wir über die Planungs- und Genehmigungsverfahren sprechen. Aber wir sollten uns in der Diskussion keine Denkblockaden auferlegen. Der SPD ist wichtig, dass am Ende eines Verfahrens eine rechtsgültige Entscheidung steht, die den berechtigten Interessen der betroffenen Menschen und der betroffenen Unternehmen gerecht wird. Dies erzeugt Rechtssicherheit und schafft Vertrauen. Wir sehen die Heraus-forderung darin, eine Beschleunigung der Verfahren mit einer Verbesserung von Transparenz und Bürgerbeteiligung zu verbinden. Es gibt viel zu besprechen. Und: Wir sollten uns zu den verschiedenen Aspekten weiteren Sachverstand einholen. Daher werden wir im Wirtschaftsausschuss eine Anhörung durchführen. Klaus Breil (FDP): Das Einzige, was Sie können, ist – wie immer – fordern. Was wir hingegen ständig erreichen, ist – wie immer – fördern. Fördern ist besser für alle – auch für unsere Rohstoffversorgung. Nur so macht es Sinn! Sie verlangen in Ihrem Antrag, ein neues Bergrecht müsse vor allem auf Konfliktvermeidung setzen. Es müsse sich bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben an den Planfeststellungsverfahren orientieren. Es soll zudem den Erfordernissen der Rohstoffversorgung Rechnung tragen. Ebenso soll es auch die Interessen der Umwelt und der vom Abbau betroffenen Menschen berücksichtigen. Sie fordern, dass die Gewinnung der unter Siedlungen liegenden Bodenschätze ausgeschlossen ist – es sei denn, es bestehe mit den Grundstückeigentümern und Nutzungsberechtigten sowie den betroffenen Kommunen Einvernehmen. Einfach gesagt: Ein einziger Mieter soll Ihrer Meinung nach die Arbeitsplätze Hunderter, wenn nicht gar Tausender – wie zum Beispiel in der Schwarzen Pumpe in der Lausitz – behindern, blockieren und letztendlich vernichten können. Dies erklären Sie bitte den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen in der Lausitz besser selbst. Außerdem soll auf geförderte Bodenschätze eine Förderabgabe von mindestens 15 Prozent erhoben werden. Na klar! Hier höre ich das alte und leidige Lied der ewigen Umverteilung. Zuerst wird ostentativer Neid geschürt, dann folgt das Abschöpfen – natürlich aus vermeintlich sozialen Gründen. Der Umstand allerdings, dass Rohstoffgewinnung mit erheblichen Investitionen und Zeitaufwand zu tun hat, ist Ihnen fremd. Fragen Sie doch mal bei den Bergbauingenieuren nach, die gerade im Osten Deutschlands neue Lagerstätten erschließen. Die werden Ihnen was erzählen! Tatsächlich erfolgt Rohstoffgewinnung in Deutschland seit vielen Jahrzehnten sachgerecht und im Einklang mit umweltrechtlichen Belangen sowie unter Wahrung der Interessen der betroffenen Menschen. Den ordnungspolitischen Rahmen hierfür stellt – außerordentlich erfolgreich – das Bundesberggesetz. Es schafft Planungs- und Rechtssicherheit und ermöglicht so letztlich hohe Investitionen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit durch Nutzung heimischer Lagerstätten. So sichert das Bundesberggesetz den Erhalt von Wertschöpfungsketten im Inland und setzt wichtige Akzente zur Beschäftigungssicherung – insbesondere in strukturschwachen Regionen der Bundesrepublik. Auch das dürfte Ihnen bekannt sein: Wir sind in vielen Bereichen auf den Import von Rohstoffen angewiesen, sei es bei der Versorgung der Metall- und Elektroindustrie, der Deckung des Bedarfs an Erdöl und Erdgas oder der Entwicklung von Hochtechnologie. Auch kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Produktion von leistungs- und zukunftsfähigen Windenergieanlagen und Brennstoffzellen nicht ohne die Einfuhr spezifischer Rohstoffe aus. Damit sind schon heute erhebliche Teile der deutschen Wirtschaft der Ergiebigkeit globaler Lagerstätten sowie der gesellschaftlichen und politischen Stabilität in den jeweiligen Regionen ausgesetzt. Zudem haben sich in den letzten Jahren, vor allem durch das Gebaren Chinas, die Bedingungen an den Weltmärkten für Rohstoffe durchaus verschlechtert. Zumindest in Teilen dient die Nutzung heimischer Ressourcen somit auch der Kompensation globaler Entwicklungen. So kann beispielsweise gerade die Braunkohle in Zeiten sich weltweit verknappender Energieressourcen und damit verbundener Preissteigerungen stabilisierende Effekte hervorrufen. Auch deren Verwendung im Rahmen der stofflichen Umwandlung von chemischen Erzeugnissen, wie Coal to Liquids oder Coal to Gas, ist eine gewisse Bedeutung beizumessen. Insgesamt steht damit die Nutzung eigener Bodenschätze im öffentlichen Interesse und sollte nicht vernachlässigt werden. Bergbau war und ist immer eine Anpassung an naturbedingte Verhältnisse der Lagerstätte. Gerade deshalb kommt der frühzeitigen und gründlichen Betrachtung der Auswirkungen durch Inanspruchnahme von Flächen eine besondere Bedeutung zu. Verantwortungsvolle öffentliche Planung führt in der Regel zu einer sukzessiven und parallel verlaufenden Wiedernutzbarmachung der beanspruchten Gebiete. Dadurch liegt der zur Rohstoffgewinnung in Anspruch genommene Flächenanteil in Deutschland seit langem konstant bei 0,2 Prozent der Landesfläche. Nachweislich ermöglicht diese Vorgehensweise auch die Chance zur Bereinigung früherer Fehlentwicklungen und die Anwendung neuester Erkenntnisse in Bezug auf Landschaftsgestaltung sowie den Natur- und Artenschutz. Auf die so in der Bundesrepublik zahlreich entstandenen Naturschutzflächen, Biotope, Gewässer, Verkehrswege und Naherholungsgebiete sei an dieser Stelle verwiesen. Gerade die im Bundesberggesetz enthaltenen Vorgaben hinsichtlich der Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen im Zuge des Planfeststellungsverfahrens oder das vorgelagerte raumordnerische Braunkohlenplanverfahren – um nur zwei Punkte aufzugreifen – -haben hieran maßgeblichen Anteil. Ergänzend sei hier angemerkt, dass bergbauliche Planungen und Entscheidungen sich nicht isoliert an Regelungen des Bundesberggesetzes orientieren. Vor allem die Landes- und Regionalplanung ist in hohem Maße gefordert. Das Bundesberggesetz, BBergG, besteht seit 1980. In seiner mehr als 30-jährigen Historie wurde es mehrfach und umfassend an neue Vorgaben und Erfordernisse, insbesondere aus dem Bereich des Umweltrechts, sowie europäische Richtlinien angepasst. Nicht zuletzt hat auch die richterliche Rechtsprechung in dieser Zeit prägend auf das Bergrecht eingewirkt. Im Ergebnis weist das deutsche Bergrecht ein hohes Niveau von Schutz und Vorsorge für Umwelt und Betroffene auf, was auch im Ausland bereits zu positiven Einschätzungen geführt hat. Auch in Zukunft wird sich das deutsche Bergrecht an veränderte Bedingungen anpassen. Wie in der Vergangenheit werden diese Änderungen sachdienlich und mit Augenmerk erfolgen. Forderungen, die darauf hinauslaufen, Bergbauaktivitäten unmöglich zu machen oder zumindest stark zu verzögern, lehnen wir jedoch entschieden ab. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das Bergrecht ist rechtlich etwas für Spezialistinnen und Spezialisten; kaum jemand kennt sich damit wirklich aus. Praktisch hat es aber für viele Menschen enorme Folgen. Das gilt insbesondere für die Kohlere-gionen in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Saarland. Denn das Bergrecht räumt der Förderung von Bodenschätzen systematisch Vorrang vor allen anderen Interessen ein, seien es die der Grundstückseigentümerinnen und Grundstücks-eigentümer, von Mieterinnen und Mietern oder von Umwelt- und Landschaftsschutz. Gerade infolge von Tagebauen verlieren viele Menschen die ihnen vertraute Heimat und Arbeit. Ganze Dörfer werden umgesiedelt, riesige Landstriche werden lange Zeit zu Wüsten. Aber auch beim Abbau etwa von Salzen in den Kaliregionen Thüringens und Hessens schafft das Vorrecht des Bergbaus jede Menge Konflikte; denken wir nur an die Versalzung der Werra. Längst überfällig ist darum ein modernes Bergrecht, das zwei Funktionen erfüllen muss: Es muss zum einen der Notwendigkeit der Rohstoffgewinnung und den Besonderheiten des Bergbaus Rechnung tragen, zum anderen aber viel stärker als bisher die Interessen von Anwohnern und Umwelt berücksichtigen. Für eine solche Novelle hat sich unter anderem der Frankfurter Rechtsanwalt Dirk Teßmer stark gemacht. Seine Thesen lagen in vielen Punkten dem vor wenigen Wochen eingebrachten Antrag der Grünen zugrunde. Sie sind auch wesentliche Grundlage unseres Antrags. Gemeinsam ist beiden Anträgen darum die Kernforderung, den automatischen Vorrang des Abbaus von Rohstoffen vor allen anderen Interessen zu beenden. Dafür soll unter anderem künftig ein Planfeststellungsverfahren mit UVP anstelle der bisherigen Verfahren treten. Zudem soll das vorgelagerte Bergwerkseigentum abgeschafft werden. Abbaurechte sollen erst dann an Unternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau in einem demokratischen Verfahren beschlossen wurde, und zwar unter Abwägung aller Interessen und nach einer sorgfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung – und keinen Tag vorher. Gemeinsam ist beiden auch die Forderung nach mehr Transparenz sowie nach mehr Beteiligungs- und Klagemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger sowie für Verbände und Kommunen. Ferner soll in Haftungs- und Entschädigungsfragen künftig die Position der Anwohnerinnen und Anwohner deutlich gestärkt werden. Es gibt aber auch Differenzen zum Grünen-Antrag. Die Linke möchte beispielsweise den Unterschied im Bundesberggesetz zwischen sogenannten grundeigenen und bergfreien Bodenschätzen abschaffen. Zu den ersten gehören beispielsweise eine Reihe wertvollerer Mineralien wie Bauxit, Glimmer oder hochwertiger Quarz. Sie gehören heute den Grundstückseigen-tümern. Zu den zweiten gehören Kohle, Gas, Erze oder Salz, die als „herrenlos“ gelten, was man auch als Gemeineigentum bezeichnen kann. Dazu sollen auch sämtliche grundeigenen Bodenschätze, die gegenwärtig außerhalb des Bundesberggesetzes behandelt werden – wie mineralische Massenrohstoffe, also Kiese, Sande, Naturstein etc. –, dem reformierten Bundesberggesetz unterworfen werden. Auch diese gehören gegenwärtig den Grundeigentümern. Mit unserer Regelung würden in Deutschland künftig sämtliche Bodenschätze dem Bundesberggesetz unterliegen, wobei alle Bodenschätze als bergfrei definiert würden. Dies hätte zwei Folgen: Zum einen wären alle -Bodenschätze Gemeineigentum. Zum anderen würde gleichzeitig der Abbau jeglicher Bodenschätze einem Planfeststellungsverfahren mit UVP unterworfen. Die Grünen wollen zwar auch den Unterschied zwischen bergfreien und grundeigenen Bodenschätzen abschaffen. Ihr Antrag lässt aber leider offen, welche Rechtsgrundsätze nun zum Tragen kommen sollen: die für bergfreie oder die für grundeigene Bodenschätze? Zudem knüpft die Linke im Gegensatz zu den Grünen die Genehmigungsvoraussetzung für einen Abbau unter besiedeltem Gebiet an streng nachzuweisende Ausnahmetatbestände. Künftig soll also vom Vorhabenträger nachgewiesen werden, dass ein unabweisbarer volkswirtschaftlicher Bedarf für den Rohstoff besteht. Zudem muss der Abbau tatsächlich alternativlos sein. Wir finden diese Konstruktion wichtig und überzeugend, weil sie beispielsweise verhindern könnte, dass neue Braunkohletagebaue genehmigt werden, die noch weit nach 2040 laufen würden. Denn für diese Zeit kann davon ausgegangen werden, dass Strom und Wärme fast vollständig regenerativ bereitgestellt werden können. Braunkohle braucht dann kein Mensch mehr, höchstens noch ein paar wenige flexible Gaskraftwerke. Unser Antrag hat, ähnlich wie der der Grünen, noch zahlreiche weitere Reformvorschläge, die ich hier im Einzelnen nicht darstellen möchte. Dafür haben wir ja die Ausschüsse. In diesem Zusammenhang freuen wir uns auf die Anhörung zu unseren beiden Bergrechtsanträgen nach Ostern. Denn bei allen Unterschieden ist klar: Das stellenweise mittelalterlich anmutende deutsche Bergrecht gehört überarbeitet – und zwar gründlich, umfassend und zügig. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist nicht einmal ganz zwei Monate her, dass wir uns zum letzten Mal hier im Plenum mit dem Thema Bergrecht beschäftigt haben. Damals haben wir über unseren Antrag zu demselben Thema debattiert und ihn in die Ausschüsse überwiesen. Wir freuen uns, dass die Linke diese Zeit sinnvoll genutzt hat, um unseren Antrag zu weiten Teilen abzuschreiben und hier nun als ihren eigenen Antrag einzubringen. Es wird Sie daher auch nicht verwundern, dass wir als Bündnis 90/Die Grünen dem Antrag der Linken grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Ich freue mich, dass die Debatte über eine Änderung des Bergrechts offensichtlich endlich in Gang kommt und wir nicht mehr die Einzigen sind, die eine grundlegende Reform des deutschen Bergrechts fordern. Dieses Thema bewegt nicht nur die Menschen in den traditionellen Kohleabbaugebieten Nordrhein-Westfalens, des Saarlandes und der Lausitz, sondern auch die Menschen an vielen anderen Orten in Deutschland, an denen Bodenschätze abgebaut werden. Dies geschieht nämlich an mehr Orten, als man gemeinhin denkt, und das Bundesberggesetz, kurz das Bergrecht, ist dort immer wieder der Ausgangspunkt für politische und gesellschaftliche Debatten. Genau wie wir fordern die Linken in ihrem Antrag die Beweislastumkehr, eine häufigere und stringentere Anwendung der Umweltverträglichkeitsprüfung als Instrument zum Schutz von Mensch und Natur in der Planungsphase bergbaulicher Vorhaben, und die Linke fordert auch eine viel stärkere Transparenz und Einbeziehung der Bevölkerung in die Genehmigungsprozesse. Diese und viele weitere Punkte sind dringend notwendig, um das deutsche Bergwerk an die Rahmenbedingungen einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts anzupassen. Es gibt kaum ein Projekt ohne tiefgreifende Konflikte, für deren Lösung das seit über 30 Jahren nicht mehr entscheidend geänderte Bergrecht mit in großen Teilen noch älteren Rechtsgrundsätzen, die ausschließlich auf die Rohstoffgewinnung ausgerichtet sind, eher Hindernis als eine Hilfe ist. Das heißt nicht, dass wir als Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland keinen Bergbau mehr haben wollen: In Deutschland gibt es eine lange Bergbautradition. Ohne den Bergbau wäre in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands so nicht möglich gewesen. Auch wenn der Bergbau heute nicht mehr so eine große wirtschaftliche Rolle spielt, wird der Abbau von Bodenschätzen auch in Zukunft in Deutschland ein wesentlicher Bestandteil der Ökonomie sein und sein müssen. Doch die dafür geltende Rechtsgrundlage ist nicht mehr zeitgemäß. Sie ist in Teilen regelrecht aus der Zeit gefallen. Moderne Bürgerbeteiligung, Transparenz, Interessenabwägung sind beinahe Fremdworte bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben und deren Umsetzung. Um es auf den Punkt zu bringen: Das deutsche Bergrecht ist geprägt von einem starren Über- und Unterordnungssystem. Das heißt, dem öffentlichen Interesse des Bergbaus wird weitgehend Vorrang vor anderen Belangen, Interessen und Rechten, insbesondere denen Privater, eingeräumt. Eine gleichwertige Interessenabwägung in der Planungs- und Genehmigungsphase findet faktisch nicht statt. Es ist längst überfällig, dass der Gesetzgeber diese Probleme angeht und Abhilfe schafft. Die Anforderungen an das deutsche Bergrecht werden weiter zunehmen, je stärker auch heimische Bodenschätze durch steigende Weltmarktpreise wieder in den Fokus der bergbautreibenden Unternehmen rücken. Darüber hinaus werden immer mehr Anforderungen durch neue Technologien wie die Nutzung der Geothermie, die Förderung von unkonventionellem Erdgas oder die Errichtung großer Erdgasspeicher an den Untergrund gestellt werden. Dafür ist das Gesetz in seiner derzeit gültigen Fassung jedoch überhaupt nicht ausgelegt. Nach unserer Auffassung steht das deutsche Bergrecht daher -zurzeit von mehreren Seiten unter Druck, und eine Anpassung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts erscheint dringend erforderlich. Eines müssen mir die Antragsteller von der Linken im Verlauf der Debatte in den Ausschüssen aber noch erklären: Während Sie hier die Umsiedlung von Menschen im Rahmen bergbaulicher Vorhaben nahezu komplett verbieten möchten, arbeiten Ihre Parteigenossen in Brandenburg eifrig daran, neue Tagebaue für den Braunkohleabbau zu genehmigen, und haben dabei auch mit Umsiedlungen offenbar keinerlei Probleme. Diese wären im Falle der geplanten und auch von der Linken geforderten Tagebaue Jänschwalde-Nord und Welzow-Süd nämlich erforderlich und würden ganze Dörfer für immer auslöschen. Knapp 2 000 Leute wären davon allein in diesen beiden Gebieten betroffen. Auch die Tatsache, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, DIW, vor kurzem durch eine Studie nochmals belegt hat, dass für den Betrieb der Braunkohlekraftwerke in Brandenburg der Aufschluss neuer Tagebaue nicht erforderlich ist, da die vorhandenen Tagebaue ausreichen, um die Kraftwerke bis zu deren Lebensende zu beliefern, ist offenbar kein Grund für den brandenburgischen Wirtschaftsminister der Linken, diese Vorhaben abzusagen. Dieses Vorgehen der Linken in Brandenburg lässt aus meiner Sicht leider ernsthaft am tatsächlichen Willen der Linken zweifeln, die Inhalte dieses Antrags auch umzusetzen, wenn es vor Ort darauf ankommt. Da ich im Grundsatz aber viele Übereinstimmungen mit unserem Antrag zum Thema Bergrecht sehe, freue ich mich auf die Beratungen in den Ausschüssen. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9034 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind offensichtlich damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), -Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine engere Kooperation mit Georgien – Drucksache 17/8778 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt nehmen wir zu Protokoll. Dies betrifft die Kolleginnen und Kollegen Manfred Grund, Florian Hahn, Franz Thönnes, Birgit Homburger, Wolfgang Gehrcke und Viola von Cramon-Taubadel. Manfred Grund (CDU/CSU): Es ist ja durchaus verdienstvoll, die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses auf Georgien zu lenken. Georgien ist ein wichtiger Partner für uns. Es ist ein Land von großer strategischer Bedeutung. Das gilt nicht nur für seine Bedeutung als Transitland für Energielieferungen, sondern auch für seine Lage in einer Region, die nach wie vor von zwischen- und innerstaatlichen Konflikten geprägt wird wie sonst keine Region im euroatlantischen Raum. Es ist keine Frage: Georgien trägt besonders schwer am postsowjetischen Erbe, an den Konflikten, die der Zerfall der Sowjetunion hinterlassen hat. Dabei ist es ein Land, dessen gerade jüngere politische Entwicklung durch Ambivalenzen gekennzeichnet blieb. In Georgien haben sich beeindruckende Reformprozesse vollzogen. Die Fortschritte sind bemerkenswert: beim Zugewinn an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, bei der Bekämpfung der Korruption, bei der Gewährleistung von Rechtssicherheit. Eine Folge sind ebenso beachtliche Wachstumsraten. Wer weiß, wie lähmend Korruption und fehlende Rechtssicherheit sich in anderen Ländern auf die Entwicklungs- und Zukunftschancen ganzer Gesellschaften auswirken, der kann die Bedeutung dieser Fortschritte gar nicht überschätzen. Zugleich aber haben politische Reformen mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht überall Schritt gehalten. Allerdings scheint mir der vorliegende Antrag in Wortwahl und Kritik auch verschiedentlich über das Ziel hinauszuschießen. Nicht jede Aussage ist so nachvollziehbar; und man fragt sich gelegentlich, durch welche Quellen sie gestützt werden. Zugleich war sicher die Außenpolitik Georgiens nicht immer glücklich. Das wird man sagen können, ohne im Detail die Frage nach den Ursachen und Anlässen des Krieges von 2008 zu diskutieren. Das wird man sagen dürfen, obgleich einzuräumen ist, dass die Lage Geor-giens eine ungleich schwierigere, eine ungleich unsicherere ist als die Lage Deutschlands in Europa und der Welt. Zugleich mag man kritisieren, wie es der vorliegende Antrag tut, dass pragmatischere Ansätze bei der Bewältigung der Konflikte um Abchasien und Südossetien größere Fortschritte bei der Annäherung der betroffenen Gesellschaften versprechen. Auch darin pflichten wir der Intention des vorliegenden Antrages bei: Natürlich unterstützen wir eine engere Zusammenarbeit. Das zu sagen, ist für Georgien nicht ganz so selbstverständlich, wie es für viele in diesem Hause klingen mag. Tatsächlich ist bei vielen Menschen in Georgien der Eindruck entstanden, in der deutschen Politik stünde die Unterstützung für Georgien hinter dem Interesse an den Beziehungen zu Russland zurück. Hier besteht sicher Klärungsbedarf gegenüber den -georgischen Partnern. Gleichwohl fragt man sich bei dem vorliegenden Antrag: Wo ist der inhaltliche Mehrwert? Es finden sich darin nicht weniger als 30 Forderungen, doch in vielen nichts Neues. Natürlich unterstützen wir eine engere Anbindung Georgiens an die EU. Es liegt auch auf der Hand, dass Georgien über das Recht verfügt, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU zu stellen. Doch was bedeutet diese Aussage politisch: eine Beitrittsperspektive oder nicht? Grundsätzlich meine ich, wir müssen uns von dem Entwicklungspfad der bisherigen Erweiterungsprozesse lösen. Vielleicht wird künftig keine Beitrittsperspektive mehr am Beginn eines langjährigen Verhandlungs- und Implementierungsprozesses stehen, sondern der Beitritt dann konkret verhandelt, wenn die Kriterien erfüllt sind. Ähnlich vage wie bei der Frage der EU-Mitgliedschaft bleibt der Antrag in seinen Aussagen zur NATO-Mitgliedschaft. Dass Georgien der NATO beitreten kann, wurde bereits beim Gipfel in Bukarest beschlossen. Dass zugleich gefordert wird, ein solcher Beitrittswunsch solle zurückhaltend behandelt werden, darauf hat man sich ebenfalls bereits damals verständigt. Spätestens seit dem Georgien-Krieg gibt es in dieser Hinsicht auch einen breiten Konsens im Bündnis. Nur, was nutzt es, dies zu wiederholen? Diese Vag- und Halbheiten entsprechen ja an sich nur den Realitäten. Es ist nicht weniger und nicht mehr als eine Situationsbeschreibung. Nur rechtfertigt das eben noch keinen Antrag. Ebenso verhält es sich mit den meisten anderen Aussagen sowie den meisten Forderungen. Mehr noch: Viele dieser Forderungen sind ja bereits mittelbar oder unmittelbar Regierungspolitik. So beispielsweise in den eben erwähnten Fragen der EU-Annäherung und NATO-Mitgliedschaft. Hier wird von der Bundesregierung gefordert – und damit implizit als Desiderat kritisiert –, was tatsächlich bereits getan wird. Dem können wir nicht zustimmen. Darüber hinaus verliert sich jede sinnvolle Stoßrichtung in der Vielzahl der Forderungen und in ihrer Bandbreite; und diese Bandbreite erstreckt sich zudem nicht nur auf spezifisch georgische Fragen, sondern zum Teil auch auf die grundsätzliche Konzeption europäischer und deutscher Politik. So beispielsweise, wenn gefordert wird, im Rahmen des ENPI die Bekämpfung der ländlichen Armut zu verstärken oder im Rahmen des verhandelten Freihandelsabkommens stärker soziale und ökologische Fragen zu prüfen. Wer vollumfänglich alle Probleme zu lösen versucht, löst am Ende keines. Dabei gibt es in dem Antrag durchaus eine Anzahl diskussionswürdiger Punkte, nicht zuletzt im Blick auf den Umgang mit den Konflikten um Abchasien und Südossetien. Hier wäre ein stärker zielgerichteter Antrag wohl sinnvoller gewesen. Dabei hätte es auch Sinn machen können, erst einmal den interfraktionellen Dialog zu suchen. Florian Hahn (CDU/CSU): Seit fast genau 20 Jahren bestehen nun diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Georgien. So war es die Bundesrepublik Deutschland, die damals als erstes europäisches Land die georgische Unabhängigkeit anerkannt hat. Nach wie vor pflegen wir diese enge Bindung. Die Zusammenarbeit reicht vom studentischen Austausch bis hin zu wirtschaftlicher Kooperation. Allein im letzten Jahr ist der bilaterale Handel um 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr gewachsen. Darüber hinaus ist Deutschland nach den USA zweitwichtigster Geber von Mitteln in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit Georgien. Georgien strebt eine weitere Annäherung an die -Europäische Union und an die NATO an. Das ist gut, und wir unterstützen diese Bemühungen nach Kräften. Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft verhandeln die Europäische Union und Georgien seit knapp zwei Jahren über ein Assoziierungsabkommen. Gespräche über ein Freihandelsabkommen beginnen alsbald. Auch wird sich die Bundesregierung als Fürsprecher hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens verwenden. Das hat Bundesminister Westerwelle auf seiner Reise nach Tiflis in der letzten Woche noch einmal betont. Deutschland betätigt sich außerdem schon lange als Vermittler im Hinblick auf eine friedliche Konfliktlösung für die georgische Republik Abchasien. Schon wenige Tage nach Beendigung des georgisch-russischen Krieges besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel im August 2008 Tiflis. Deutschland gehörte zu den ersten Staaten, die Georgien nach Ausbruch des Krieges humanitäre Hilfe leisteten. Die Bundesregierung sagte bei der Brüsseler Geberkonferenz im Oktober 2008 33,7 Millionen Euro für humanitäre Projekte zugunsten der Opfer und Vertriebenen und zur Unterstützung des Wiederaufbaus im Land zu. So konnten mit deutscher Unterstützung in Gori nahe Südossetien Häuser gebaut werden. Am 15. September 2008 fasste die EU den Beschluss, eine Beobachtungsmission nach Georgien zu entsenden. Auch hierbei hat sich Deutschland von Anfang an aktiv beteiligt und sogar den Missionsleiter gestellt. Die Kaukasus-Initiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit der südkaukasischen Republiken Aserbaidschan, Armenien und Georgien. Die Maßnahmen im Rahmen der Kaukasus-Initiative sollen sowohl zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Länder im Südkaukasus beitragen als darüber hinaus auch einen spezifisch deutschen Beitrag zum Konfliktabbau und zur Krisenprävention in der Region leisten. All diese Initiativen zeigen Wirkung. Deshalb ist der vorliegende Antrag in vielem, was Bundesregierung und Europäische Union unternehmen, redundant und deshalb abzulehnen. Ich möchte jedoch nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass es wichtig ist, die russisch-georgischen Beziehungen zu verbessern. Sicherlich ist dies kein einfaches Unterfangen; dennoch lohnt es sich – nein, es ist für alle Seiten absolut notwendig, daran zu arbeiten. Staatspräsident Saakaschwili hat am 23. November 2010 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament und in rechtlich verbindlichen Briefen an den VN-Generalsekretär und an internationale Organisationen einen Verzicht auf den Einsatz von Gewalt bei der Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens erklärt. Ich sehe dies als zukunftsweisenden Ansatz für eine regionale Kooperation. Ferner freue ich mich darüber, dass auf wirtschaftlichem Gebiet eine Annäherung stattfindet. Die russischen Investitionen in Georgien sind von 2 Millionen US-Dollar im Jahre 2009 auf 5,3 Millionen US-Dollar im ersten Quartal 2010 gestiegen. Der Antrag der Grünen konstatiert zu Recht, dass nach wie vor große Missstände in Georgien im Wahlrecht sowie bei der Durchführung von Wahlen zu verzeichnen sind. Fehlende Wählerlisten, Missbrauch administrativer Ressourcen und Vorteilsnahme durch die Regierung sind leider noch an der Tagesordnung. Hier fordere ich die georgische Regierung entschieden auf, ihre Hausaufgaben zu machen! Im Oktober 2012 stehen Parlamentswahlen an, die Präsidentschaftswahlen folgen dann im nächsten Jahr. Diese müssen nach demokratischem Vorbild gestaltet werden. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie, und nur so kann es eine weitere Annäherung an die EU geben. Franz Thönnes (SPD): Es gibt keinen Zweifel: Die Situation in und um Georgien gibt weiterhin Anlass zur Unzufriedenheit. Das georgische Interesse mit seinem Beitrittsgesuch an die NATO und der stärkeren Anbindung an die EU wird mit unvermindertem Nachdruck artikuliert, nicht zuletzt von einer Delegation des georgischen Parlaments, die Ende Februar dieses Jahres den Deutschen Bundestag besuchte. Und man setzt dabei insbesondere auf die Unterstützung Deutschlands. Die Richtung ist klar: Georgien will zum Westen und zu Europa. Georgien will Distanz zu Russland. Ebenso wie die Tatsache, dass Georgien 2008, wie es der spätere Bericht der vom Europäischen Rat eingesetzten, unabhängigen internationalen Untersuchungskommission vom 30. September 2009 ausdrückt, den Krieg mit Russland begonnen hat, es seit 2008 zwar einen Sechspunkteplan zum Waffenstillstand mit Russland gibt, der allerdings bis heute nicht vollständig umgesetzt ist, so steht natürlich auch die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland einem stabilen und dauerhaften friedlichen Nebeneinander beider Staaten im Wege. Auch die damalige „unverhältnismäßige Reaktion“ Russlands, wie es in dem oben genannten Bericht heißt, ist für Georgien eine nicht zu vergessende geschichtliche Erfahrung. Während ihres Besuches haben die georgischen Parlamentarier gleichfalls zum Ausdruck gebracht, dass durch eine erneute Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten der Russischen Föderation die Herausforderungen zum Aufbau des notwendigen Vertrauens mit Sicherheit nicht geringer werden. Umgekehrt ist aber ebenso klar: Ohne Russland wird es keine Lösung der bestehenden Problematik geben. Die engen Kooperationsgeflechte sowohl auf der wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Ebene mit der EU ebenso wie die Formen der -Zusammenarbeit mit der NATO bedingen die Lösungsfindung mit Russland. Sie sind gleichzeitig auch gute Voraussetzungen hierfür. Derzeit kann niemand aufgrund der internen politischen Prozesse nach den Wahlen in Russland genau sagen, welche konkrete Ausrichtung künftig die Politik des neuen Präsidenten und der russischen Regierung sowohl innenpolitisch im Umgang mit den neuen Oppositionsbewegungen und den Reformerfordernissen wie auch außenpolitisch haben wird. Bei letzterem dürfte eher davon ausgegangen werden, dass kaum mit wesentlichen Veränderungen zu rechnen ist. Dennoch muss es dass Ziel sein, daran zu arbeiten, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern normalisieren. Den diesbezüglichen Äußerungen von Bundesaußenminister Guido Westerwelle während seiner Südkaukasus-Reise im März 2012 ist hier zuzustimmen. Georgien aber ist vor allem innenpolitisch gefordert. Inzwischen kann durchaus die Vermutung aufkommen, dass die politische Führung unter Präsident -Saakaschwili sich in erster Linie auf die Konsolidierung und Zentralisierung ihrer Macht konzentriert. Parlament und Medien sehen sich einer immer stärkeren Kontrolle ausgesetzt. Die georgische Medienlandschaft -vermittelt den Eindruck, nicht wirklich frei und pluralistisch zu sein. Die beiden wichtigsten privaten Fernsehsender Imedi TV und Rustavi 2, die zusammen einen Marktanteil von über 60 Prozent haben, sowie der staatliche öffentliche Rundfunk gelten als regierungstreu, geben der Opposition wenig Sendezeit und verzichten weitgehend auf kritische Berichterstattung. Opposition und Kritiker fühlen sich immer stärker von der Regierung bedrückt. So leidet bereits seit zwei Jahren die Gewerkschaftsbewegung im Land unter den Versuchen, sie auszuschalten. Bei der gewaltsamen Auflösung von Oppositionsprotesten im Mai 2011 kamen fünf Menschen ums Leben, es gab Hunderte Verhaftungen und zahlreiche Fälle von Folter und willkürlicher Polizeigewalt. Ende Dezember 2011 wurden Gesetze zur Neuregelung der Parteien- und NGO-Finanzierung im Parlament beschlossen. Der Eindruck, dass hierdurch die Opposition und die kritische Zivilgesellschaft von finanziellen Zuwendungen abgeschnitten werden sollen, ist weiterhin vorhanden. Nach dem neuen Parteienfinanzierungsgesetz sind Zuwendungen von Unternehmen und Organisationen an Parteien generell verboten. Parteien können nur noch Zuwendungen von Privatpersonen erhalten, jedoch nicht mehr als 60 000 GEL – circa 27 000 Euro – pro Jahr. Mitgliedsbeiträge sind auf 1 200 GEL – circa 500 Euro – pro Jahr und Parteimitglied begrenzt. Besonders kritisch einzuschätzen ist ein Paragraf, der das Finanzierungsverbot auf solche Organisationen ausdehnt, die direkt oder indirekt mit politischen Parteien verbunden sind. Diese Regelung verstärkt die Möglichkeiten, gegen unliebsame NGOs und ihre Unterstützer vorzugehen. Internationale Organisationen sind aufgrund dieser Regelung gezwungen, ihre Kooperation mit kritischen NGOs zu überprüfen und möglicherweise einzustellen. Anlass für die Neuregelung war der überraschende Eintritt des georgischen Milliardärs Bidzina Ivanishvili in die Politik, der im Dezember 2011 die politische Organisation „Georgian Dream“ gründete. Von Beobachtern wird er nicht zuletzt aufgrund seiner stabilen ökonomischen Situation und seinen unterschiedlichen gesellschaftlichen Verbindungen als ernstzunehmende politische Konkurrenz für die derzeitige Regierung angesehen. Inzwischen wurde ihm die georgische Staatsbürgerschaft entzogen und eine Kandidatur für ein politisches Amt damit vorerst unmöglich gemacht. Außerdem wurden eine Untersuchung gegen die ihm gehörende Cartu-Bank eingeleitet, Gelder beschlagnahmt und Kunden angehalten, zu anderen Banken zu wechseln. Durch die erwähnte Neuregelung der Parteien-finanzierung sollte zudem verhindert werden, dass der Milliardär sein Privat- oder Firmenvermögen zur -Finanzierung seiner Partei nutzen kann. Bereits vier Tage nach Inkrafttreten der neuen Finanzierungsregeln wurde „Georgian Dream“ aufgefordert, ihre Finanzen gegenüber einer neu errichteten Kontrollbehörde offenzulegen. Die autoritären Maßnahmen gegen Ivanishvili und der Versuch, seine Kandidatur unter allen Umständen zu verhindern, zeigen, dass die derzeitige Regierung noch erhebliche Schwierigkeiten mit einem offenen Pluralismus und wirkungsvollen demokratischen Strukturen hat. Ein weiterer Ausdruck hierfür dürfte auch die 2012 erfolgte Verlegung des Parlaments in das vier Autostunden von der Hauptstadt Tiflis und damit vom Regierungssitz entfernte Kutaisi sein. Ein Parlament im Abseits kann keine Regierung wirksam kontrollieren. Angesichts dieser kritischen innenpolitischen Entwicklungen, aber ebenso aufgrund der zu Beginn bereits erwähnten außenpolitischen Bedingungen und Konfliktpotenziale ist der Prozess der Annäherung Georgiens an die EU ebenso wie bei der Unterstützung seines NATO-Beitrittsgesuchs mit Augenmaß und höchster politischer Sensibilität zu gestalten. Deshalb ist bei einer Debatte wie dieser zu fragen: Welche konkrete Botschaft wollte Bundesaußenminister Westerwelle dem georgischen Staatspräsidenten bei seinem Besuch im März 2012 anlässlich des 20-jährigen Bestehens der diplomatischen Beziehungen zwischen Georgien und Deutschland übermitteln? Was heißt es, wenn in diesem Zusammenhang der Außenminister erklärt, er wolle „aktiver Fürsprecher“ bei der Annäherung Georgiens an die euroatlantischen Strukturen sein? Was versteht er genau, wenn er Stabilität und Rechts-sicherheit als Voraussetzungen hierfür betrachtet? Wir sehen es mit kritischem Blick, wenn die Bundesregierung unter Bezug auf die im Oktober 2012 anstehenden Parlamentswahlen und die 2013 stattfindenden Wahlen des Präsidenten bereits jetzt große Fortschritte sieht und glaubt, dass Georgien auf diesem Weg weiter voranschreite. Selbstverständlich müssen sich Deutschland und die EU weiter für den Aufbau einer starken und lebendigen Demokratie in Georgien einsetzen. Die SPD-Bundestagfraktion wird hierzu ihre Beiträge leisten. Allerdings überwiegen derzeit unserer Ansicht nach jedoch mehr die Mängel als die geringen Fortschritte. Deswegen kommen wir auch in Bezug auf die Frage der Annäherung an die euroatlantischen Strukturen zu einer kritischeren Einschätzung. Wichtig und davon unbenommen ist und bleibt die weitere Einbindung Georgiens in die Politik der Östlichen Partnerschaft. Diese Form der europäischen Nachbarschaftspolitik bringt Georgien näher an die EU, sowohl auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene. Hier geht es um die Bereiche Demokratie und gute Regierungsführung, Wirtschaft, Energie und den direkten Kontakt zwischen den Menschen. Dort ist noch ein erheblicher Spielraum für Fortschritte, insbesondere in enger Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Vertretern vor Ort, durch den Austausch von Know-how und gegenseitigen Erfahrungen. Auch die Europäische Union erkennt zwar die Bestrebungen Georgiens zur Annäherung an die EU und seine Selbstverpflichtung, eine stabile Demokratie aufzubauen, ebenso wie seine Fortschritte bei der Modernisierung von Staat und Gesellschaft an. Sie fordert aber unter Bezugnahme auf die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von Georgien, dass diese nach international anerkannten demokratischen Standards erfolgen müssen. Diese Entwicklung müsse man in Georgien bis zu den Wahlen sehr genau beobachten. Unabdingbar sei die Stärkung der demokratischen Strukturen wie Pluralismus, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und gleicher Zugang zu Medien sowie eine unabhängige Justiz. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute in erster Lesung behandeln, ist ein umfassender Forderungskatalog, in dem viele Themen und Bereiche der engeren Kooperation mit Georgien engagiert aufgegriffen werden. Inwieweit die Bundesregierung auf diese Forderungen in den Ausschussverhandlungen eingehen wird, bleibt offen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Beratungen entsprechend der ausgeführten Sichtweise konstruktiv-kritisch begleiten. Birgit Homburger (FDP): Deutschland und Georgien feiern in diesem Jahr 20 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen ihren Ländern. In dieser Zeit gab es eine stetige Intensivierung der Zusammenarbeit und Annäherung Georgiens an die Europäische Union und die NATO. Die FDP hat diesen Kurs stets ausdrücklich unterstützt. Wie wichtig dieser Bundesregierung die Beziehungen zu Georgien sind, hat der Bundesaußenminister mit seiner Reise in den Kaukasus Mitte März noch einmal unterstrichen. Vor allem hat Georgien stets ein großes Interesse an einer Mitgliedschaft in der NATO erkennen lassen. Die NATO hat im September 2008 in Bukarest beschlossen, dass Georgien ein NATO-Beitritt in Aussicht gestellt wird. Georgiens Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit in -Afghanistan und sein vielfältiges Engagement in der -europäischen und transatlantischen Staatengemeinschaft kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Auch die Bundesregierung will auf dem Chicagoer Gipfel im Mai dieses Jahres dieses beachtliche Engagement Georgiens würdigen. Ein zentraler Punkt bleiben die regionalen Konflikte. Leider sind nach wie vor keine großen Fortschritte in Abchasien und Südossetien gemacht worden, trotz intensiven Engagements der Europäischen Union im Rahmen der Beobachtermission EUMM und der Östlichen Partnerschaft. Die Region bleibt gespalten, trotz vielfältiger Bemühungen und Kontakte zur Konfliktlösung. Es werden bereits heute wesentliche Anstrengungen gemeinsam unternommen, um die Situation zu verbessern. Deutschland ist beispielsweise als größter Beitragszahler der EU an dem Programm Confidence Building Early Response Mechanism, COBERM, das von der Europäischen Kommission durchgeführt wird, beteiligt. Es wurde dadurch unter anderem ein Verbindungsmechanismus zwischen den De-facto-Behörden in Abchasien und der Regierung in Tiflis eingerichtet. Insofern sind die nötigen Anstrengungen bereits in vollem Gange und müssen nicht etwa von den Grünen in einem Antrag angemahnt werden. Die völkerrechtliche Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland ist und bleibt unzulässig. Völkerrechtlich sind beide Gebiete eindeutig georgisches Staatsgebiet. Die territoriale Integrität Georgiens ist – aus meiner Sicht – auch weiterhin ein zentraler Punkt, der nicht verhandelbar ist. Immerhin gibt es seit Ende letzten Jahres wenigstens eine gewisse Bewegung. Georgien hat Ende letzten Jahres dem Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation zugestimmt und somit seine Bereitschaft zur Kooperation demonstriert. Das Angebot der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen von Russland an Georgien vor wenigen Wochen ist nun ein Schritt Russlands hin zum Abbau der Spannungen. Gleichwohl bleibt nach wie vor die vollständige Einhaltung der Waffenstillstandsvereinbarungen vom August 2008 und des Implementierungsabkommens vom September 2008 offen. Hierzu zählt der Rückzug der russischen Truppen auf die vor Ausbruch der Feindseligkeiten im August 2008 eingenommenen Positionen. Hier gilt es auch weiter in Gesprächen auf Russland einzuwirken, seinen Verpflichtungen vollständig nachzukommen. Wichtig bleibt weiterhin die Forderung nach freiem Personenverkehr zwischen den Sezessionsgebieten und Georgien. Auch hier muss sich Russland bewegen. Wir werden auch weiterhin die Beziehungen zu Georgien stärken und das Land bei den Reformen und in seiner weiteren Entwicklung unterstützen. Dies haben wir unter anderem durch eine Vereinbarung und Erleichterungen im Visaverfahren getan. Die Schaffung von Visafreiheit zwischen Georgien und der Europäischen Union bleibt weiter unser Ziel. Der von den Grünen vorgelegte Antrag ist ein erneuter Anlass zur Beschäftigung mit der Region, der jedoch nicht nötig gewesen wäre. Denn die Region steht für uns ohnehin im Fokus deutscher Außenpolitik. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Bündnis 90/Die Grünen beantragen, dass sich die Bundesregierung für eine engere Kooperation mit Georgien einsetzen soll, dies vor allem auch über die EU. Eine gute Kooperation mit Georgien und anderen Ländern der Kaukasus-Region ist sinnvoll und nötig. Neue Aufrüstung, Abbau demokratischer Rechte, die Gefahr bewaffneter Konflikte muss ausgeschlossen werden. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu Georgien beinhaltet viel Kritisches zur Lage in Georgien und zur deutschen Kaukasus-Politik. Das ist vernünftig und unterstützenswert. Glaubwürdiger allerdings wäre es, wenn sich die richtige Kritik nicht nur auf die schwarz-gelbe Regierungszeit beschränken würde, sondern die Regierungszeit Schröder/Fischer mit einbezöge. Der Kaukasus-Raum war geschichtlich und ist aktuell in hohem Maße umkämpft. Immer ging es in dieser -Region um den Zugriff auf Naturressourcen, die in -Georgien selbst weniger, aber in der Region in großem -Umfang vorhanden sind. Georgien ist wichtig als -Transitland auch für die Energieversorgung, als politisches und kulturelles Zentrum, als eine der Mächte, die in dieser Region um Hegemonie kämpfen. Diese Zusammenhänge auszublenden, wie es zum Teil im Antrag -geschieht, hieße, eine falsche Politik fortzusetzen. Ein Blick in den Antrag „Keine NATO-Erweiterung – Sicherheit und Stabilität mit und nicht gegen Russland“ der Linken vom 3. Dezember 2008 (Drucksache 16/11247) könnte für den Erkenntnisfortschritt sinnvoll sein. Der Antrag der Grünen enthält leider keinen frischen, neuen Gedanken. Er stellt zu Recht fest, dass Georgien den Krieg gegen Russland begonnen hat. Das ist mutig, aber nicht ganz neu. Er blendet aber die Analyse aus, was die georgische Politik zu diesem irrationalen Schritt ermuntert hat. Ist es nicht so, dass die USA in der Bush-Regierungszeit und bis heute Georgien aufgerüstet hat? Ist es nicht so, dass allein das Versprechen, Mitglied der NATO werden zu können, zum georgischen Abenteuer ermuntert hat? Gehört es nicht zu einer vernünftigen Politik, festzuhalten, dass die Ausweitung der NATO in den südlichen Raum der ehemaligen Sowjetunion alle Einkreisungsängste in Moskau bestärken muss? Der NATO-Mitgliedschaft Georgiens ist eine prinzipielle Absage zu erteilen, weil sie das strategische Gleichgewicht im euro-asiatischen Raum extrem verändern würde. Eine solche Festlegung vermeidet der grüne Antrag. In der NATO-Frage agieren die Grünen, speziell auch mit diesem Antrag, nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Keine ganz neue, jedoch eine hochentscheidende Frage wäre das Verbot aller Waffenexporte in den kaukasischen Raum. Die Linke ist für ein prinzipielles Verbot von Waffenexporten. Eine solche Haltung wollen wir den Grünen ja gar nicht abnötigen und erwarten sie auch nicht von ihnen. Aber eine Festlegung, an die Konfliktländer Georgien, Aserbaidschan und Armenien werden keine Waffen exportiert, unabhängig davon, ob das zur Zeit praktisch geschieht oder nicht, ist trotzdem notwendig. Als Mitglied der NATO trägt Deutschland nicht nur für das eigene Verhalten, sondern für die Gesamtheit der NATO-Politik Verantwortung. Zu einer neuen Politik im Kaukasus-Raum würde auch gehören, Grundlagen für eine Konferenz für -Sicherheit und Zusammenarbeit zu schaffen. Die Staatengebilde Abchasien und Südossetien sind von der Mehrheit der Staaten nicht anerkannt, und sie sind, -genau wie der Kosovo, völkerrechtswidrig zustande gekommen. Nichtsdestotrotz sind sie eine Realität. Wie soll also damit umgegangen werden? Wie soll sich künftig das Verhältnis Georgien – Russland entwickeln? Wäre nicht auch hier der Rückgriff auf eine Konzeption „Wandel durch Annäherung“ angesagt? Erste Schritte sind gegangen worden. Der Antrag spricht sich in diese Richtung aus. Wäre, das intensiver zu befördern, nicht Aufgabe eines solchen Antrages? Georgien hat über 1 000 Soldaten in der ISAF-Mission in Afghanistan und plant, 2012 weitere Soldaten zu entsenden. Bis zum 1. September 2011 sind in Afghanistan zehn georgische Soldaten zu Tode gekommen. Dazu schweigt der grüne Antrag. Das wundert mich nicht. Wäre es nicht ein solidarischer Rat an die georgische Politik, die georgischen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen? Einen Antrag zu formulieren, der solche Fragen nicht ausspart, sondern sie thematisiert, wäre ein interessanter Beitrag zur deutschen Außenpolitik. Der grüne Antrag konzentriert sich auf die Europäische Union. Aber diese wird so zeitlos geschildert wie ein blauer Faltenrock. Haben wir es nicht mit einer Europäischen Union in einer tiefen Krise zu tun? Und darf man der Frage, wie kooperationsfähig die EU derzeit ist, völlig ausweichen? Nun hat der Westen, hat die EU und hat die deutsche Politik ja in der Vergangenheit nicht wenig Einfluss auf die Entwicklung Georgiens genommen. Die sogenannte Rosenrevolution wurde vom Westen massiv unterstützt. Dieser bisherige Einfluss des Westens hat jene Ergebnisse gezeitigt, die Sie zutreffend kritisch benennen. Sie müssen feststellen, dass die Bilanz der demokratischen Entwicklung gemischt ist. Die Bekämpfung der Korruption, die Polizeireform, die Reform der Steuergesetzgebung und die Verbesserung der Investitionsbedingungen durch Privatisierung und Marktliberalisierung haben in den letzten Jahren Fortschritte erzielt. Aber es bestehen Missstände beim Wahlrecht und in der Durchführung von Wahlen, das Justizwesen ist nicht demokratisch und unabhängig, es gibt autoritäre Tendenzen, die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition, der Medien und der Zivilgesellschaft sind eingeschränkt. Anders ausgedrückt: Das, was die europäischen multinationalen Konzerne, die Energieriesen interessiert, das funktioniert. Was nicht funktioniert, ist die Demokratie für die Menschen in Georgien. Und die Bevölkerung verarmt. Entwicklung gibt es für das Kapital; die Menschen haben keinen Einfluss auf ihre Zukunft. Die Linke steht für Schutz der Souveränität der Staaten, für das Recht auf eigenständige Entwicklung und Nichteinmischung. Im Interesse einer friedlichen Entwicklung der Region und Georgiens unterstützen wir die Bemühungen um eine ständige Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Kaukasus. Wir sind der Meinung, dass der Kaukasus nicht in erster Linie für unsere Energiesicherheit zuständig ist, sondern dass wir – unter strikter Beachtung der Gleichberechtigung und Nichteinmischung – mithelfen müssen, den kaukasischen Gesellschaften eine unabhängige Entwicklung in Sicherheit zu ermöglichen. Die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi haben für Russland einen hohen ökonomischen und emotionalen Stellenwert. Ich gebe zu, dass ich kein Freund der wachsenden Kommerzialisierung von Sportereignissen und des damit verbundenen Kampfes um nationales Prestige bin; im Gegenteil. Aber den Anlass der Olympischen Winterspiele in der Region ernst zu nehmen und Vorschläge zu unterbreiten, dass nicht nur ein olympischer Friede gewahrt wird, sondern um die Olympischen Spiele in Sotschi herum hinsichtlich des Friedens ver- und gehandelt wird, dass vertrauensbildende Maßnahmen stattfinden, daraus muss mehr als ein Appell an die russische und georgische Politik werden. Der vorliegende Antrag der Grünen spricht en détail viele wichtige Fragen an, die auch die Linke stellt, drückt sich aber um wichtige politische Probleme und strategische Ausrichtungen. Darüber werden wir mit den Antragstellern und allen Fraktionen streiten. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit großem Interesse haben wir die Reise von Bundesaußenminister Westerwelle in der vergangenen Woche in den Südkaukasus verfolgt. Wir freuen uns, dass er bei seinen Gesprächen in Tiflis für eine verstärkte regionale Kooperation geworben hat. Das war ganz in unserem Sinne. Deutschland und die EU müssen sich weiter für den Aufbau „einer starken und lebendigen Demokratie in Georgien“ einsetzen. In einer Rede an der Nationalen Universität von Tiflis hat der Minister die Vision eines „paneuropäischen Raumes der Freiheit, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und des Wohlstands“ skizziert. Nehmen wir den Anspruch des Bundesaußenministers beim Wort! Wer jedoch eine solche Vision in den Raum stellt, sollte vorher die Kriegswunden von 2008 heilen. Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien sowie der Nichtumsetzung des vereinbarten Abzugs der russischen Armee aus den Sezessionsgebieten erscheinen die Hürden für eine Annäherung an Russland derzeit noch unendlich hoch. Der zivilen EU-Beobachtungsmission EUMM – im Moment die einzige internationale Präsenz zur Überwachung und Mediation des Konflikts – wird dazu von den De-facto-Regierungen der Zugang verweigert. Die Genfer Gespräche bringen keine Fortschritte und laufen sich regelmäßig fest. Mit diesem Antrag möchten wir einen Beitrag leisten, um die starren Fronten aufzuweichen: Alle beteiligten Seiten müssen sich aufeinander zu bewegen. Hilfreich sind aus unserer Sicht Projekte, die unterhalb der -tatsächlichen Statusfrage ansetzen. Wir wollen die -Menschen in den Regionen zueinander bringen und vertrauensbildende Maßnahmen intensivieren – mit den vorhandenen Mitteln der Außen- und Auswärtigen Kulturpolitik. Gleichzeitig müssen die Menschen im Südkaukasus auch spüren, dass sie im Kerneuropa willkommen sind. Dafür müssen wir ihnen deutlich mehr anbieten als bisher. Erst wenn die Menschen aus Georgien ohne große Hürden nach Europa kommen können, können sie von den Erfahrungen der parlamentarischen Demokratie direkt lernen. Daher werten wir die im Rahmen der EU-Mobilitätspartnerschaft am 1. März 2011 in Kraft getretene Visaliberalisierung für ausgewählte Personenkreise als ersten Schritt, sehen diesen jedoch kaum als hinreichend an: Wenn sich die Georgierinnen und Georgier nicht enttäuscht von der EU abwenden sollen, muss deutlich mehr passieren als die Halbierung der Visakosten und der erleichterte Zugang für kleine Kreise der Bevölkerung. Wir möchten eine zeitnahe Umsetzung der Visa-freiheit für alle Georgierinnen und Georgier. Innenpolitisch hat Georgien bei der Bekämpfung der Korruption einige Erfolge erzielt. Darauf sollte aufgebaut werden. Mittlerweile scheint allerdings die Reformbereitschaft eher erlahmt zu sein. Die Regierung -Saakaschwili klammert sich an ihre Macht. Mit repressiven Methoden baut sie stärker auf Machterhalt als auf inhaltliche Überzeugung der eigenen Bevölkerung. Der Druck auf die politische Opposition nimmt zu. Internationale Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International berichten von einer verstärkten Kontrolle der Oppositionspolitiker und parteiloser Unterstützerinnen und Unterstützer. Sie werden vom Rechnungshof befragt. Allerdings dienen diese Befragungen weniger der Aufklärung steuerrechtlicher Vergehen, sondern sind vielmehr Teil einer politischen Einschüchterungsstrategie. Die Opposition hat verstanden, ihre Kräfte zu bündeln und sich mit einem alternativen Programm zu präsentieren. Das macht sie erstmals für den amtierenden Präsidenten gefährlich. Die Parlamentswahlen in diesem Jahr sind ein echter Lackmustest. Sie werden Aufschluss darüber geben, welche Schritte Georgien auf dem Weg zur Demokratie bereits gegangen ist und welche noch zu gehen sind. Beispielhaft dafür steht die Reform des Wahlrechts: Vieles von dem, was die Venedig-Kommission bemängelt hatte, konnte aufgegriffen und umgesetzt werden. Nun muss man sehen, wie sich das Beschwerde- und Anfechtungsverfahren, die neu zugeschnittenen Wahlbezirke oder auch das System der Wahlkampfberichterstattung bei den ersten Wahlen bewähren. In den zurückliegenden Wahlen gab es zahlreiche Beschwerden seitens der Oppositionsparteien über den Missbrauch administrativer Mittel und Ressourcen durch die Regierungspartei. Aber erst mit einer ordnungsgemäß abgelaufenen Wahl zeigt sich, ob ein Land wirklich den Weg in die Richtung einer Demokratie beschritten hat. Erst wenn tatsächlich gleiche Bedingungen für alle Kandidatinnen und Kandidaten herrschen, wenn es adäquaten Medienzugang für die Opposition landesweit gibt, dann wird auch in Georgien davon gesprochen werden können, dass es sich um freie und faire Wahlen handelt. Darüber hinaus ist das Justizwesen immer noch Ausgangspunkt für Kritik. Bislang werden die Richter auf zehn Jahre gewählt. Angekündigt wurde hier nun eine Reform bzw. eine Verfassungsänderung für die Zeit nach den Präsidentschaftswahlen von 2013, die die Ernennung von sämtlichen Richtern auf Lebenszeit vorsieht. Mit einer solchen Reform ließe sich die Unabhängigkeit der Justiz sicherlich verbessern. Allerdings ist die Quote der Freisprüche mit 0,2 Prozent im internationalen Vergleich immer noch unfassbar niedrig. Von einer unabhängigen Justiz kann kaum gesprochen werden, wenn bei den Urteilen fast ausnahmslos den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprochen wird. Ähnlich wird die Lage von den Vertretern der jungen Rechtsanwälte Georgiens eingeschätzt, die die Urteile gegen Oppositionelle und Aktivisten nach den regierungskritischen Demonstrationen 2009 analysiert hatten. Offenbar wurden sie nach einem einheitlichen -Muster verurteilt: Als Zeugen waren ausschließlich Polizisten geladen, Prozesse wurden auffallend schnell abgewickelt, und das Urteil in der zweiten Instanz wich in keinem der Fälle von dem der ersten ab. Auch an dieser Stelle trat eine gewisse Ernüchterung über die Unabhängigkeit des Justizsystems ein. Damit bleibt die von Bundesminister Westerwelle skizzierte Vision eines „paneuropäischen Raumes der Freiheit, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und des Wohlstands“ vorerst viel Wunschdenken, aber umso mehr wird eine intensivere Zusammenarbeit mit Georgien benötigt, die das Land auch tatsächlich zu weiteren Reformen stimuliert. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8778 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar -Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit – Behindertenrechtskonvention umsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv gestalten – Drucksache 17/8926 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Dies betrifft Klaus Riegert, Karin Roth, Helga Daub, Dr. Ilja Seifert und Uwe Kekeritz. Klaus Riegert (CDU/CSU): Die UN-Behindertenrechtskonvention will sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen den gleichen menschenrechtlichen Schutz erhalten wie Menschen ohne Behinderungen. Sie schafft somit keine Sonderrechte, sondern konkretisiert die universellen Menschenrechte für die Bedürfnisse und Lebenslagen behinderter Menschen. Im Zentrum steht das Recht auf Gleichbehandlung, Teilhabe und Selbstbestimmung. Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll als einer der ersten Staaten am 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Februar 2009 ratifiziert. Seit Ablauf der 30-Tage-Frist am 26. März 2009 sind die UN-Behindertenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll für Deutschland verbindlich. Die Einhaltung der Menschenrechte hat für die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung einen äußerst hohen Stellenwert. Im Menschenrechtskonzept hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Menschenrechtsorientierung der Entwicklungszusammenarbeit zur verbindlichen Vorgabe gemacht. Die Strategie des BMZ beruht auf der Förderung sowohl spezifischer Menschenrechtsvorhaben als auch der Querschnittsverankerung des Menschenrechtsansatzes in allen Sektoren und Schwerpunkten der EZ. Der Weltbehindertenbericht belegt: Die meisten Menschen mit Behinderungen haben schlechtere Chancen auf Gesundheitsversorgung, Schul- und Berufsbildung und wirtschaftliche Teilhabe. Sie werden in den Entwicklungsländern häufig diskriminiert und ausgegrenzt. Viele der weltweit über 1 Milliarde Menschen, die eine Behinderung haben, leben in Armut. In Entwicklungsländern hat unter den ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung jeder Fünfte eine Behinderung. Ihre Behinderung ist nicht nur auf ihre körperlichen, sensorischen oder geistigen Beeinträchtigungen zurückzuführen, sondern auf ein Umfeld, das ihnen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt. Menschen mit Behinderungen werden weder in der Millenniumserklärung noch in den Millenniumsentwicklungszielen – MDG – ausdrücklich erwähnt. Deshalb ist es notwendig und richtig, die Einhaltung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit zu thematisieren. Wenn wir Menschen mit Behinderungen nicht in unsere Arbeit mit einbeziehen, werden wir die Millenniumsentwicklungsziele nicht erreichen. Eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit fördert Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Wir betrachten sie als aktive Partner bei der Umsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nur Programme für Menschen mit Behinderungen. Wir streben an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Menschen mit Behinderungen zugänglich sein müssen. Die Aufforderung im SPD-Antrag, den „twin track“Ansatz weiter auszubauen und messbar zu machen, diesen Ansatz haben wir längst verinnerlicht. Unsere Botschaft lautet: Entwicklung inklusiv gestalten! Unser Menschenrechtskonzept sieht vor, dass die Durchführungsorganisationen in Zukunft Vorhaben auf menschenrechtliche Auswirkungen und Risiken prüfen müssen. Weiter verbessern wir menschenrechtliches Monitoring und Evaluierungen. Das BMZ unterstützt in vielen Partnerländern die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsprojekten. In Sierra Leone und Äthiopien werden beispielsweise Menschen mit Behinderungen in Beschäftigungsförderungsmaßnahmen einbezogen. In Vietnam, Indonesien und Kambodscha berät die deutsche Entwicklungszusammenarbeit nationale Regierungen, wie der Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Gesundheitsdienstleistungen und sozialen Sicherungsprogrammen verbessert werden kann. In Chile hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Behörden dabei unterstützt, das nationale System zur Früherziehung inklusiv für Kinder mit Behinderungen zu gestalten. Durch das Projekt wurden über 2 200 behinderte Kinder im ganzen Land in Regelkindergärten aufgenommen. Nach dem Erdbeben in Haiti hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit für Tausende Familien Übergangsunterkünfte gebaut. Dabei wurde besonders auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen geachtet. Wir haben uns im Dezember bei unserem Haiti-Delegationsbesuch ein Projekt der Christophel Blindenmission, CBM, angesehen. Da wird schon einiges geleistet. Aber, es war auch zu sehen, dass es noch eine Menge zu tun gibt. Darüber hinaus konnten im Rahmen von öffentlichen Beschäftigungsprogrammen auch Menschen mit Behinderungen ein zusätzliches Einkommen verdienen. In allen deutschen Maßnahmen des Wiederaufbaus in Haiti werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit arbeitet eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Förderung von Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen zu. In Tansania, Kambodscha und Vietnam hat das BMZ die Einbeziehung von Behindertenverbänden in nationale Armutsreduzierungsprozesse unterstützt. In Haiti werden Organisationen behinderter Menschen mit Trainings und Workshops zu einer besseren politischen Teilhabe befähigt. In Bangladesch werden solche Gruppen bei der Erstellung lokaler Aktionspläne zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention beteiligt. Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ 188 spezifische Projekte mit einem Gesamtvolumen von knapp 54 Millionen Euro gefördert. Neben spezifischen Projekten wird das Thema Inklusion zunehmend in bilateralen Vorhaben querschnittsmäßig berücksichtigt. Für die querschnittsmäßige Verankerung bei der Beauftragung von Programmen gibt es noch kein systematisches Monitoring. Die bestehende Informationsgrundlage ist daher begrenzt. Möglichkeiten zur besseren Datenerfassung werden zurzeit untersucht. Das BMZ fördert derzeit mindestens 14 inklusiv gestaltete Entwicklungsmaßnahmen in Afghanistan, Bangladesch, Chile, Haiti, Indonesien, Indien, Sierra Leone, Tansania und Usbekistan. In Folge der Ratifikation der Konvention hat die Bundesregierung am 15. Juni 2011 den „Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention (NAP)“ beschlossen. Mit dem Aktionsplan regen wir einen Prozess an, der in den kommenden zehn Jahren nicht nur das Leben der rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderungen in Deutschland maßgeblich beeinflussen wird. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung, NAP, enthält im Anhang mehrere Maßnahmen auf die sich das BMZ verpflichtet hat. So ist die Entwicklung einer BMZ-Strategie zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit angekündigt. Deutschland gehört zu den ersten europäischen Ländern, die sich einen eigenen Aktionsplan zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Entwicklungspolitik geben. Die BMZ-Strategie soll das Format eines Aktionsplans haben. Unsere Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gudrun Kopp, hat am 2. Februar 2012 im Rahmen des 3. Runden Tisches zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit die Eckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt und diese mit Vertretern der Zivilgesellschaft, Vertretungsorganisationen von behinderten Menschen und anderen wichtigen Stakeholdern diskutiert. Nächste konkrete Schritte bei der Entwicklung des Aktionsplans sind die Entwicklung konkreter Maßnahmen, ein erster Gesamtentwurf sowie eine Expertenanhörung. Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abgeschlossen sein und dann in die Umsetzung gehen. Auch im weiteren Erstellungsprozess ermöglichen wir der Zivilgesellschaft ein hohes Maß an Beteiligung. Die VENRO AG Behinderung und Entwicklung ist das prominenteste Gremium in der Zivilgesellschaft, das sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit befasst. Die Arbeitskontakte sind gut und konstruktiv. Meine Damen und Herren Sozialdemokraten: Sie müssen uns nicht auffordern, die Zivilgesellschaft an der Erarbeitung der BMZ-Strategie zu beteiligen. Wir tun dies bereits! Dieses gemeinsame Engagement werden wir mit einem eigenen Antrag würdigen und unterstützen! Karin Roth (Esslingen) (SPD): Weltweit leben 1 Milliarde Menschen mit einer Behinderung. Das sind rund 15 Prozent der Weltbevölkerung und weit mehr Menschen, als man bisher annahm. Etwa 80 Prozent der Menschen mit Behinderungen weltweit leben in den Entwicklungsländern. Menschen mit Behinderungen haben einen erschwerten Zugang zu medizinischen Dienstleistungen und Arbeit, sie sind aus vielen Lebensbereichen ausgeschlossen und erfahren gravierende Menschenrechtsverletzungen. Dennoch wurden Menschen mit Behinderungen nicht in den Millenniumsentwicklungszielen erwähnt. Dies muss sich ändern. In einer Broschüre des Vereins „Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit“ wird ein Afrikaner mit Behinderung wie folgt zitiert: „In den reichen Ländern kämpfen Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes Leben und für bessere Unterstützung. In den armen Ländern kämpfen die Menschen um Nahrung und Wohnung.“ Das bringt es auf den Punkt. Noch etwas zugespitzter kann man sagen: Die Menschen mit Behinderung kämpfen ums blanke Überleben, und ihre Chancen sind noch schlechter als die der Menschen, die nicht zusätzlich eine Behinderung haben. Im Jahr 2000 hat sich die Weltgemeinschaft auf die sogenannten Millenniumsentwicklungsziele geeinigt, mit denen man bis zum Jahr 2015 die weltweite Armut halbieren will. Aber Menschen mit Behinderung wurden nicht erwähnt, obwohl sie von jedem einzelnen Ziel angesprochen sind. Ziel 1: Halbierung der Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben. Ein Fünftel dieser Menschen, so wird geschätzt, hat eine Behinderung. Ziel 2: Bildung. Nach UNESCO-Schätzungen gehen circa 90 Prozent der Kinder mit Behinderung nicht zur Schule. Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter. Frauen und Mädchen mit Behinderung sind sozusagen doppelt diskriminiert: als Frau und als Behinderte. Frauen mit Behinderung werden weit häufiger Opfer sexueller Übergriffe. Ziel 4: Kindersterblichkeit. Die Sterblichkeit von Kindern mit Behinderung liegt weltweit bei 80 Prozent. Ziel 5: Müttergesundheit. Komplikationen während der Schwangerschaft und bei der Geburt führen häufig zu Behinderungen bei Mutter und/oder Kind. Ziel 6: Im Kampf gegen Aids werden Menschen mit Behinderung weitgehend ausgeschlossen, weil man beispielsweise häufig annimmt, sie seien sexuell nicht aktiv. Gleichzeitig sind aber – siehe Ziel 3 – Frauen und Mädchen mit Behinderung einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Ziel 7: Umweltschutz. Ein Drittel aller Krankheiten, die eine Behinderung verursachen können, werden durch Umweltrisiken ausgelöst. Und, last but not least, Ziel 8: Globale Partnerschaft für Entwicklung. Dies bedeutet auch, dass Menschen mit Behinderungen in alle Strategien und Programme aufgenommen werden, nicht nur als Begünstigte, sondern auch als Mitwirkende. Wenn es eines Beweises bedurfte, warum die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen längst überfällig war, dann reicht ein Blick auf die Millenniumsziele. Aber es reicht eben nicht, dass diese Konvention seitens der Bundesregierung ratifiziert wurde. Sie muss auch umgesetzt werden. Erst auf Druck von Zivilgesellschaft und Opposition hat die Bundesregierung die internationalen Aspekte im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention aufgenommen. Minister Niebel kündigte 2010 zwar vollmundig eine Strategie für eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit an; diese liegt aber noch immer nicht vor. Wenn es gut läuft, wird jetzt, fast drei Jahre später, ein erster Entwurf vorliegen. Allgemein wird wahrgenommen, dass das Engagement der Ministeriumsleitung in dieser Frage weit hinter dem für Wirtschaftskooperationsprojekte zurücksteht. Und wie man hört, gibt es auch noch keinerlei Pläne für eine Finanzierung des Ganzen. Dabei ist es genau jetzt Zeit, politische Entscheidungen durch finanzielle Ressourcen im Rahmen des Haushalts 2013 zu treffen. Deswegen fordern wir die Aufnahme einer Zielgröße „Menschen mit Behinderung“ in den Einzelplan 23 – jetzt. Wir brauchen eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit. Die Broschüre des Vereins „Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit“ in einfacher Sprache stellt dies mit klaren Worten dar: „Inklusiv bedeutet: Für alle Menschen gleich. Für Menschen mit und ohne Behinderung. Entwicklungs-Zusammen-Arbeit bedeutet: Die reichen und die armen Länder arbeiten zusammen, damit das Leben in den armen Ländern besser wird. Es soll dort allen Menschen besser gehen. Menschen mit und ohne Behinderung. Alle Menschen sollen einen guten Beruf haben. Sie sollen ein selbstbestimmtes Leben führen. Sie sollen am Leben in der Gesellschaft teilnehmen können.“ Klarer lassen sich die Ziele, auch die Ziele unseres Antrags, kaum ausdrücken. Inklusion wird auch bei den Durchführungsorganisationen noch immer als Randthema wahrgenommen. Die praktische Umsetzung der Belange von Menschen mit Behinderungen bleibt hinter der theoretischen Berücksichtigung in Konzepten und Strategien der staatlichen EZ zurück. Ein wirksames Monitoring fehlt, ebenso wie belastbare Daten und wissenschaftliche Erkenntnisse über wirkungsvolle Maßnahmen der Inklusion. Es muss also dringend gehandelt werden. Auf internationaler Ebene muss die Bundesregierung insbesondere für zwei Dinge Sorge tragen. Zum einen muss die Situation von Menschen mit Behinderung bei der Rio+20-Konferenz behandelt werden. Zum anderen muss die Situation von Menschen mit Behinderungen sowohl in den Millenniumszielen verankert werden als auch fester Bestandteil des Nachfolgeprozesses nach 2015 werden. Auf nationaler Ebene geht es darum, die Entwicklungszusammenarbeit in allen Bereichen inklusiv zu gestalten. Ihr sonst üblicher Ablehnungsgrund eines Antrags der SPD – er sei zu lang und es gebe zu viele Forderungen – kann diesmal nicht greifen. Deswegen schauen Sie sich den Antrag an, und überlegen Sie ganz genau, ob Sie wirklich gute Argumente haben, um diese Forderungen abzulehnen, und wie Sie dies den Betroffenen erklären. Helga Daub (FDP): Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und deren Umsetzung in der Entwicklungszusammenarbeit ist ohne Zweifel ein Thema, welches wichtig ist. Da sind wir uns hier im Haus alle einig. Für die Liberalen ist Behinderung ein Menschenrechtsthema. Schon zu Beginn dieser Legislaturperiode hat das BMZ deutlich gemacht, dass wir die Realisierung der Menschenrechte wieder stärker in den Mittelpunkt deutscher Entwicklungspolitik stellen werden. Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind hierbei ein besonderes Anliegen. Menschen mit Behinderungen sind weltweit eine der Gruppen, deren Menschenrechte am eklatantesten missachtet und verletzt werden – besonders aber in Entwicklungsländern. Ob es um Arbeitsplätze, Bildungschancen oder den Zugang zu medizinischer Versorgung geht: Überall finden sich Benachteiligungen für Menschen mit Behinderung. Die von Deutschland 2009 ratifizierte VN-Behindertenrechtskonvention wird von uns auch in der Entwicklungszusammenarbeit als Verpflichtung und Leitgedanke für die Arbeit am Nationalen Aktionsplan empfunden und zugrunde gelegt. Bevor ich auf den Stand des Nationalen Aktionsplans eingehe, sei mir ein Wort der Verwunderung an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, gestattet: Ich empfinde es als, gelinde gesagt, seltsam, wenn in einem laufenden Prozess bereits das Ergebnis infrage gestellt wird. Sie schreiben über die angekündigte Strategie für eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit, es sei „frag-lich, ob diese ausreichend konkret und vom gesamten BMZ getragen sein wird, um zu effektiven Fortschritten zu führen, zumal bisher auch keinerlei Aussagen zur -Finanzierung gemacht wurden. Zudem wäre auch ein explizites Engagement des Bundesministers notwendig, damit sowohl das BMZ als auch die Durchführungsorganisationen dem Thema die notwendige Priorität einräumen.“ Den aktiv Beteiligten eines Entstehungsprozesses von vornherein zu unterstellen, sie würden nicht hinter dem Ergebnis dieses Prozesses stehen, das muss leider als reines Oppositionsgebaren eingestuft werden. Schade – bei diesem so wichtigen Thema. Und der Bundesregierung, insbesondere dem BMZ, zu unterstellen, nicht explizit engagiert zu sein, wird insbesondere auch unserer Parlamentarischen Staatssekretärin Gudrun Kopp nicht gerecht, die sich dieses Themas mit Leidenschaft angenommen hat und aktiv an allen Schritten des Nationalen Aktionsplans mitwirkt. Ihr Antrag, so gut er sicherlich gemeint war, ist völlig überflüssig. Denn mit Ihren Forderungen rennen Sie doch bereits weit geöffnete Türen ein. Das offensichtlichste Beispiel ist die Forderung, die Zivilgesellschaft müsse bei der Erarbeitung der BMZ-Strategie eingebunden werden. Das ist sie doch! Das BMZ hat von Beginn an Wert darauf gelegt, das große Engagement der Zivilgesellschaft nicht nur zu würdigen, sondern Interessensvertretungsgruppen ein hohes Maß an Beteiligung zu ermöglichen. Die VENRO-AG „Behinderung und Entwicklung“ ist das wohl bekannteste Gremium in der Zivilgesellschaft, das sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit befasst. Die Arbeitskontakte sind gut und konstruktiv. Der BMZ-Aktionsplan soll bis Ende 2012 abgeschlossen sein und dann in die Umsetzung gehen. Natürlich hätten wir uns schon vor Jahren einen solchen Aktionsplan gewünscht; aber erst unter liberaler Führung hat das Ministerium mit der konkreten Umsetzung begonnen. Nach der Erarbeitung einer Gliederung mit strategischen Zielen im Oktober 2011 folgten mehrere Expertenworkshops und Runde Tische mit allen Beteiligten. Noch vor dem Sommer sollen die konkreten Maßnahmen im Rahmen des Aktionsplans entwickelt sein, um im Sommer, wiederum unter Einbeziehung auch der zivilgesellschaftlichen Experten, den ersten Gesamtentwurf abzustimmen. Schon jetzt brauchen wir uns mit unserem Engagement nicht zu verstecken: Im Jahr 2009 hat das BMZ über den Titel für private Träger 22 behinderungsspezifische Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund 4 Millionen Euro gefördert; das ist im Vergleich zu 2008 fast eine Verdopplung. Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die humanitäre Hilfe an. Hier hat das BMZ mit der Förderung des Wiederaufbaus in der Region rund um die Stadt Léogâne auf Haiti meines Erachtens sehr gute Arbeit geleistet. Schon bei der Prüfmission war ein Experte dabei, der vor Ort mit behinderten Menschen gesprochen hat, um ihre Perspektive bei der Projektplanung zu berücksichtigen. Bei der Umsetzung bei allen Aktivitäten wurde darauf geachtet, dass auch Menschen mit Behinderungen daran teilhaben können; sei es bei der Katastrophenvorsorge, der Stärkung lokaler Akteure oder der wirtschaftlichen Unterstützung der lokalen Bevölkerung. Weitere Beispiele sind vom BMZ geförderte inklusiv gestaltete Projekte in Afghanistan, Bangladesch, Chile, Haiti, Indonesien, Sierra Leone, Tansania und Usbeki-stan. In einem Punkt gebe ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, recht: Es muss noch viel mehr für Menschen mit Behinderung in der Entwicklungszusammenarbeit getan werden. Daher freue ich mich auf die Ergebnisse der intensiven Arbeit am Aktionsplan des BMZ – und darauf, gemeinsam mit Ihnen und allen Kollegen in diesem Haus an der Umsetzung mitzuwirken. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Über 800 Millionen Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern leben mit unterschiedlichsten -Beeinträchtigungen. Kriege, Wasser- und Nahrungsmangel, Epidemien, Naturkatastrophen und fehlende medizinische Versorgung sind Ursachen für einen überproportional großen Anteil von Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen an der Bevölkerung. Insbesondere betrifft es Kinder und Jugendliche. Schlechte gesundheitliche und soziale Versorgung, eingeschränkter Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit, fehlende Barrierefreiheit in der gesamten Infrastruktur und geringe Möglichkeiten für die Entwicklung emanzipatorischer Behindertenbewegungen schränken die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens in Würde und umfassender Teilhabe massiv ein. Es dürfte für alle Fraktionen unstrittig sein: Menschen mit Behinderungen zählen zu den am meisten benachteiligten und ärmsten Gruppen in Entwicklungsländern. Gern möchte ich an dieser Stelle auf Professor -Stephen W. Hawking in seinem Vorwort zum Weltbericht Behinderung von WHO und Weltbank – in der vom Bundestag gefertigten Übersetzung – verweisen: „Dieser Bericht … beschreibt die verschiedenen Barrieren, denen Menschen mit Behinderungen begegnen – in der Haltung, beim physischen Zugang und im finanziellen Bereich. Diese Barrieren abzubauen, liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten.“ Deswegen freue ich mich, dass die SPD mit ihrem Antrag das Thema Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit in Verbindung mit der UN-Behindertenrechtskonvention, vor allem der Art. 11 und 32, auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die Linke teilt das Anliegen dieses Antrages. Die Behindertenrechtskonvention wurde vor über fünf Jahren in der UN-Vollversammlung angenommen und ist seit dem 26. März 2009 in Deutschland geltendes Recht. Gute Worte – sogar von der Bundesregierung – zum Thema gibt es durchaus. Auch die wenigen Handlungsempfehlungen und Maßnahmen im Nationalen -Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sind nicht falsch. Gebraucht werden aber mehr Veränderungen im wirklichen Leben: im Denken und im Handeln von Politik, Wirtschaft und allen anderen Bereichen der Gesellschaft. Die Belange von Menschen mit Behinderungen werden noch zu oft als Ressortpolitik – Soziales – missverstanden, anstatt sie zum inklusiven Bestandteil in allen Bereichen von Politik und Gesellschaft zu machen. Dabei denke ich unter anderem auch an die politischen Stiftungen mit ihren zahlreichen Auslandsbüros. Hier passiert meines Erachtens noch zu wenig. Ich kenne aber auch schon gute Beispiele. So gibt es bereits mehrere erfolgreiche Aktivitäten des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau zur Einbeziehung von Behindertenverbänden in Veranstaltungen sowie bei der Setzung von behindertenpolitischen Themen. Auch vorhandene und künftige Städtepartnerschaften bilden ein nicht gering zu schätzendes Potenzial in diesem Bereich. In der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es in Art. 32: „Die Vertragsstaaten anerkennen die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit … und treffen diesbezüglich geeignete und wirksame Maßnahmen, zwischenstaatlich sowie … in Partnerschaft mit den einschlägigen internationalen und regionalen Organisationen und der Zivilgesellschaft, insbesondere Organisationen von Menschen mit Behinderungen … um a) sicherzustellen, dass die internationale Zusammenarbeit, einschließlich internationaler Entwicklungsprogramme, Menschen mit Behinderungen einbezieht und für sie zugänglich ist ...“ Als Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e. V., ABiD, durch meine Mitarbeit im Deutschen Behindertenrat, DBR, im European Disability Forum, EDF, und die internationale Zusammenarbeit mit mehreren Behindertenverbänden, vor allem aus Osteuropa, weiß ich sehr gut, wie oft die Belange von Menschen mit Behinderungen in der Außen- und Entwicklungspolitik „vergessen“ werden und wie oft auch die Einbeziehung von Vertretern der Behindertenbewegung „vergessen“ wird. Wann waren denn einmal Vertreterinnen und Vertreter von Behindertenverbänden aus Deutschland in den Regierungsdelegationen der Kanzlerin oder des Außenministers oder des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder anderer Mitglieder der Bundesregierung? Ich sehe da vor allem Wirtschaftsvertreter. Und in welchen bilateralen oder multilateralen Vereinbarungen mit anderen Staaten spielen Projekte zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine Rolle? Alle meine diesbezüglichen Anfragen an die Bundesregierung in den letzten Jahren wurden mit einer Fehlmeldung beantwortet. Laut Bundesminister Niebel geht es bei langfristiger Entwicklungszusammenarbeit um den Schutz der Menschenrechte und die Stärkung von Eigenverantwortung und Selbsthilfekräften in den Entwicklungsländern. Herr Minister: Die UN-Konvention ist ein Menschenrechtsdokument! Deswegen erwarte ich von Ihnen und der -gesamten Bundesregierung spür- und messbare Veränderungen bei der Förderung der Zusammenarbeit zwischen und mit den Behindertenverbänden in den Entwicklungsländern und Deutschland. Dieser Aspekt, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, kommt in Ihrem Antrag viel zu kurz. Sie reden für und über Menschen mit Behinderungen. Das Prinzip „Nichts über uns ohne uns!“ zieht sich leider nicht durch Ihren Antrag. Solche Zusammenarbeit kann davor schützen, in anderen Ländern die gleichen Fehler zu machen, wie wir es in Deutschland taten. Dazu gehören unsere Erfahrungen mit Aussonderungseinrichtungen. Zu unkonkret sind mir im SPD-Antrag die mit den inhaltlichen Forderungen verbundenen Konsequenzen für den Bundeshaushalt. Natürlich muss man auch über die gesellschaftlichen Ursachen von Behinderungen und unsere Verantwortung dafür reden: zum Beispiel durch Waffenexporte. Entwicklungszusammenarbeit muss gesellschaftliche Ursachen von Behinderungen zumindest minimieren. Lassen Sie mich zum Schluss an einem Beispiel noch etwas zur Hilfe zur Selbsthilfe sagen. Bei meinen Reisen in Länder Osteuropas sehe ich viele technisch und moralisch verschlissene, in Deutschland ausgesonderte Busse, Straßenbahnen und auch für die Beförderung von Menschen mit Behinderungen vorgesehene Autos. Diese Busse und Straßenbahnen sind natürlich nicht barrierefrei und die „Behindertentransporter“ entsprechen unseren Sicherheitsanforderungen in keiner Weise. Das ist keine Entwicklungszusammenarbeit, die hilft, Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Schrottentsorgung unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und -damit auch noch Geld verdienen, das ist für mich Heuchelei. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Breaking barriers to include!“ Unter diesem Motto stand der erste Weltbericht Behinderung, den die WHO und die Weltbank im vergangenen Jahr gemeinsam veröffentlicht haben. Der Bericht hat erstmals umfassend das Thema Behinderung beschrieben, analysiert und politisch bewertet. Mit diesem Bericht wurde ein wichtiges Zeichen gesetzt und das Thema Behinderung endlich auf die internationale Bühne gebracht. 15 Prozent der gesamten Weltbevölkerung leben mit einer Behinderung; das sind über 1 Milliarde Menschen. Etwa 80 Prozent dieser Menschen leben in Entwicklungsländern und haben kaum Zugang zu medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen oder Bildung; ihre Situation ist prekär. Was oft vergessen wird: Die Situation von Frauen mit Behinderung ist besonders dramatisch; sie erleben oftmals eine doppelte Benachteiligung. Armut und Behinderung sind zwei Faktoren, die sich wechselseitig beeinflussen. Einerseits sind Menschen mit Behinderung in Entwicklungsländern meist bitterarm. 90 Prozent aller Kinder mit Behinderung haben dort keinerlei Zugang zu Bildungsangeboten. Sie finden später keine Arbeit und bleiben ihr Leben lang vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Andererseits sind viele Krankheiten, die Behinderungen auslösen, armutsbedingt und könnten bei einer angemessenen Behandlung gelindert oder gar geheilt werden. Daher muss das Thema Inklusion in der Entwicklungszusammenarbeit endlich systematisch berücksichtigt werden. Der vorliegende Antrag der SPD fordert ganz richtig, Inklusion als Querschnittsaufgabe in allen Bereichen der deutschen und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zu verankern. Deshalb unterstützen wir auch diesen Antrag. Dieses Ziel muss sowohl bei der Arbeit der Durchführungsorganisationen als auch bei der Förderung von Projekten privater und kirchlicher NGOs unbedingt gewährleistet sein. Die Strategie des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Inklusion von Menschen mit Behinderung, die schon lange angekündigt, aber leider noch immer nicht in Arbeit ist, muss einen echten Paradigmenwechsel herbeiführen und verbindlich sein! Das deutsche Engagement für behinderte Menschen darf nicht zu einem Papiertiger verkommen; stattdessen muss bei jedem Projekt hinterfragt werden: Werden die Belange der Menschen mit Behinderung ausreichend berücksichtigt, werden sie besonders gefördert? Es ist darüber hinaus sicherzustellen, dass das neu geschaffene Evaluierungsinstitut bei seiner Tätigkeit auch diesen Aspekt besonders berücksichtigt und überprüft, inwieweit man dem Anspruch der Integration gerecht wird. Dazu muss die Bundesregierung diesen Bereich auch mit angemessenen finanziellen Mitteln ausstatten. Anders kann das Motto des Weltberichts Behinderung nicht umgesetzt und können die Rechte der Menschen mit Behinderung nicht gewahrt werden. Vizepräsidentin Petra Pau: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/8926 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind offensichtlich auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter -Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung – Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts ITER – Drucksachen 17/3483, 17/9025 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann René Röspel Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dr. Petra Sitte Sylvia Kotting-Uhl Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden von Dr. Stefan Kaufmann, René Röspel, Klaus Hagemann, Dr. Peter Röhlinger, Dr. Petra Sitte, Sylvia Kotting-Uhl. Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Der vorliegende Antrag der SPD mit dem Titel „Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung – Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zugunsten des Einzelprojekts ITER“ vom 27. Oktober 2010 ist mittlerweile überholt. Es hat keine Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zugunsten von ITER gegeben. Im Gegenteil: Der Horizon-2020-Entwurf der EU-Kommission sieht richtigerweise eine deutliche Steigerung der Mittel für den Europäischen Forschungsrat vor. Zum besseren Verständnis möchte ich jedoch zunächst das ITER-Projekt vorstellen: Beim ITER-Projekt handelt es sich um den Internationalen Thermonuklearen Experimental-Reaktor, ITER, im französischen Cadarache. Beteiligt an dem Projekt sind außer der Europäischen Union auch China, Indien, Japan, Südkorea, Russland und die USA. Mit 45,5 Prozent trägt die EU als Sitzland den Hauptteil der Kosten. ITER soll die technische und ökonomische Machbarkeit der Energiegewinnung aus Kernfusion demonstrieren. Die Vorteile einer solchen Energiegewinnung wären zahlreich: Erstens. Die für den Fusionsprozess nötigen Grundstoffe – Deuterium, das in natürlichem Wasser enthalten ist, und Tritium, das aus Lithium gewonnen wird – sind nahezu überall auf dieser Welt vorhanden. Zweitens. Die Fusionstechnik hat eine extrem hohe Energiekonzentration zur Folge und benötigt im Gegensatz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr wenig Fläche. Drittens. Klimatische Schwankungen haben – wie auch bei der Kernspaltung – keinerlei Einfluss auf die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für die Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie der Großindustrie. Viertens. Bei der Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Energieform. Wir dürfen daher die Kernfusion – anders als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem Antrag – nicht gegen die Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei harter internationaler Konkurrenz um Wertschöpfungschancen liegt die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandort in der Forschung. Die Fortführung von ITER hat also nichts damit zu tun, die Förderung erneuerbarer Energien oder Forschungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren. Im Übrigen ist die Kernfusion aufgrund der faktisch unbegrenzten Verfügbarkeit der verwendeten Brennstoffe den erneuerbaren Energien gleichzustellen. Fünftens. Die Kernfusionstechnologie bietet auch jenseits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbrechende Entwicklungsmöglichkeiten. Es entstehen Innovationen und Entwicklungen, die ohne diese Forschung kaum zustande gekommen wären. Zahlreiche technologische Nebenprodukte und spin-off-fähige Entwicklungen sind im Zuge der Kernfusionsforschung entstanden. Dazu zählen Entwicklungen im Bereich der Supraleiter, der Prallplatten, der Materialforschung, der Fabrika-tionsprozesse, der Halbleitertechnologie, der Gesundheitsforschung, der Mikrowellentechnologie, der -Magnettechnologie, der Hochleistungsbremsen, der Luft- und Raumfahrt und vieles mehr. Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag die Fusionsforschung als einen – ich zitiere – „spannenden Forschungsbereich“, dessen Vorteile „die dafür langfristig verfügbaren Ressourcen und die relative Umweltverträglichkeit im Vergleich zur Kernspaltung“ sind. An anderen Stellen in Ihrem Antrag lässt sich jedoch eine Distanz zum ITER-Projekt erkennen, die Ihre Unterstützung des Gesamtprojekts zumindest infrage stellt. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass der ITER-Vertrag unter der rot-grünen Regierungszeit ausgehandelt wurde. Heute wollen Sie davon selbstverständlich nichts mehr wissen. Dabei stehen wir auch in internationaler Verantwortung. Das bietet Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobachtung aus. Die Partnerstaaten beobachten sehr genau, wie sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunftsweisenden Projekt verhält. Ständige Forderungen seitens der SPD nach finanziellen Einschränkungen für das ITER-Projekt sind dabei wenig hilfreich. Zudem müssen die Auswirkungen auf die europäische Forschungszusammenarbeit und die deutschen Fusionsprojekte in Garching und Greifswald bedacht werden. Die Helmholtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor allem aber das IPP in Garching, haben bisher überproportional von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert. Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht, ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw. dem Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspektive. Dieses Zukunftsprojekt ITER haben Sie in Ihrem Antrag mit dem Europäischen Forschungsrat, ERC, verknüpft. Ihre Einschätzung, dass beide Projekte unmittelbar miteinander zusammenhängen, kann ich nicht teilen. Der Europäische Forschungsrat wurde vor allem auf Betreiben der Bundesregierung mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm im Jahre 2007 eingeführt. Innerhalb kürzester Zeit hat sich der ERC in der europäischen Forschungslandschaft als ein vorbildliches Modell für die Förderung der Grundlagenforschung etabliert. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, und ich denke, wir alle setzen uns für eine weitere Stärkung des ERC ein. Erst gestern haben bei einer Veranstaltung zu Horizon 2020 von DFG und MPG in der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland alle Podiumsteilnehmer betont, wie wichtig die geplante deutliche Aufstockung der Mittel für den ERC ist. Nun aber zu den einzelnen Forderungen der SPD in Ihrem Antrag: Ihre erste Forderung, „sich auf europäischer Ebene weiter dafür einzusetzen, dass der ERC so weit als möglich frei von administrativen Hürden der Europäischen Kommission arbeiten kann und ein wirklicher Bottom-up-Ansatz verwirklicht wird“, wurde erfüllt. Genau dafür haben wir uns eingesetzt. Ihre zweite Forderung, „dafür zu werben, dass die administrativen Hürden bei der Begutachtung und Auszahlungen der Fördergelder durch den ERC auf ein Mindestmaß zurückgefahren werden“ – auch unter dem Stichwort „Vereinfachung“ zu subsumieren –, wird ebenfalls fraktionsübergreifend geteilt. Ihre dritte Forderung, „darauf hinzuarbeiten, dass das europäische Forschungsbudget innerhalb des 8. Forschungsrahmenprogramms insgesamt erhöht und dabei der ERC verstärkt bedacht wird“, wird aller Voraussicht nach erfüllt. Das Budget für Horizon 2020 soll nach dem aktuellen Entwurf der EU-Kommission von etwa 55 auf 80 Milliarden Euro steigen. Das Budget des Europäischen Forschungsrates wird dabei besonders stark erhöht: von etwa 7,5 auf 13,2 Milliarden Euro. Dies ist besonders erfreulich und wird sicherlich auch fraktionsübergreifend begrüßt. In diesem Punkt ist Ihr Antrag also eindeutig überholt. Ihre vierte Forderung, „sicherzustellen, dass die jetzt für ITER ausgehandelten Mehrkosten die absolute Finanzierungsobergrenze bleiben“, wird ebenfalls von der Regierungskoalition geteilt. Maßgeblich auf deutsche Initiative gehen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates aus dem Juli 2010 zurück, die das Ziel einer besseren Kostenkontrolle und einer Verbesserung des Managements bei ITER verfolgen. So wurde eine Kostendeckelung für den Euratom-Anteil auf 6,6 Milliarden Euro beschlossen. Das Management von ITER wird regelmäßig evaluiert, strenge Aufsichtskommissionen wurden eingerichtet, die die Finanzsituation kritisch beobachten und alle Prüfungsberichte kritisch begleiten sollen. Auch in der Realität wurden seitdem zahlreiche Verbesserungen in der Struktur und beim Kostenmanagement erreicht. Dazu zählt auch die für den europäischen Anteil zuständige Agentur Fusion for Energy, F4E, mit Sitz in Barcelona. Das Management wurde ausgetauscht und Kontroll- und Überprüfungsmechanismen installiert. Außerdem wurde ein Projektbegleiter etabliert, der die Auftragsvergabe kontrolliert. Auch das Controlling wurde verbessert. Insgesamt wurden die Gremien personell erheblich umbesetzt. Die Forderungen der Bundesregierung sind dabei weitestgehend umgesetzt worden. Im Ergebnis sind die Ausschreibungsbedingungen für deutsche Unternehmen zum Beispiel in Haftungsfragen deutlich verbessert worden. Auch bei Transparenz und Vergabepraxis können Fortschritte festgestellt werden. An einigen Punkten müssen wir jedoch weiter arbeiten. Hinsichtlich der Finanzierungslücke bei ITER von gut 1,3 Milliarden Euro für die Jahre 2012 und 2013 wurde nach langen und sehr zähen Verhandlungen im Dezember 2011 im Trilog ein Ergebnis erreicht: 100 Millionen Euro stammen aus den Haushaltslinien für ITER aus dem Haushaltsjahr 2012; die Obergrenze der Verpflichtungsermächtigungen in Haushaltskate-gorie 1 a (Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und -Beschäftigung) wird für die Jahre 2012 und 2013 um insgesamt 840 Millionen Euro angehoben. Im Gegenzug werden die Verpflichtungsermächtigungen von 650 Millionen Euro aus dem Haushalt 2011 und 190 Millionen Euro aus dem Haushalt 2012 abgesenkt. Diese Mittel entstammen den Haushaltskategorien 2 (Landwirtschaft) und der Haushaltskategorie 5 (Verwaltung); 360 Millionen Euro kommen aus Mitteln, die im EU-Haushalt 2013 innerhalb der Obergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens bereitzustellen sind. Dies ist aus forschungspolitischer Sicht mit Blick auf wichtige, laufende Projekte eine angemessene Verteilung. Für die langfristige Finanzierung von ITER nach 2013 ist noch offen, ob diese aus dem EU-Forschungsetat erfolgt oder ob die Ausgaben dort gedeckelt werden, sodass Finanzierungsrisiken zulasten der Mitgliedstaaten gehen würden. Stimmt die SPD der Europäischen Kommission etwa zu, wenn diese das ITER-Projekt außerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens, MFR, finanzieren will? Die Mitgliedstaaten hätten nur geringen Einfluss, müssten aber für die Finanzierungsrisiken voll haften. Diese Position ist nicht unsere. Wer die Verantwortung trägt, muss auch die finanziellen Mittel bereitstellen. Wir als CDU/CSU-Fraktion unterstützen die Bundesregierung in ihrer Position, dass Zuständigkeit und Verantwortung zusammengehören. Ihre fünfte Forderung, „dafür Sorge zu tragen, dass ITER nicht auf Kosten gut funktionierender und auch international als innovativ bewerteter Institutionen und Projekte finanziert wird“, können wir ebenfalls unterschreiben. Bisher ist mir kein derartiges Beispiel bekannt. Für den Europäischen Forschungsrat gilt dies ja ausdrücklich nicht, wie ich bereits zuvor ausgeführt hatte. Ihre sechste und siebte Forderung, „dafür Sorge zu tragen, dass ITER nicht auf Kosten der Erforschung und Nutzung der erneuerbaren Energie und der Energieeffizienz finanziert wird, sondern diese Bereiche ebenfalls stärker ausgebaut werden“, sowie Ihre Aufforderung, dass wir uns dafür einsetzen mögen, „dass für alle Projekte und Institutionen im Forschungsbereich, die jetzt aufgrund von ITER finanzielle Einschränkungen hinnehmen müssen, es im nächsten Haushalt mindestens einen gleichrangigen finanziellen Ausgleich geben wird“, zeigen Ihre bereits erwähnte Distanz zum ITER-Projekt. Völlig ohne finanzielle Einschränkungen werden die Mehrkosten des ITER-Projekts nicht finanziert werden können. Außerdem müssen wir auch der Realität Rechnung tragen. Natürlich war es sinnvoll, den europäischen Finanzierungsbeitrag zu ITER nicht zuletzt auf Intervention der Bundesregierung auf 6,6 Milliarden Euro zu deckeln. Aber es handelt sich hier schließlich um Spitzentechnologie mit höchsten Qualitätsansprüchen. Was nützt es, wenn wir die Kosten reduziert haben, der Reaktor am Ende aber nicht funktioniert? Ihre achte Forderung, „Lösungen zu finden, wie ITER verstärkt durch privatwirtschaftliche Gelder mit-finanziert werden kann“, ist zutreffend. Allerdings muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es sich hier um Grundlagenforschung handelt. Wenn Sie konkrete Vorschläge oder sogar Angebote vorliegen haben, werden wir diese gerne unterstützen. In Ihrer neunten Forderung wiederholen Sie sich einmal mehr. Es bleibt festzuhalten: Ihr Versuch, den Europäischen Forschungsrat und das ITER-Projekt gegen-einander auszuspielen, ist nicht gelungen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass Versuche, eine Verknüpfung zwischen dem Europäischen Forschungsrat und dem ITER-Projekt herzustellen, unberechtigt und nicht zielführend sind. Somit können wir zusammenfassen: Das Grundanliegen der SPD – Stärkung des Europäischen Forschungsrates und eine ausgewogene Finanzierung des ITER-Projekts – ist richtig, jedoch bereits umgesetzt. Sie zetern – die Regierungskoalition handelt. Das ist der Unterschied. Dementsprechend wäre es eher an der Zeit, dass Sie die Regierungskoalition auch einmal für ihre gute Arbeit loben! Ich empfehle die Ablehnung des vorliegenden Antrags. René Röspel (SPD): Wer aktuell durch die Bundestagsgebäude geht, findet in der Halle des Paul-Löbe-Hauses eine Ausstellung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG. Dort wird anhand verschiedener Exponate gezeigt, was für unterschiedliche Projekte die DFG aktuell in Deutschland fördert. Dabei können wir Beispiele aus der Geisteswissenschaft genauso wie aus den Natur- oder Ingenieurwissenschaften bewundern. Alle vorgestellten Projekte haben gemeinsam, dass sie exzellente Ansätze verfolgen und der Grundlagenforschung zuzurechnen sind. Dabei handelt es sich also um Ansätze, die – zumindest im Ansatz – keine direkte Anwendung versprechen. Da mag sich der eine oder andere fragen, ob denn das überhaupt sinnvoll sei. Die Antwort lautet ganz klar: Ja! Denn was uns heute „unnütz“ erscheint, kann morgen bereits die Grundlage für einen technischen oder gesellschaftlichen Durchbruch bedeuten. Selbst Aristoteles, Al-Chwarizmi, Galileo oder Newton hätten sich wohl niemals träumen lassen, dass aufgrund ihrer wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Gravitation einmal Flugzeuge durch den Himmel fliegen würden. Glück für uns, dass diese großen Wissenschaftler sich ganz dem Erkenntnisgewinn verschrieben hatten. Vielleicht zeigt dieses Beispiel bereits, wie wichtig und gesellschaftlich notwendig die Förderung der Grundlagenforschung ist. In Deutschland haben sich besonders die DFG und die Max-Planck-Gesellschaft dieser Aufgabe verschrieben. Leider existieren ähnliche Strukturen aber nicht in allen europäischen Ländern. Deshalb spielt die europäische Förderung der Grundlagenforschung eine so wichtige Rolle. Vor fünf Jahren wurde unter deutscher EU-Präsidentschaft der Europäische Forschungsrat, ERC, eingerichtet. Die deutsche DFG stand dabei Pate. Der ERC fördert exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie bereits etablierte Spitzenforscherinnen und -forscher bei ihrer Grundlagenforschung in Europa. Einziges Kriterium ist die Exzellenz. Im aktuell laufenden 7. europäischen Forschungsrahmenprogramm sind für diese Förderung 7,5 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2007 bis 2013 eingestellt. In nur fünf Jahren hat sich der ERC in der weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft einen exzellenten Ruf aufgebaut. Und das zu Recht! Deshalb ist es nur folgerichtig, dass im derzeit diskutierten Nachfolgeprogramm Horizon 2020 für den ERC eine Budgetverdoppelung eingeplant ist. Heute diskutieren wir aber auch über ein zweites Programm der Grundlagenforschung, welches durch europäische Gelder finanziert wird: das Fusionsforschungsprojekt ITER. Hierdurch sollen grundlegende Fragen im Bereich der Fusion und Energiegewinnung geklärt werden. Durch die bisherigen Arbeiten haben wir durchaus interessante Erkenntnisse gerade im Bereich der Mate-rialforschung gewonnen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben aber noch einen weiten Weg vor sich. Das wäre noch hinzunehmen, wenn dieses Projekt nicht solche enormen Kosten verursachen und uns gleichzeitig Ressourcen in anderen drängenden Bereichen fehlen würden. In der letzten Zeit gab es die berechtigte Befürchtung, dass die aktuellen Mehrkosten bei ITER durch die -Beschneidung anderer europäischer Grundlagenforschungsbereiche gegenfinanziert werden könnten. Dies wäre unverantwortlich. Soweit wir wissen, hat der einstimmige Widerstand, auch aus diesem Haus, dies erst einmal verhindert. Die Finanzierungsdebatte ist aber noch nicht vom Tisch. Aktuell wird in Brüssel darüber diskutiert, ob und, wenn ja, wo sich die Finanzierung für ITER in neuen EU-Budgets wiederfinden wird. Um Konkurrenz zu anderen Forschungsbereichen zu vermeiden, wäre meiner Meinung nach ein eigener Titel innerhalb des EU-Haushaltes der transparenteste Platz für die ITER-Finanzierung. Die öffentliche Förderung der Grundlagenforschung auf nationaler und europäischer Ebene ist richtig und muss ausgebaut werden. Das bisher vorgelegte Konzept für Horizon 2020 zielt dabei in die richtige Richtung. Es muss aber auch zukünftig verhindert werden, dass ein Bereich, in diesem Fall die Fusionsforschung, auf Kosten aller anderen Bereiche und Strukturen vorangetrieben wird. Dafür werden wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch weiterhin einsetzen. Klaus Hagemann (SPD): Die Fusionsforschung kann langfristig einen Beitrag für die Energiesicherheit in Europa bieten. Die Forschung auf diesem Feld ist eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft. Der Fusionsreaktor ITER ist aber nur ein Teil dieses Forschungsfeldes – und deshalb wollen wir diese Form der Energiegewinnung nicht um jeden erdenkbaren Preis erforschen und finanzieren. Die Kosten für dieses Projekt sind in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen – von 2,7 Milliarden Euro bei der Vertragsunterzeichnung auf 7,2 Milliarden Euro, die zuletzt verhandelt wurden. Einige Kritiker gehen bereits jetzt von weit höheren Summen aus. Spät und hoffentlich nicht zu spät hat die Frau Bundesministerin Schavan einen Kostendeckel von 6,6 Milliarden Euro auf europäischer Ebene vereinbart. Im mittelfristigen Finanzrahmen, der sich derzeit in Verhandlungen auf europäischer Ebene befindet, ist ITER nicht enthalten. Es soll für die Finanzierung ein Nebenhaushalt geschaffen werden, der die Mitgliedstaaten mit Beiträgen stärker in die Pflicht nehmen würde als bisher. Das ist nicht akzeptabel. Der Fusionsreaktor ist ein Paradebeispiel für das, was ein europäischer Mehrwert genannt wird – ein Projekt, das die Europäische Union finanziert, weil es allen Mitgliedstaaten zugutekommt und keiner es alleine finanzieren kann. Deshalb ist es nur richtig, europäische Mittel aus einem europäischen Haushalt dafür zu verwenden. Doch birgt dieses Vorgehen auch Risiken. Wenn ITER als Teil des Europäischen Forschungsrahmens behandelt wird, wird dieses Projekt einen großen Teil der Mittel binden – Mittel, die für andere Forschungsvorhaben nicht zur Verfügung stehen. Wir sehen die große Gefahr, dass damit verschiedene Forschungsfelder der Zukunft gegeneinander ausgespielt werden. Will man sich wirklich an den Finanzdeckel halten, dann werden Reformen bei den Managementstrukturen unumgänglich. Es kann beispielsweise nicht hingenommen werden, dass den Vertretern des Bundes im Aufsichtsrat der europäischen ITER-Agentur „Fusion for Energy“ keine detaillierten Informationen in finanziellen Fragen vorliegen. So ist es kein Wunder, wenn das Projekt teurer und teurer wird. Eine solche Aufsichtsfunktion innerhalb der Agentur muss auch der übertragenen Verantwortung gemäß wahrgenommen werden. Trotz der enormen Summen, die für die Entwicklung des Fusionsreaktors bereitgestellt werden, kommt die deutsche Industrie bislang kaum vor. Die Ausschreibungen für die Entwicklung einzelne Komponenten gingen bisher fast ausschließlich an andere europäische Bewerber. Auf unsere Anfrage hin musste das Bundesministerium für Bildung und Forschung einräumen, dass erst ein niedriger Millionenbetrag für Aufträge an deutsche Unternehmen und Forschungsinstitute ging. Bei Ausschreibungen in Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden Euro ist das für den Technologie- und Wissenschaftsstandort Deutschland eine einzige Enttäuschung. Es genügt nicht, wenn die Bundesregierung beklagt, dass die Beteiligung der deutschen Industrie an den Vergabeverfahren bislang nicht zufriedenstellend gelöst ist und auf Einwerbungen in späteren Projektphasen hofft. Frau Schavan muss endlich aus ihrer Zuschauerrolle herauskommen und hierzulande umgehend schlagkräftige und professionelle Managementstrukturen aufbauen. Nur so lässt sich eine dem Wirtschafts- und -Forschungsstandort Deutschland und den gezahlten -finanziellen Beiträgen angemessene industrielle Beteiligung an dem Fusionsprojekt erreichen. Der Haushaltsausschuss hat dazu auf Drängen der SPD bereits 2008 einen Return-on-Investmentplan von der Bundesregierung eingefordert. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Es ist gut, dass ITER hier regelmäßig auf der Tagesordnung steht, damit wir dieses Großprojekt nicht aus den Augen verlieren. Heute ist ein SPD-Antrag an der Reihe. Sie sprechen in Ihrem Antrag wichtige Fragen an. Die Kostensteigerungen sind erheblich, und wie sich das weiter entwickelt, ist schwer vorherzusagen. Wann wir kommerziell Elektroenergie aus der Kernfusion nutzen können, können wir auch noch nicht aufs Jahr genau datieren. Sicher ist, dass noch ein gutes Stück Forschungsarbeit vor uns liegt. Der Zeitplan hierfür ist Ihnen allen bekannt. ITER soll Anfang 2020 fertiggebaut sein und bis 2030 zeigen, dass ein energielieferndes Fusionsfeuer unter kraftwerksähnlichen Bedingungen möglich ist. Richtig ist auch: Bei der Bewältigung der Herausforderungen der Energiewende wird ITER noch keinen Beitrag leisten. Ich freue mich darüber, dass Sie in Ihrem Antrag trotz dieser angesprochenen Probleme ITER nicht grundsätzlich infrage stellen. Und ich freue mich ebenso darüber, dass Sie die europäische Grundlagenforschung und die Arbeit des Europäischen Forschungsrates so positiv bewerten. Es geht hier um sehr viel Geld, aber es geht auch um Spitzenforschung und um wissenschaftliche Exzellenz. Das sind Zukunftsthemen für Europa wie für Deutschland. Dass die wichtigste Oppositionspartei das nicht grundsätzlich anders sieht als die Koalition, ist meiner Meinung nach sehr erfreulich und zeugt von einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein. Demgegenüber möchten Linke und Grüne bei ITER am liebsten aussteigen. Das hat sich auch in der gestrigen öffentlichen Anhörung im Europaausschuss zu den Themen Euratom-Vertrag und ITER wieder gezeigt. Den Linken missfällt außerdem, dass für vom Europäischen Forschungsrat geförderte Projekte nur Qualität als Kriterium zählt. Sie würden daneben gerne noch regionalen Proporz berücksichtigen und eine Frauenquote einführen. Das wäre aus unserer Sicht weder zielführend noch zukunftsweisend. Glücklicherweise stehen solche Überlegungen nicht zur Diskussion. Die SPD befürchtet, dass die weitere Finanzierung von ITER zulasten der vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekte gehen könnte. Das wäre allerdings ein Schritt in eine ganz falsche Richtung. Das darf nicht passieren und das wird auch nicht passieren, da können Sie sicher sein! Im Gegenteil, die Projektförderung soll im Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 weiter ausgebaut werden. Ich halte in diesem Zusammenhang den Vorschlag der EU-Kommission für sehr interessant, für ITER ein eigenes Forschungsprogramm im Rahmen des Euratom-Vertrages zu implementieren. In der Tat, die Kostensteigerung bei ITER ist beträchtlich, aber sie ist nicht etwa willkürlich, sondern es gibt dafür handfeste Gründe. Dazu gehören die ganz normale Inflation ebenso wie die Entwicklung der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt, aber auch Anpassungen und Weiterentwicklungen in der Planung, „Re-Design“, sowie die Berücksichtigung von neuen Erkenntnissen in der Physik. Dass das Projektmanagement nicht immer und überall optimal funktioniert, spielt zweifellos ebenfalls eine Rolle. Dennoch: Wir halten ITER und die Fusionsforschung nach wie vor für sinnvoll, und wir halten an dem Ziel fest, Kernfusion langfristig als Energiequelle nutzbar zu machen. Wir tragen auch weiterhin mit eigenen Vorschlägen sowohl zur Verbesserung des Projektmanagements als auch zur Deckelung der Kosten dazu bei, die Akzeptanz für ITER wieder zu erhöhen. Auch dies ist eine Voraussetzung für den Erfolg. Wie die Mehrkosten finanziert werden können, wird derzeit ausgehandelt. Wir treten dafür ein, sie durch Umschichtung innerhalb des EU-Haushalts zu bestreiten. Wir wollen weder, dass die nationalen Haushalte damit belastet werden, noch wollen wir eine Sonder-finanzierung neben und außerhalb des EU-Haushalts; solche Vorschläge der EU-Kommission lehnen wir ab. Dass die höheren ITER-Kosten aus dem Forschungsrahmenprogramm mitfinanziert werden, ist jedoch ebenso wenig vorgesehen wie eine Reduzierung der Projektförderung durch den Europäischen Forschungsrat. Der vorliegende Antrag ist deshalb gegenstandslos. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seit Fertigstellung des heute debattierten Antrags vor einem Jahr hat sich beim Problem der explodierenden Kosten beim Bau des Fusionsreaktors ITER nichts verändert. Wir müssen mit nicht geplanten Mehrausgaben von satten 2,7 Milliarden Euro rechnen; 1,3 Milliarden muss der EU-Haushalt schon in den kommenden zwei Jahren zusätzlich stemmen. Infolgedessen sollen allein dieses Jahr 100 Millionen Euro auf Kosten anderer Forschungsprojekte im Haushalt des 7. Forschungsrahmenprogramms eingespart werden. Da der immer teurer werdende ITER auf Dauer den EU-Haushalt sprengt, soll er nach derzeitigem Planungsstand daraus komplett herausgenommen und ab 2014 über einen zwischen--staatlich vereinbarten Extrahaushalt finanziert werden. Ein außer Kontrolle geratenes Projekt auf diese Weise außerhalb der Kontrolle des EU-Parlaments zu platzieren, ist kein Weg, der von Zukunftsfähigkeit des Projekts zeugt. Die finanziellen Rahmenbedingungen sind also anhaltend schlecht. Völlig gekippt ist inzwischen die von Anfang an umstrittene Zweckmäßigkeit der Vision -„Fusionsenergie“. Denn nach Fukushima ist selbst bei eingefleischten Befürwortern der Kernenergie als Klimaretter die Überzeugung in die Brüche gegangen, dass wir mit einem Mix aus Kohle, Öl, Kernenergie und den Erneuerbaren bis 2050, 2060 oder 2070 auskommen, bis dann möglicherweise der Stern der Fusionsenergie am Horizont aufgegangen ist. Der Schock von Fukushima drückt nun beim Ausbau und bei der Erforschung erneuerbarer Energiequellen und Speichertechnologien deutlich auf die Tube. Zur notwendigen Energiewende kann ITER das nächste halbe Jahrhundert lang nichts beitragen, bindet aber immer mehr Mittel, die für andere -Forschung und Entwicklung fehlen. So entspricht Kernfusion im 6. Energieforschungsprogramm der Bundes-regierung mit 0,6 Milliarden Euro für die Jahre 2011 bis 2014 fast der Hälfte der gesamten Förderung der erneuerbaren Energien. Dazu hat sogar die regierungseigene Expertenkommission für Forschung und Innovation, EFI, in ihrem aktuellen Jahresgutachten dringend angemahnt, eine Diskussion über Sinn und Zweck dieser Ausgaben zu führen. Die drohenden Versorgungsengpässe in Großregionen nach Abschaltung von Kernkraftwerken in Japan oder Deutschland zeigen zugleich, wie anfällig Energieversorgung ist, wenn sie aus Großanlagen zentralisiert erfolgt. Das Projekt ITER zielt im Ergebnis jedoch ebenfalls auf Mammutanlagen, die an wenigen Orten die Versorgung und die Preispolitik bestimmen werden. Insgesamt teilen wir die Grundkritik des SPD--Antrags an ITER, finden die Schlussfolgerungen aber äußerst inkonsequent. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen und der Dringlichkeit der Energiewende schlägt aus Sicht der Linken die Stunde für eine Beratung über den Ausstieg aus ITER. Erfreulicher sehen mit Stand von heute die Aussichten für die Grundlagenforschung auf europäischer Ebene aus. Der Europäische Forschungsrat ERC fällt, anders als befürchtet, offenbar nicht dem Sparzwang wegen ITER zum Opfer, da der aktuelle Entwurf für das 8. Forschungsrahmenprogramm eine Verdopplung der Mittel für den ERC vorsieht. Da das Forschungsbudget der EU für die sieben Jahre ab 2014 um insgesamt 46 Prozent steigt, sind fast 100 Prozent Aufwuchs für den ERC ein klares Signal für die Stärkung der wissensgetriebenen und nach dem Bottom-up-Prinzip ausgewählten Forschung. Kritisch sieht meine Fraktion aber nach wie vor, dass der Entwurf für das 8. FRP nicht auf die in Evaluationen dargelegte, mehrfach ungerechte Förderpraxis des ERC eingeht. Mit keinem Wort werden Maßnahmen für die Erhöhung der geringen Erfolgsquote von Frauen erwähnt, obwohl es beispielsweise in Deutschland mit Gleichstellungsstandards bei der DFG, die Patin für den ERC gestanden hat, gute Erfahrungen gibt. Immerhin wird die regional äußerst ungerechte Verteilung gesehen. Die neuen EU-Beitrittsländer kommen beim ERC bislang kaum zum Zuge und begleiten die Ausweitung des ERC-Budgets mit entsprechender Skepsis. Beim gestrigen parlamentarischen Abend zum Horizont 2020, also dem 8. Forschungsrahmenprogramm, sprach der Leiter der Generaldirektion Forschung und Innovationen Smits nunmehr davon, dass an Verfahren gearbeitet werde, um Mitgliedsländer mit weniger entwickelten Forschungsstrukturen beim ERC ins Boot zu holen, ohne an den Exzellenzkriterien zu rütteln. Dass aber auch die letzteren Teil des Problems sind, weil sie ein ganz eng gefasstes Modell von Wissenschaftlerkarrieren prämieren, hatte sogar die anwesende Wissenschaftlerin bemängelt, der es selbst schließlich gelungen ist, eines der begehrten Forschungsstipendien des ERC zu bekommen. Der ERC kann also durchaus weiter von unten nach oben im Sinne des Bottom-up-Prinzips verbessert werden. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Letzte Woche war ich anlässlich des Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Japan unterwegs. Die Eindrücke dieser Reise und die Gespräche mit den Menschen vor Ort haben mich einmal mehr in meiner Überzeugung bestärkt, dass atomare Technologien der Vergangenheit angehören müssen und die Zukunft der Energieversorgung in den erneuerbaren Energien, in mehr Energieeffizienz und größerer Energieeinsparung liegt. Der beschlossene Atomausstieg ist dabei ein wichtiger Schritt. Diese Entwicklung sollte sich allerdings auch in der energie- und forschungspolitischen Ausrichtung der Bundesregierung widerspiegeln. Das Gegenteil können wir derzeit beobachten. Die schwarz-gelbe Bundes-regierung fährt mit der geplanten Kürzung der Solarförderung die Energiewende gegen die Wand und unterstützt stattdessen weiterhin das Milliardengrab ITER. Dieses Projekt wird keine Lösung für die Energie-probleme der Zukunft bieten. Denn selbst wenn das sehr optimistische Ziel, im Jahr 2050 mit dem Fusionsreaktor mehr Energie zu produzieren als zu verbrauchen, erreicht werden könnte, geht dieses Ansinnen am Prinzip der Nachhaltigkeit völlig vorbei. Bis 2050 müssen es die Industrienationen -geschafft haben, mit einem wesentlich geringeren Energiebedarf auszukommen und ihre Energieproduktion auf 100 Prozent Erneuerbare umzustellen. Nur so können wir den Erhalt einer für alle lebenswerten Erde erreichen. 2050 brauchen wir keine Massen von teuer pro-duzierter Energie mehr, die Erneuerbaren werden -unschlagbar billig sein. Die ständig steigenden Ausgaben, die für den Kern-fusionsreaktor anfallen, begrenzen die notwendigen Investitionen für erneuerbare Energien und Effizienz. In diesen Bereichen müssen viel mehr Forschungsmittel aufgewendet werden, denn dort können sie bereits kurzfristig einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele und der Energieversorgungssicherheit leisten. Die Baukosten für ITER explodieren und werden heute auf insgesamt 16 Milliarden Euro geschätzt. Der europäische Beitrag wird sich von ursprünglich 2,7 Milliarden Euro auf 7,2 Milliarden Euro verdreifachen, -wobei der vom Rat vorgesehene Kostendeckel von 6,6 Milliarden Euro nicht zu halten sein wird. Allein 2012 und 2013 müssen Ausgaben in Höhe von 1,3 Mil-liarden Euro aus dem jeweiligen EU-Haushalt bestritten werden, Geld, das die Haushalte der EU-Mitgliedstaaten in schwierigen Zeiten sinnlos belastet und in anderen Forschungsbereichen sinnvoller ausgegeben werden könnte. Da hilft es auch nicht, wenn das Europäische Parlament mit immer neuen Kompromissen und Umschichtungen weitere Finanzierungsmöglichkeiten auf den Weg bringt oder die EU-Kommission ab 2014 wegen der Größenordnung des ITER-Projekts und potenziellen Kostenüberschreitungen eine Finanzierung über einen zwischenstaatlichen Fonds außerhalb des mehrjährigen Finanzrahmens anstrebt. Diese vermeintliche Lösung zur Finanzierung von ITER ist eine Mogelpackung, denn das Problem wird nur verlagert. Das haben jetzt sowohl der EU- als auch der Finanzausschuss erkannt und dem Bundesrat empfohlen, in seiner Entschließung zur Änderung des Euratom-Vertrags Bedenken gegen dieses Vorgehen anzumelden. Um die europäische Forschung und ihren Beitrag zur Energiewende nicht weiter zu bremsen, brauchen wir eine klare Position, die den Ausstieg aus dem Projekt ITER einfordert. Die Unterstützung der Bundesregierung für ITER ist ein energie- und forschungspolitisches Versagen auf ganzer Linie. Noch ist es jedoch nicht zu spät, den Großteil der immensen Baukosten sinnvoller zu investieren. Dieses aus Steuergeldern finanzierte Fass ohne Boden gehört versenkt und die frei werdenden Mittel in Forschungsvorhaben in den Bereichen Erneuerbare, Effizienz und Energieeinsparungen investiert. Der EU-Energiekommissar und Handlanger der Atomlobby Günter Oettinger sollte seine Lektionen endlich lernen. Vizepräsidentin Petra Pau: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck--sache 17/9025, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3483 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion der SPD bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit bei den letzten Tagesordnungspunkten. Ich berufe den Deutschen Bundestag zur gemeinsamen Sitzung mit dem Bundesrat anlässlich der Vereidigung des Herrn Bundespräsidenten auf morgen, Freitag, den 23. März 2012, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. (Schluss: 22.00 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 22.03.2012 Barnett, Doris SPD 22.03.2012* Bellmann, Veronika CDU/CSU 22.03.2012 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 22.03.2012 Bracht-Bendt, Nicole FDP 22.03.2012 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 22.03.2012 Bülow, Marco SPD 22.03.2012 Ferner, Elke SPD 22.03.2012 Fritz, Erich G. CDU/CSU 22.03.2012* Granold, Ute CDU/CSU 22.03.2012 Groth, Annette DIE LINKE 22.03.2012 Hunko, Andrej DIE LINKE 22.03.2012* Krellmann, Jutta DIE LINKE 22.03.2012 Kudla, Bettina CDU/CSU 22.03.2012 Lanfermann, Heinz FDP 22.03.2012 Luksic, Oliver FDP 22.03.2012 Menzner, Dorothée DIE LINKE 22.03.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 22.03.2012 Nahles, Andrea SPD 22.03.2012 Nietan, Dietmar SPD 22.03.2012 Nord, Thomas DIE LINKE 22.03.2012 Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22.03.2012 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 22.03.2012 Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 22.03.2012 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22.03.2012 Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU 22.03.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 22.03.2012 Seif, Detlef CDU/CSU 22.03.2012 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 22.03.2012 Steinbach, Erika CDU/CSU 22.03.2012 Thönnes, Franz SPD 22.03.2012 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22.03.2012 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 22.03.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 22.03.2012 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Rede zur Beratung des Antrags: Bundesmittel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1 : 1 an Kommunen weiterreichen (162. Sitzung, Tagesordnungspunkt 21) Pascal Kober (FDP): Am 27. Oktober 2011 haben wir hier im Deutschen Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen beschlossen. Wir kamen damit einer im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zur Neuberechnung der Arbeitslosengeld-II-Regelsätze getroffenen Vereinbarung nach und haben damit die Voraussetzungen für eine Entlastung der Kommunen geschaffen, wie es sie in dieser Höhe in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hat. Diese christlich-liberale Koalition hat dafür gesorgt, dass die Kommunen allein im Zeitraum zwischen 2012 und 2015 um voraussichtlich mehr als 12 Milliarden Euro entlastet werden. Hätten wir keine gesetzlichen Änderungen herbeigeführt, läge die Kostenübernahme durch den Bund im kommenden Jahr nicht bei 45 Prozent, sondern nur bei 16 Prozent. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem Antrag kritisieren Sie vor allem drei Punkte, mit denen ich mich jetzt im Einzelnen befassen möchte. Sie beschreiben, dass es Signale gebe, dass einige Länder die Mittel nicht in vollem Umfang an die Kommunen weiterleiten. Ich kann Ihnen sagen, ich habe solche Signale auch vernommen. Ich zitiere einmal aus der Schweriner Volkszeitung vom 8. Februar dieses Jahres: „Zwischen den neuen Großkreisen und dem Land ist ein erster handfester Streit entbrannt: Während das Sozialministerium Mittel des Bundes in zweistelliger Höhe für die Grundsicherung im Alter – also Gelder für arme und ärmere Senioren – einbehalten will, fordern sie die Kommunen für sich. Allein 2012 könnte die Summe rund 20 Millionen Euro betragen, für das Jahr 2015 schätzt sie der Landkreistag auf 77 Millionen Euro, sagte Geschäftsführer Jan Peter Schröder auf Nachfrage.“ Weiter heißt es dort: „Den Stein ins Rollen gebracht hatte die Landes-FDP.“ Am Nachmittag des gleichen Tages hat Frau Schwesig, die sich ja gerne als die wahre Kämpferin für die Kommunen und Schwächsten darstellt, dann dargelegt, dass das Land nun doch die Mittel vollständig an die Kommunen weitergibt. Ein Erfolg für die Kommunen, bewirkt durch die FDP in Mecklenburg-Vorpommern. Wir sollten uns hier alle einig sein, dass die Länder unseren gesetzgeberischen Willen umsetzen und nicht zulasten der Kommunen tricksen sollten, um ihre eigenen Einnahmen zu erhöhen. Daher kann ich diesem Punkt im Antrag der Linken voll zustimmen. Den anderen beiden Punkten jedoch nicht: Sie zweifeln an, dass der Bund die rechtlichen Grundlagen für die Kostenübernahme ab 2013 legen wird. Hier muss ich Ihnen entschieden widersprechen. Schon in den Debatten zum Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen haben andere Redner der Koalitionsfraktionen und auch ich klargemacht, weshalb bisher nur die Kostenübernahme für das Jahr 2012 gesetzlich geregelt wurde. Ich erläutere es Ihnen aber gerne noch einmal. Sie sollten wissen, dass mit der Kostenübernahme die Einrichtung einer Bundesauftragsverwaltung zusammenhängt. Die Einrichtung dieser Bundesauftragsverwaltung bedarf einiger Regelungen und Änderungen. Sie bedarf der Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bundes und der Einführung und Umsetzung einer ganzen Reihe von Regelungen, was seine Zeit braucht. Wir werden aber in diesem Jahr die Voraussetzungen für die Kostenübernahme in den kommenden Jahren schaffen. Zudem fordern Sie, dass die Abrechnung und Erstattung auf Basis der laufenden Nettokosten erfolgen sollte. Sie sollten jedoch auch wissen, dass die Zahlen über die Höhe der Kosten der Grundsicherung im Alter nicht sofort zur Verfügung stehen, sondern erst mit einiger Verzögerung. So ist es auch bei den Kosten der Unterkunft oder den Kosten für das Bildungs- und Teilhabepaket. Daher könnte eine sofortige Abrechnung nur eine Schätzung sein und müsste dann im Nachhinein nachjustiert werden. Dieser Aufwand ist an dieser Stelle nicht gerechtfertigt, zumal die Kommunen ja die entstandenen Kosten vom Bund vollständig erstattet bekommen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes (Tagesordnungspunkt 3 a und b) Norbert Geis (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz liegt die Hoffnung zugrunde, dass mehr Menschen als bisher zu einer Organentnahme nach ihrem Tod bereit sein werden. Ein solches Ergebnis wäre -angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa 12 000 Menschen auf eine Organtransplantation warten und dass 75 Prozent der Bevölkerung eine Organspendebereitschaft bekunden, aber nur 25 Prozent ihren Willen zur Organspende tatsächlich dokumentieren, sehr wünschenswert. Deshalb ist der Gesetzentwurf trotz mancher Bedenken zu unterstützen. Die Frage ist, warum letztlich entgegen der ursprünglichen Bereitschaft nur so wenige Menschen im Ernstfall wirklich bereit sind, ihre Organe nach Eintritt des Hirntodes zu spenden. Eine der Antworten darauf ist ganz sicher die Angst und die Sorge vieler Menschen, die Ärzte könnten mit Blick auf die gesunden Organe des Sterbenden nicht mit letzter Konsequenz um dessen Leben kämpfen, könnten ihn also sterben lassen, um so neue Organe für Transplantationen zu gewinnen. Ein weiterer Grund ist die Unsicherheit, ob der Hirntod tatsächlich mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist oder ob nicht der Hirntod nur eine Festlegung der Ärzte ist, um leichter an die Organe zu kommen. Viele Menschen trauen der Definition des Hirntodes als Tod des Menschen nicht und befürchten, dass die Organentnahme ein „Zerschneiden von Menschen bei lebendigem Leib“ ist, wie es der Philosoph Hans Jonas drastisch formuliert hat. Daher ist eine breite Information über die Transplantation von ganz entscheidender Bedeutung. Die potenziellen Spender sollten wissen, dass ihr Leben von den Ärzten nicht fahrlässig oder gar willentlich preisgegeben wird. Die Ärzte sind aufgrund ihres Berufsethos, aber auch aus strafrechtlichen Gründen verpflichtet, das Leben der Patienten bis zu dem Punkt, an dem eine Heilung nicht mehr möglich ist und das Sterben irreversibel beginnt, zu verteidigen. Sie würden eine vorsätzliche Tötung begehen, wenn sie das Leben des Spenders nicht erhalten, sondern zugunsten einer Organtransplantation opfern würden. Die Spender müssen aber auch über den Hirntod voll informiert werden. Dabei sind auch die Zweifel vieler Wissenschaftler an der Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen zu erörtern. Es kommt darauf an, dass eine ungeschönte Information über die Wirkung des Hirntodes auf den ganzen Körper gegeben wird, dass nämlich der Wegfall der Hirnfunktion bei natürlichem Verlauf unumkehrbar zum Tod führt. Nach meiner Auffassung ist es jedoch falsch, daraus den Schluss zu ziehen, der Hirntod sei auch der Tod des Menschen. Diese Definitionsmacht hat der Gesetzgeber nicht. Das ist Sache der medizinischen Wissenschaft. Zweifellos ist aber der Hirntod der irreversible Beginn des Sterbeprozesses. Darüber sollten die potenziellen Spender aufgeklärt werden. Für viele Menschen hat die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen etwas von Willkür an sich, von Zweckmäßigkeit, damit die Organtransplantation beginnen kann. Das ahnen viele potenzielle Spender und verlieren so das Vertrauen in die sie behandelnden Ärzte und lehnen daher eine Organspende letztlich doch ab, obwohl sie grundsätzlich das Spenden der Organe für richtig halten. Vorab jedoch einige Überlegungen zur vorgeschlagenen Entscheidungslösung: Diese ersetzt nicht die Zustimmung zur Organentnahme. Die Organe dürfen nach Eintritt des Hirntodes nur mit Zustimmung des Spenders entnommen werden. Gefordert ist also die höchstpersönliche Entscheidung des potenziellen Spenders. Deshalb ist die Regelung, dass nach § 4 des Transplantationsgesetzes die Zustimmung der Angehörigen eingeholt werden muss, wenn der Betreffende keine Angaben gemacht hat, bedenklich. Allerdings können Angehörige nach § 4 TPG nicht frei über die Organe verfügen, sondern müssen sich nach dem mutmaßlichen Willen des Organspenders richten. Sie können sich und werden sich auch in aller Regel nicht über diesen mutmaßlichen Willen hinwegsetzen. Sie werden also einer Organentnahme nur dann zustimmen können, wenn sie Anhaltspunkte dafür haben, dass dies dem Willen des Spenders entspricht. Die Tatsache, dass der Betreffende keine Erklärung abgegeben hat, obwohl er regelmäßig zur Abgabe einer solchen Erklärung von der Krankenkasse und anderen Institutionen aufgefordert wurde, wie der Entwurf es vorsieht, spricht aber eher dafür, dass er seine Organe und Gewebe nicht spenden wollte. Im Übrigen ist ein solches Ansinnen der Ärzte an die Angehörigen kurz vor oder nach dem Tod eines nahen Verwandten für diese eine unerträgliche Zumutung. Nach meiner Auffassung ist die Einwilligung in die Organentnahme immer eine höchst persönliche Sache, die nur den Spender selbst angeht. Die Verwandten können allenfalls Boten, niemals aber Vertreter des Spenders sein. Im Hinblick auf § 2 Ziffer 1 TPG wird im Entwurf auf einen möglichen Widerspruch zwischen der Patientenverfügung und der Erklärung zur Organ- und Gewebespende hingewiesen. In solchen Patientenverfügungen wird oft die Entscheidung getroffen, dass keine lebensverlängernde Behandlung durchgeführt werden darf. Bei einer Organentnahme werden aber medizinische Maßnahmen wie die Aufrechterhaltung des Kreislaufes vorgenommen. In der Tat ein Widerspruch, allerdings nur dann, wenn man den Hirntod nicht mit dem Tod des Menschen gleichsetzt. Das Transplantationsgesetz, TPG, geht jedoch vom Hirntod als Tod des Menschen aus, § 3, Abs. 2, Nr. 2 TPG. Auch die derzeitige medizinische Wissenschaft geht mehrheitlich davon aus, dass der Hirntod dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist. Damit können also die Organe entnommen werden, weil sie ja letztlich einer Leiche entnommen werden. Ein Widerspruch zur Patientenverfügung besteht insofern also nicht. Die Frage allerdings ist, ob es sich bei dem Hirntod wirklich um den Tod des Menschen handelt. Ist der Hirntod nicht der Tod des Menschen, stellt sich allerdings die Frage, ob bei einer Transplantation nicht ein Widerspruch einer entsprechenden Patientenverfügung vorliegt. Die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen kam durch die medizinische Forschung in den 50er- und 60er-Jahren zustande. Durch die künstliche Langzeitbeatmung, die durch den dänischen Anästhesisten Ibsen Anfang der 50er-Jahre revolutioniert wurde, war es möglich geworden, die tiefe Bewusstlosigkeit bzw. das Langzeitkoma, in das schwerkranke Menschen gefallen waren, zu erforschen. Im Verlauf dieser Erforschung kam die Wissenschaft zu dem Ergebnis, dass dann, wenn die Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstammes erloschen ist, der menschliche Organismus in seine Einzelteile zerfällt und nur noch durch die künstliche Aufrechterhaltung des Herz-Kreislauf-Systems und die künstliche Beatmung zusammengehalten werden kann. Das Hirn wurde als das Integrationszentrum erkannt, von dem alle Abläufe des Körpers gesteuert werden. Fällt dieses zentrale Organ aus, werden in wenigen Minuten auch die anderen Organe absterben. Deshalb erklärte die Mehrheit der Wissenschaftler den Hirntod zum Tod des Menschen. Diese Auffassung ist jedoch in Fachkreisen sehr umstritten. Dagegen steht auch die Erfahrung der Menschen mit dem Tod. Über Jahrtausende hinweg wurde der Tod an einem menschlichen Körper dann festgestellt, wenn der Puls nicht mehr geschlagen hat, die Lippen und Fingernägel sich blau verfärbten und sich Verwesungsgeruch einstellte. Auch wir modernen Menschen tun uns schwer, jemanden für tot zu erklären, dessen Puls noch schlägt und dessen Körper noch Reaktionen zeigt. Eine Frau, deren Hirnfunktion ausgefallen ist, deren Kreislauf aber durch die Maschinen noch aufrechterhalten wird und die sogar noch ein Kind zur Welt bringt und Mutter ist - alles sträubt sich in uns, eine solche Frau für tot zu erklären. Die Seele, so empfinden wir, hat sich noch nicht vom Leib getrennt. Deshalb bestehen größte Bedenken gegen den Hirntod als Tod des Menschen. Es wäre daher besser, der Gesetzgeber hätte den Hirntod nicht als den eigentlichen Todeszeitpunkt bestimmt. Heißt das aber, dass nach dem Zusammenbruch der Funktion des Hirnes kein Organ entnommen werden darf, weil das Leben noch nicht gewichen ist? Nein! Der Hirntod ist der irreversible Beginn des Sterbens. Er ist der „point of no return“. Wenn der Spender, und nur er, sein klares Ja zur Transplantation erklärt hat, dürfen in dieser Sterbephase die Organe entnommen werden. Es ist daher unbestritten, dass nach Eintritt des Hirntodes die Transplantation vorgenommen werden darf, auch wenn der Hirntod nicht mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird. Die Behauptung, dass dann durch die Entnahme eines Organs der Betreffende getötet wird, ist falsch. Nicht durch die Entnahme der Organe wird der Mensch getötet, sondern das Abstellen der Maschinen bewirkt den Tod. Dies ist aber keine Tötung, sondern die Beendigung des Sterbevorganges. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Jelpke, Karin Binder, Heidrun Dittrich, Heike Hänsel, Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Dorothée Menzner, Niema Movassat, Richard Pitterle, Raju Sharma, Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Kathrin Vogler, Johanna Voß und Halina -Wawzyniak (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: – Für eine moderne und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – Für eine kostenfreie und umfassende Betreuungskommunikation im Einsatz – Internet-Telefonie in Afghanistan (Tagesordnungspunkt 9) Alle Mitglieder der Fraktion Die Linke haben sich ohne Abstriche für den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan engagiert. Dabei bleibt es. Die anderen Fraktionen des Bundestages haben mehrheitlich immer wieder die Mandate der Bundeswehr in Afghani-stan verlängert. Zu ihnen stehen wir im Widerspruch. Eine inhaltliche Differenz gibt es in der Fraktion Die Linke, wie mit den eingesetzten Soldaten umgegangen wird. Den vorliegenden Anträgen können wir daher nicht unsere Zustimmung geben. Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr stehen die gleichen Rechte zu wie allen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Die Gewährleistung umfassender, kostenloser Telefon- und Internetverbindungen stellt aber eine Besserstellung dar, die nicht berechtigt ist. Wir verkennen nicht, dass viele Menschen aus sozialer Not und Unwissenheit zur Bundeswehr gehen. Dennoch tun sie dies freiwillig. Zugleich gibt es in Deutschland zahlreiche Menschen, die unter erheblich stärkerem Armutsdruck stehen als Angehörige der Bundeswehr und die sich dennoch nicht zum Kriegsdienst melden. Vom Grundsatz her würden wir die Gewährleistung kostenloser Telekommunikations-Dienstleistungen als Grund-recht durchaus begrüßen – aber wenn, dann muss man damit bei jenen anfangen, die bereits jetzt eine Existenz unterhalb der Armutsgrenze fristen müssen. Soldaten, die 110 Euro Auslandsverwendungszulage pro Tag erhalten, gehören nicht dazu. Zudem hindert uns der offensichtliche Zusammenhang zwischen der geforderten Telekommunikationsbetreuung und der Kriegführungsfähigkeit der Bundeswehr an einer Zustimmung. Im Antrag 17/8895 formulieren Union/FDP/SPD/Grüne die Erwartung, die Verbesserung der „Betreuungskommunikation im Einsatz“ sei „entscheidend für die Motivation und Einsatzbereitschaft der Einsatzkontingente“. Diese Erwartung ist leider berechtigt. Was da gefordert wird, schafft Anreize zum Kriegsdienst und nicht Anreize zum Verweigern. In Zukunft können die Werbestrategen der Bundeswehr dann gegenüber Jugendlichen noch mit dem „Argument“ punkten, der Arbeitgeber Bundeswehr biete eine telekommunikationstechnische Rundumversorgung. Wir leugnen nicht unsere Verantwortung, die wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr, auch jenen im Kriegseinsatz, haben. Wir werden dieser Verantwortung gerecht, indem wir die Beendigung der Auslandseinsätze fordern. Wir lehnen es aber ab, sie für die „eigene“ Seite angenehmer zu machen und damit zu ihrer Verlängerung beizutragen. Denn die größte Belastung durch den Krieg müssen die Afghaninnen und Afghanen tragen. Auch ihnen ist am meisten gedient, wenn die Bundeswehr abzieht und die Kriegskosten dafür in den zivilen Aufbau fließen. Das Problem ist der Krieg und nicht die instabilen Internetverbindungen in den deutschen Feldlagern. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 98 a) (Tagesordnungspunkt 11 a und b) Christoph Strässer (SPD): Mit dem Entwurf des Bundesrates, den wir heute hier in erster Lesung beraten, soll es zu einer Übertragung der Aufgaben von nachlassrechtlichen Verfahren im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare kommen. Beabsichtigt wird hiermit eine Entlastung der Gerichte. So sollen zukünftig Aufgaben, die vermeintlich nicht zum Kernbereich der Rechtsprechung gehören, in den Zuständigkeitsbereich der Notare ausgegliedert werden. Unter anderem wird in der Problem- und Zielbeschreibung des Gesetzentwurfes auf die vermeintliche Notwendigkeit von „strukturellen Reformen“ im Bereich der Justiz angesichts „knapper personeller und finanzieller Ressourcen“ abgestellt. Wie bei fast allen „Reformbestrebungen“ spielen dabei also auch immer wieder -finanzielle Begründungen eine Rolle. Bereits im Jahre 2005 hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Justiz--ministerkonferenz demgegenüber festgestellt, dass gerade bei den Nachlassgerichten Kostendeckungsgrade von weit über 100 Prozent erreicht werden. Einer Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare aus rein fiskalischen Gründen fehlt damit jegliche Rechtfertigung. Vielmehr würden die Einnahmeverluste der Justiz weit höher ausfallen, als dies mit möglichen Einsparungen im Personal- und Sachhaushalt aufgewogen werden könnte. Auch die im Entwurf deklarierte Verbesserung im Wege eines bürgerfreundlicheren Nachlassverfahrens entbehrt in diesem Punkt ihrer Grundlage, sehen sich die Bürger doch vo-raussichtlich erheblichen Mehrkosten ausgesetzt – nicht zuletzt durch die von den Notaren zu erhebende Umsatzsteuer. Auch ist nicht ersichtlich, warum das Amtsgericht als derzeit zentrale Anlaufstelle für viele Bürger in den Nachlassangelegenheiten schlechter geeignet sein sollte als ein Notar. Hierzu nimmt der Entwurf keinerlei Stellung. Der Gesetzentwurf gibt den Ländern durch die Öffnungsklausel die Möglichkeit, Aufgaben des Nachlassgerichtes auf die Notare zu übertragen. Zwar lautet die Vorgabe „alles oder nichts“; allerdings wird damit keineswegs der drohenden Rechtszersplitterung Einhalt -geboten. Ohnehin gibt es in Deutschland bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen im Berufsfeld des Notars. Dieses uneinheitliche System wird durch die Öffnungsklausel noch gefördert, da dies zwangsläufig dazu führt, dass die Bundesländer die Aufgaben der -Notare unterschiedlich regeln. Dies kann nicht im Sinne einer Steigerung der Effizienz unseres Rechtsapparates sein und erst recht nicht im Interesse der Bürger liegen. Auf Antworten hinsichtlich der genauen Umsetzung dieser Aufgabenübertragung auf die Notare sucht man im Gesetzentwurf übrigens vergeblich nach Antworten. Kommt es zur Umsetzung des Gesetzentwurfs, stellt sich unmissverständlich die Frage nach einem „Notarverfahrensrecht“. Solche weiterführenden Überlegungen scheinen bei den Antragsstellern jedoch keinerlei Platz gefunden zu haben. Zwar ist der Notar gemäß § 1 BNotO unabhängiger Träger eines Amtes, doch ist er noch lange kein Gericht und verfügt nicht über die Unabhängigkeit und Neutralität, die gerichtlichen Entscheidungen zukommt, erst recht nicht, wenn er in Personalunion tätig wird. Denn zur -Bestreitung seines Lebensunterhaltes ist der Notar auf die erwirtschafteten Gebühren angewiesen. Dies hat zur Folge, dass er vom Wohlwollen der Parteien nicht unabhängig ist. Eine Vermengung von wirtschaftlichen und richterlichen Interessen scheint die logische Konsequenz daraus zu sein. Und wer entscheidet eigentlich, ob ein Notar befangen ist? Nein, ich glaube, dieser möglichen Interessenkollision sind sich die Bürger bewusst. Die Bürger wollen nicht vor Notaren streiten, wenn sich Streit nicht vermeiden lässt, sondern wenn, dann vor -Gericht. Fragwürdig ist auch, wie mit der Übertragung der Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf die Notare das vorhandene Arbeitsniveau zumindest beibehalten werden soll. Nicht nur zeitliche Überforderung, sondern auch in fachlicher Hinsicht können Schwierigkeiten entstehen. Denn bei erbrechtlichen Streitigkeiten sind oftmals umfangreiche Beweiserhebungen erforderlich, mit denen ein forensisch nicht geschulter Notar leicht überfordert werden könnte. Hier gilt es zu überlegen, ob nicht zumindest weitere Schulungsmaßnahmen sinnvoll sein könnten, und zwar dann obligatorisch. Eine Aufgabenübertragung kann in einzelnen Gebieten durchaus sinnvoll sein, wie dies im -Bereich der Aufnahme von Erbscheinanträgen durch Notare der Fall ist. Allerdings gilt dies nur für ganz -bestimmte Aufgabenbereiche. Eine grundsätzliche Übertragung in Verbindung mit einer Änderung des Grund-gesetzes halte ich nach jetzigem Stand der Debatte weder für nötig noch für angemessen. Der Gesetzentwurf zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare verfehlt in der jetzigen Form meiner Meinung nach eindeutig seine Zielsetzung. Auch in den bisher vorliegenden Stellungnahmen, sei es vom Deutschen Richterbund, vom Deutschen Anwaltsverein oder dem Bund Deutscher Rechtspfleger, steht man dem Gesetzentwurf nahezu geschlossen ablehnend gegenüber. Nur die Bundesnotarkammer äußert sich, nicht wirklich überraschend, als Einzige positiv zu dem Gesetzentwurf. Insgesamt können die durch bürgerfreundlichere -Öffnungszeiten oder kürzere Wege im Einzelfall entstehenden Vorteile durch die geschilderten Nachteile nicht aufgewogen werden. Mehr noch: Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Öffnungsklausel beseitigt ein altbewährtes Verfahren und schmälert dadurch unseren effizienten Rechtsapparat. Der Gesetzentwurf macht die freiwillige Gerichtsbarkeit teurer, aber nicht besser. Deshalb begrüße ich es, dass wir uns zunächst auf eine Anhörung im Rechtsausschuss geeinigt haben und die kritischen Fragen mit den Sachverständigen ergebnisoffen diskutieren können. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen (Tagesordnungspunkt 15) Norbert Geis (CDU/CSU): Der Bundesrat hat am 2. März 2012 einen Gesetzentwurf beschlossen mit dem die sogenannte Hasskriminalität härter bestraft werden soll. Es handelt sich dabei um Taten, die sich gegen eine Person vorwiegend wegen ihrer politischen Einstellung, ihrer Herkunft, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder wegen ihres gesellschaftlichen Status richten. Gut eine Woche nach der großen Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt wollten die Länder ein Zeichen setzen, dass diese Form der Kriminalität besonders verwerflich ist und deshalb in besonderem Maße bekämpft werden muss. Diese menschenverachtenden Tatmotive sollen nach der Vorstellung der Länder durch eine entsprechende Ergänzung in § 46 II 2 Strafgesetzbuch bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden. Ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sieht mit demselben Wortlaut die gleiche Ergänzung des § 46 II 2 vor. In Großbritannien, in Kanada und in den USA gilt für die Hasskriminalität eine ähnliche Regelung bei der Strafzumessung. Der Antrag der Grünen zielt auf eine Änderung der Richtlinien der Staatsanwaltschaft, durch welche klargestellt werden soll, dass bei Mischantragsdelikten in der Regel das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu bejahen ist, wenn es um Hasskriminalität geht. Zugleich soll der Tatbestand der Volksverhetzung – § 130 Strafgesetzbuch – ergänzt werden. Es sollen die Gruppen, die wegen ihrer „sexuellen Identität“, ihres Geschlechtes, ihrer Weltanschauung, ihrer Behinderung oder ihres Alters strafbaren Handlungen ausgesetzt sind, besonders geschützt werden. Der Vorschlag der Grünen verwendet die Formulierung, „sexuelle Identität“ statt „sexuelle Orientierung“, wie er in den Entwürfen des Bundesrates und der SPD-Fraktion sowie in den Gesetzen von Großbritannien, Kanada und den USA vorkommt. Unter „sexueller Identität“ versteht man richtigerweise das Geschlecht. Bei der Homosexualität geht es um die „sexuelle Orientierung“, wie dies richtig in den vorgenannten Gesetzen oder Gesetzentwürfen zum Ausdruck kommt. Dies ist jedoch der geringste Einwand, den ich gegen den Antrag der Grünen vorzubringen habe. Die vorgeschlagene Ergänzung der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren ist auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar. Es gibt dort schon Regelungen für die Bejahung des öffentlichen Interesses bei den sogenannten Mischformen von Antrags- und Offizialdelikten. So soll das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bei Körperverletzungsdelikten, bei Verletzung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen § 17 UWG oder bei Verletzung des § 19 UWG in der Regel bejaht werden. Von daher ist in diesem Sinne die Aufnahme von Straftaten mit menschenverachtendem oder rassistischem Hintergrund in die RiStBV, den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, durchaus sinnvoll. Allerdings ist bei diesen Straftaten schon eine hohe Sensibilisierung bei der Staatsanwaltschaft vorhanden. Deshalb ist eine solche Regelung nicht notwendig. Diese Sensibilität wird noch verstärkt durch die hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gegenüber solchen Straftaten. Auf der anderen Seite darf die Entscheidungsfreiheit der Staatsanwaltschaft nicht zu sehr eingeschränkt werden. Sonst könnte die Einzelfallgerechtigkeit darunter leiden. Außerdem hat der Bund für diese Richtlinien keine Zuständigkeit. Sie ist Sache der Länder. Auch ein Bedarf für eine Änderung des § 130 Strafgesetzbuch besteht nicht. Der Schutzumfang gegen solche Straftaten wird durch eine solche Ergänzung nicht erweitert. In dem Tatbestandsmerkmal „Teil der Bevölkerung“ in § 130 I 1 StGB sind die Opfer der Hasskriminalität mit umfasst. Die im Antrag der Grünen genannten Gruppen sind damit schon geschützt. Ihre ausdrückliche Nennung hätte nur symbolischen Charakter. Würden die einzelnen Gruppen, die der Antrag nennt, im Tatbestand eigens aufgezählt, besteht die Gefahr, dass andere Gruppen, die im Straftatbestand nicht aufgezählt werden, außerhalb des Schutzes des § 130 StGB stehen. Außerdem könnte der Eindruck entstehen, dass zwischen den ausdrücklich genannten Gruppierungen und den nicht benannten Gruppen eine abgestufte Wertung zu sehen ist. Mit Gesetz vom 22. März 2011 wurde § 130 I 1 mit der Nennung bestimmter Gruppierungen ergänzt. Dadurch wurde einem EU-Rahmenbeschluss Rechnung getragen. Wenn aber ohne diese Basis weitere Gruppen in § 130 StGB aufgenommen werden, dann wird man sich fragen, warum nicht auch die Gruppe der Arbeitslosen, der Sozialhilfebezieher, der chronisch Kranken, der Obdachlosen, der Analphabeten ebenfalls aufgenommen werden. Der Schluss liegt dann nahe, dass diese Gruppen nicht eigens geschützt sind. Außerdem würde mit der gewünschten Ergänzung der Tatbestand der Volksverhetzung noch unübersichtlicher. Der normale Bürger versteht die Formulierung des § 130 kaum noch, auch wenn er ihn mehrmals durchliest. Gleiches gilt auch für die Rechtsanwender. Sie haben große Probleme mit der Formulierung des § 130 StGB. Deshalb meine ich, dass eine besondere Aufnahme der im Antrag der Grünen genannten Gruppen nicht nur nicht erforderlich ist, sondern dass diese Aufnahme sogar kontraproduktiv sein könnte. Zu Ziffer III des Antrages ist zu vermerken, dass eine solche Studie kaum sinnvoll wäre, da sich anhand der Urteile nicht feststellen lässt, wie stark das menschenverachtende Tatmotiv sich jeweils ausgewirkt hat, da andere wichtige Faktoren bei der Strafzumessung im konkreten Einzelfall ebenfalls eine große Rolle spielen. Burkhard Lischka (SPD): Den Grünen zunächst einmal „Danke“. Danke für diesen Antrag, weil wir Sozialdemokraten jeden Antrag begrüßen, der sich mit der Bekämpfung des Rechtsextremismus beschäftigt. Denn das ist ein Anliegen, das uns alle einen sollte. Ich werde nicht in den gleichen Reflex verfallen, wie die Grünen vor einigen Wochen, als wir Sozialdemokraten hier einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, der ein ähnliches Grundanliegen hatte, nämlich fremdenfeindliche und rassistische Straftaten besser zu ahnden – ein Ansinnen, das ja inzwischen auch von einer übergroßen Mehrheit des Bundesrates unterstützt wird. Da haben Sie von den Grünen vor einigen Wochen noch diesen Antrag mit allen möglichen Gründen gleich vom Tisch gewischt. Das will ich hier ausdrücklich nicht machen, mit irgendwelchen Spitzfindigkeiten ihren Antrag auseinanderpflücken, weil das dem Grundanliegen und der Grundfrage, nämlich „Was können wir gegen braune Gewalt in unserem Land tun?“ nicht gerecht wird. Bestürzt über braune Gewaltakte sind wir alle. Aber jetzt geht es darum, dass wir endlich konsequent und entschlossen gegen braune Schläger vorgehen und alles tun, damit nicht mehr in diesem Land Dönerbuden abgefackelt, Mitbürgerinnen und Mitbürger durch Straßen gejagt, getreten, geschlagen, misshandelt und ermordet werden. Wir alle hier glauben und hoffen, dass wir in einer weltoffenen, toleranten und gefestigten Demokratie leben. Ja, das tun wir. Aber damit nicht vereinbar ist, dass es 20 bis 30 km von diesem Plenarsaal entfernt seit Langem (!) sogenannte national befreite Zonen gibt, in denen Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Gesinnung und Nationalität in Angst und Schrecken versetzt werden. Damit werden und wollen wir uns nicht abfinden. Damit muss endlich Schluss sein. Nach der furchtbaren Mordserie der NSU-Terrorzelle muss endlich ein Ruck durch dieses Land gehen. Ein Ruck, den es schon nach den schrecklichen Gewalttaten in Solingen, in Mölln, Rostock und Hoyerswerda hätte geben müssen. Wir dürfen nicht wieder einfach zum politischen Alltag übergehen. Nicht diesmal! Diesmal muss endlich Politik im Kampf gegen Nazis vorangehen und darf nicht nur mit Gedenkveranstaltungen hinterherhinken. Dieser Kampf ist nicht nur, aber eben auch mit strafrechtlichen Mitteln zu führen. Da gibt es genügend Ansatzpunkte, wo wir uns sehr ernsthaft die Frage stellen müssen, ob alles in Ordnung ist. Warum gibt es zum Beispiel immer wieder Fälle, bei denen die Strafverfolgungsbehörden und Polizei den rechtsextremistischen Hintergrund einer Tat beiseiteschieben, fremdenfeindliche Übergriffe bagatellisieren oder Opfern den notwendigen Schutz versagen? Warum zeigt die juristische Datenbank „juris“ 23 809 Urteile beim Begriff Körperverletzung an, aber nur ganze vier Treffer, wenn man den Begriff Körperverletzung mit dem Begriff fremdenfeindlich kombiniert, obwohl jeden Tag in unserem Land zwei bis drei rechtsextremistische Gewalttaten begangen werden? Können rechtsextremistische Gewaltdelikte schneller bestraft werden? Warum vergehen oft Jahre bis zu einer Verurteilung? Werden Strafverfahren zu oft, zu schnell eingestellt, einfach weil es weniger Arbeit macht? Das Strafrecht ist sicher nicht das erste Mittel, wenn es darum geht, sich mit den Ursachen, dem Nährboden und den Ideen des braunen Unwesens auseinanderzusetzen. Aber es muss verdeutlichen, wo wir in unserer Gesellschaft die Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubten ziehen. Wer wahllos Menschen durch die Straßen jagt, von „ausmerzen“ und „vertreiben“ spricht, wer das Messer direkt zur Kehle führt, muss wissen, dass das rigoros und schnell geahndet wird, dass er nicht mit Nachsicht zu rechnen hat. Da gibt es noch manches zu verbessern. Das sollten wir konsequent angehen. Sebastian Edathy (SPD): Mit dem vorliegenden Antrag „Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen“ (Bundestagsdrucksache 17/8796) tragen die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Tatsache Rechnung, dass menschenverachtende, rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Gewalt einen besonderen Unrechtsgehalt aufweist. Diese sogenannte Hasskriminalität bzw. Vorurteilskriminalität ist in der deutschen Gesetzgebung bisher nicht explizit geregelt. Hier ist Handlungsbedarf gegeben! Eine Klarstellung in den Richtlinien für das Strafverfahren, wie es der Antrag vorsieht, ist sinnvoll. Diese würde jedoch lediglich die Strafverfolgung bei Mischantragsdelikten, zum Beispiel der einfachen Körperverletzung gemäß § 223 StGB, gewährleisten – etwa in dem Fall, dass das Opfer möglicherweise aus Angst keinen Strafantrag stellt. Diese Änderung hätte deshalb keine unmittelbare Auswirkung auf die Strafzumessung, da gefährliche oder schwere Körperverletzung Offizialdelikte sind und deshalb seitens der Staatsanwaltschaften ohnehin ohne Feststellung eines öffentlichen Interesses verfolgt werden. Der Tatbestand der Volksverhetzung, der nach Antrag der Grünen so ergänzt werden soll, dass die Zugehörigkeit zu einer potenziell diskriminierten Gruppe – insbesondere sexuelle Identität, Geschlecht, Weltanschauung, Behinderung oder Alter – den Anlass bildet, Opfer volksverhetzender Handlungen zu werden, erfasst nicht den von mir hier beispielhaft gebildeten Fall, in dem ein türkischer Mitbürger Opfer eines rechtsextremen Täters wird, da diese Tathandlung in § 130 StGB nicht erfasst ist. Um eine solche Tat geht es jedoch im Kern der aktuellen öffentlichen Debatte, und wir Sozialdemokraten sehen gerade solche Taten bezüglich der Sanktionsweite als strafrechtlich regelungsbedürftig an. Die SPD-Bundestagfraktion hat einen Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Bundestagsdrucksache 17/8131 – vorgelegt, den ich als bessere Alternative deshalb empfehle, da er zwar das gleiche Ziel wie der Antrag der Grünen verfolgt, die Erreichung dieses Ziels aber in geeigneterer Weise umsetzt. Wir schlagen vor, dass menschenverachtende, insbesondere rassistische oder fremdenfeindliche Beweggründe und Ziele des Täters als Umstände in § 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches aufgenommen werden. Im Rahmen der Strafzumessung sind diese Umstände als strafschärfend anzusehen. Unser Entwurf regelt, dass, sofern rassistische oder fremdenfeindliche Motive für eine Tat vorliegen, diese im Strafverfahren ermittelt und bei der Bestimmung des Strafmaßes hinzugezogen werden müssen. Ich erachte diese Änderung deshalb als dringend notwendig, weil die heute geltende Rechtslage in der Praxis häufig dazu führt, dass rechtsextreme Straftäter zunächst mit einer Bewährungsstrafe davonkommen. Taten rechtsextremer Täter sind auf Zustimmung und Nachahmung angelegt. Es muss deshalb klar sein, dass auch die Ausschöpfung des Höchststrafmaßes infrage kommt, ein Täter also nicht zwangläufig lediglich mit einer Geld- oder Bewährungsstrafe rechnen kann, was in der rechtsextremen Szene im Übrigen oftmals als eine Art Freispruch empfunden wird. Aber auch wenn harte Strafen heute schon möglich sind, ist es wichtig, besonders deutlich zu machen, dass rechtsextrem motivierte Taten eben keine Bagatelldelikte sind, sondern ein besonders gravierendes Unrecht. Dieser erhöhte Unrechtsgehalt unterscheidet rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten von anderen Delikten. Die Täter fügen ihren Opfern aufgrund deren tatsächlicher oder vermeintlicher Zugehörigkeit zu einer religiösen oder ethnischen Gruppe oder ihrer Herkunft und Hautfarbe Gewalt zu. Ihre Opfer wählen sie nicht vor einem persönlichen Hintergrund aus, sondern willkürlich als Teil einer Gruppe, die in den Augen der Täter mindere Rechte genießt. Ihre Gewalt richtet sich gegen ein vermeintliches Mitglied dieser verhassten Gruppen, die Opfer sind damit austauschbar. Die Taten sind zumeist brutaler, anonymer und ohne Rücksicht. Hasskriminalität oder „Hate Crimes“ haben eine verheerende Wirkung, denn sie führen zu großer Verunsicherung unter Menschen, die ähnliche Eigenschaften wie die Opfer aufweisen. Gesellschaftliche Isolation ganzer Bevölkerungsgruppen verändert aber das gesellschaftliche Klima negativ und stellt das Vertrauen in den Rechtsstaat potenziell infrage. Es ist sinnvoll, die vorliegenden Gesetzentwürfe und somit auch den von Bündnis 90/Die Grünen zum Gegenstand einer geplanten Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss zu machen, um anschließend fraktionsübergreifend zu angemessenen und geeigneten gesetzgeberischen Maßnahmen zu gelangen. Jörg van Essen (FDP): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wie auch der Gesetzentwurf der SPD zu einer Änderung des § 46 StGB, den wir vor einigen -Sitzungswochen diskutiert haben, könnten den Eindruck entstehen lassen, dass es Defizite in der wirksamen Strafverfolgung oder Strafzumessung bei Hassdelikten geben könnte. Soweit die Mordserie der NSU Fragen zur Strafverfolgung aufgeworfen hat, werden diese gegenwärtig in verschiedenen Gremien geprüft. Ich begrüße dies -außerordentlich. Keinerlei Vorwürfe habe ich bisher aber über eine falsche oder unzureichende Strafzumessung bei Hassdelikten gehört. Im Gegenteil: Aus meiner eigenen Tätigkeit in einer Staatsschutzabteilung, die für den Bezirk der größten Generalstaatsanwaltschaft im Bundesgebiet zuständig war, kann ich feststellen, dass die Gerichte Hassdelikte zutreffend gewürdigt und notwendig hohe Strafen verhängt haben. Mir ist kein Fall bekannt geworden, dass sich diese bewährte Gerichtspraxis geändert hätte. Auch ist immer dort, wo es notwendig war, das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht worden. Ich sehe deshalb keinerlei Notwendigkeit für eine Änderung der Richtlinie für das Straf- und Bußgeldverfahren, RiStBV. Die Grünen führen in ihrem Antrag selber aus, dass in der deutschen Gerichtspraxis anerkannt ist, dass rassistische oder fremdenfeindliche Beweggründe nach § 46 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind und regelmäßig zu einer Strafschärfung führen. Ich kann deshalb kein wirkliches Bedürfnis dafür erkennen, dass eine Studie in Auftrag gegeben werden müsste. Offen bin ich für eine Prüfung, ob in § 130 StGB eine Erweiterung der dort genannten Gruppen vorgenommen werden sollte. Die letzte Debatte zum Antrag der SPD zu § 46 Abs. 2 StGB hat aufgezeigt, dass eine selektive Aufzählung einiger Motive bei Hassdelikten nicht zielführend ist und Täter einer Volksverhetzung aus verschiedenen, gleich verwerflichen Hassmotiven agieren. Darüber sollten und können wir uns im weiteren Verfahren unterhalten. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir sind uns -darin einig, dass Straftaten gegen Personen aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, ethnischen Herkunft, sexuellen Identität, ihres Geschlechts, ihrer Religion, Weltanschauung, Behinderung, ihres Alters oder ihres gesellschaftlichen Status zu ächten sind. Es ist richtig, dass mit dem Antrag der Grünen alle gesellschaftlichen Kräfte aufgefordert werden, solche Straftaten zu verhindern. Aber: Der Antrag der Grünen bezieht gerade nicht alle gesellschaftlichen Kräfte ein, sondern er beschränkt sich auf den strafrechtlichen -Bereich. Die Bundesregierung wird aufgefordert, gemeinsam mit den Ländern die Richtlinien für das Strafverfahren dahingehend zu ändern, dass das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung in der Regel zu bejahen ist. Die Bundesregierung wird zugleich aufgefordert, den Volksverhetzungsparagrafen zu ändern und eine Studie über den § 46 Abs. 2 StGB, also die Strafzumessung, vorzulegen. Dieser Forderungskatalog wirft die Frage auf, ob neue oder veränderte Strafrechtsnormen, also ein größerer Verfolgungsdruck, wirklich neue Straftaten verhindert. Ich möchte an dieser Stelle Zweifel anmelden. Neue oder veränderte Strafrechtsnormen, ein größerer Verfolgungsdruck verhindern aus meiner Sicht nicht wirklich Straftaten, sie reagieren auf begangene Straftaten. Eine Anstrengung aller gesellschaftlichen Kräfte bedeutet und verlangt aber mehr. Günter Piening, der ausscheidende Integrations--beauftragte des Berliner Senats, sagte in der Berliner Zeitung vom 19. März 2012, es sei erschreckend, dass sich Ressentiments gegen Ausländer inzwischen in der Mitte der Gesellschaft niedergeschlagen hätten. Ich füge hinzu: Nicht nur Ressentiments gegen Ausländer haben sich in der Mitte der Gesellschaft niedergeschlagen; auch Ressentiments gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität, aufgrund ihrer Behinderung oder ihres gesellschaftlichen und damit auch häufig sozialen Status sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Diese Mitte der Gesellschaft erreicht man nicht mit neuen oder veränderten Strafnormen. Die Mitte der Gesellschaft erreicht man auch nicht über einen höheren Verfolgungsdruck. Gegen Ressentiments und daraus entstehende Straftaten helfen Prävention und Aufklärung. Wir kommen gegen Ressentiments und Straftaten an, wenn wir laut und deutlich Nein sagen, Nein zu Ausgrenzung und Nein zu Klischees, mit denen diese Ausgrenzung häufig begründet wird. Dieses Nein darf nicht nur in Reden erfolgen, es muss an jeder Stelle im Alltag deutlich sichtbar werden. Ob im Sportverein, der Kleingartenkolonie, im Chor oder im Vereinsleben generell. Es genügt auch nicht nur Nein zu sagen, sondern wir müssen zivilgesellschaftlichen Protest gegen Ausgrenzung unterstützen und zivilgesellschaftliche Strukturen, die für diesen -Protest stehen, ermutigen. Dafür ist die sogenannte Ex-tremismusklausel aus dem Hause Schröder einfach schädlich; sie sollte endlich abgeschafft werden. Wir müssen auch Nein sagen zur Repression gegen zivilgesellschaftlichen Protest; wir müssen laut sagen, dass dies nicht in unserem Namen geschieht, wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens gegen Ausgrenzung herstellen wollen. Das Problem beginnt nicht erst mit der Körperverletzung, das Problem beginnt bereits mit Beleidigungen und alltäglichen Diskriminierungen, die kein Straftatsbestand sind. Wenn wir alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren wollen, um diese Straftaten zu verhindern, dann dürfen wir öffentliche Räume nicht privatisieren. Denn dann fehlen den zivilgesellschaftlichen Strukturen die Orte, um sich zu treffen und präventiv zu arbeiten. Projekte zur Aufklärung und antirassistischen und antifaschistischen Arbeit benötigen endlich eine Regelfinanzierung. Aufklärung und Prävention heißt aber auch, Kultur und politische Bildung ausreichend zu finanzieren. Mit dem, was die Grünen vorschlagen, verhindern sie wenig. Sie bekämpfen die Auswüchse dessen, was vorher schiefgelaufen ist. Wir verschließen uns ihrem Antrag nicht, aber wir glauben, dass mehr dazu gehört, will man künftig, Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt verhindern. Wir werden zu diesem Antrag und einem in der Intention ähnlich gelagerten Gesetzentwurf der SPD eine Anhörung im Rechtsausschuss durchführen. Ich freue mich auf diese Anhörung und hoffe, wir reden dort über mehr als Strafrechtsänderungen und größeren Verfolgungsdruck. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Immer wieder erreichen uns Nachrichten, dass Menschen Opfer von Gewalt und Totschlag werden, weil sie nicht in das Weltbild des Täters passten. Die schlimmsten Fälle sind uns allen bekannt: die Morde der NSU, die Hetzjagden auf vermeintlich ausländisch aussehende Menschen in Mügeln oder Guben, ermordete Obdachlose, die fürchterlichen Anschläge in Frankreich und Norwegen. Weniger bekannt sind jedoch die leider tagtäglichen Vorfälle, bei denen Menschen wegen ihrer Nationalität, ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion, einer Behinderung, ihres Alters, ihrer sexuellen Identität oder ihres sozialen Status verfolgt, verletzt und sogar getötet werden. Solche vorurteilsmotivierten Straftaten gegen Menschen verletzen zutiefst deren Achtungsanspruch und billigen weitere Straftaten, die teilweise mit unvorstellbarer Brutalität ausgeführt werden. Die besondere Dimension des aus diesen Ressentiments entstandenen Unrechts liegt darin, dass die Taten jeweils nicht nur gegen das Opfer als Individuum gerichtet, sondern über die Leidenszufügung am jeweiligen Opfer hinaus geeignet sind, weite Teile der Bevölkerung zu verunsichern und deren Vertrauen in die Wahrung ihrer Rechte zu erschüttern. Selbst während den Opfern schwerste Verletzungen zugefügt werden, werden sie vom Täter nur als Teil einer aus seiner Sicht minderwertigen Gruppe gesehen. Die durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit motivierten Delikte reichen von einfacher Körperverletzung bis zu Morden. Delikte werden nach der jetzigen Rechtslage entweder auf einen Strafantrag hin verfolgt oder aber dann, wenn die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht. Unser Antrag, den wir heute vorlegen, will erreichen, dass das öffentliche Interesse bei vorurteilsbezogenen Straftaten immer bejaht wird. Diese Taten richten sich eben in erster Linie nicht gegen den jeweiligen Menschen, sondern gegen eine ganze Gruppe, und damit gegen das demokratisch verfasste Gemeinwesen. Wir wollen deswegen die entsprechenden Richtlinien, an denen sich die Staatsanwaltschaften orientieren, ändern. Auswirkungen hat dies insbesondere für die Delikte der Körperverletzung und der Sachbeschädigung. Hintergrund der heutigen Debatte ist auch ein Rahmenbeschluss auf europäischer Ebene aus dem Jahr 2008. Zur Bekämpfung von bestimmten Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wurde der Volksverhetzungsparagraf § 130 StGB im Jahr 2010 angepasst. Allerdings wurde dabei der Ansatz verlassen, dass alle Gruppen gleichermaßen vom Gesetz benannt werden. Diesen Fehler wollen wir mit unserem Antrag korrigieren und den § 130 StGB klarer und eindeutiger formulieren, sodass alle Opfer von volksverhetzenden Handlungen im Sinne des horizontalen Ansatzes des AGG berücksichtigt werden. Wir gehen mit unserem Antrag das Gefühl von Ohnmacht an, das viele Opfer vorurteilsmotivierter Gewalt ergreift. Wir zeigen, dass es dem Staat nicht gleichgültig ist, wenn sie in ihren Rechten verletzt werden. Wir sorgen dafür, dass die Strafverfolgungsbehörden tatsächlich hinschauen und rassistische und menschenfeindliche -Gewalt erkennen. Dazu gehört aber auch, dass wir die Behörden in die Lage versetzen, diese Vorgaben zu erkennen. Wir brauchen die entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen, und wir brauchen endlich eine wissenschaftliche Untersuchung über das Ausmaß der Gewalt und darüber, ob und wie die Gerichte im Sinne von § 46 Abs. 2 StGB die Motivlage der Täter heute berücksichtigen. Hier fehlt es an Rechtstatsachenforschung. Deswegen lehnen wir auch die Vorschläge ab, die eine pauschale Verschärfung der Strafzumessung anstreben. Im Bundesrat werden solche Vorschläge diskutiert, und auch die SPD hat hier im Bundestag einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Wir meinen, dass aus diesen Gründen Strafschärfung im deutschen Recht bereits möglich ist. Nach § 46 StGB muss die Motivlage der Täter bereits jetzt berücksichtigt werden und strafverschärfend wirken. Wir sollten zunächst eine fundierte Analyse der Rechtstatsachen vornehmen, bevor wir über weitere pauschale Strafverschärfungen diskutieren. Wenn die jetzige Rechtslage nicht abschreckend genug ist – warum sollte es bei einer noch expliziteren Nennung besser werden? Wir meinen, dass mit unserem Antrag den Opfern vorurteilsmotivierter Gewalt besser geholfen wird. Wir machen deutlich, dass die Gesellschaft auch bei vermeintlichen kleinen Delikten nicht wegschaut. Damit stärken wir die Opfer, und das ist effektiver als reine Symbolpolitik. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrag: Presse-Grosso gesetzlich verankern (Tagesordnungspunkt 17) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Die Sätze des vorliegenden Antrags „Grundvoraussetzung für die Vielfaltsicherung unserer Medienlandschaft ist neben den gesetzlichen Vorgaben eine funktionierende, flächen-deckende und diskriminierungsfreie Vertriebsstruktur für Presseerzeugnisse. Zeitungen und Zeitschriften sind keine Ware wie jede andere, sondern Kulturgüter“ können wir, denke ich, alle unterstreichen. Das haben wir vonseiten der CDU/CSU und der FDP auch im Koali-tionsvertrag fixiert. Nicht umsonst haben wir in Deutschland für Zeitungen und Zeitschriften den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent. Das deutsche Pressevertriebssystem hat bislang dafür gesorgt, dass die vom Grundgesetz verlangte Informations- und Meinungsfreiheit gewissermaßen über die Ladentheke in den großen Städten wie auch in den kleinen Gemeinden realisiert wird. Die in Art. 5 des Grundgesetzes verankerte Meinungs- und Pressefreiheit konnte bislang unter anderem durch das auch im internationalen Vergleich als vorbildlich eingestufte Grossovertriebssystem gewährleistet werden. Ich bin froh, dass ich von FAZ über Süddeutsche bis hin zu Unterhaltungszeitschriften wie Gala oder Bunte alle möglichen Presseerzeugnisse nicht nur in Berlin oder Hamburg, sondern auch am Kiosk im Bahnhof Hintertupfingen bekomme. Ich bin aber auch froh, dass wir eine so große Pressevielfalt in Deutschland haben wie in nicht vielen anderen vergleichbaren Ländern. Ein Grund dafür ist, dass auch die vielen kleinen Verlage sich an das Presse-Grosso-System anschließen können, ohne dass hier eine Marktreifeprüfung vorgenommen würde oder sonstige Marktzugangsbarrieren wie Umsatzschwellen oder Ähnliches gelegt würden. Mit dem bestehenden Presse-Grosso-System bekommen alle Marktteilnehmer – vom Springer-Verlag bis hin zum Kleinverlag – die Chance, dass ihre Zeitungen und Zeitschriften an den Mann kommen. Wäre den kleinen Verlagen dieser Zugang verwehrt, könnten sie wohl bald zumachen. Mit der Kündigung an zwei Pressegrossisten in Norddeutschland durch den Bauer-Verlag, durch den Aufbau eines eigenen Vertriebs seiner Presserzeugnisse an den Einzelhandel und in der Folge durch die drei Urteile des Bundesgerichtshofs in den Jahren 2010 und 2011 sowie durch das jüngste Urteil des Landgerichts Köln vom 14. Februar 2012 scheint das bestehende System des Presse-Grosso jedoch in seiner Substanz gefährdet. So hat der BGH die Zulässigkeit der Kündigungen durch den Bauer-Verlag bestätigt. Gleichzeitig haben die Gerichte eine rechtliche Bindung des Bauer-Verlags an den Inhalt der im Jahre 2004 verabschiedeten Gemeinsamen Erklärung zwischen dem Bundesverband Presse-Grosso, dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und dem Verband Deutscher Zeitschriftenverleger verneint. Der BGH hat die kartellrechtliche Zulässigkeit des Presse-Grosso-Systems als solches aber ausdrücklich offengelassen. Das Landgericht Köln sieht mit dem genannten Urteil in dem Alleinverhandlungsmandat des Bundesverbandes Presse-Grosso einen Verstoß gegen das Kartellverbot nach Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Wie Sie wissen, ist es gemäß der Gemeinsamen Erklärung gängige und funktionierende Praxis, dass der Bundesverband Presse-Grosso zentral für seine Verbandsmitglieder – das sind derzeit 53 meist mittelständisch geprägte Pressegrossisten – mit den einzelnen Verlagen und Vertrieben einheitliche Handelsspannen und Konditionen für die Vertriebsleistungen aushandelt. Nur so können meines Erachtens die flächendeckende Vollversorgung und einheitliche Preise garantiert werden. Durch die einheitlichen Handelsspannentabellen ist gewährleistet, dass alle Presseerzeugnisse in Deutschland zu den gleichen Bedingungen vertrieben werden können, ohne dass die Verlage mit den einzelnen Grossisten in der jeweiligen Region Verhandlungen führen müssen. Das kommt vor allem kleinen Verlagshäusern zugute. In der Intention des Urteils muss es der Bundesverband Presse-Grosso aber unterlassen, für seine Verbandsmitglieder in Deutschland einheitliche Großhandelskonditionen – insbesondere Handelsspannen und Laufzeiten – mit Verlagen oder Vertriebsgesellschaften auszuhandeln oder zu vereinbaren. Zusätzlich darf der Bundesverband nach dem Urteil die Presse-grossisten nicht dazu auffordern, individuelle Verhandlungen mit Bauer zu verweigern. Nun mag man auf den ersten Blick denken, na gut, mit dem Urteil wird der Wettbewerb intensiviert, die Grossisten und auch die Verlage müssen sich jetzt ins Zeug legen und durch individuelle Vereinbarungen adäquate Konditionen verhandeln, die für sie in ökonomischer Hinsicht gut und rentabel sind. Aber Vorsicht: Wer kann sich eine solche Praxis denn überhaupt leisten? Mit Sicherheit nicht die kleinen und mittelständischen Verlagshäuser, die sich – im Gegensatz zu Großunternehmen wie etwa Springer oder Holtzbrinck – mit Sicherheit nicht ein eigenes Vertriebssystem aufbauen können und auch nicht mit allen der insgesamt 68 Grossofirmen in Deutschland Vertragsverhandlungen über die Auslieferungskonditionen führen können. Andersherum: Wie sollen denn alle Grossisten einzeln mit jedem Verlag Vertragsverhandlungen führen, um dem Einzelhandel letztlich weiterhin „die volle Palette“ liefern zu können? Damit wären diese mittelständisch geprägten Betriebe schlicht überfordert. Die Konsequenz wäre, dass nur noch einige ausgewählte Presseerzeugnisse in der Fläche vertrieben werden, die dann wahrscheinlich nur noch von großen Verlagen kommen, mit denen man Vertragsverhandlungen geführt hat. Kleine Verlage hätten wiederum mit Sicherheit das Nachsehen, weil sie keine Grossisten finden, die ihre Produkte an den Einzelhandel bringen. Die Kioske in Deutschland wären also deutlich ausgedünnt. Ich glaube nicht, dass wir das wollen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht sehenden Auges unsere Pressevielfalt verlieren. Und nicht zuletzt: Wer denkt denn in der Konsequenz des Landgerichtsurteils noch an die Endabnehmer, die Leserinnen und Leser? Wenn einzelne Verlage nach diesen Urteilen jetzt anfangen, eigene Vertriebssysteme aufzubauen, muss man schon schauen, ob dann – unter rein ökonomischen Kriterien – die Neutralität des Vertriebs noch immer gewährleistet sein wird. Sprich: Wenn die Verlage dann selbst entscheiden, welche Presseerzeugnisse sie an welche Verkaufsstellen des Einzelhandels liefern, besteht die Gefahr, dass wir eben nicht mehr an jedem Kiosk in der Bundesrepublik ein Vollsortiment vorfinden, weil der Verlag zum Beispiel nur noch in den großen Städten und Ballungszentren vertreibt, den Einzelhandel im ländlichen Raum aber leer ausgehen lässt, weil sich der Vertrieb da nicht so rentiert. Die Neutralität des Vertriebs der Presseprodukte in Deutschland ist damit akut gefährdet. Heute haben wir in Deutschland so etwas wie eine Universalversorgung für alle mit allem. Und das ist auch gut so. Das heutige Vertriebsnetz Presse-Grosso verrichtet Dienstleistungen, die in meinen Augen vergleichbar sind zum Beispiel mit Postdienstleistungen, also Universaldienstleistungen, wodurch eine Grundversorgung der Allgemeinheit mit für das Leben und den Alltag notwendigen Diensten für jeden flächendeckend, nichtdiskriminierend und zu erschwinglichen Preisen sichergestellt ist. Bleibt die Auslage eines Vollsortiments auch in Kleinkaffstadt gesichert, wenn Verlag XY kalkuliert, dass sich ein Vertrieb seiner Produkte eigentlich nur in Hamburg, Berlin, Köln und München lohnt? Ich bezweifele das. Weitergehend muss man sehen, dass in der Folge auch die für uns alle komfortable Preisbindung sowie das Remissionsrecht, also dass die Einzelhändler nicht verkaufte Zeitungen und Zeitschriften zum Einstandspreis wieder an die Grossisten zurückgeben können, gefährdet sind. Sollte sich das Presse-Grosso in Deutschland nun zu einem Schweizer Käse entwickeln, ist nicht mehr sichergestellt, dass alle bekannten und neuen Presseobjekte überall in Deutschland zu den gleichen Bedingungen und damit Preisen verkauft werden können. Die Gefahr besteht, dass Sie den Spiegel in Berlin weiterhin für 4 Euro bekommen, in Kleinkaffstadt aber 7,90 Euro hinlegen müssen – wenn Sie ihn da überhaupt noch kriegen. Auch wenn wir heute vielleicht nicht unbedingt einen absoluten Wettbewerb im Vertrieb haben, so haben wir auf jeden Fall und Gott sei Dank einen Wettbewerb bei den Endprodukten und im Pressewesen. Denn nur wo ich als Leser die Auswahl habe, kann ein Wettbewerb der Meinungen, aber auch ein Wettbewerb der Verlage – großer wie kleiner – aus wirtschaftlicher Sicht bestehen bzw. entstehen. Was also ist nach den BGH-Urteilen und nach dem Urteil des Landgerichts Köln vonseiten des Gesetzgebers zu tun, um ein funktionierendes Presse-Grosso-System in Deutschland zu erhalten, wie wir es kennen und schätzen, das den kleinen Verlagen ihre Chance am Markt gibt und das flächendeckend ein Vollsortiment mit den gängigen Zeitungen und Zeitschriften garantiert? Müssen wir hier überhaupt tätig werden? Da freiwillige Vereinbarungen auf der Basis der Gemeinsamen Erklärung von 2004 für die ersten Verlage offenbar nichts mehr wert sind und der Bauer-Verlag das seit 60 Jahren gut funktionierende System von innen her nicht nur hinterfragt, sondern aktiv erodieren lässt, scheint mir eine gesetzliche Regelung unausweichlich, um dafür zu sorgen, dass die Bürger an allen 120 000 Presseverkaufsstellen in Deutschland – in den Städten und in den Dörfern – weiterhin die Auswahl im Vollsortiment haben und dass die Verlagsvielfalt in Deutschland erhalten bleibt. Nur, werte rot-grüne Kollegen, da machen Sie es sich in Ihrem Antrag ein bisschen zu einfach, wenn Sie fordern, dass die Bundesregierung „gemeinsam mit den Ländern eine gesetzliche Verankerung des neutralen Presse-Grossos sicherzustellen“ hat, „um die Medienvielfalt und Überallerhältlichkeit dauerhaft gewährleisten zu können“. Außerdem fordern Sie die Bundesregierung auf, „im Rahmen der anstehenden Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen eine Regelung einzuführen, die den Grossisten das zen-trale Aushandeln von Handelsspannen durch ihren Berufsstand ermöglicht“. In der Tat ist eine einheitliche Spannentabelle wesentliche Grundlage für das einheitliche Grossovertriebssystem in Deutschland, wie ich das gerade beschrieben habe. Nur: Das Landgericht Köln hat seine Entscheidung vor allem auf den Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gestützt, also das Kartellverbot. Dadurch, dass das Gericht einen Verstoß gegen das hier im EU-Recht verankerte Kartellverbot festgestellt hat, müssen wir eine Lösung finden, die das bewährte Presse-Grosso-System gemäß der im EU-Vertrag in Art. 101 Abs. 3 fixierten Möglichkeit von den Regelungen des Abs. 1 des Art. 101 freistellt. Damit würden wir die europarechtlichen Wettbewerbsregeln einhalten und würden das System auch in künftigen Gerichtsverfahren rechtlich absichern. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen scheint mir da in der Tat die einzig sinnvolle Rechtsnorm zu sein. Und da hat natürlich der Bund die Gesetzgebungskompetenz. Ich weiß um die europarechtliche Problematik in dieser Frage. Europarecht sollte uns aber nicht an vernünftigen Regelungen hindern, zumal es hier erfahrungsgemäß auch Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Ich halte es sogar für zielführend, direkt Europarecht aufzugreifen und festzulegen, dass aus Sicht des deutschen Gesetzgebers die Pressegrossisten gemäß Art. 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU mit „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut“ sind. Das sollte im Rahmen der anstehenden Novellierung des GWB in den dortigen § 30 – Preisbindung bei Zeitungen und Zeitschriften – aufgenommen werden. Denn – wie ich oben schon dargestellt habe – die Pressegrossisten erfüllen im Sinne eines „Universaldienstes“ durchaus Dienstleistungen „von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ im Interesse eines mit Leben erfüllten Grundgesetzes. Die kartellrechtlichen Einschränkungen des Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU und des GWB würden aber die Ausführung dieses „allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“ durch die Grossisten verhindern. Eine Betrauung im Rahmen des Art. 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU würde dazu führen, dass die Wettbewerbsregeln des EU-Vertrags, also der Abs. 1 des Art. 101, keine Anwendung finden. Denn die Wettbewerbsregeln gelten nach Art. 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU nur, „soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen“ – also den Pressegrossisten – „übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“. Damit könnte für den Bundesverband Presse-Grosso ein gesondertes Verhandlungsmandat erwirkt werden, mit dem im Ergebnis die Konditionen und Leistungen zwischen den Verlagen und den Pressegrossisten erhalten bleiben könnten und in der Folge auch die Überallerhältlichkeit der Presseprodukte sowie die Vielfalt im Verlagswesen in Deutschland. Mit dieser Form der Betrauung würden die Verlage gleichwohl nicht verpflichtet werden, die Dienste des Presse-Grosso in Anspruch zu nehmen. Der Markt ist an sich also offen. Es geht hier jeweils um ein Angebot des jeweiligen regionalen Pressegrossisten an die Verlage. Wenn der Dienst des Pressegrossisten aber in Anspruch genommen wird – und das ist bisher seitens der Verlage immer der Fall gewesen –, dann sind die Grossisten auch verpflichtet, alle Verlagsobjekte zu vertreiben – eben um die Neutralität des Angebots an den Verkaufsständen des Einzelhandels zu wahren. Jetzt kommen natürlich die vereinigten verbeamteten Bedenkenträger aus dem Bundeswirtschaftsministerium daher und schwingen mit der Keule des Europarechts, nach dem eine solche Regelung nicht zulässig sei, die Kommission in Brüssel eine Freistellung nicht genehmigen würde und überhaupt der Bund keine Gesetzgebungskompetenz in dieser Frage habe. Haben wir für das GWB sehr wohl! Und da müssen wir eben ansetzen. Wie das geht, habe ich gerade skizziert. Das Wirtschaftsministerium verweist auf die Länder, wenn man denn eine gesetzliche Verankerung von Vorschriften zum Erhalt der Meinungs- und Pressefreiheit wolle. Pressevertriebsspezifische Vorschriften könne man etwa im Rahmen der Landesmedien- und Pressegesetze ergänzen oder zwischen den Ländern in einer Art „Länderpressegrosso-Staatsvertrag“. Die Leiter der Staatskanzleien von Bayern und Nordrhein-Westfalen wiederum verweisen in einem Beschlussvorschlag an die Ministerpräsidenten der Länder auf die Notwendigkeit einer Regelung im GWB, also im Rahmen der Bundesgesetzgebung. Die Länder wollen dabei nur „prüfen“, „inwieweit Landespresserecht die Neutralität des Pressevertriebs unterstützen kann“. Nur auf die Länder zu zeigen, ist mir für dieses wichtige Thema zu wenig. Deswegen müssen wir nun im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zur Achten Novelle des GWB dieses Thema auf die Agenda setzen. Denn die Vollversorgung mit den verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften in allen Teilen und Regionen Deutschlands und der Erhalt unserer kleineren Verlage sind im Sinne unseres Grundgesetzes und im Sinne der Leser zu wichtig, um auf dem Altar der juristischen Spitzfindigkeiten geopfert zu werden – erst recht vor dem Hintergrund, dass wir als Bundesgesetzgeber mit der GWB-Novelle das Instrument dazu in der Hand haben. Das müssen wir jetzt nutzen. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Was haben der Fußballfan, der Gartenfreund und die junge Familie gemeinsam? Sie kaufen und lesen Landlust, Nido oder den guten alten Kicker – Fachmagazine, die von kleinen Verlagen herausgebracht werden oder sich als Neuerscheinungen schnell am Markt durchgesetzt haben. Alle diese Titel gäbe es ohne das bewährte deutsche Grosso-System wahrscheinlich nicht. Durch das Urteil des Landgerichts Köln drohen das Presse-Grosso und mit ihm die Presse- und Meinungsvielfalt in unserem Land großen Schaden zu nehmen. Das bisher praktizierte Vertriebssystem sichert die Versorgung aller Kioske und Verkaufsstände vor Ort mit allen publizierten Zeitungen und Zeitschriften. Die einseitige Bevorzugung der Erzeugnisse eines Pressekonzerns wird verhindert. Der vom LG Köln ausgestellte Freibrief für Einzelverhandlungen zwischen Verlagen und Grossisten schwächt die Verhandlungsposition der Grossisten. -Daher haben wir uns festgelegt: Wir wollen eine gesetzliche Regelung des zentralen Verhandlungsmandats für den Bundesverband Presse-Grosso. Alle Beteiligten, auch die Verlegerverbände, sind dafür – mit einer -Ausnahme. Verlegerisches Ethos und Verantwortung galt früher etwas in diesem Land. Davon hat die immer noch ausgezeichnete Medien- und Pressevielfalt in Deutschland profitiert. In vielen Verlagen gibt es dieses Ethos auch heute noch. Einzelne unrühmliche Ausnahmen bringen das gesamte System in Schieflage. Auch der Bauer-Verlag wusste es einmal besser: „Der deutsche Presse-Großhandel ist sehr leistungsfähig, wir sollten für den Erhalt dieses Systems kämpfen“, hob der Verlag noch 2004 in einer Publikation hervor. 1989 formulierte Bauer: „Internationale Beobachter sprechen gern vom besten Vertriebssystem der Welt. Es hat entscheidenden Anteil daran, dass in keinem anderen Land Zeitschriften eine vergleichbare dominierende Rolle spielen.“ Tempi passati! Natürlich: Jeder muss heutzutage auf das Geld schauen. Der Kostendruck steigt auch auf die Verlage. Gerade aktuell tut die Bundespolitik aber viel für die Verlage. Der Koalitionsausschuss hat Anfang dieses -Monats die Einführung eines Leistungsschutzrechtes für Presseverleger beschlossen. Mit der Reform der Pressefusionskontrolle entsprechen wir den Wünschen der großen und der Lokalzeitungsverleger. Auch die Grossisten haben sich bewegt. Für die neuen Abschlüsse mit fast allen Verlagen im letzten Jahr haben sie deutliche Abstriche gemacht. Das sollte man anerkennen. Verlierer wären wir alle: Leser, Zeitungs- und Zeitschriftenkäufer, kleine Verlage, die Pressevielfalt. Gewinner wäre nur einer, und das auch nur auf den ersten Blick. Kritiker und Bedenkenträger fürchten: Eine gesetzliche Regelung des Alleinverhandlungsmandats in der GWB-Novelle ist mit dem EG-Kartellrecht nicht vereinbar. Ehe wir gar nichts tun und das bewährte System vor die Hunde gehen lassen, sollten wir lieber die Probe aufs Exempel machen. Ein europarechtliches Risiko bleibt in kartellrechtlichen Fragen immer. Wir halten eine Freistellung des deutschen Pressevertriebssystems nach deutschem und europäischem Wettbewerbsrecht für zulässig, weil die Vorteile für den Pressemarkt die möglichen Nachteile für den Wettbewerb überwiegen. Wir werden ja sehen, wer Recht behält. Aber wir sehen zu -einer entsprechenden Grossoregelung im GWB keine Alternative. Auch ein konstruktiver Dialog der Politik mit der Bundeskartellamt kann der Sache selbstverständlich dienen. Liebe Freunde von SPD und Bündnis 90/Die Grünen: Ihr Einsatz für das Grosso ist verdienstvoll. Wir stehen an Ihrer Seite. Gegen Ihren Antrag habe ich trotzdem Einwände. Auf die Länder, wie im Antrag gefordert, sollten wir nicht allzu sehr bauen. Der Beschlussvorschlag der Chefs der Staatskanzleien für die Ministerpräsidentenkonferenz in der nächsten Woche empfiehlt lediglich einen Prüfauftrag für die Bundes- und die Ländergesetzgebung. Wir alle wissen, wie kompliziert die Verhandlung von Rundfunkstaatsverträgen ist. Ein „Grosso-Staatsvertrag“ ist Theorie, da es kein Signal von den Ländern gibt, dem Bundesgesetzgeber diese Aufgabe abzunehmen. Auch kann von den Ländern nicht das zentrale Verhandlungsmandat geregelt werden. Das müssen wir als Bundesgesetzgeber schon selber regeln. Die GWB-Novelle ist dafür der richtige Ort. Auch dem Vorschlag einer Schiedsstelle kann ich nicht viel abgewinnen. Wenn ein Akteur das Zusammenspiel konsequent verweigert, helfen auch keine Schiedsrichter! Schlichtungsrunden unter der verdienstvollen Leitung von BKM haben wir in den vergangenen Jahren genug gehabt. Gefreut hat mich Ihr Verweis auf die Bundeskanzlerin, die den Erhalt des Pressevertriebssystems im November 2011 für notwendig erklärt hat. Auch der Medienpolitische Expertenkreis der CDU Deutschlands hat sich bereits vor dem Urteil des Landgerichts Köln zu einer gesetzlichen Regelung bekannt. Unser Ziel lautet: Presse- und Medienvielfalt überall in Deutschland, faire Marktchancen für neue Titel. Die Vorzüge des Grossosystems sind: Neutralität und Überallerhältlichkeit. Das ist vor allem für den ländlichen Raum wichtig, wo nicht alle 50 Meter ein Kiosk steht. Die Qualitäten der deutschen Vertriebsstrukturen erkennt man bei einem Blick ins Ausland besonders gut: In Großbritannien war die Pressedistribution einmal ein offenes, überwiegend von freien Grossisten organisiertes Verteilsystem. Heute hat es sich zu einem oligarchisch strukturierten Kommissionsnetz gewandelt. Die Folge: Der Einzelhandel ist erodiert, das Verkaufsnetz weiter ausgedünnt, verbunden mit einem Reichweitenschwund insbesondere der Tagespresse außerhalb von Ballungsräumen. Experten sprechen bereits von der „englischen Krankheit“. Das kann kein Vorbild für Deutschland sein. Ich -wünsche mir für die Zukunft keine „German Grosso -Disease“. Darin bin ich mir einig mit dem Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und anderen bis hin zum nördlichsten Zeitungsverlag in Deutschland, dem Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag in Flensburg. Ich bin optimistisch, dass wir eine Lösung in der GWB-Novelle hinbekommen. Dann hätte sich der vorliegende Antrag erledigt. Wenn es aber den Verantwortlichen gelänge, vorher eine Friedenslösung wie 2004 in der „Gemeinsamen Erklärung“ zu erzielen, wäre das auch ein vertretbarer Weg und sehr zu begrüßen. Und der Kicker und die Landlust hätten weiterhin eine faire Chance im Ladenregal. Martin Dörmann (SPD): Die Vielfaltsicherung in unserer Medienlandschaft ist ein wesentliches Element zur Stärkung unserer Demokratie. Ein zentraler Baustein hierfür ist das Presse-Grosso. Es sichert eine flächendeckende und diskriminierungsfreie Vertriebsstruktur für Presseerzeugnisse und schafft damit faire Wettbewerbsbedingungen zwischen kleinen und größeren Verlagen. Das Presse-Grosso ist der bedeutendste Vertriebsweg für Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland. Es besteht aus 67 zumeist mittelständischen und unabhängigen Presse-Grossisten, die täglich mehr als 120 000 Presseverkaufsstellen mit einem vielfältigen Angebot versorgen. Prinzipiell kann man jeden Titel auch noch am kleinsten Zeitungskiosk auf dem Dorf erhalten. Zum Vergleich: Die um ein Mehrfaches größeren USA haben insgesamt nur 25 000 Verkaufsstellen mehr, die zudem durch das dortige reine Zeitschriftengrosso nur wöchentlich und nicht täglich beliefert werden. Unser erfolgreiches Grossosystem ist nun durch ein kürzlich ergangenes Urteil des Landgerichts Köln infrage gestellt. Deshalb fordern die Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem gemeinsamen Antrag eine gesetzliche Verankerung des Presse-Grosso. Es darf nicht sein, dass größere Verlage einen prinzipiell besseren Zugang zu Verkaufsstellen haben oder aufgrund ihrer Wirtschaftsmacht günstigere Konditionen aushandeln können. Hierdurch würde sich die Wett--bewerbssituation für kleinere Verlage nachhaltig verschlechtern. Innovative neue Zeitschriftentitel und -Nischenverlage ohne hohe Auflagen hätten das Nachsehen. Die Folgen wären absehbar: Über kurz oder lang würde eine Reduzierung von Pressetiteln drohen und damit der Meinungsvielfalt schwerer Schaden zugefügt. Das dürfen wir nicht zulassen. Denn Zeitungen und Zeitschriften sind keine Ware wie jede andere, sondern Kulturgüter. Zudem ist eine lebendige Demokratie da-rauf angewiesen, dass die Presselandschaft möglichst vielfältige Meinungen transportiert und Großverlage kleinere Verlage nicht allein wegen ihrer Marktmacht an den Rand drängen können. Warum ist hierfür das Presse-Grosso-System von so großer Bedeutung? Die Pressegrossisten sind das Verbindungsglied zwischen den Verlagen und den Presseverkaufsstellen. Sie unterhalten ein aufwendiges Vertriebsnetz, organisieren die Lieferung der einzelnen Titel vor Ort und erhalten dafür eine bestimmte Marge. Von zentraler Bedeutung ist, dass nicht die Verlage bestimmen, an wen wie viel geliefert wird und wo die Verlagsprodukte wie präsentiert werden. Vielmehr hat der Pressegrossist insofern eine Dispositionsfreiheit. Dabei muss er aber nach objektiven Kriterien vorgehen und darf einzelne Titel nicht diskriminieren. Hierdurch wird sichergestellt, dass kleine und neue Publikationen gleichberechtigt neben Kassenschlagern liegen können. Umgekehrt hat die Verkaufsstelle ein sogenanntes Remissionsrecht, das heißt, nichtverkaufte Titel können an den Grossisten zurückgegeben werden. Das wirtschaftliche Risiko trägt insofern der Grossist. Diese Vertriebsstruktur hat sich bewährt und gilt europaweit als vorbildlich. Es gibt jedoch eine Besonderheit, die nun kartellrechtlich vom Urteil des Landgerichts Köln infrage gestellt ist. Die Konditionen werden in der Regel nicht von den einzelnen Pressegrossisten individuell mit den Verlagen ausgehandelt. Vielmehr verhandelt auf der Seite der Pressegrossisten der -Bundesverband Presse-Grosso für seine Mitglieder. -Hierdurch wird sichergestellt, dass größere Verlage gegenüber kleineren nicht bessergestellt werden und weniger zahlen, weil sie ein größeres Druckpotenzial -haben, sondern gleiche Maßstäbe für alle gelten. Dieses gemeinsame Verhandlungsmandat des Bundesverbandes Presse-Grosso hat das Landgericht Köln als kartellrechtswidrig bezeichnet und damit der Klage des Bauer-Verlages gegen den Bundesverband Presse-Grosso stattgegeben. Dieser hat inzwischen Berufung eingelegt, -sodass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Das System Presse-Grosso ist aber zu wichtig, als dass wir das Risiko eingehen sollten, dass ein höchstrichterliches Urteil den Streit früher oder später endgültig entscheidet. Vielmehr ist es an der Zeit, das Grosso-System politisch zu stützen und endlich gesetzlich abzusichern. In der Vergangenheit war das nicht notwendig, weil sich die gesamte Branche 2004 auf eine „Gemeinsame Erklärung“ verständigt hat, durch die das Grossosystem gestaltet wurde. Dieser lange bestehende Konsens wurde von dem genannten Großverlag aufgekündigt, weil er individuell bessere Konditionen aushandeln will. Da es um eine Kartellrechtsfrage geht, bedarf es nun einer Absicherung des Presse-Grosso im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB). Insofern ist es ein glücklicher Umstand, dass ohnehin eine GWB-Novelle ansteht. Die Bundesregierung hat angekündigt, in der nächsten Woche einen Gesetzentwurf im Kabinett zu verabschieden. Nach allen bisherigen Verlautbarungen der Bundesregierung sowie der sie tragenden Koalitionsfraktionen ist allerdings davon auszugehen, dass die -gesetzliche Absicherung des Presse-Grosso kein Bestandteil des Gesetzentwurfes sein wird. Dies bedauern wir sehr, zumal sich selbst die Bundeskanzlerin bei den Zeitschriftentagen im November 2011 noch für eine -Absicherung ausgesprochen hat. Insgesamt sind sich -jedenfalls die Medienpolitiker aller Parteien über die große Bedeutung des Presse-Grosso einig. Wir fordern die Bundesregierung auf, jetzt unverzüglich die gesetzliche Absicherung des Presse-Grosso auf den Weg zu bringen. Die Regelung sollte den Grossisten das zentrale Aushandeln von Handelsspannen durch ihren Berufsverband ermöglichen. Zusätzlich flankiert werden könnte dies durch eine gesetzliche Verankerung des Presse-Grosso auch in den Pressegesetzen der Länder. Ich freue mich, dass die rot-grüne Landesregierung in NRW an dieser Stelle deutlich Position bezogen hat und auf Länderebene initiativ -geworden ist. Infolgedessen hat sich Anfang März die Konferenz der Chefinnen und Chefs der Staats- und -Senatskanzleien der Länder für eine Sicherung des Presse-Grosso ausgesprochen. Hierzu wurde eine länderoffene Arbeitsgruppe unter Federführung von NRW und Bayern eingesetzt, an der sich auch der Bund beteiligen soll. Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Initiative der Länder zu unterstützen und ihren Beitrag zur gesetzlichen Verankerung des Presse-Grosso zu leisten. In diesem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, inwieweit eine Schlichtungsstelle für Streitfragen zwischen den Verlagen und den Grossisten etabliert werden kann. Hierdurch könnte sichergestellt werden, dass zwischen den Beteiligten faire Konditionen ausgehandelt werden, die niemanden benachteiligen. Sicherlich stellt sich die Frage, wie eine solche Regelung gerichtsfest und europarechtskonform im GWB verankert werden sollte. Hierzu haben der Bundesverband Presse-Grosso, der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) sowie der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) einen gemeinsamen Vorschlag vorgelegt, der unter den genannten Gesichtspunkten geprüft werden sollte. Zum Stichwort Medienvielfalt noch ein Hinweis: Im Rahmen der geplanten GWB-Novelle beabsichtigt die Bundesregierung Änderungen des Pressefusionsrechts. Wir sind sehr gespannt, was die Bundesregierung uns letztlich im Einzelnen als Gesetzentwurf vorlegen wird. Wir werden den Entwurf kritisch prüfen, insbesondere auf seine Auswirkungen auf die Medienvielfalt in Deutschland. Auch das wird eine interessante Debatte werden. In diesem Zusammenhang bedauern wir sehr, dass die Bundesregierung bislang die Mediendatenbank noch nicht vorgelegt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, obwohl für diese seit 2009 Mittel im Bundeshaushalt eingestellt sind. Die hierzu gefertigten Gutachten sollten nun schnell veröffentlicht werden, damit wir eine bessere Datengrundlage über Angebot, Nutzerverhalten und Konzentrationstendenzen in der deutschen Medienlandschaft haben. Einen maßgeblichen Beitrag zur Sicherung der Medienvielfalt könnte die Bundesregierung in jedem Falle -dadurch leisten, dass sie unsere Initiative für eine gesetzliche Absicherung des Presse-Grosso unterstützt. Die Zeit ist reif – und die Zeit drängt. Wir dürfen das -bewährte System des Presse-Grosso nicht aufs Spiel -setzen. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen reagiert auf die Rechtsstreitigkeiten des Grossoverbandes mit dem Bauer-Verlag. Gewürdigt wird die Vielfaltsicherung unserer Medienlandschaft und die Erhaltung einer funktionierenden, flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertriebsstruktur für Presseerzeugnisse, die in der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern einmalig ist. Das ist richtig. Bedenken Sie aber bitte beim Hohelied auf die Pressevielfalt zweierlei: Erstens. Es sind gerade deutsche Presseverlage, die seit mehr als 20 Jahren durch ihre expansiven Marktstrategien besonders in Osteuropa die Pressevielfalt dort nicht gerade befördert haben. Zweitens. Die Vielfalt im Pressewesen ist immer noch von der Finanzstärke marktbeherrschender Konzerne geprägt, wodurch eher Vielfalt in der Einfalt produziert wird und herrschaftskritische Stimmen deutlich seltener zu Wort kommen. Wenn also über Angebotsneutralität im Vertrieb geredet wird, müsste normalerweise auch darüber geredet werden, was so alles angeboten wird, bevor es in die Regale der -Kioske, Bahnhöfe oder Supermärkte gelangt. Wir begrüßen eine gesetzliche Regelung, die der neoliberalen Entbindung des Pressewesens entgegentritt. Überhaupt scheint sich am Beispiel des Pressegrosso einmal mehr unser Grundsatz zu bewahrheiten, dass in einer entfesselten Ökonomie die berechtigten Interessen der breiten Bevölkerung nicht mehr berücksichtigt werden können. Und es bewahrheitet sich auch, dass freiwillige Vereinbarungen wie die „Gemeinsame Erklärung“ des Grossoverbandes mit den Verlegerverbänden von 2004 immer dann zur Makulatur werden, wenn wieder einmal Gewinnmargen auf dem Spiel stehen. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen fordert die Bundesregierung auf, in der angestrebten Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung den Grossisten das zentrale Aushandeln von Handelsspannen durch ihren Berufsverband zu ermöglichen. Die Forderung selbst ist nun ziemlich unverbindlich und tut eigentlich niemandem weh. Sie hätten deshalb in Ihrem Antrag zumindest benennen müssen, wo im GWB und vor allem mit welcher Reichweite Sie die Ihrer Meinung nach dringend notwendige Regelung verankert haben möchten. Dafür käme im Gesetz unter Umständen der Preisbindungsparagraf – § 30 GWB – bei Zeitungen und Zeitschriften infrage. Um das Grossosystem vor dem Vorwurf wettbewerbswidriger Behinderung zu schützen, wären andere Spielräume innerhalb des Gesetzes ebenfalls gewissenhaft zu prüfen. Das passiert in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aber nicht. Sie geben mit der Folgenlosigkeit Ihres Antrages den Ball in einem Maße an die Bundesregierung zurück, das schlechterdings unverantwortlich ist. Denn so kann die Regierung die Regelung je nach Belieben treffen und ansonsten auf die sozialen Belange der Beschäftigten pfeifen. Die beiden anderen in dem Antrag aufgestellten Forderungen – Sicherstellung des neutralen Pressevertriebs über Bund-Länder-Regularien und die Einrichtung einer Schlichtungsstelle bei Streitfragen – sind für die Fraktion Die Linke im Hinblick auf die Zentralforderung zweitrangig. Wenn Sie also alle hier eine gesetzliche Regelung für das Presse-Grosso wollen, dann werden Sie konkret und nehmen Sie endlich die Diskriminierungsfreiheit in ihrer ganzen Tragweite ernst – nicht nur für die Vertriebsstrukturen als solche, sondern auch für die Besserstellung der kleinen Verlage im Grossosystem. Noch ein Wort zum Referentenentwurf „Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“, auf den im Antrag Bezug genommen wird. Zwar erklärt der Entwurf, dass dem Aufkauf kleiner Verlage durch Großverlage kein Vorschub geleistet werden soll. Gleichzeitig soll es den Presseunternehmen im Printbereich aber erleichtert werden, ihre wirtschaftliche Basis durch Fusionen abzusichern und ihre Wettbewerbsfähigkeit auch in Konkurrenz zu anderen Mediengattungen zu behaupten – also letztlich doch mehr Konzentration. Von den Konsequenzen für die Beschäftigten in der Branche kein Wort! Unsere Auffassung ist: Wettbewerbsbeschränkung hat sich an den Menschen zu orientieren. Das gilt auch für eine angestrebte gesetzliche Regelung beim Presse-grosso. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stellen Sie sich vor, am Kiosk vor der Schule gibt es nur eine Zeitschrift: die Bravo. Das ist ein Szenario, das wir alle sicher nicht wollen. Es könnte aber genau dazu kommen. Denn die Pressevielfalt an der Ladentheke oder im Kiosk ist in Gefahr. Grund dafür sind zwei Gerichtsentscheidungen, die das System des Presse-Grosso ins Wanken bringen. Die Neutralität und Vielfalt des Presseangebots in den Regalen kommen nämlich nicht von ungefähr. Dafür ist in Deutschland ein international einzigartiges Vertriebssystem verantwortlich: das Presse-Grosso. Es sichert eine neutrale Vertriebsstruktur und damit die Pressevielfalt an der Ladentheke. Das Presse-Grosso besteht aus 67 zumeist mittelständischen und unabhängigen Pressegrossisten, die in Deutschland täglich mehr als 120 000 Presseverkaufsstellen mit einem vielfältigen Presseangebot versorgen. Es wurde von Verlagen und Grossounternehmen aufgebaut, beruht auf einem breiten Branchenkonsens sowie zahlreichen privatwirtschaftlichen Vereinbarungen, die es in den vergangenen 60 Jahren zu dem gemacht haben, was es heute ist. Das Presse-Grosso ist der bedeutendste Vertriebsweg für Zeitungen und Zeitschriften. Dieses bislang nicht gesetzlich verankerte System ist durch zwei Gerichtsentscheidungen (Oktober 2011 BGH; Februar 2012 LG Köln) in Gefahr. Der marktbeherrschende Bauer-Verlag stellt seit 2008 das gut funk-tionierende Grossosystem infrage und hat per Gericht erzwungen, die Bedingungen für seinen Vertrieb mit den Kiosken und Ladenketten selbst auszuhandeln. Dies ist sehr ärgerlich und mit Blick auf den Bauer-Verlag nicht nachvollziehbar. Als bereits 2004 einmal zur Debatte stand, das Vertriebssystem gesetzlich zu verankern, haben wir als rot-grüne Koalition den Willen der Grossisten und Verleger unterstützt, den Weg einer untergesetzlichen gemeinsamen Erklärung zum Erhalt des Vertriebs zu wählen. Darin sind unter anderem geregelt: die Preis- und Verwendungsbindung, das Dispositions- und Remissionsrecht, die Vertriebsneutralität sowie die gebietsbezogene Alleinauslieferung. Diese „Gemeinsame Erklärung“ hat der Bauer-Verlag nie unterzeichnet, und sie nun durch seine Klagen im Grunde auf lange Sicht auch für die anderen Verlage wertlos gemacht. Uns Grünen – und ich nehme an, Ihnen in den anderen Fraktionen auch – ist es wichtig, im Kiosk und an der Ladentheke so viele verschiedene Zeitungen und Zeitschriften angeboten zu bekommen wie möglich. Wir wollen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher eine echte Wahl haben. Und wir wollen, dass sich jede und -jeder aus dem Informationsangebot das heraussuchen kann, was sie oder er für die persönliche Meinungsbildung benötigt. Denn ohne Information keine Meinung und ohne Meinung keine Teilhabe an unserer Demokratie. Damit ist klar: Zeitungen und Zeitschriften sind keine Ware wie jede andere, sondern Kulturgüter. Presse hat in unserer demokratischen Gesellschaft -einen wesentlichen Anteil an der politischen Willensbildung. Ein vielfältiges Angebot und der Zugang dazu müssen uns also als Demokraten am Herzen liegen. Presse- und Medienerzeugnisse allgemein haben zu Recht eine verfassungsrechtlich abgesicherte besondere Funktion. Dazu gehört auch, die Rahmenbedingungen für ein vielfältiges Angebot zu schaffen. Wir Grünen wollen, dass kleine und unbekannte Titel sowie neue Produkte eine gleichberechtigte Chance haben, im Angebot wahrgenommen zu werden wie die Bravo oder die Bunte. Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist es aus grüner Sicht dringend geboten, das Vertriebssystem gesetzlich zu verankern. Dazu ist bundesseitig eine Änderung im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB, erforderlich. Nur so kann die Neutralität beim Vertrieb auf Dauer erhalten bleiben. Nur so garantieren wir, dass alle den gleichen Zugang zu Information und eine echte Auswahl haben. Ein wichtiger Beitrag zur Medienvielfalt: die Absicherung der Pressevielfalt an der Ladentheke. Wir fordern die Bundesregierung deshalb gemeinsam mit der SPD auf: Erstens: Gemeinsam mit den Ländern eine gesetz--liche Verankerung des neutralen Presse-Grosso sicherzustellen, um die Medienvielfalt und Überallerhältlichkeit dauerhaft gewährleisten zu können; über die Länder kann die tatsächliche Neutralität des Systems in den Landespressegesetzen festgeschrieben werden. Zweitens: Im Rahmen der anstehenden Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB, eine Regelung einzufügen, die den Grossisten das zentrale Aushandeln von Handelsspannen durch ihren Berufsverband ermöglicht. Drittens: Gemeinsam mit den Ländern zu prüfen, ob und inwieweit eine Schlichtungsstelle für Streitfragen zwischen den Verlagen und den Grossisten etabliert werden sollte. Dieses Anliegen ist unterstützenswert, auch über Fraktionsgrenzen hinweg – damit auch unsere Kinder in Zukunft am Kiosk vor der Schule eine Auswahl haben. Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Über alle Fraktionen des Deutschen Bundestages hinweg besteht Einigkeit, dass das Presse-Grossovertriebssystem in Deutschland einen überaus wichtigen Beitrag zur Medien- und Meinungsvielfalt leistet. Mit seinem neutralen und diskriminierungsfreien Vertriebssystem bietet das Presse-Grosso die Grundlage für eine echte publizistische Vielfalt am Kiosk. Zur Sicherung dieses vielfältigen Presseangebots muss das Presse-Grosso erhalten bleiben. Zentrale Vo-raussetzung dafür ist ein Konsens aller Beteiligten. Pressegrossisten und Verlage müssen das System gemeinsam tragen. Aus diesem Grund haben alle Parteien im Jahr 2004 die „Gemeinsame Erklärung“ des Bundesverbands Presse-Grosso, des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger und des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger unterstützt. Sie hat vorausgegangene Streitigkeiten beseitigt und den erforderlichen Konsens aller Beteiligten wiederhergestellt. Ziel war es damals und sollte es auch heute sein, gesetzliche Maßnahmen zu vermeiden und freiwillige Regelungen als Basis der Zusammenarbeit zu finden, und das aus gutem Grund. Die gesetzliche Regelung eines Vertriebssystems für Presseerzeugnisse muss den Anforderungen des Art. 5 Grundgesetz gerecht werden. Art. 5 sichert die Pressevielfalt in unserem Land. Zur Pressevielfalt tragen die Verlage und die Grossisten bei. Die Verlage erzeugen die Pluralität durch ihr Angebot. Das Grosso sorgt dafür, dass diese Vielfalt beim Leser auch tatsächlich ankommt. Alle Beteiligten haben verfassungsrechtlich garantierte Rechte, die ein Gesetz über den Pressevertrieb beachten, das heißt in Einklang bringen müsste. Wichtig ist jedoch, festzustellen, dass die derzeitigen Schwierigkeiten nicht durch Einflüsse von außen, sondern durch das Agieren eines Beteiligten gegen das System – gegen Teile des Systems – von innen entstanden sind. Selbst wenn der Gesetzgeber heute tätig würde und wir die rechtlichen Schwierigkeiten überwinden könnten, bliebe es dabei, dass wir nur einen Rahmen für das freiwillige Handeln aller Beteiligten schaffen könnten. Dies führt wieder zu meiner Eingangsbemerkung, dass wir – bei welcher Handlungsoption auch immer – letztlich auf den Konsens aller Beteiligten angewiesen sind. Ohne diesen Konsens sehe ich auch nicht, wie Schlichtungsstellen helfen könnten, Streitfragen zwischen Verlagen und Grossisten erfolgreich beizulegen. Bei der Überlegung, wie wir weiter vorgehen, gibt es jedenfalls bisher keinen unmittelbaren Handlungsdruck. Dies sehen auch die Länder so, wie der gemeinsame Beschlussvorschlag der Länderarbeitsgruppe für die Ministerpräsidentenkonferenz am 29. März 2012 zeigt. In deren Beratungen waren das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien eng eingebunden. Noch ist das Urteil des Landgerichts Köln nicht rechtskräftig. Der Rahmen der Zusammenarbeit durch Verträge der Grossisten mit den Verlagen ist bis zum Jahr 2018 abgesteckt. Dies gibt uns die Gelegenheit, alle Handlungsoptionen gründlich zu prüfen. Wir sollten dabei den Bauer-Verlag weder ausgrenzen noch aus seiner Verpflichtung entlassen, am Erhalt des Presse-Grosso mitzuwirken. Ich werde jedenfalls auch mit dem Bauer-Verlag den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Ich gehe davon aus, dass der Bundesverband Presse-Grosso die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts beim OLG Düsseldorf dazu nutzen wird, die Freistellungsfähigkeit des Alleinverhandlungsmandats unter kartellrechtlichen Aspekten zu untermauern. Daneben sollten der Bundesverband Presse-Grosso und die Verlegerverbände den Kontakt mit der Europäischen Kommission und dem Bundeskartellamt suchen. Ziel muss es sein, zu klären, wie unter dem geltenden Kartellrecht ein funktionsfähiges Presse-Grosso freigestellt werden kann. Dabei müssen auch die Folgen für die Titelvielfalt und die Produktmärkte genau analysiert werden. Erst nach der Klärung dieser Fragen können wir entscheiden, ob und in welchem Umfang gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Zusammengefasst: Alle Handlungsoptionen, die wir prüfen, müssen sich an folgenden, zentralen Zielen messen lassen: Erstens. Das Gesamtsystem muss einvernehmlich funktionsfähig gehalten werden können. Zweitens. Die Grenzen des nationalen Verfassungsrechts und des europäischen Kartellrechts müssen beachtet werden. Drittens. Die Garantien des Art. 5 GG müssen mit Blick auf alle Beteiligten – Verlage wie Grosso – gewahrt werden. Wir alle tragen Verantwortung für die Sicherung der weltweit einzigartigen Pressevielfalt in Deutschland. Deshalb bin ich überzeugt, dass es gelingen wird, eine tragfähige Lösung für den Erhalt des Presse-Grosso zu finden. Anlagen 1Anlage 4 2Anlage 5 3Anlage 6 4Anlage 7 ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 19885 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 20082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 168. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 22. März 2012 20083