Plenarprotokoll 17/212 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 212. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. November 2012 I n h a l t : Wahl der Abgeordneten Ingrid Hönlinger als Schriftführerin Erweiterung der Tagesordnung Zur Geschäftsordnung Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) Zusatztagesordnungspunkt 10: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: Fortschritte beim Anpassungsprogramm für Griechenland b) Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649, 17/11669) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) Rainer Brüderle (FDP) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) Volker Kauder (CDU/CSU) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) Michael Roth (Heringen) (SPD) Otto Fricke (FDP) Norbert Barthle (CDU/CSU) Frank Schäffler (FDP) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) Gunther Krichbaum (CDU/CSU) Namentliche Abstimmung Ergebnis Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen (Drucksachen 17/3685, 17/9587) Heinz Lanfermann (FDP) Elke Ferner (SPD) Rudolf Henke (CDU/CSU) Max Straubinger (CDU/CSU) Kathrin Vogler (DIE LINKE) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karin Maag (CDU/CSU) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Edgar Franke (SPD) Dr. Erwin Lotter (FDP) Dr. Carola Reimann (SPD) Dietrich Monstadt (CDU/CSU) Maria Michalk (CDU/CSU) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 45: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung von Gefahren und Missbräuchen im Hochfrequenzhandel (Hochfrequenzhandelsgesetz) (Drucksache 17/11631) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF Dr. Carsten Sieling (SPD) Björn Sänger (FDP) Richard Pitterle (DIE LINKE) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Bettina Kudla (CDU/CSU) Manfred Zöllmer (SPD) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen (Drucksachen 17/9150, 17/10361) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen sichern (Drucksachen 17/9737, 17/10717) Gero Storjohann (CDU/CSU) Steffen Bockhahn (DIE LINKE) Hans-Joachim Hacker (SPD) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Arnold Vaatz (CDU/CSU) Steffen Kampeter (CDU/CSU) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Karl Holmeier (CDU/CSU) Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Tagesordnungspunkt 49: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister (Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz – KFRG) (Drucksache 17/11267) Heinz Lanfermann (FDP) Dr. Marlies Volkmer (SPD) Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin BMG Kathrin Vogler (DIE LINKE) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Rudolf Henke (CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 50: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Ergänzung des Artikels 6 zur Klarstellung der Kinderrechte) (Drucksache 17/11650) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten) (Drucksache 17/10118) c) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Jerzy Montag, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Kinder von Strafgefangenen und Inhaftierten wahren (Drucksache 17/11578) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Marco Buschmann (FDP) Ralph Lenkert (DIE LINKE) Diana Golze (DIE LINKE) Norbert Geis (CDU/CSU) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) Marco Buschmann (FDP) Dr. Edgar Franke (SPD) Nächste Sitzung Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger (FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Patientenrechte wirksam verbessern (Drucksache 17/11008) (211. Sitzung, Tagesordnungspunkt 6 b) Anlage 3 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen hinsichtlich Kleinstbetrieben (Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz – MicroBilG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse (Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b) Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alexander Funk und Manfred Kolbe (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Ewald Schurer und Rolf Schwanitz (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, Wolfgang Tiefensee und Heidemarie Wieczorek-Zeul (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1  i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus Barthel, Wolfgang Gunkel, Hilde Mattheis, Marianne Schieder (Schwandorf), Ottmar Schreiner, Rüdiger Veit und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1  i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Anlage 8 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1  i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Veronika Bellmann (CDU/CSU) Michael Brand (CDU/CSU) Christine Buchholz (DIE LINKE) Marco Bülow (SPD) Sylvia Canel (FDP) Christian Hirte (CDU/CSU) Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) Gerold Reichenbach (SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) Anlage 9 Amtliche Mitteilungen Inhaltsverzeichnis 212. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. November 2012 Beginn: 9.00 Uhr Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Früher war das besser! Da wurde noch gesagt: Guten Morgen!) Guten Morgen, meine Damen und Herren! (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guten Morgen, Herr Präsident!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir die heutige Tagesordnung mit der Wahl eines Schriftführers eröffnen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schon wieder? Die hauen alle ab da oben! – Weitere Zurufe: Ui! – Das ist gut!) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, für die Kollegin Agnes Krumwiede die Kollegin Ingrid Hönlinger als Schriftführerin zu wählen. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Warum das denn? – Trittin wäre besser!) – Alternativvorschläge sind denkbar, werden aber nicht ernsthaft vorgetragen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch: Trittin! – Gegenruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann ja nicht, weil ich keine Krawatte habe! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Damit er eine Krawatte anzieht!) – Kollege Trittin fühlt sich, wenn ich das richtig verstanden habe, überfordert, was die Anregungen aus anderen Fraktionen betrifft. – Dann ist damit die Kollegin Ingrid Hönlinger als neue Schriftführerin gewählt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, behandeln wir zunächst einen Geschäftsordnungsantrag. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen zu Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland zu erweitern; dieser Antrag findet sich auf der Drucksache 17/11647. Die Vorlage einschließlich der Anlagen soll gleich im Anschluss in Verbindung mit der Regierungserklärung unter Zusatzpunkt 10 a beraten werden. Die Fraktion Die Linke hat dieser Aufsetzung widersprochen. Dazu erteile ich zunächst das Wort der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke, Frau Kollegin Enkelmann. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke widerspricht der Aufsetzung der Anträge der Bundesregierung zur sogenannten Griechenland-Rettung auf die heutige Tagesordnung und vor allen Dingen der Sofortabstimmung heute. (Beifall bei der LINKEN) In der Nacht von Montag zu Dienstag haben sich die Finanzminister der Europäischen Union geeinigt. Am Dienstagvormittag haben wir dann via Agenturmeldung erfahren, dass am Donnerstag der Bundestag abschließend über dieses Paket entscheiden soll – ohne dass sich die Fraktionen dazu verständigt haben. Dann haben wir am späten Dienstag dieses Paket von Unterlagen – Informationen, Anträge etc. – bekommen. Nicht einmal der Haushaltsausschuss oder der Europaausschuss, die am Mittwoch getagt haben, hatten sämtliche Drucksachen für ihre Beratung zur Verfügung. Im Gegenteil: Über die Auswirkungen, die zum Beispiel die angekündigten haushaltsrechtlichen Ermächtigungen mit sich bringen, konnte der Haushaltsausschuss nicht verlässlich und nicht zuverlässig beraten. Das heißt, Sie wollen in den nächsten Jahren – das kommt hinzu – ohne Nachtrag, also quasi mit einem Blankoscheck, hier über die weiteren Mittel, die in den Bundeshaushalt eingestellt werden müssen, entscheiden. Da machen wir nicht mit, ganz klar. (Beifall bei der LINKEN) Aber kraft Ihrer Wassersuppe, also kraft der Mehrheit der Koalition, wurde das heute auf die Tagesordnung gesetzt; Schützenhilfe gab es von SPD und Grünen. Kollege Steinmeier, Sie haben vollkommen recht, wenn Sie sagen: Das Parlament darf nicht zum Abnickorgan der Regierung werden. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Genau!) Vollkommen recht haben Sie damit! (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss das Parlament aber auch die Bereitschaft haben, sich mit der Sache auseinanderzusetzen!) Nur: Diese Bundesregierung benutzt unser Parlament immer öfter dafür. Da machen wir als Linke nicht mit. Dagegen müssen wir uns alle wehren, als gesamtes Parlament. (Beifall bei der LINKEN) Bei der SPD gab es dann zwar einen Sturm im Wasserglas; aber er war schnell beendet. Deswegen meine ich, Sie haben den Titel verdient: Umfaller der Woche. (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD: Oh! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, nur der Woche?) Die Linke lehnt ein derart undemokratisches Verfahren ab. Oder haben Sie tatsächlich ernsthaft dieses ganze Paket gelesen, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!) beraten, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!) abgewogen? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!) – Das alles haben Sie gemacht, Herr Kauder? Ich würde jetzt gern ein Quiz mit Ihnen machen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Also los! Auf geht’s!) Haben Sie ernsthaft geprüft, welche Auswirkungen sich aus diesen Entscheidungen auf die kommenden Haushalte, zum Beispiel für 2013, ergeben? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 730 Millionen!) In der vergangenen Woche haben wir hier den Haushalt 2013 beschlossen. Er ist schon heute Makulatur. Wir wissen, dass es im nächsten Jahr um 730 Millionen Euro geht, die weniger ausgegeben werden können. Das ist ein Problem. Wo soll das herkommen? Da wird ganz einfach von „Umschichtung“ im Haushalt gesprochen. Das, finde ich, ist eine Volksverdummung. Man sollte ehrlich mit den Menschen umgehen. Was heißt denn „Umschichtung“? Umschichtung heißt doch, dass an irgendeiner Stelle gekürzt wird: zum Beispiel bei Bildung, bei der Arbeitsmarktpolitik, bei Sozialleistungen. Sagen Sie das den Leuten! Wo soll tatsächlich das Geld für 2013 und die kommenden Jahre herkommen? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie aufhören, sagt Ihnen der Schäuble das!) Die Bundeskanzlerin hat erklärt, es gehe nicht, Griechenland den Hahn abzudrehen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Hahn ist tot!) Das sei nicht verantwortbar. Dass Sie hier im Schnellverfahren solche Anträge durch den Bundestag bringen wollen, das ist unverantwortbar. (Beifall bei der LINKEN) Dass Sie nicht ernsthaft Alternativen geprüft haben, das ist in hohem Maße verantwortungslos: Verantwortungslos ist das gegenüber dem griechischen Volk; verantwortungslos ist das vor allem auch gegenüber den deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. Stimmen Sie gegen die heutige Sofortabstimmung! (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Michael Grosse-Brömer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird schon ritualisiert: Sie stellen sich bei fast jeder Griechenland-Debatte hier hin, sagen, es ging zu schnell, Sie sind nicht ausreichend beteiligt worden. Sie sind lange Parlamentarische Geschäftsführerin. Sie werden mir bestätigen, dass dieser Ablauf – mit Beratung im Ausschuss – kein außergewöhnlicher Ablauf ist, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist sehr ungewöhnlich! Das wissen Sie auch!) sondern er ist so, wie er typischerweise bei Gesetzentwürfen in einer Sitzungswoche stattfindet. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt, Frau Enkelmann. Sie sollten sich mit Ihrer Fraktion mehr Gedanken über Ihre europapolitische Einstellung und weniger über die Geschäftsordnung machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist nicht nötig!) Ich stelle nur nüchtern fest, dass jede Fraktion heute in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Ich sage Ihnen eines: Allen Kollegen, egal wie sie heute abstimmen, zu unterstellen, sie würden hier sitzen und leichtfertig, ohne Vorbereitung, in diese Abstimmung gehen, halte ich ein Stück weit für frech. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Zweifel wird jede Kollegin und jeder Kollege der Verantwortung als Abgeordnete oder Abgeordneter gerecht geworden sein. Im Zweifel wird er nach Beratung mit seinen Mitarbeitern und nach ausführlicher Information durch den Bundesfinanzminister in der Lage sein, heute eine verantwortungsbewusste, für ihn tragbare Entscheidung zu treffen. Darum geht es. Das ist im Übrigen auch Aufgabe dieses Parlamentes. Abschließend will ich Ihnen eines sagen: Wie häufig stehen Sie hier und beklagen die Situation in Griechenland? (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir haben unsere Vorschläge eingebracht!) Heute stellen Sie hier einen Geschäftsordnungsantrag, der, würde er angenommen, natürlich dazu führen würde, dass eine Verzögerung eintritt, dass die Menschen in Griechenland nicht die Unterstützung bekommen, die sie kriegen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der LINKEN) Das wäre das Ergebnis Ihres Geschäftsordnungsantrags. Was die Sache noch viel schlimmer macht, ist, dass wir klare Vorgaben für die Griechen gemacht haben, dass wir ihnen finanzielle, solidarische Unterstützung zugesagt haben, wenn sie gewisse Auflagen erfüllen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was ist denn „solidarisch“? Kürzung der Sozialleistungen!) Die Troika sagt: Ja, diese Auflagen sind erfüllt worden. – Und Sie wollen dem griechischen Volk jetzt die Unterstützung verweigern. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie kürzen die Sozialleistungen beim griechischen Volk! Die Renten!) So geht es nicht. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Unverschämt!) Deswegen, Frau Enkelmann: Dieser Antrag ist sachlich nicht begründet, und er wurde von Ihnen auch nicht schlüssig vorgetragen. Deswegen können wir ihn nur geschlossen ablehnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor. Ich lasse dann darüber abstimmen. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Aufsetzungsantrag mit großer Mehrheit angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 a und die soeben aufgesetzte Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen, Zusatzpunkt 10 b, auf: ZP 10 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen Fortschritte beim Anpassungsprogramm für Griechenland b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) – Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649, 17/11669 – Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Des Weiteren hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Entschließungsantrag zu dem genannten Antrag des Bundesministeriums der Finanzen eingebracht. Wir werden über den Antrag des Bundesministeriums der Finanzen später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister der Finanzen, Wolfgang Schäuble. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben schon eine Reihe von Schritten gehen müssen, um Griechenland und damit die Euro-Zone insgesamt zu stabilisieren. Es stellen sich erste Erfolge ein; aber der vor uns liegende Weg ist noch lang. Jahrzehntelange Versäumnisse können nicht in zwei Jahren aufgeholt werden. Meine Damen und Herren, das haben wir alle ein Stück weit gemeinsam in den letzten zweieinhalb Jahren lernen müssen. Der Bundestag hat im Februar dieses Jahres dem zweiten Anpassungsprogramm für Griechenland zugestimmt. Dieses Programm umfasst Darlehen in Höhe von bis zu 164,5 Milliarden Euro. Diese Darlehen werden über den Rettungsschirm EFSF ausgebracht. Damals ist zum ersten Mal in dieser Weise in Europa auch eine Umschuldung bei nichtöffentlichen Gläubigern durchgeführt worden. Heute beraten wir über Änderungen, die notwendig sind, damit wir dieses Programm fortführen können. Nur so können wir die Auszahlung der nächsten im Programm vorgesehenen Tranchen an Griechenland ermöglichen. Die Auszahlung jeder Tranche ist nach dem -vereinbarten Programm an ein positives Votum der sogenannten Troika – das sind die drei Institutionen: Internationaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank und EU-Kommission – gebunden. Sie müssen gemeinsam prüfen und berichten, inwieweit das Programm wie vereinbart umgesetzt worden ist. Wenn es Lücken gibt, müssen Änderungen vorgeschlagen werden, um das entsprechend anzupassen. Dieser Bericht hat lange auf sich warten lassen; die erste Tranche war eigentlich Ende Juni fällig. Er liegt jetzt vor, und in ihm wird präzise dargelegt, inwieweit die Maßnahmen der Vereinbarung – des sogenannten Memorandum of Understanding – umgesetzt sind, einschließlich auch der sogenannten Prior Actions; das sind die Maßnahmen, die Griechenland vor Auszahlung der nächsten Tranche des Kredits auszuführen verpflichtet ist. Es ist bekannt, dass es durch die beiden Wahlen, die im März und im Juni in Griechenland stattgefunden haben – nach der ersten Wahl ist die Regierungsbildung gescheitert –, erhebliche Verzögerungen in der Umsetzung des Programms gegeben hat. Außerdem hat sich die konjunkturelle Situation nicht nur in Griechenland, sondern in Europa und weltweit seit dem Beschluss über das Programm verschlechtert. Alle internationalen Beobachter sind sich aber auch einig, dass die neue griechische Regierung mit großem Einsatz an einer konsequenten Umsetzung der vereinbarten Auflagen arbeitet und dass jetzt eine Reihe von Fortschritten erzielt worden ist. Der gemeinsame Bericht dieser drei Institutionen stellt fest, dass Griechenland angesichts der schlechteren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der eingetretenen Verzögerungen zwei Jahre mehr Zeit brauchen wird, um seine Konsolidierungsziele zu erreichen. Das heißt vor allen Dingen, dass der Primärüberschuss, der nach dem Programm eigentlich Ende 2014 mit 4,5 Prozent erreicht werden sollte, erst 2016 erreicht werden kann. Das führt – ohne weitere Maßnahmen – zu einer Finanzierungslücke in der Größenordnung von 14 Milliarden Euro. Damit kann auch die in der Schuldentragfähigkeitsanalyse zugrunde gelegte Schuldenstandsquote von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 2020 – so war das Programm verabschiedet – nicht mehr erreicht werden. Sie würde ohne Veränderungen nach den jetzigen Berechnungen bei 144 Prozent im Jahre 2020 liegen. Deshalb mussten wir in der Euro-Gruppe Vorschläge zur Schließung dieser Lücke und zur Verbesserung der Schuldentragfähigkeit erarbeiten. Diese Vorschläge bedeuten eine Änderung des bestehenden Programms. Dazu bitte ich den Bundestag nach § 3 unseres Gesetzes über den Stabilisierungsmechanismus um seine vorherige Zustimmung. Der deutsche Vertreter kann nur zustimmen, wenn der Deutsche Bundestag dem vorher zugestimmt hat. Im Kern entscheiden wir heute über Fortsetzung oder Abbruch dieses Griechenland-Programms – Fortsetzung des Programms mit Anpassungen, die es in der Spur halten, oder Nichtauszahlung dieser Tranchen mit allen Konsequenzen, die das nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Europa und darüber hinaus bedeuten würde. Im Vergleich zu den Prognosen aus dem Mai 2010 – das war die erste Entscheidung über ein Hilfsprogramm für Griechenland – ist der Einbruch des Brutto-inlandsprodukts in Griechenland erheblich größer geworden. Man geht jetzt für den Zeitraum von 2010 bis 2013 von einem Gesamtrückgang der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung Griechenlands von 22 Prozent aus. (Zuruf von der LINKEN) – Wir hatten 2010 andere Prognosen der Institutionen. Wir können uns immer nur an die Zahlen halten, die von den entsprechenden internationalen Institutionen aufgestellt werden. Wenn wir anfangen, durch Mehrheitsentscheidungen in den Fraktionen von wirtschaftlichen Prognosen abzusehen, wird das alles nicht besser. Das hilft uns alles nichts. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was halten Sie von einer anderen Politik?) – Es ist schön, dass Sie diesen Zwischenruf machen. Ich wollte nämlich gerade darauf hinweisen. Wir wissen heute, dass sich die wirtschaftliche Situation in Griechenland mit den üblichen Kategorien konjunktureller Entwicklung, also Rezession und Aufschwung, in Wahrheit nicht beschreiben lässt. In Wahrheit erleben wir – das sehen wir heute vielleicht deutlicher, als wir es vor 2010 gesehen haben – das Wegbrechen eines zuvor nicht nachhaltigen, eher auf dem Papier bestehenden Bruttosozialprodukts, sozusagen eines Scheinwohlstandes, der auf Pump, nämlich maßgeblich mithilfe von Auslandskrediten, finanziert worden ist. Da gibt es eine Parallele zu dem, was wir in Deutschland und Europa vor etwas mehr als 20 Jahren erlebt haben. Die griechische Wirtschaft befindet sich in einem Transformationsprozess, der vielleicht am ehesten demjenigen ähnelt, den die osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjetischen Imperiums leisten mussten. Das ist ein Gesundungsprozess hin zu mehr Nachhaltigkeit, der sehr schmerzhaft ist. Aber dessen Ursachen liegen nicht im Anpassungsprogramm. Das ist eine der großen Täuschungen. Das Anpassungsprogramm für Griechenland ist nicht die Ursache für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung. Im Gegenteil: Mit unseren Finanzhilfen können wir die damit verbundenen Härten nicht vermeiden, aber wir können sie wenigstens abmildern. Aufhalten können wir den Prozess nicht. Die Alternative hieße nämlich, unwirtschaftliche Strukturen mit Milliarden und Abermilliarden Euro künstlich am Leben zu halten. Es führt kein Weg daran vorbei: Griechenland muss in einem mühsamen Prozess Wettbewerbsfähigkeit erlangen. Dazu sind strukturelle Reformen unumgänglich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn man sich diese schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verdeutlicht, stellt man fest, dass die in Griechenland bisher erzielten Erfolge erheblich sind, auch wenn sie noch hinter den ursprünglichen Programmzielen zurückbleiben. Griechenland hat sein Haushaltsdefizit deutlich reduziert. Nach der Bewertung der Troika hat Griechenland eine der umfassendsten Haushaltskonsolidierungen umgesetzt, die ein Mitgliedsland der Europäischen Union in den letzten 30 Jahren unternehmen musste und unternommen hat. In den Jahren 2009 bis 2011 ist eine Reduzierung des Defizits um 6 Prozentpunkte des Brutto-inlandsprodukts erreicht worden, und für das laufende Jahr ist eine weitere Rückführung um 2,5 Prozentpunkte auf dann noch 6,9 Prozent geplant. Der strukturelle Haushaltssaldo hat sich seit 2009 um 13 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts verbessert. Mit der Umsetzung der Maßnahmen in den kommenden zwei Jahren wird das weiter reduziert werden. Noch einmal: In den Jahren 2009 bis 2012 wird das gesamtstaatliche Defizit in Griechenland um zwei Drittel, um mehr als 22 Milliarden Euro, abgebaut. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Man muss auch sehen, was Griechenland schon geleistet hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die makroökonomischen Ungleichgewichte gehen zurück. Das ist für die Frage, ob Griechenland irgendwann auf einen wettbewerbsfähigen Kurs kommt, viel wichtiger. Das Leistungsbilanzdefizit Griechenlands sinkt. Es beträgt in diesem Jahr mit 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weniger als die Hälfte seines Höchststands. Im Jahre 2008 waren es nämlich 18 Prozent. Noch wichtiger ist: Griechenland gewinnt an Wettbewerbsfähigkeit. Das zeigt sich an einer Trendumkehr bei den Lohnstückkosten. Bis 2009 sind die Lohnstückkosten in Griechenland nämlich schneller gestiegen als im restlichen Euro-Raum. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Richtig!) Von 2009 bis 2012 hat Griechenland dagegen eine Verringerung seiner Lohnstückkosten um 10 Prozent erreicht, wohingegen sie im Euro-Raum insgesamt um 2 Prozent gestiegen sind. Das zeigt, dass die Lohnflexibilisierung durch die Arbeitsmarktreformen im Anpassungsprogramm eine wichtige und richtige Rolle spielt. Griechenland hat zuletzt endlich auch tiefgreifende Strukturreformen durchgeführt: im öffentlichen Sektor, bei den Renten, im Gesundheitswesen, im Arbeitsmarkt und – mit Abstrichen – auch auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten. Auch die Weltbank bestätigt Griechenland in ihrem Bericht Doing Business Report, in dem darüber berichtet wird, wie die Rahmenbedingungen für die Geschäftstätigkeit sind, und der für alle Länder erstellt wird, große Fortschritte. Während der langen Beratungen, die jetzt zu dem Bericht der Troika geführt haben, haben wir zusätzliche Maßnahmen verabredet und auch umgesetzt, die über die bisherigen Programmauflagen hinausgehen. Der Haushalt für das kommende Jahr mit der Schließung einer Fiskallücke von 13,5 Milliarden Euro ist unter den Umständen, die wir alle im Fernsehen verfolgt haben, vor zwei Wochen an einem Sonntagabend verabschiedet worden. Man muss das bei den gestellten Anträgen, das jetzt gar nicht zu entscheiden, auch noch in Erinnerung behalten. Das Renteneintrittsalter wird ab dem 1. Januar 2013 auf 67 Jahre erhöht. (Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] verlässt den Saal – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist der Gipfel: Enkelmann geht! Erst stellt sie hier Anträge, dann verschwindet sie! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus Protest! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie will im Büro die Unterlagen lesen! – Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist trotzdem wichtig; wir kennen ja die Debatte aus dem eigenen Land. – In Griechenland ist jetzt beschlossen worden, dass das Renteneintrittsalter ab dem 1. Januar 2013 auf 67 Jahre erhöht wird; die Gesundheitsausgaben werden auf ein Niveau von maximal 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt; es gibt einen Rahmen für den Mindestlohn; die Lohnnebenkosten sind reduziert worden, und eine Fülle von Zugangs- und Ausübungsbeschränkungen für regulierte Berufe wird abgeschafft. Unter diesen Voraussetzungen – dass Griechenland es umgesetzt hat – schlagen wir in der Euro-Gruppe jetzt Maßnahmen dafür vor, die genannte Finanzlücke von 14 Milliarden Euro bis 2014 zu schließen und die Schuldentragfähigkeit wiederherzustellen. Diese Maßnahmen sind Anpassungen des zweiten Griechenland-Programms. Es handelt sich nicht um ein drittes, neues Programm. Im Übrigen: Der finanzielle Gesamtrahmen bleibt unverändert. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt darauf an, wie man zählt!) – Es ist schon so, Frau Künast. – Es handelt sich im Wesentlichen um folgende Einzelmaßnahmen: Zunächst einmal plant Griechenland, ausstehende Staatsschuldtitel von privaten Gläubigern zu den derzeit niedrigen Marktwerten zurückzukaufen. Die liquiden Mittel dafür müssen im laufenden Programm aufgebracht werden. Mit diesem Beitrag des Privatsektors kann der Schuldenstand signifikant weiter reduziert werden. Wie hoch der Betrag genau ausfällt, muss abgewartet werden. Die Mitgliedstaaten leisten ihrerseits einen Beitrag, indem die Zinsen aus dem ersten Griechenland-Programm – das sind die bilateralen Kredite, die wir über die KfW ausgereicht und durch den Bund verbürgt haben – weiter abgesenkt werden. Das heißt für uns: Die KfW wird weiterhin ihre Finanzierungskosten decken, aber sie wird keine darüber hinausgehenden Erträge mehr an den Bund überweisen können. Das bedeutet im Bundeshaushalt Mindereinnahmen in Höhe von 130 Millionen Euro jährlich. Diese Mindereinnahmen können im Rahmen des Haushaltsvollzugs im kommenden Jahr aufgefangen werden. Es ist kein Nachtragshaushalt erforderlich. Griechenland erhält für die EFSF-Darlehen – das sind die Darlehen aus dem zweiten Griechenland-Programm – eine Zinsstundung von zehn Jahren. Der Finanzbedarf wird damit in der Programmperiode um 3,7 Milliarden Euro verringert. Nach den Buchungsregeln von Eurostat erhöht sich dadurch nicht der Schuldenstand. Die Laufzeit der Kredite beider Hilfsprogramme wird um 15 Jahre verlängert. Der Grund ist, dass der große Berg von Tilgungen, der sonst nach 2022 auf Griechenland zukommen würde, mit dieser Streckung abgeflacht werden soll. Wir haben darüber hinaus verabredet, den Abbau der T-Bill-Finanzierung – das sind die kurzfristigen Schuldtitel – weniger schnell umzusetzen, als es im Programm vorgesehen war. Was bisher im Programm vorgesehen war, war sehr ambitioniert. Ich will noch sagen: Diese Maßnahme ist vertretbar, weil sich Griechenland im Vergleich zu anderen Ländern mit einem verhältnismäßig geringen Anteil an kurzfristigen T-Bills an der Gesamtschuld finanziert. Darüber hinaus sollen die Gewinne – wenn sie sich verwirklicht haben –, die die Europäische Zentralbank aus ihrem Sekundärmarktprogramm erzielt, wenn die Anleihen zu 100 Prozent zurückgezahlt werden – man hat ja im Rahmen des Sekundärmarktprogramms zu wesentlich niedrigeren Kursen gekauft –, an Griechenland ausgereicht werden. Die EZB rechnet aus heutiger Sicht in den kommenden Jahren mit Gewinnen aus diesem SMP-Portfolio in einer Größenordnung von insgesamt bis zu 10 Milliarden Euro. Der rechnerische Anteil Deutschlands daran beläuft sich auf etwa 27 Prozent. Im laufenden Jahr jedenfalls entfällt als Anteil auf die Deutsche Bundesbank ein rechnerischer Gewinn am EZB-Ertrag von rund 600 Millionen Euro, den wir im kommenden Jahr an Griechenland weiterreichen. Die notwendige haushaltsrechtliche Ermächtigung dazu müssen wir über eine außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung nach den §§ 37 und 38 der Bundeshaushaltsordnung schaffen. Diese Maßnahmen zusammen führen dazu, dass das Programm weiter finanziert werden kann und dass auch der griechische Schuldenstand deutlich absinkt. Er würde sich nach den Berechnungen der Troika bis zum Jahr 2020 auf 126,5 Prozent und bis 2022 auf 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen. All diese Vorhersagen können sich immer wieder ändern. Aber aus heutiger Sicht sind das die Zahlen, mit denen die internationalen Institutionen rechnen. Wir sind bei allen Maßnahmen immer für das Prinzip der Konditionalität eingetreten. Das gilt auch hier. Griechenland wird all diese Erleichterungen nur erhalten, wenn es seine Reformmaßnahmen Zug um Zug weiter konsequent umsetzt. Wir haben übrigens Verbesserungen in der Programmüberwachung vereinbart. Das von Griechenland eingerichtete Sonderkonto ist gestärkt worden: Dorthin werden künftig auch Privatisierungserlöse und ein Teil künftiger Primärüberschüsse unmittelbar fließen. Sämtliche Zahlungen von diesem Konto sind im Voraus detailliert der EFSF bzw. dem ESM zu melden und müssen nachträglich vom Kontoinhaber bestätigt werden. Wir haben auf Bitten des Internationalen Währungsfonds in den Beratungen der Euro-Gruppe vorsorglich über zusätzliche Maßnahmen gesprochen, mit denen im Jahr 2022 der Schuldenstand weiter abgesenkt werden könnte, wenn es notwendig sein sollte. Das könnte etwa im Bereich der Mittel des Europäischen Strukturfonds durch die Anpassung des griechischen Kofinanzierungsanteils oder durch eine weitere Absenkung der Zinsen für die Griechenland-Kredite erfolgen. Wir haben vereinbart, falls nötig über solche Maßnahmen zu sprechen, wenn Griechenland einen Primärüberschuss erreicht hat, also einen Einnahmeüberschuss vor dem Schuldendienst erwirtschaftet, und wenn das Programm vollständig umgesetzt ist. Entscheidend ist in -jedem Fall das Erreichen dieses Einnahmeüberschusses – des Primärüberschusses – vor dem Schuldendienst. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor dem Schuldenschnitt!) – Vorsichtig, Herr Trittin. – Wir dürfen auch weiterhin keine falschen Anreize für ein Nachlassen der griechischen Reformbemühungen setzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, da geht es nicht darum, dass wir sagen: „Wir trauen denen nicht“, sondern es geht darum, dass wir wissen: Auch wir würden vergleichbare Maßnahmen nur unter allergrößten Widerständen treffen können, und nur, wenn man dazu gezwungen ist; das muss man doch klar sehen. Deswegen muss man wissen: Aktuelle Spekulationen über einen Schuldenerlass würden genau diese falschen Anreize setzen. Wenn man sagt: „Die Schulden werden erlassen“, dann ist die Bereitschaft, zu sparen, um weiterhin Hilfe zu bekommen, entsprechend geschwächt. Deswegen wären das falsche Anreize. Wenn wir Griechenland helfen wollen, diesen schwierigen Weg zu gehen, müssen wir Schritt für Schritt vorangehen. Die falschen Spekulationen zur falschen Zeit lösen das Problem nicht, sondern sie machen es geradezu unlösbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Übrigen muss jeder wissen: Die Absicherung von Krediten an Griechenland über Gewährleistungen des Bundes erfordert haushaltsrechtlich nun einmal, dass nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Darlehen nicht zurückgezahlt werden. Bei einem Schuldenerlass würde das im Stabilitätsmechanismus vorgesehene Gewährleistungsinstrument nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch an der Rechtsfrage kann man sich nicht vorbeimogeln; man muss es einfach wissen. Deswegen ist es richtig, wenn wir jetzt keine falschen Spekulationen betreiben. Es handelt sich bei diesen Anpassungsmaßnahmen um wesentliche Änderungen. Deswegen ist nach dem Stabilisierungsmechanismusgesetz die vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages notwendig. Die Auszahlung der anstehenden Tranche ist der nächste Schritt. Es handelt sich insgesamt um drei Tranchen; die erste war Ende Juni vorgesehen, die zweite Ende September, die dritte Ende Dezember. Die Auszahlung dieser Tranchen ist abhängig von der erst im Dezember vorliegenden Schuldentragfähigkeitsanalyse. Das war vor einem Jahr genauso der Fall, weil wir auch dort erst das Ergebnis des Schuldenerlasses der Privatgläubigerbeteiligung abwarten mussten, um die Schuldentragfähigkeitsanalyse durch die Troika erstellen lassen zu können. In diese Analyse muss das Ergebnis des Schuldenrückkaufprogramms eingehen, und das Ergebnis kennen wir heute noch nicht. Auf der Grundlage dieses Ergebnisses kann dann die Troika die Empfehlung über die Auszahlung der Programmtranche aussprechen. Davon ist dann nach unseren Gesetzen der Haushaltsausschuss zu unterrichten, und ihm ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wobei das Plenum die Stellungnahme an sich ziehen kann. So ist die Rechtslage. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen von mir genannten Maßnahmen geht es in Wahrheit nicht allein um Griechenland. Die potenziellen Auswirkungen eines griechischen Defaults auf andere Euro-Länder und den Euro-Raum wären gravierend. In Wahrheit wären die Konsequenzen gar nicht absehbar. Es könnte ein Prozess in Gang gesetzt werden, an dessen Ende der ganze Euro-Raum auseinanderbrechen würde. Deshalb tun wir zusammen mit unseren Partnern alles, was in unserer Kraft steht, um Griechenland die notwendigen Anpassungen zu erleichtern. Die Probleme Griechenlands können nicht – ich sage es noch einmal – über Nacht gelöst werden. Das Anpassungsprogramm läuft noch zwei Jahre, und wenn danach ein weiterer Finanzbedarf bestehen sollte, dann werden wir Griechenland – das haben wir schon vor einem Jahr erklärt – zur Wiedererlangung des Marktzugangs weiter Hilfestellung geben, unter der Voraussetzung, dass Griechenland die Programmauflagen uneingeschränkt erfüllt. Wir befolgen bei alledem eine Politik, die mit möglichst geringen Risiken und möglichst geringen Kosten für Deutschland und Europa Griechenlands Haushalt und Wirtschaft saniert. Es ist Ziel und es muss auch Ziel bleiben, dass Griechenland eines Tages seine Schulden wieder allein tragen kann und dass Griechenland von den Märkten wieder als Kreditnehmer akzeptiert wird. Die Bundesregierung weiß um die Opfer, die das Programm der griechischen Bevölkerung auferlegt. Es wäre unredlich, so zu tun, als könnte sich die Lage in Griechenland schnell verbessern. Deshalb war für uns von Anfang an wichtig, dass die Entscheidung auch zu schmerzhaften Reformen vom griechischen Souverän, also dem griechischen Volk, getragen wird. Das ist durch die beiden Wahlen geschehen. Ich will daran erinnern, dass ich schon vor zweieinhalb Jahren von dieser Stelle aus gesagt habe: Die griechische Bevölkerung muss eine schwere Last tragen. – Es ist auch sehr die Frage, ob das alles in Griechenland gerecht und fair ist. Aber wenn die griechische Bevölkerung bereit ist, die Last zu tragen – es ist ihre Entscheidung –, dann werden wir ihr dabei helfen. Genau das ist jetzt die Lage, und die Voraussetzungen sind gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen gibt es für den Reformprozess Griechenlands keine Blaupause, so wenig, wie wir vor etwas mehr als 20 Jahren die Blaupause für den Transformationsprozess in Deutschland und Europa hatten. Aber wenn wir von Anfang an die von einigen immer noch geforderte schnelle, große Lösung praktiziert hätten, dann wären die Anreize für Griechenland, Reformen umzusetzen, entfallen, und die bisherigen Fortschritte wären dann nicht eingetreten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, werden wir auch weiterhin nur Schritt für Schritt vorgehen können, und wir werden Schritt für Schritt vorgehen. Nur mit diesem schrittweisen Vorgehen werden wir beides erreichen: die Kosten und Risiken zu begrenzen und für die Fortsetzung des Anpassungsprozesses in Griechenland zu sorgen. Natürlich kostet die Unterstützung des griechischen Reformprozesses Geld; aber ohne unsere Unterstützung würde nicht nur die Zukunft Griechenlands auf dem Spiel stehen, sondern die Zukunft des Euro-Raums insgesamt. Es geht darum, unser gemeinsames Europa zu erhalten – unseren gemeinsamen Wohlstand. Nur in einem geeinten Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen, das immer noch der weltgrößte Wirtschaftsraum ist, haben wir – auch wir Deutschen – eine Chance, uns im globalen Wettbewerb zu behaupten. Im Wettbewerb der Systeme und der Volkswirtschaften können wir nur als Wirtschaftsgemeinschaft und nur mit einer stabilen gemeinsamen Währung konkurrieren. Man überlege sich: Wenn wir heute den Euro nicht hätten, der immerhin 25 Prozent der Weltwährungsreserven ausmacht, dann hätten wir ganz andere Probleme, übrigens nicht zuletzt in Deutschland. Wir würden wahrscheinlich unter massiven Auf- und Abwertungen in Europa leiden, und unsere wirtschaftliche Lage und unser Arbeitsmarkt wären dramatisch schlechter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb muss man unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die bei all dem natürlich fragen: „Wisst ihr, was ihr tut und was ihr verantwortet?“, gelegentlich auch sagen – das muss man wieder und wieder sorgfältig begründen –: Niemand profitiert von Europa mehr als wir Deutschen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wirtschaftlich und politisch ohnedies. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir in die Zukunft Europas investieren, wenn wir für ein starkes Europa arbeiten, dann investieren wir in unsere eigene Zukunft. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu meinem Antrag. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie ist es auch rührend, Herr Schäuble, dass Sie uns, die Opposition, jetzt daran erinnern wollen, dass Griechenland zu retten ist bzw. warum und mit welchen Instrumenten. Vielleicht habe ich in den vergangenen zwei Jahren etwas verpasst. Aber wenn ich mich recht erinnere, Herr Schäuble, dann waren es über lange Zeit nicht Sie, die Regierungsfraktionen, die für den Verbleib Griechenlands in der Währungsunion geworben haben. Das waren andere hier im Hause. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da waren doch viele in den Regierungsfraktionen über Monate dem Stammtisch heftig auf der Spur. Wir sagen Ihnen seit zweieinhalb Jahren beständig und unverändert: Wer täglich mit dem Rausschmiss Griechenlands unterwegs ist, gefährdet das, worauf wir angewiesen sind: die Währungsunion als Ganzes. – Das war vor zweieinhalb Jahren schon so. Insofern brauchen wir da keine Belehrungen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Noch vor vielen Monaten, noch vor zwei Jahren bekamen viele auf der anderen Seite des Hohen Hauses leuchtende Augen, wenn es um den Rausschmiss Griechenlands, wenn es um Griechenland-Bashing ging. Alles fing an mit: Kein Cent für Griechenland! Im Sommer hieß es dann: Lasst uns Griechenland aus der Euro-Zone entfernen, dann wird in Europa alles wieder gut! So redeten in unverantwortlicher Weise viele von Ihnen; die meisten im Hintergrund und im kleinen Kreis. Manche – Herr Dobrindt, Herr Seehofer, Herr Söder, auch Herr Rösler – redeten öffentlich darüber. Ob es Unerfahrenheit oder Profilierungssucht war: Sie redeten jedenfalls unverhohlen und öffentlich darüber. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Regierung – auch Sie, Frau Merkel – hat diese Debatte über den Sommer hinweg in unverantwortlicher Art und Weise laufen lassen. Über Wochen hinweg hörte man aus dem Kanzleramt nicht einen einzigen Ton dazu. Wenn man heute in die Boulevardpresse schaut, dann sieht man, wie über Griechenland und über Europa geschrieben wird, und dann kann man feststellen, dass der Ungeist, den Sie selbst beschworen haben, nicht mehr in die Flasche zurückzukriegen ist. Das ist auch Ihre Verantwortung, Frau Merkel. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]) Abwarten und zuschauen, wie sich die Dinge entwickeln, mag manchmal gut für den Koalitionsfrieden gewesen sein. Für unser Ansehen in Europa, für Deutschlands Ansehen in Europa war es das nicht. Deshalb sage ich: Politische Haltung sieht anders aus. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Schäuble, wenn ich heute von Ihnen andere Töne höre, dann nehme ich das erstens zur Kenntnis und werde Sie zweitens dafür nicht kritisieren. Ich sage nur: Es ist gut, dass Sie in der Koalition gerade noch die Kurve gekriegt haben. Besser wäre gewesen, wir hätten solch klare Worte schon im Sommer von Ihnen gehört. Aber Sie haben nicht einmal zugehört: uns nicht, einem Teil der Ökonomen nicht, den europäischen Partnern nicht und, Herr Schäuble, vor dem Sommer nicht einmal Ihrer Geburtstagsgratulantin Frau Lagarde. Alle haben Ihnen gesagt: Das, was ihr hier in Deutschland diskutiert, ist nicht europäische Verantwortung. Das sind nicht einmal deutsche Interessen. Das, was bei Ihnen propagiert wird, ist schlicht ökonomischer Harakiri. Ökonomische Vernunft wurde über Wochen hinweg auf dem Altar des Populismus geopfert. Die Verbeugung vor der Volksseele war Ihnen wichtiger, einer Volksseele, die Sie zunächst erst hochgekocht haben. Das Schlimme ist, dass auch diejenigen, die sich so geäußert haben, wussten – das unterstelle ich –, dass es nie nur um Griechenland ging, auch nicht nur um den Euro, sondern dass es immer um den Bestand der Währungsunion als Ganzes ging. Hätte man sie in diesen Monaten gewähren lassen, hätte keiner hier zu Hause und bei den europäischen Nachbarn widersprochen, hätten wir die Brandstifter gewähren lassen, dann hätten die Söders, Dobrindts und viele andere leichtfertig den ersten Dominostein gekippt, was einen Flächenbrand in ganz Europa ausgelöst hätte. Daran darf doch einmal erinnert werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will einräumen, Herr Schäuble: Sie waren derjenige und lange der Einzige in der Regierung, der das böse Finale dieses politischen Bühnenstücks erahnt und wahrscheinlich befürchtet hat. Was wir heute über die Zukunft Griechenlands in der Währungsunion sagen, klingt anders als fast alles, was wir über den Sommer aus Ihrer Koalition gehört haben. Das ist gut. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber dann verließ Sie auch schon wieder Ihr Mut; dann sind Sie leider auf halbem Wege stehen geblieben. Eine ehrliche Haltung heute wäre gewesen, zu sagen: Leute, es ist richtig, Griechenland zu helfen. Es ist auch richtig, Griechenland dabei etwas abzuverlangen. Aber unsere Annahmen über die schnelle Gesundung Griechenlands, unsere Versicherungen über die schnelle Rückzahlung von gewährten Krediten waren falsch. Wir haben uns verkalkuliert. Die Rettung Griechenlands kostet Geld, auch das des deutschen Steuerzahlers. – Herr Schäuble, ich verlange nicht, dass Sie sagen: Die Sozis haben recht. Aber ich erwarte schon, dass Sie sagen: Wir haben uns geirrt, und zwar gewaltig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das kann er nicht! Das konnte er noch nie!) Heute wäre Gelegenheit gewesen, sich ehrlich zu machen und den Menschen die ganze Wahrheit zu sagen, die schlicht und einfach darin besteht, festzustellen, dass weder Griechenland noch Europa allein über Kredite, Bürgschaften und Garantien zu retten sind. Die schlichte Wahrheit ist, dass die Rettung Europas echtes Geld kostet, auch unser Geld kostet. Genau vor dieser Wahrheit schrecken Sie zurück, weil Ihnen der Mut fehlt, weil Sie Angst vor Ihren eigenen Leuten haben, Angst vor der Niedersachsenwahl, Angst vor der Bundestagswahl. Ich darf daran erinnern: Mit Angst vor einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen fing Ihr schwankender Kurs zur Euro-Rettung an. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Krise kleinreden, Lösungen über Wahltermine hinwegschieben, das gehört bei Ihnen seitdem einfach zum Repertoire. Damit mögen Sie von den Taktikern des politischen Kleinkriegs sogar Beifall bekommen, Herr Schäuble, der Dimension der Krise, die wir in Europa in der Tat haben, werden Sie damit nicht gerecht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum sage ich das? Weil ich mich an den Eiertanz erinnere, den Sie selbst am Dienstag laut Medienberichten vollführt haben. Erst haben Sie im Fernsehen gesagt, die ganze Vereinbarung der Finanzminister in der Nacht von Montag auf Dienstag koste den Steuerzahler keinen Cent. Dann wurde nachgeschoben, es gebe jedenfalls keine zusätzlichen Ausgaben, sondern es gehe nur um Mindereinnahmen. Dann haben wir ungläubig nachgefragt. Dann hieß es, 730 Millionen Euro koste das Ganze, aber das sei ja kein frisches Geld, sondern das gehe nur vom Bundesbankgewinn ab. Erst als Herr Weidmann am Mittwoch erklärte, von ihm sei jedenfalls mit keiner Überweisung zu rechnen, wurde klar, dass es doch um neues, um frisches Geld geht. Dazu, wie Sie das aufbringen wollen, hat auch der Haushaltsausschuss gestern nichts Genaues erklärt. Wir haben einem Brief von Ihnen entnommen, es könnte um die Größenordnung von 2,7 Milliarden Euro gehen. Ich sage Ihnen nach diesen drei Tagen, die wir hinter uns haben, ganz ehrlich: Ich kann den Ärger meiner Haushälter gut verstehen. Abgesehen davon, dass man mit Parlamentariern so nicht umgeht – das ist das eine –, (Beifall bei der SPD) darf ich für die SPD hier im Deutschen Bundestag sagen: Bei dem Maß an Verantwortung, das dieses Parlament in europäischen Angelegenheiten bisher gezeigt hat, ist das auch unverständlich, unfair und nicht angemessen, Herr Schäuble. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich muss Ihnen auch sagen: Der Ärger über den Umgang mit dem Parlament geht leider auch über den Kreis der Haushälter hinaus. Warum? Aus unserer Perspektive sieht das doch so aus: Da sitzen die Finanzminister auf der europäischen Ebene wochenlang zusammen. Sie treffen sich im Wochenabstand. Die Diskussion dreht sich im Kreis. Man geht ohne Einigung auseinander. Das geht über Wochen so. Dann bekommen wir am Dienstag ein in vieler Hinsicht noch offenes Verhandlungsergebnis auf den Tisch, dazu noch ohne die erklärenden Unterlagen. Und dann wird gesagt: Aber spätestens am Donnerstag dieser Woche wird entschieden – hopp oder top! Es wäre das Mindeste gewesen, Herr Schäuble, Frau Bundeskanzlerin, an einer Verabschiedung des Antrags schon am Donnerstag dieser Woche nicht festzuhalten. Sie müssen einfach zugeben: So kann man mit einem Parlament dauerhaft nicht umgehen. Das überfordert nicht nur die Parlamentarier, das ist auch kein anständiger Umgang mit diesem Hohen Haus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]) Ich bin der Letzte, der nicht weiß, dass es im europäischen Geschäft oft um schnelle Entscheidungen geht, leider erst recht in den Fällen, in denen wir versuchen, den Finanzmärkten mit Politik zuvorzukommen. Aber die Finanzminister selbst haben doch das ganze Paket unter den Vorbehalt gestellt – lesen Sie sich den Beschluss noch einmal durch –, dass das griechische Schuldenrückkaufprogramm tatsächlich funktioniert. Ob es funktioniert, wissen wir am 13. Dezember 2012. Frühestens am 13. Dezember wissen wir auch, ob und in welchem Umfang sich der IWF an diesem Programm beteiligt. Was hätte also dagegengesprochen, in zwei Stufen zu verfahren, also jetzt das Schuldenrückkaufprogramm zu eröffnen und im Dezember abschließende Entscheidungen zu fällen? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie haben sich mit Ihrer Mehrheit anders entschieden. Das dürfen Sie. Aber ich darf Ihnen sagen: Ihre ganzen Einwände zum Verfahren haben mich nicht überzeugt. Wir erwarten, dass Sie nach dem 13. Dezember hier im Bundestag eine Bewertung des Rückkaufprogramms vorlegen, die Wirkung auf die Schuldenentwicklung Griechenlands vortragen und ausdrücklich die Beteiligung des IWF an diesem Programm versichern. Darauf kommt es uns an. (Beifall bei der SPD) Was das Schuldenrückkaufprogramm angeht: Auch da vollführen Sie seit Dienstag einen Eiertanz. Herr Schäuble hat wolkig erklärt: Das Programm wird finanziert aus EFSF-Mitteln. Das mag ja sein; dagegen will ich gar nichts sagen. Nur: Auch das Geld fällt am Ende ja nicht vom Himmel. Was Sie jetzt vorschlagen, ist auf der einen Seite ganz einfach, auf der anderen Seite aber auch hart am Rande der Seriosität. Sie nehmen nämlich einfach das Geld aus dem EFSF-Topf, das für spätere Zeiten vorgesehen ist. Dabei verschweigen Sie, dass dieses Geld am Ende fehlen wird und dass damit ein drittes Griechenland-Paket umso wahrscheinlicher wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich hoffe, das haben Sie wenigstens den Regierungsfraktionen gesagt; sonst fallen die demnächst wieder aus allen Wolken. (Beifall bei der SPD) Seit den Tagen, als „Kein Cent für Griechenland“ noch schick war und als der Rausschmiss aus der Währungsunion schon populär war, mussten viele Ihrer Leute bis zur heutigen Abstimmung einen weiten Weg gehen. Sie wissen genau: Das, was Sie heute vorlegen, ist noch keine nachhaltige Lösung für Griechenland. Bis 2022 wird diese Lösung sowieso nicht tragen. Das ist auch keine Lösung, die bis 2016 trägt. Herr Schäuble, Sie haben Zeit gekauft – das ist wichtig genug –, vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein, zwei Jahre für Griechenland. Vor allem aber gewinnen Sie Zeit für sich selbst, um der Koalition unangenehme Wahrheiten und noch unangenehmere Entscheidungen zu ersparen. Ich werde in diesen Tagen von Journalisten gefragt, ob die SPD für den Schuldenschnitt sei. Ich antworte dann immer: Was ist das für eine Frage? Die SPD sähe Europa am liebsten ohne Krise, wirtschaftlich stabil, politisch erfolgreich. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Aber die Krise ist da, auch wenn Sie sich darüber lustig machen. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nein, darüber machen wir uns nicht lustig, sondern über den Quatsch, den Sie vorher gesagt haben!) Sie stellen jetzt fest, dass Ihr Werkzeugkasten inzwischen leer ist. Sie wissen, dass die Basiszahlen für Griechenland auch ohne Ihre Luftbuchungen am Ende auf einen Schuldenschnitt hinauslaufen. Sie aber scheuen diese Wahrheit wie der Teufel das Weihwasser, (Beifall bei der SPD) so wie Sie alle Wahrheiten gescheut haben, die sechs Monate später dann doch eintraten. Ich erinnere an Draghis Ankündigung, dass die Europäische Zentralbank Schuldtitel aufkaufen werde. Ich erinnere daran, dass Draghi als Person und diese Ankündigung aus den Reihen der Regierungsfraktionen damals öffentlich verhetzt wurden. Sechs Monate später, Frau Bundeskanzlerin, war das, was Draghi angekündigt hatte, auch das Mittel Ihrer Wahl. Genauso können Sie jetzt das verschieben, was am Ende ökonomisch unvermeidlich sein wird. Sie können es verschieben über Weihnachten, über die Niedersachsenwahl, über die Bayernwahl, über die Bundestagswahl. Eines jedoch sage ich Ihnen mit aller Klarheit: Der Schuldenschnitt wird zwar jetzt verschoben, aber irgendwann wird es dazu kommen, und dann werden wir Sie aus Ihrer Verantwortung dafür nicht entlassen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Die Wähler werden sie entlassen! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Diese Verantwortung tragen wir gerne!) Jetzt heißt es bei Ihnen wie schon so oft: Bis hierher und nicht weiter. – Wir haben das schon einmal gehört. Der unvermeidliche Söder sagt, ein Schuldenschnitt wäre der Dammbruch. Meine Damen und Herren, das ist immer dieselbe Methode: Haltet den Dieb! Schuld sind andere, im Zweifel die Opposition. Mit den schlechten Nachrichten wollen wir nichts zu tun haben. – Wer regiert eigentlich in diesem Lande? Man hat den Eindruck, Sie hätten damit nichts zu tun. (Beifall bei der SPD) Wir könnten es uns in dieser Situation sehr leicht machen und sagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, ist halbherzig und mutlos. – Wir könnten es uns sehr leicht machen und sagen: Sie gehen weiterhin von falschen Annahmen aus, und die endgültigen Kosten werden verschleiert. – Wir könnten uns das alles sehr leicht machen, weil Sie sich im Kern immer noch an dem Punkt vorbeidrücken, dass die Rechnung am Ende auch dem deutschen Steuerzahler präsentiert wird. Argumente für die Ablehnung, meine Damen und Herren, liefern Sie zuhauf. Wir hatten dazu in der Fraktion eine schwierige und – das sage ich Ihnen auch – hochstreitige Debatte; das ist Ihnen nicht verborgen geblieben. Ich verstehe jeden aus meiner Fraktion, dem die Entscheidung nicht leichtfällt. Aber wir haben uns gemeinsam entschlossen, nicht den einfachen Weg zu gehen, sondern jenseits aller innenpolitischen und parteitaktischen Überlegungen zu unseren Werten, zu unseren Überlegungen und zu unseren Überzeugungen zu stehen. (Beifall bei der SPD) Wir benoten heute nicht eine Koalition in Berlin, die seit Jahren zwischen europäischer Verantwortung und antieuropäischem Geschwätz schwankt. Wir Sozialdemokraten machen nicht Politik für den Tag, sondern wir denken in langen Linien. Wir bleiben unserer europäischen Verantwortung treu. Wir können die Griechen nicht im Stich lassen, die in diesen Tagen, in den letzten Monaten harte Opfer auf sich genommen haben und die jetzt, in der Stunde der Not, von uns erwarten dürfen, dass wir das Wort von der europäischen Solidarität auch einhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren, für uns bleiben europäische Integration und gemeinsame Währung unschätzbar hohe Werte. Wenn dieses Paket, so unvollständig und halbherzig es sein mag, dazu beiträgt, Griechenland jedenfalls jetzt vor dem Konkurs zu bewahren und wenigstens auf Sicht den Flächenbrand in der Währungsunion zu verhindern, dann werden wir es nicht aufhalten. Wir werden mehrheitlich zustimmen. Aber unsere Kritik bleibt, und wir werden sie öffentlich äußern. Sie werden am Ende sehen: Wir werden auch in diesem Punkt nach und nach recht bekommen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute einen Antrag des Bundesfinanzministers zum letzten Gipfel der Euro-Gruppe. Dieser Antrag ist Voraussetzung, Mandat für die Beschlussfassung auf europäischer Ebene. So sieht es unsere hart erkämpfte Parlamentsbeteiligung vor. Wir können stolz darauf sein, dass das Parlament hierüber entscheidet. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass wir Sie dazu gezwungen haben? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Trittin, was für ein Quatsch!) Die Finanzminister, die Europäische Zentralbank und der IWF haben festgestellt, dass Griechenland die Auflagen, die sogenannten Prior Actions, erfüllt hat. Die Reformmaßnahmen verlangen der Bevölkerung Griechenlands große Opfer ab. Die Deutschen fühlen zu Recht mit, wenn sie Bilder aus griechischen Krankenhäusern, wenn sie Berichte über die Situation in Griechenland sehen. Was Griechenland durchmacht, ist eine bittere Therapie; aber die Reformmaßnahmen sind notwendig. Jahrzehntelang wurde der öffentliche Sektor aufgebläht. Wir können dort beobachten, was es für den sozialen Frieden bedeutet, wenn zu lange auf den Staat gesetzt wird und wenn nicht genügend Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des öffentlichen Sektors vorhanden sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gesellschaften mit wenigen privaten Unternehmen neigen zum Erlahmen, Gesellschaften mit gar keinen privaten Unternehmen neigen zum Sterben. Es gibt einige hier im Hause, deren Ideal die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist. (Zurufe von der LINKEN) Der Versuch, unternehmerische Freiheit, unternehmerisches Denken durch Fünfjahrespläne zu ersetzen, ist grandios gescheitert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Ihre Gesellschaft macht nur Schulden!) Auch ein Sozialismus light mit 100 Milliarden Euro Vermögensabgabe, höheren Steuern und unrealistisch hohen Sozialausgaben führt zu Lähmungstendenzen der Gesellschaft. Griechenland sollte für all diejenigen eine Warnung sein, die auf höheren Staatsanteil, auf weniger Exporte und auf mehr Umverteilung setzen. Das hat noch nirgendwo geklappt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Griechenland steuert um, Griechenland will mehr Wettbewerbsfähigkeit erreichen, und Griechenland braucht mehr Zeit für die Absenkung der Verschuldung. Das hat die Euro-Gruppe festgestellt. Zwei Eckdaten sind entscheidend: zum einen der sogenannte Primär-überschuss, der sich errechnet aus den Einnahmen minus den Staatsausgaben ohne Schuldendienst. Als Ziel für die Erreichung eines Primärüberschusses ist von der Euro-Gruppe jetzt das Jahr 2016 festgelegt worden. Der andere Punkt ist die Schuldentragfähigkeit. Das ist vor allem für den IWF wichtig, weil er nur Länder unterstützen darf, die eine Perspektive auf eine Schuldentragfähigkeit haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass der IWF so lange und auf Dauer dabeibleibt. Aber auch Länder wie Indien, China und Brasilien überlegen sich, welchen Beitrag sie zur Lösung der Probleme Europas leisten können, soweit sie nicht andere Verpflichtungen im Blick behalten müssen. Es wurde ein Kompromiss bei der Schuldentragfähigkeit erreicht. 2020 soll eine Verschuldung von 124 Prozent der Wirtschaftsleistung erreicht werden. 2022 soll die Schuldenquote bei unter 110 Prozent liegen. Das ist ambitioniert, aber machbar. Die Finanzminister haben sich auf einen Mix von Maßnahmen verständigt: zum Beispiel auf eine Zinssenkung der Kredite aus dem ersten Griechenland-Paket; Herr Steinmeier, damals haben Sie sich kraftvoll enthalten. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie Herr Westerwelle in der Generalversammlung!) Der deutsche Anteil wurde über die KfW finanziert. Es ist also so geregelt, dass wir eine schwarze Null schreiben. Dennoch ergibt sich für den Bundeshaushalt ein Margenverlust durch entgangene Zinseinnahmen von 130 Millionen Euro. Griechenland wird eine Zinspause eingeräumt: Die Laufzeiten der EFSF-Kredite werden beim zweiten Griechenland-Paket um 15 Jahre verlängert; das heißt: Stundung, aber nicht Schenkung. Die Opportunitätskosten, wie das Ökonomen nennen, will ich einmal außer Betracht lassen. Die Gewinne der EZB aus den Griechenland-Anleihen werden über die Bundesbank weitergegeben. Die Bundesbank ist autonom; das heißt, sie legt selbst die Regeln fest, welche Gewinne sie macht. Deshalb hat der Finanzminister eine außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung für den Bundeshaushalt angesprochen. Der Kanzlerkandidat der SPD müsste das Haushaltsrecht kennen. Er hat das früher in mindestens zwei Fällen selbst so gemacht: beim Gebäudesanierungsprogramm und bei den Phoenix-Ausgleichsmaßnahmen. In seiner Rede letzte Woche verlangte er nun, einen neuen Haushalt aufzustellen. Das halte ich für Aufgeblasenheit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es geht um ein verzweifeltes Ablenkungsmanöver des Kanzlerkandidaten. Ich höre, es soll Genossen geben, die ihn „Problem-Peer“ nennen. Da scheint jedes Mittel recht zu sein, um von diesem Problem abzulenken. Wo ist denn der Plan des Oberweltökonomen Peer Steinbrück für die Rettung der Euro-Zone? Sie erzählen viel, aber ein Konzept haben Sie nicht. Sie haben letzte Woche zum Zeitaufschub Griechenlands erklärt, Sie seien noch zu keinem Ergebnis gekommen, wüssten noch nicht, was Sie machen würden. Sie würden ja auch nicht mit den Regierungschefs an einem Tisch sitzen. Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, was das in diesem Zusammenhang bedeutet: Sie haben keine Position. Unter Steinbrück wäre Deutschland ohne Position, ohne Konzept, ohne eigenen Kompass in die Verhandlungen gegangen. Ich weiß nicht, ob die europäischen Partner sich darüber freuen würden oder eher geschockt wären. (Zuruf von der CDU/CSU: Eben!) Die Augen Europas und der Welt richten sich auf Deutschland, und Steinbrück will in einer solchen Situation eine Politik des positionslosen Stuhls betreiben. Das kann man bei einem Atrium-Talk bei den Bochumer Stadtwerken machen, aber nicht bei verantwortlicher Politik. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es soll ein Programm zum Rückkauf eigener Anleihen durch Griechenland geben. Da sind Flexibilitäten eingebracht worden, weil man nicht weiß, in welchem Umfang das realisiert werden kann. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Buchungstricks heißen jetzt Flexibilität!) Das hat man bei der privaten Gläubigerbeteiligung übrigens genauso gemacht. Damit hat man gute Ergebnisse erzielen können. Für meine Fraktion sind einige Dinge besonders wichtig: Wir bewegen uns innerhalb der bestehenden Hilfsprogramme. Wir verändern die Zeitachse, aber lassen im Reformdruck auf Griechenland nicht nach; das ist wichtig. Es bleibt bei einer klaren Konditionierung: Es wird ein Sperrkonto für die Mittel eingerichtet, und die Reformfortschritte werden durch die Troika festgestellt; sie sind die Basis für die weitere Auszahlung. Entscheidend ist für uns, dass der IWF weiter an Bord ist, weil er international großes Ansehen hat und über die meiste Expertise verfügt. Der Bundesfinanzminister hat immer wieder eindringlich darauf hingewiesen: Ein Schuldenschnitt ist rechtlich derzeit in Deutschland, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern nicht möglich. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Betonung liegt auf „derzeit“!) Diese Rechtsauffassung wird übrigens vom Kanzlerkandidaten der SPD geteilt. Über Einlassungen der Opposition in diesem Zusammenhang muss ich mich schon wundern. Sie stellen sich hier hin und behaupten, mehr für Griechenland tun zu wollen, einen sofortigen Schuldenschnitt vornehmen zu wollen. Sie sollten mit den Zusammenhängen besser vertraut sein: Die Rettungsschirme zahlen derzeit die Kredite an Griechenland aus. Dafür garantieren die Mitgliedstaaten, auch Deutschland. Dies müsste sofort gestoppt werden, wenn ein Schuldenschnitt vereinbart würde; das ist die allgemeine Einschätzung, auch die des Bundesfinanzministers. Das könnte niemand vertreten. Was zu einem späteren Zeitpunkt eintreten kann, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) kann heute keiner mit Sicherheit sagen, selbst Herr Trittin nicht. Ich formuliere es einmal so: Es gibt nicht nur einen Londoner Club für private Schuldenschnitte, sondern auch einen Pariser Club für öffentliche Schuldenschnitte. Das sollte man im Hinterkopf behalten. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Aha! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Sie nähern sich der Wahrheit an, Kollege Brüderle!) Es ist auch nicht auszuschließen – Stand heute –, dass die Maßnahmen in Sachen Griechenland weiteres Geld kosten werden. Mittlerweile sind wir alle Vertreter der Dominotheorie. Das heißt: Wenn ein Euro-Land fällt, fallen andere mit. Damit wären unvorhersehbare soziale, politische und gesellschaftliche Folgen verbunden. Das kann keiner wollen. Das Risiko kann man nicht eingehen. Deshalb sind diese Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, und sie werden unterstützt. Ich sage aber ganz klar: Griechenland ist ein Extremfall und kein Präzedenzfall. Wir kaufen hier Zeit. Dabei geht es aber weniger um Athen; es geht um Rom, Paris und Madrid. Das muss man in diesem Zusammenhang klar sehen. Diese Länder kämen schnell auf den Radarschirm der Finanzmärkte, wenn Griechenland kippen sollte. Die OECD hat diese Woche vor einem Zerfall der Euro-Zone gewarnt. Neben den ungelösten Problemen der Vereinigten Staaten – Stichwort „Fiscal Cliff“ – ist das nach Ansicht der OECD die größte Gefahr für die Weltwirtschaft. Deutschland – auch das ist eine Feststellung der OECD – kommt dabei besser als alle anderen Länder über die Runden. Wir sind Hort der Stabilität. Deshalb haben wir guten Grund, diese Politik mit Geduld und Ruhe, wie es die christlich-liberale Koalition praktiziert, fortzusetzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das wird so bleiben. Auch in der Vorweihnachtszeit nächsten Jahres werden wir diese Politik fortsetzen, weil das eine erfolgreiche, realistische Politik ist. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt die Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, wenn Sie sagen, dass wir stolz darauf sein müssen, dass in Deutschland immerhin noch das Parlament über Milliardenausgaben öffentlicher Haushalte entscheidet, dann ahnt man mit ziemlicher Sorge, worauf man sich in Zukunft noch einzustellen hat. (Otto Fricke [FDP]: Was sagen Sie zu den anderen Ländern Europas?) Zur Sache. Wenn ein Unternehmer immer neue Schulden macht, um damit eine Zahlungsfähigkeit vorzutäuschen, die es längst nicht mehr gibt, dann nennt man das im realen Leben Konkursverschleppung. Wer einen Konkurs verschleppt, der macht sich strafbar und kann dafür im schlimmsten Fall ins Gefängnis gehen. Jeder weiß, dass Griechenland zahlungsunfähig ist und den riesigen Schuldenberg unmöglich aus eigener Kraft bedienen kann. Jeder weiß im Grunde auch, dass sich daran in Zukunft nichts ändern wird, dass die Situation vielmehr von Jahr zu Jahr und von Sparpaket zu Sparpaket dramatischer wird. Herr Schäuble, Sie können hier doch nicht im Ernst behaupten, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen diesem Kürzungsprogramm und dem Wirtschaftseinbruch. Da ist der IWF inzwischen weiter. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb weiß auch jeder, dass es am Ende einen Schuldenschnitt geben wird und dass dieser Schuldenschnitt für Deutschland sehr teuer sein wird. Die Linke hat diesen Schuldenschnitt übrigens schon 2010 gefordert. Damals hätte er den deutschen Steuerzahler noch nichts gekostet; denn damals hätten die Banken und die privaten Anleger diese Kosten tragen müssen. Heute fordern diesen Schuldenschnitt der IWF, die Europäische Zentralbank und sogar der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates, Lauk, der Ihnen mittlerweile die gleiche Klatsche gibt wie wir und von politischer Insolvenzverschleppung spricht. Hören Sie daher bitte auf, dieses Parlament und die Wählerinnen und Wähler für dumm zu verkaufen! Frau Bundeskanzlerin, und auch Sie, Herr Schäuble, Sie wissen doch ganz genau, dass wir heute nur deshalb über weitere Milliardensummen entscheiden und diese freigeben sollen, damit Sie nicht vor der Bundestagswahl zugeben müssen, dass Sie, Ihre Koalition und natürlich auch SPD und Grüne, die immer zugestimmt haben, Milliarden an deutschen Steuergeldern in den Sand gesetzt haben. (Beifall bei der LINKEN) Damit der Bankrott Ihrer Griechenlandpolitik nicht offensichtlich wird, werfen Sie dem verlorenen Geld noch einmal Milliarden hinterher. Ich finde, das ist eine verantwortungslose Veruntreuung von Steuergeld. (Beifall bei der LINKEN) Herr Steinmeier, wenn Sie sagen, dass auch Sie davon ausgehen, dass es einen Schuldenschnitt gibt, dann können Sie diesem weiteren Geldversenken doch nicht zustimmen. Es ist wirklich ungeheuerlich, dass Sie heute immer noch dabei sind. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir sind nicht so zynisch wie Sie!) Wir reden hier nicht über Peanuts. Die Gelder eingerechnet, die jetzt freigegeben werden sollen, sind binnen zwei Jahren fast 200 Milliarden Euro an vermeintlichen Griechenlandhilfen geflossen. Gleichzeitig wurde dem Land das brutalste Kürzungsprogramm zulasten von Arbeitnehmern, Familien, Kindern, Arbeitslosen und Rentnern diktiert, das je in einem Euro-Land durchgesetzt wurde. Im Ergebnis sind die griechischen Schulden heute um 60 Milliarden Euro höher als vor dem ersten Hilfspaket. Wenn das kein Bankrott Ihrer Politik ist, was ist es dann? (Beifall bei der LINKEN) Alle Prognosen, mit denen Sie arbeiten, bestehen aus Lügenzahlen. Das ist doch alles Augenwischerei. Griechenland hat seit Beginn seiner angeblichen Rettung 20 Prozent seiner Wirtschaftskraft verloren. Für das nächste Jahr ist ein weiterer Einbruch von 8 Prozent vorhergesagt. Die griechischen Arbeitslosenzahlen sind vor allem für junge Menschen eine einzige Tragödie. Dieses Land wird auf absehbare Zeit keine Überschüsse erwirtschaften, und mit jedem neuen Sparpaket wird die Situation nur noch schlimmer. Seit letztem Montag haben sämtliche Apotheken in Thessaloniki geschlossen, weil die Regierung seit Monaten kein Geld mehr für Medikamente erstattet. Die Busse fahren nicht mehr, weil die Regierung ihre Schulden bei den Busunternehmen nicht bezahlt. Dieses Land liegt am Boden. Eine rabiat faschistische Partei mit Naziparolen und Schlägertrupps sonnt sich in wachsenden Umfragewerten, und Sie tun so, als müsse man nur weitermachen wie bisher, die Daumenschrauben noch ein bisschen mehr anziehen und noch ein paar Milliarden drauflegen, dann würde es auf wundersame Weise irgendwann wieder aufwärtsgehen. Ich sage Ihnen: Das Einzige, das aufwärtsgeht – und dies sehr zuverlässig –, sind nach wie vor die griechischen Schulden. Das Einzige, das Sie mit diesen endlosen Milliarden, die Sie hier immer wieder verpulvern, erreichen, ist eine Befreiung der privaten Gläubiger Griechenlands, der Banken, der Hedgefonds und der anderen Spekulanten, von ihrer Verantwortung und von allen Verlusten; denn dorthin fließt das Geld und nicht an den griechischen Staat. Tatsächlich haben wir in diesem Parlament noch kein einziges Mal über echte Griechenland-Hilfen entschieden; wir entscheiden immer nur über Hilfen für Banken und Spekulanten. Selbst die vermeintliche Gläubigerbeteiligung war – das sieht man, wenn man die Ergebnisse betrachtet – eigentlich eher eine Gläubigersanierung; denn überraschenderweise – oder auch nicht überraschenderweise – haben sich die griechischen Schulden im Ergebnis so gut wie gar nicht reduziert. Das einzige Ergebnis ist, dass seither ein noch größerer Teil des Griechenland-Risikos vom europäischen Steuerzahler getragen wird. Auch heute entscheiden wir nicht über Griechenland-Hilfen. Wir entscheiden auch heute wieder über Hilfen für Banken und Spekulanten. Schauen Sie sich doch einmal an, wohin diese 35 Milliarden Euro, die Sie jetzt freigeben wollen, fließen sollen! 10 Milliarden Euro sind dafür bestimmt, privaten Investoren auch noch die letzten Griechenland-Anleihen abzukaufen, und zwar, wie üblich, zu völlig überhöhten Kursen. „Hedge-Fonds machen Kasse in Athen“ hat die Financial Times am Mittwoch getitelt, und sie hatte recht. Hedgefonds, die im Sommer griechische Anleihen gekauft haben, können mit Ihrem Rückkaufprogramm diese Anleihen jetzt mit sage und schreibe 42 Prozent Rendite wieder verkaufen. (Zurufe von der LINKEN: Pfui!) Diese Traumrenditen der Spekulanten finanzieren Sie mit dem hart erarbeiteten Steuergeld der Bürgerinnen und Bürger. Sind Sie denn noch bei Sinnen? (Beifall bei der LINKEN) Die Finanzmafia hat an Ihrer großartigen Euro-Rettung schon mehr als genug verdient. Ich meine, statt ihr immer neue Milliarden in den Rachen zu werfen, wäre es endlich an der Zeit, sie zu einem Totalverzicht zumindest auf den Teil der Griechenland-Anleihen zu zwingen, die sie noch nicht beim Steuerzahler abgeladen hat. Aber auch der Rest des Griechenland-Pakets geht nicht an griechische Apotheken und Busunternehmen, geschweige denn an Menschen in Not. Dieser zweite Teil wird den griechischen Banken zur Verfügung gestellt, um ihre Kapitalausstattung zu verbessern. 25 Milliarden Euro sollen dorthin fließen. Warum hält man sich nicht an die Eigentümer und an die Gläubiger dieser Banken? Warum hält man sich nicht einmal an die griechische Oberschicht, die ihren riesigen Reichtum gerade dem korrupten griechischen System und damit auch den ganzen Schulden, die in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden, verdankt? (Beifall bei der LINKEN) Auch ich weiß, dass die griechischen Multimillionäre ihr Vermögen größtenteils außer Landes geschafft haben. Die griechischen Banken, die wir jetzt so großzügig beschenken wollen, waren an diesen Transaktionen aber nicht ganz unbeteiligt. Warum werden zum Beispiel Banken in der Schweiz, bei denen griechische Milliardenvermögen lagern, nicht unter Druck gesetzt, die entsprechenden Daten offenzulegen? Die USA haben es doch auch geschafft, zum Beispiel die Schweizer UBS zu einer Offenlegung sämtlicher Transaktionen zehn Jahre rückwirkend zu bewegen, übrigens sogar ohne den Einsatz von Kavallerie. Ist die Euro-Zone so viel schwächer als die USA, oder will man den griechischen Mil-lionären gar nicht ans Geld, weil es, wie wir es auch in Deutschland sehen, zu Ihrem Politikstil gehört, lieber zehnmal der Mittelschicht in die Tasche zu greifen, als auch nur einmal bei den wirklich Reichen zuzulangen? Das ist doch Ihre Politik. (Beifall bei der LINKEN) Diese feige Politik haben Sie von Anfang an auch in Griechenland betrieben. Wenn sich das nicht ändert, dann wird Griechenland weiter in den Abgrund taumeln, und der deutsche Steuerzahler wird verdammt hohe Kosten zu schultern haben. Wem wollen Sie diese absurde Politik eigentlich noch erklären? (Otto Fricke [FDP]: Frau Wagenknecht als Verteidigerin des Steuerzahlers! Mann, Mann!) Wem wollen Sie als christliche Partei erklären, dass Sie für irgendwelche Spekulanten den Weihnachtsmann spielen, während Sie gleichzeitig Geld für den Kauf eines Weihnachtsbaums aus den Hartz-IV-Regelsätzen gestrichen haben, weil das offenbar den Bundesetat überfordern würde? (Zuruf von der LINKEN: Pfui!) Wem wollen Sie erklären, dass hier in Deutschland Straßen verrotten, Schulen verfallen und in Krankenhäusern Dauernotstand herrscht, weil die Länder und Gemeinden mit der sogenannten Schuldenbremse stranguliert werden, während Sie durch Beschlüsse wie den heutigen Deutschland immer tiefer in den Schuldensumpf treiben? Die Großzügigkeit, die Sie an den Tag legen, wenn es um die Sanierung gestrauchelter Finanzspekulanten in Griechenland, in Spanien oder eben auch hier zu Hause geht, möchte ich einmal erleben, wenn es um soziale Ausgaben geht, und da geht es in der Regel um sehr viel kleinere Beträge. Mit den gut 700 Millionen Euro – in dieser Höhe wird der Bundeshaushalt 2013 durch die aktuellen Beschlüsse unmittelbar belastet – könnten Sie in der Bundesrepublik 20 000 Kitaplätze zusätzlich schaffen. Um die Studiengebühren in Niedersachsen zum Beispiel sofort abzuschaffen, bräuchten Sie gerade einmal 100 Millionen Euro. (Beifall bei der LINKEN) Aber Kitas und Universitäten sind in einer marktkonformen Demokratie natürlich viel unwichtiger als Banken und Hedgefonds. Abschließend noch etwas zum Verfahren. Es hat im Rahmen der angeblichen Euro-Rettung ja schon Tradition, über Milliardensummen im Eilverfahren zu entscheiden. Mit der Entscheidung heute ist der gerade letzte Woche beschlossene Haushalt schon wieder Makulatur, und die meisten von Ihnen ahnen, dass vieles von dem, was hier heute erzählt wurde, in kürzester Zeit auch wieder Makulatur sein wird. Ich frage Sie: Warum spielen Sie alle dann als brave Marionetten in dieser Fassadendemokratie mit und lassen eine Koalition weiter herumstümpern, die offenbar glaubt, die soziale Realität in Deutschland und Europa ließe sich genauso leicht frisieren wie der Armuts- und Reichtumsbericht? (Beifall bei der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Fassadendemokratie verstehen Sie was! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Irgendwann muss mal Schluss sein! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Gefühlt waren das schon 20 Minuten!) Diese Frage geht natürlich vor allem an Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen. Ich erinnere mich noch gut, wie sich Herr Steinbrück hier vor einer guten Woche am Rednerpult aufgeblasen und die Europapolitik der Kanzlerin in der Luft zerrissen hat. Herr Steinmeier hat auch heute wieder den großen Kritiker gegeben. Aber was folgt daraus? Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin! Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): Ich komme zum Schluss. – Nach SPD-Logik folgt offenbar daraus, sich erneut als brave Abnickerin des Merkel-Kurses zu betätigen. Auch diese Steuermilliarden werden wieder mit Zustimmung von SPD und Grünen versenkt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Feierabend!) Ich denke, das ist jämmerlich für Oppositionsparteien, vermeintliche, und es ist ein Trauerspiel für die Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke jedenfalls wird auch diesmal gegen das verantwortungslose Verbrennen von Steuergeldern und gegen den bankenhörigen Europakurs der Kanzlerin stimmen, der Europa kaputtmacht, die Menschen gegeneinander aufbringt und auf jeden Fall verantwortungslos gegenüber dem europäischen Projekt und den europäischen Ideen ist. (Lebhafter Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Bravo! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Unglaublich!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben in der letzten Woche den Bundeshaushalt für das Jahr 2013 verabschiedet. Frau Kollegin Wagenknecht, offenbar ist Ihnen entgangen, was dort beschlossen wurde; denn so, wie Sie heute über unser Land geredet haben, kann man nur reden, wenn man wirklich keine Ahnung hat von dem, was dieser Deutsche Bundestag in seiner Mehrheit für dieses Land beschlossen hat und tut. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich erinnere einmal daran, weil Sie das Beispiel gebracht haben, dass es für zusätzliche Kitaplätze 580 Millionen Euro gibt. Allein der Zuschuss zur Rentenversicherung beträgt 80 Milliarden Euro. Mehr als 50 Prozent des Bundeshaushalts entfallen auf soziale Leistungen. Da brauchen wir uns von Ihnen solche Reden nicht gefallen zu lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber jetzt zum heutigen Tag. Die Finanzminister in Europa haben in einer schwierigen Verhandlungsrunde nach Wegen gesucht, wie man eine Antwort auf die Herausforderung Griechenland finden kann. Das waren, wie gesagt, keine einfachen Verhandlungen. Ich muss auch heute noch einmal sagen: Ich bewundere Wolfgang Schäuble. Er hat eine ganze Nacht beraten, war aber am nächsten Morgen da, um allen Fraktionen zu erläutern, was auf europäischer Ebene geschehen ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist auch nicht so, dass Wolfgang Schäuble am Dienstag überfallartig zu uns gekommen ist und uns zum ersten Mal mitgeteilt hat, was geschieht. Er hat regelmäßig auch Ihre Fraktion in Telefonschaltkonferenzen über den Stand der Diskussion informiert. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) Niemand kann sagen, er sei nicht informiert gewesen. (Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]) Am Dienstag gab es die letzte Information. Nur um die Dinge einmal auf den Punkt zu bringen, Herr Kollege Steinmeier: Wir haben von Anfang an angeboten, in dieser Woche zu entscheiden; ich komme gleich darauf zu sprechen, warum. Wir haben Sie gefragt, ob Sie bereit sind, am Donnerstag oder Freitag eine Entscheidung zu treffen. Da haben Sie uns gesagt: in dieser Woche gar nicht mehr. – Daraufhin haben wir gesagt: Auch wenn Sie nicht mehr in dieser Woche, sondern erst in der nächsten oder gar übernächsten Woche entscheiden wollen, sind wir bereit, es am Donnerstag zu tun. – Dann haben uns die Grünen gefragt, ob wir bereit sind, am Freitag zu entscheiden. Da habe ich gesagt: Okay, wenn ihr am Freitag mitmachen wollt, machen wir es am Freitag. – Es ist also ein Märchen, wenn behauptet wird, wir hätten gesagt: Es muss unbedingt am Donnerstag entschieden werden. (Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]) Wir haben nur gesagt: Wenn Sie nicht wollen, dann entscheiden wir am Donnerstag. – So einfach war die Sache; nur um bei der Wahrheit zu bleiben. Die Grünen haben gesagt, dass sie unabhängig von Ihnen am Freitag mitmachen würden. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen, damit das klar ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ja, ja! Sie sollten sich über ganz andere Dinge Gedanken machen!) Jetzt zum Thema. Wir haben in Griechenland durchaus Erfolge zu verzeichnen. Allerdings sind wir noch nicht so weit, wie wir sein müssten. Ich kann nur sagen: Diejenigen, die davon reden, wir hätten Griechenland, wie Sie es formulieren, gleich am Anfang die Luft he-rauslassen und hätten Schuldenschnitte machen sollen, verkennen, dass nur auf dem Weg, den wir gegangen sind, die notwendigen Reformen eingeleitet werden konnten. Ich will Sie etwas fragen: Glauben Sie, dass die Regierung Samaras, die viel erreicht hat, dies erreicht hätte, wenn die Opposition in Griechenland hätte sagen können: „Ihr müsst euch gar nicht anstrengen; wir kriegen das Geld auch ohne eigene Anstrengungen“? Dann wäre überhaupt nichts geschehen. Deswegen war unser Weg richtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Griechenland etwas mehr Zeit braucht. Aber wir sagen auch: Diese Zeit muss genutzt werden, um voranzukommen. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen und die Entwicklung in Europa und in Griechenland begleiten. „Schritt für Schritt“ heißt auch, zu akzeptieren, dass wir nicht über Instrumente reden, die vielleicht im Jahr 2020 zum Einsatz kommen könnten, sondern dass wir über das reden, was jetzt geschieht. Manch eine Prognose, die jetzt mit Blick auf Griechenland abgegeben wird, muss man hinterfragen. Wie oft haben sich die Leute, die Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land abgegeben haben, schon geirrt? Ich kann darüber nur schmunzeln: Wir haben die Prognose bekommen, dass wir im dritten und vierten Quartal 2012 mit einem Abschwung zu rechnen haben. Jetzt sagen die Leute, die diese Prognose abgegeben haben, dass im dritten Quartal nicht mit einem Abschwung zu rechnen ist. Das wissen wir aber alle selber; denn das dritte Quartal ist bereits vorbei. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Insofern kann ich nur sagen: Mit Prognosen sollte man vorsichtig sein. Wir sind auf der sicheren Seite, wenn wir sagen: Wir sind solidarisch mit Griechenland. Schritt für Schritt werden die weiteren Maßnahmen umgesetzt. Es wird nur dann eine Tranche freigegeben, wenn die Voraussetzung, dass etwas Bestimmtes getan wurde, erfüllt ist. Das war in Griechenland jetzt der Fall. Im Übrigen muss klar sein: All diejenigen, die über irgendwelche Schuldenschnitte sprechen – völlig abwegig –, müssen wissen, dass sich in dem Fall auch andere Länder zu Wort melden würden. Was sollen denn Portugal und Irland dazu sagen? Frau Wagenknecht, Sie reden einen solchen Unsinn daher und wissen gar nicht, welche Konsequenzen das hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD) Deswegen kann ich nur sagen: Der Weg, den wir gehen, ist richtig. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Mal sehen, wie die Halbwertszeit ist! – Peer Steinbrück [SPD]: Welche Zinsen wollen Sie nehmen?) Wir müssen in Europa die Wettbewerbsfähigkeit aller europäischen Länder voranbringen. Wir sehen doch, wie der Wettbewerb weltweit läuft. Allein in Shanghai werden jedes Jahr mehr Akademiker mit ihrem Studium fertig als in ganz Europa. Wir sehen doch, was dieser Wettbewerb bedeutet. Wir werden diesen Wettbewerb nur bestehen, wenn wir alle in Europa vorankommen. Dieser Weg wird jetzt gegangen, und zwar nicht nur in Griechenland. Alle müssen diesen Weg mitgehen, und jeder muss schauen, dass er bei der Wettbewerbsfähigkeit vorankommt. Das wird jetzt unterstützt. Dass wir heute darüber beraten, zeigt auch, dass wir uns im Deutschen Bundestag unserer Verantwortung bewusst sind. Wir alle hier im Deutschen Bundestag haben damals, als es um die Parlamentsbeteiligung ging, gesagt: Wir wissen, dass uns dies im einen oder anderen Fall viel abfordern wird, weil wir nicht Beratungszeiten von mehreren Wochen in Anspruch nehmen können. – Das ist auch dieses Mal so. Wir haben aber auch gesagt, dass wir als Deutscher Bundestag bereit sind, uns in die Dinge hineinzuknien und die notwendigen schnellen Entscheidungen herbeizuführen. Niemand in Europa soll sagen können: Weil sich die Deutschen nicht ernsthaft um die Dinge bemühen, kommen wir nicht voran. – Das ist auch ein wichtiges Signal an die Märkte. Deshalb ist es richtig, dass wir heute die Entscheidung treffen und dem Antrag des Bundesfinanzministeriums zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden uns mit dem Thema Europa noch mehrfach befassen müssen. Ich kann nur sagen: Es lohnt sich auch. Dieses Europa ist mehr als nur ein Europa von Euro und Cent. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht dieses!) Dieses Europa ist eine Werte- und Schicksalsgemeinschaft. Eine Werte- und Schicksalsgemeinschaft hält vor allem dann zusammen, wenn es besonders schwierig ist, und rennt nicht auseinander. Heute ist ein Tag dafür, dies zu beweisen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Wagenknecht, wenn Sie Seit‘ an Seit‘ mit Hans-Werner Sinn leichtfertig den Konkurs Griechenlands in Kauf nehmen wollen, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach!) dann ist das nicht links, sondern dann ist das Unsinn, und es ist unsozial. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Deswegen müssten Sie heute eigentlich mit uns gemeinsam zustimmen, wenn wir diese Koalition zwingen, ihre falsche Politik in Europa zu korrigieren. Darum geht es. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na, na! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wo?) Über Jahre hinweg haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie, Herr Kauder, uns erzählt: Die Griechen kommen aus dem Mustopf, wenn sie nur ordentlich und richtig sparen. – Ich erinnere mich noch an Äußerungen wie: Die müssen sparen, bis es quietscht. – Das stammt aus Ihren Reihen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was? Wo? – Zuruf von der LINKEN: Das haben Sie jetzt rausverhandelt?) Was stellen wir heute fest, nachdem die Griechen über drei Jahre hinweg jedes Jahr 4,5 Prozent – jedes Jahr! – ihres Primärdefizits abgebaut haben? Die Griechen haben mehr Schulden. Was heißt das? Eine ausschließlich auf Sparen setzende Konsolidierungspolitik verschärft die Rezession. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wer hat das immer gesagt?) Eine Rezession verschärft das Einnahmeproblem des griechischen Staates. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach!) Die Folgen dieses Einnahmeproblems sind nicht etwa sinkende, sondern wachsende Schulden. Das ist offenbar. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Deswegen ist es richtig, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Zuzustimmen!) den Griechen in dieser Situation mehr Zeit zu geben. Mehr Zeit kostet Geld, 44 Milliarden Euro zusätzlich. Heute sind Sie gezwungen, Ihre falsche Politik zu korrigieren. Wenn Sie den Mut hätten, sie in aufrechter Haltung zu korrigieren, dann hätten Sie uns heute keine -Vertagungsfinanzierung vorgelegt. Sie haben von Flexibilisierung gesprochen, man kann auch von kreativer Buchführung sprechen, lieber Herr Brüderle. Hätten Sie für diese 44 Milliarden Euro einfach ein drittes Paket von Bürgschaften gemacht, wäre das solide gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine aufrechte Korrektur wäre auch gewesen, wenn Sie gesagt hätten: Okay, wir schauen jetzt mal, wie sich das vollzieht; wir wissen noch nicht alles genau; aber wir wissen heute schon – auch zu diesem Eingeständnis musste man Herrn Schäuble zwingen –, dass uns diese Maßnahmen im Jahre 2013 im Haushalt 730 Millionen Euro kosten werden. (Otto Fricke [FDP]: Wir wissen nicht, wie viel die Bundesbank überweisen wird, Herr Trittin! – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das steht doch noch gar nicht fest!) Sie können sich nicht damit herausreden, zu sagen: Wir geben nicht mehr aus, sondern das sind nur gesunkene Einnahmen. – Das ist die Realität für 2013 nach Auskunft des Bundesfinanzministeriums. Lieber Herr Vorsitzender des Haushaltsausschusses – – (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Nee, nee, nee! – Otto Fricke [FDP]: Bin ich nicht mehr! – Iris Gleicke [SPD]: Das ist die Kollegin Merkel; darauf bestehen wir!) – Sind Sie nicht mehr, stimmt, ist die Kollegin Merkel. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Auch ein Herr Trittin kann nicht alles wissen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die zahlen das ja auch beide nicht privat. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was hindert Sie eigentlich daran, diesen Fehlbetrag in einem ordentlichen Nachtragshaushalt zu etatisieren? Sie haben Angst, dass Sie in den eigenen Reihen bei dieser notwendigen Korrektur Ihrer Politik nicht die Mehrheiten haben, die Sie brauchen, um handlungsfähig zu sein. Das ist der Kern des Problems, das Sie haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun kann man angesichts der Situation, in der sich Griechenland befindet, sagen: Das kostet nun einmal Geld. – Das versuchen Sie in die Reihen der Opposition zu transportieren; die Opposition fordere das. Nein, ich will das deutlich sagen: Dass das Geld kostet, ist keine gute Nachricht, ist kein Grund zum Jubeln. Es ist das Produkt einer zögerlichen Europapolitik, bei der die europapolitische Haltung, die hier am Schluss in Reden, zum Beispiel von Herrn Kauder, immer wieder hochgehalten wird, tatsächlich nach Wahlterminen ausgerichtet wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das erste Griechenland-Paket haben Sie wegen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen versäumt, und jetzt machen Sie hier wieder einen Schleiertanz, damit die Bürgerinnen und Bürger die Wahrheit nicht hören sollen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist die Aussage von Herrn Steinbrück: Schleiertanz! – Gegenruf des Abg. Peer Steinbrück [SPD]: Denken Sie sich mal etwas Neues aus!) Die Menschen kennen diese Wahrheit aber heute schon. Deswegen glaube ich, dass Sie endlich dazu stehen sollten, dass nur mit Austerität der Euro nicht zu retten ist. Es muss Konsolidierung geben, es muss Strukturreformen geben. (Otto Fricke [FDP]: Ja!) Den Euro und das gemeinsame Europa wird es aber nur geben, wenn neben den Strukturreformen gleichzeitig in Wachstum, in Innovation und in Entwicklung investiert wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Deswegen passt es nicht zu einer ernsthaften Anstrengung dahin gehend, dieses Europa auf einen anderen Kurs zu bringen, wenn Sie im Zusammenhang mit dem mehrjährigen Finanzrahmen zusammen mit David Cameron dafür sorgen, dass ausgerechnet in den Bereichen Strukturveränderungen, Investitionen in Infrastruktur, Investitionen in Forschung gekürzt wird. Das ist das Fortsetzen der falschen Politik, die Sie über Jahre betrieben haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wenn richtig ist, dass Griechenland das bloße Sparen und der Verzicht darauf, seine Investitionsfähigkeit zu stärken, in die Krise und zu mehr Schulden geführt hat, dann müssen Sie sich auch der Tatsache stellen, dass Griechenland schon lange kein Ausgabeproblem, sondern ein Einnahmeproblem hat. Deswegen ist es übrigens richtig, zu sagen: Wir machen das schrittweise. Ich erwarte von der griechischen Regierung, dass sie die neuen Steuergesetze tatsächlich auf den Weg bringt. Ich finde auch, dass wir in Europa einen Anspruch darauf haben, dass diese neuen Steuergesetze in Griechenland tatsächlich vollzogen werden. Das ist so. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] – Zuruf von der LINKEN: Verbrauchsteuern!) – Nein, ich rede an dieser Stelle von Unternehmensteuern, lieber Kollege. Aber wenn man diese klare Haltung an den Tag legt, dann muss man auch zu den eigenen Zusagen stehen. Deswegen ist es nicht zu früh, sondern in meinen Augen eine peinliche Verzögerung, dass wir erst heute über diese Sache entscheiden; denn seit Anfang November liegt der Bericht der Troika vor. Er besagt: Griechenland hat das umgesetzt, was wir vereinbart haben. – Wenn Griechenland das Vereinbarte umgesetzt hat, dann müssen wir an dieser Stelle auch liefern. Das ist der Tag, um den es heute geht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Hören Sie auf, so zu tun, als gäbe es schon wieder eine neue rote Linie! Sie, Herr Brüderle, haben erklärt – das Wort „derzeit“ hat mir gut gefallen –, derzeit solle man nicht über einen Schuldenschnitt reden. (Otto Fricke [FDP]: Zustimmung!) Ja, derzeit muss man nicht über einen Schuldenschnitt reden; denn da gibt es rechtliche Hürden. Aber es wird einmal so sein, und Sie haben es selber angekündigt. Sie selber haben mit dem Hinweis auf den Pariser Club angekündigt, dass am Ende des Tages die Wiederherstellung der Schuldentragfähigkeit Griechenlands nur -darüber gehen wird, dass die Schuldenbelastung Griechenlands durch einen Schuldenschnitt gemindert wird. Ich finde, Sie hätten den Mut haben sollen, das in dieser Form und nicht so verklausuliert über den Pariser Club und Ähnlichem auszusprechen. Sie hätten den Mut haben müssen, zu sagen: Ja, es ist so. Es kostet uns am Ende in einem schrittweisen Prozess Geld. – Das wäre eine glaubwürdige Korrektur der Haltung gewesen, die Sie hier an den Tag gelegt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Letzte Bemerkung: Wegen der Prognosen und nicht um Recht zu behalten, sondern um Ihnen einen Rat zu geben: Sie sollten gelegentlich doch auf die Grünen hören. Die Grünen haben sich im Juni auf einem viel beachteten kleinen Parteitag mit der Frage Europa und Hilfe für Griechenland auseinandergesetzt. Lesen Sie diesen Beschluss einmal nach! Darin wird wörtlich ausgeführt: Griechenland muss mehr Zeit haben. Das Programm muss gestreckt werden. – Ich freue mich darüber, dass CDU, CSU und FDP mit einem halben Jahr Verspätung der Umsetzung eines grünen Parteitagsbeschlusses nachkommen. Das ist ein guter Tag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute waren vonseiten der Opposition wieder einmal die Besserwisser hier. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, wenn es so ist!) Es wäre nur gut, wenn das auch immer mit der ganzen Wahrheit verbunden wäre. Zur ganzen Wahrheit gehört, dass wir heute und auch in den vergangenen Monaten nicht über Griechenland und dessen Probleme diskutiert und nicht so schwierige Entscheidungen vor uns hätten, wenn es Ihre Fehlentscheidungen zu Zeiten der rot-grünen Regierung nicht gegeben hätte. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir schon bei der Wahrheit sind: Hierzu gehört auch, dass man den Leuten in einer Rede keine Unwahrheiten erzählt, wie das der Kollege Trittin gerade getan hat. Herr Kollege Trittin, es geht nicht um ein neues Programm im Umfang von 44 Milliarden Euro, wie Sie heute gesagt haben. Diese 44 Milliarden Euro sind Teil des Programms, das wir schon beschlossen haben. Dieser Betrag wird jetzt nach Vorlage des Troika-Berichts im Rahmen des bereits beschlossenen Programms ausgezahlt und ist Teil der Tranchen, die erst ausgezahlt werden sollten, nachdem der Troika-Bericht und die Bewertung dieses Berichts vorliegen. Es geht also nicht um ein neues Programm, sondern um die Realisierung dessen, was schon vor einem halben Jahr hier im Hause und auf europäischer Ebene beschlossen wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Die Haltbarkeitsdauer nimmt ab am Ende! Das wissen Sie doch! Das ist doch eine klare Täuschung!) Heute geht es um die Anpassung des Programms, weil die Ziele, nämlich Primärüberschuss ab dem Jahr 2014 und Schuldentragfähigkeit ab dem Jahr 2020, zeitlich nicht so erreicht werden, wie das zunächst einmal vorgesehen war. Und es geht hier auch darum, Entscheidungen auf der Grundlage des Troika-Berichts und der Fortschritte in Griechenland zu treffen. Hier ist schon feststellbar – das muss man bei einer solchen Debatte auch deutlich sagen –: Die Griechen haben enorme Anstrengungen an den Tag gelegt. Sie haben deutliche Maßnahmen in den Bereichen Steuern, Soziales, Arbeitsmarkt und Verwaltung getroffen. Dies geschah zugegebenermaßen zunächst einmal etwas verzögert, dann aber doch in einer sehr kurzen Zeit mit enormen Belastungen für die Menschen. Das Ergebnis ist ja auch schon zum Teil – nicht überall – spürbar: Das Haushaltsdefizit ist deutlich zurückgegangen – der Finanzminister hat darauf hingewiesen –, das Leistungsbilanzdefizit ist zurückgegangen, und die Lohnstückkosten sind gesunken. Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit hat sich spürbar ein Stück weit verbessert. Dass dies nicht von heute auf morgen geht, das wissen wir alle. In diesem Land ist eben nicht nur ein kleiner Umstrukturierungsprozess, sondern ein Transformationsprozess notwendig. (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Dieser braucht seine Zeit und ist nicht innerhalb von wenigen Monaten erreichbar. Vor allem ist er aber nicht prozentgenau prognostizierbar. (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb sind diese Anpassungsmaßnahmen des Programms notwendig und richtig. Das gilt auch für den Kurs: „Solidarität ja, Hilfe ja, Unterstützung ja“, um Zeit zu gewinnen, aber nur unter der Bedingung, dass Reformen durchgeführt und die Haushalte konsolidiert werden. Dieser Kurs wird jetzt fortgesetzt. Wir würden einen großen Fehler machen, wenn wir jetzt, da Griechenland auf dem Weg der Besserung ist, hier stehen bleiben und sagen würden: Jetzt geht nichts mehr. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Wir alle diskutieren auch kontrovers in den eigenen Reihen und in den Veranstaltungen mit den Menschen. Das jetzt Erreichte bestärkt mich darin, dass der Kurs richtig ist und dass das, was uns die Sozialdemokraten und Grünen in den vergangenen Monaten und Jahren vorgeschlagen haben, nämlich eine Vergemeinschaftung von Schulden, Euro-Bonds usw., der falsche Weg gewesen wäre, (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das machen Sie doch gerade!) weil dadurch der Druck, Reformen durchzuführen, von den Griechen genommen worden wäre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Auf diesem Weg sind Sie doch längst!) Es geht nun darum, dass die Anpassungsmaßnahmen, die vorgenommen werden – Zinssenkung, Verlängerung der Laufzeit von Krediten, Verwendung der Gewinne aus den Sekundärmarktaufkäufen der Europäischen Zentralbank –, schon auch Geld kosten. Das ist auch kein Geheimnis, und daraus haben wir nie ein Geheimnis gemacht. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Doch!) Das sind Mindereinnahmen im Bundeshaushalt. (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Die müssen an anderer Stelle kompensiert werden!) Ich wundere mich schon, dass manchmal gerade diejenigen, die dies jetzt beklagen, die Gleichen sind, die uns früher vorgeworfen haben, an den Zinseinnahmen, beispielsweise aus den Hilfen an Griechenland, auch noch zu verdienen. (Rainer Brüderle [FDP]: Eben!) So ein Verhalten ist schon ein bisschen pharisäerhaft. Das muss man einmal deutlich zum Ausdruck bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das alles entbindet uns nicht davon, den Druck auf Griechenland und auch auf die anderen Krisenländer aufrechtzuerhalten. Deshalb ist jede Diskussion über einen Schuldenerlass alles andere als hilfreich. Ein Schuldenerlass ist rechtlich nicht möglich; das ist hier auch schon mehrfach gesagt worden. Er ist bzw. wäre das falsche Signal an Griechenland, aber auch das falsche Signal an jedes andere Krisenland in Europa; denn in dem Moment, in dem ein Erlass von Schulden öffentlich in Aussicht gestellt wird, entweicht doch jeder Druck. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal dem Brüderle! Er hat das doch gesagt!) Dann ist kein Druck mehr da, die Haushalte zu konsolidieren und Reformen voranzubringen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Deshalb bleibt gar nichts anderes übrig, als diesen Kurs, den wir eingeschlagen haben, (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Welchen Kurs?) in dem Sinne fortzuführen: Wir zeigen Solidarität in -Europa. Wir sind solidarisch. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist ein Brummkreisel, aber kein Kurs!) Wir helfen den betroffenen Ländern, um Zeit zu gewinnen, aber nicht Zeit dafür, um den Schlendrian früherer Jahre fortzusetzen, sondern dafür, die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen, ihre Haushalte zu konsolidieren, mit dem Ziel, dass jedes einzelne europäische Land wettbewerbsfähig wird. Das wird zum Wohle nicht nur dieses einzelnen europäischen Landes sein, sondern ganz Europas. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist stets ein besonderes Vergnügen, nach Ihnen, liebe Frau Kollegin Hasselfeldt, sprechen zu dürfen. Aber es ist kein Vergnügen, Ihnen immer wieder dabei zuschauen zu müssen, wie Sie hier die Unschuld vom Lande mimen, wie Sie tricksen, tarnen und täuschen. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Schäuble wirft nur Nebelkerzen. Er erklärt den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt nichts. Herr Kauder und die anderen Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP formulieren neue Dogmen darüber, was garantiert nicht passiert. (Otto Fricke [FDP]: Da kann man wieder einmal nur Rot sehen!) Und wir wissen doch: Es passiert immer genau das, was Sie vorher striktamente ablehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Das wäre alles nicht so schlimm, wenn es nicht maßgeblich der Grund dafür wäre, dass viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land unseren Entscheidungen mit Skepsis und mit Ablehnung begegnen. (Zuruf von der LINKEN: Recht haben sie!) Damit müssen wir umgehen. Es ist immer wieder wichtig, den Bürgerinnen und Bürgern Folgendes zu erklären: Wir stimmen heute Morgen hier im Bundestag nicht über Lohn- und Rentenkürzungen ab, die Hunderttausende von Griechen in die Armut getrieben haben. Wir stimmen heute Morgen im Bundestag auch nicht darüber ab, dass Arbeitnehmerrechte und Gesundheitsleistungen in Griechenland massiv beschnitten worden sind. Wir stimmen heute Morgen auch nicht darüber ab, dass eine Politik der Rezession vor allem junge Menschen in die Massenarbeitslosigkeit getrieben hat. Darüber entscheiden wir heute Morgen nicht. Aber wir stimmen heute darüber ab, ob die immer wieder gestellte Forderung der Sozialdemokratie und der Grünen eine Chance erhält, nämlich dass Griechenland Luft zum Atmen bekommt, dass Griechenland mehr Zeit erhält: Zeit für die notwendigen Strukturreformen, Zeit, um das Land zu reformieren. Dass das, worauf sich die EU-Finanzminister geeinigt haben, unseren Erwartungen nicht vollumfänglich entspricht, ist klar. Da gibt es vieles zu kritisieren. Da ist auch manches überhaupt nicht schlüssig. Es paart sich, wie gesagt, immer mit Ihrem kläglichen Versuch, die Dinge schöner zu machen, als sie tatsächlich sind, oder Dinge strikt abzulehnen, die dann doch irgendwann einmal kommen werden. Aber diese Entscheidung heute ist die Voraussetzung dafür, dass die Demokratie und auch der Staat Griechenland nicht weiter gefährdet wird. Diejenigen von uns, die einmal in Griechenland waren, wissen, wie dramatisch die Verhältnisse dort und wie hoffnungslos viele Menschen sind. Davor dürfen wir auch hier im Deutschen Bundestag nicht die Augen verschließen. (Beifall bei der SPD) Ich fände es gut, wenn wir immer wieder daran erinnern, dass die Krise viele Gesichter und viele Schicksale hat. Da ist nicht allein der milliardenschwere Reeder, der sein Geld in die Schweiz transferiert oder hier in Berlin am Immobilienmarkt investiert. Es sind gerade die jungen Menschen, die von schmerzhaften Einschnitten am allerhärtesten betroffen sind. Ich höre immer wieder, Griechenland sei ein Fass ohne Boden. Dieser Satz strotzt nur so vor Verachtung vor den Einzelschicksalen. Insofern wäre es wichtig, dass wir ein deutliches Zeichen der Hoffnung setzen, dass die Menschen spüren, am Ende eines langen Tunnels gibt es auch wieder Licht. Wir in Deutschland haben vor vielen Jahrzehnten einmal einen großen Vertrauensvorschuss geschenkt bekommen. Es wäre gut, wenn wir diesen Vertrauensvorschuss auch den Griechinnen und Griechen gewähren. Für die Sozialdemokratie in Deutschland und in Europa ist Europa – das haben wir immer wieder deutlich gemacht – keine Frage der Taktik, es ist eine Frage der Haltung. Deswegen werden wir trotz Ihrer Politik heute die Zustimmung zur Griechenland-Hilfe erteilen. (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Otto Fricke ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Otto Fricke (FDP): Geschätzter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede mit einer grundlegenden Frage beginnen. Die Frage ist, warum es – übrigens uns allen, allen Fraktionen und auch der Mehrheit der Bürger in unserem Land – so schwerfällt, mit dem Thema der Staatsverschuldung in Europa und mit der Frage umzugehen, was wir da machen müssen und was der eigentliche Grund dafür ist. Seien wir doch ehrlich, es trifft doch alle. Es begegnet uns in allen unseren Gesprächen. Alle sagen: „Ja, Europa, das weiß ich, ist unsere Zukunft, das brauchen wir, das müssen wir machen.“ Aber alle sagen auch: „Warum muss ich es jetzt sein, warum muss das so oder so laufen?“ Der Ursprungsfehler liegt nach meiner Meinung in der Tatsache, dass wir immer gesagt haben, dass Europa uns – bildlich gesprochen – den Himmel bringen wird. Wenn wir Europa hätten, wäre alles schön. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wer hat denn das gesagt, Herr Fricke?) Was wir vergessen haben, ist, dass Europa eine ganz andere Aufgabe hat, nämlich die Aufgabe, dass wir es über Europa schaffen, uns Europäer vor all den schlimmen Dingen zu schützen, die uns ökonomisch, in unserer soziokulturellen Existenz, in unserem wahren Leben gegenübergetreten sind, und davor zu schützen, dass es Einschnitte gibt. Zu dieser Tatsache gehört das Doppelspiel, dass Europa uns wahnsinnig viel Freiheit gegeben hat: nicht nur die berühmte Reisefreiheit, nicht nur die Möglichkeiten der Bildung und des freien Warenverkehrs, sondern auch die Freiheit, uns unsere Selbstverwirklichung so zu gestalten, wie wir es uns als Europäer vorstellen. Es hat uns aber auch Verantwortung gebracht, dieses immer wieder zu schützen, die Werte Europas zu schützen, die europäische Familie in ihrer Existenz zu schützen. Wie man das nun macht, darüber streiten wir. Was dabei der richtige Weg ist, darüber diskutieren wir. Ich will ganz klar und deutlich sagen: Dabei machen alle Seiten hier Lernprozesse durch. Diese Lernprozesse werden wir immer wieder machen. Das muss man den Bürgern klar sagen, und dessen muss man sich auch bewusst sein: Die europäische Schuldenkrise und Europa selbst sind nicht etwas, wo ich einen Hebel umlegen kann und alles ist gut. Es ist zum Glück auch nicht mehr etwas, wo ich einen Hebel umlege und alles ist schlecht. Europa wird für uns ständige Diskussionen, ständige Arbeit und ständiges Abwägen bedeuten. Dabei tun wir uns alle nicht leicht, und wir werden heute einen weiteren Schritt machen, der vielen nicht leichtfällt, den aber viele nach Abwägung und Vorlegung der Daten und Fakten so beschließen – nicht mit großer Freude, sondern mit großer Verantwortung. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den ihr letzte Woche noch geleugnet habt!) Meine Damen und Herren, wir müssen auch die Fehler sehen, die wir in der Diskussion machen. Bleiben wir bei dem Bild der europäischen Familie. Wenn ein Familienmitglied zu demjenigen, der finanziell etwas besser dasteht, kommt und sagt: „Ich habe Schulden und will davon wegkommen“, dann sagt man doch – so kennen wir das auch im Privatleben, wenn wir jemandem aus der Familie helfen –: Ich bin bereit, dir zu helfen. – Wir sagen aber auf gar keinen Fall: Es ist schlimm, dass du Schulden hast. Wir werden sie dir erlassen; dann ist alles wunderbar. – Nein, wir erwarten Veränderungen, und diese Veränderungen sind Teil aller Schritte, die wir machen. Deswegen sage ich ganz bewusst: Nichts zu geben ist genauso falsch wie alles zu geben. Zu diesem Schluss komme ich, wenn ich von einem europäischen Familienmitglied erwarte, dass es sich ändert und wieder auf den Pfad der Tugend zurückkehrt. Es reicht nicht, seitens der Opposition als einzigen Vorwurf vorzubringen: Sie sagen ja gar nicht, was passiert. Sie verheimlichen, dass es einen Schaden geben wird. Sie müssen uns sagen, wie der Schaden aussehen wird. In Richtung Rot und Grün sage ich deutlich: Der Schaden ist in dem Moment aufgetreten, als Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen worden ist, ohne die Bedingungen wirklich zu erfüllen. Mit dieser Entscheidung ist der Schaden in den Bilanzen Europas existent. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Es nützt jetzt aber nichts, von Schuld und Sühne zu sprechen, und es nützt auch nichts, darauf hinzuweisen, dass es sich noch dadurch verschärft hat, dass selbst Deutschland unter Rot-Grün die Maastricht-Kriterien nicht erfüllt hat. Vielmehr ist jetzt die Aufgabe, diesen Schaden zu minimieren: für unsere Rentner, für unsere Lebensversicherten und für unseren Mittelstand. Das ist die Aufgabe, die wir im Moment haben. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hätten Sie früher anfangen müssen!) Das werden wir auch schaffen, in Freiheit für Europa und in Verantwortung des starken Deutschlands für das gegenwärtig schwache Griechenland, aber auch in Erwartung einer Eigenverantwortung Griechenlands. Deswegen wird die weit überwiegende Mehrheit meiner Fraktion dieser Vorlage zustimmen. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Norbert Barthle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stimmen heute über die Anpassung des Griechenland-II-Programms unter dem EFSF ab. Ich halte noch einmal fest: Das Programmvolumen bleibt bestehen. Die wesentlichen Eckdaten bleiben bestehen. Das Garantievolumen für Deutschland erhöht sich dadurch nicht. Es geht um die Auszahlung von drei für 2012 vorgesehenen und zusammengefassten Tranchen mit einem Volumen von 43,7 Milliarden Euro, die Bestandteil des Programms sind. Das Programm umfasst 164 Milliarden Euro. Gut die Hälfte davon, 78 Milliarden Euro, ist schon ausgezahlt worden. Jetzt kommen drei weitere Tranchen, die dann freigegeben werden, wenn es uns in vier Wochen erneut vorgelegt wird. – So viel noch einmal für die Herren Trittin und Steinbrück zum Mitschreiben. Zweitens. Wir haben innerhalb dieses Programms Veränderungen vorgenommen. Die Prognosen der Troika reichen bis 2022. Dass man daran Zweifel haben kann, ist unbestritten. Auch die Troika verfügt nicht über hellseherische Fähigkeiten, um exakt vorauszusagen, was bis 2022 passiert. Viele von uns haben Zweifel daran, gar keine Frage. Das ist auch in Ordnung. Man kann kritisch nachfragen. Nicht ganz in Ordnung ist es aber aus meiner Sicht, wenn man all die Unterlagen, die wir bekommen, die dicken Berichte der Troika, die man lesen kann und in denen man viele Daten, Fakten und Zahlen findet, ignoriert und dann hier sagt: Das ist ohnehin alles umsonst. Da ist Hopfen und Malz verloren. Das ist ein Fass ohne Boden. Das hilft alles nicht. (Bettina Hagedorn [SPD]: Wer sagt denn das?) Das geht nicht, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Denn das ist eine Missachtung dessen, was bisher geleistet worden ist, auch von Griechenland. Lassen Sie mich noch einmal kurz die wesentlichen Fakten erläutern. Griechenland hat sein Haushaltsdefizit in den letzten zweieinhalb Jahren um zwei Drittel abgebaut. Dafür wurden die Löhne im öffentlichen Sektor gekürzt. Es wurde bei Sozialausgaben und Renten eingespart. Es gab deutliche Steuererhöhungen. In der Rente, im Gesundheitssystem und auf dem Arbeitsmarkt wurden Strukturreformen vorgenommen, die die Verkrustungen zumindest langsam aufzulösen beginnen. Die Personalausgaben wurden um 23 Prozent und die Sozialausgaben um 26 Prozent reduziert. Die Rente wurde um 7 Prozent reduziert. Meine Damen und Herren, ab dem 1. Januar 2013 – das ist nicht mehr weit weg – gilt in Griechenland ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Stellen Sie sich einmal vor, was in Deutschland passieren würde, wenn wir das Renteneintrittsalter innerhalb eines Jahres in diesem Maße erhöhen würden. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass einiges geschieht. Das gebietet der Respekt vor dem griechischen Volk. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Wettbewerbsfähigkeit wurde verbessert. Die Lohnstückkosten gingen um 10 Prozent zurück. Das Leistungsbilanzdefizit Griechenlands wurde deutlich abgesenkt. Also, wir tun gut daran, das anzuerkennen. Würden wir dieselben Sparanstrengungen, die Griechenland bereits bis 2016 beschlossen hat – eine Reduzierung der Ausgaben um 20 Prozent –, auf Deutschland übertragen, dann müssten wir unsere Ausgaben um 60 Milliarden Euro reduzieren. Man kann sich vorstellen, was das bedeuten würde. Deshalb Respekt und Anerkennung vor dem, was dort geleistet wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass es für den Bundeshaushalt Belastungen gibt, ist unbestritten. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!) Erstmals machen sich die Auswirkungen der Kredite für Griechenland im Bundeshaushalt bemerkbar. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letztes Mal hast du uns noch gemaßregelt!) Nur, meine Damen und Herren, wir reduzieren die Gewinne, die die KfW mit den Krediten für Griechenland erzielt. Ich muss nicht unbedingt die moralische Keule schwingen, um sagen zu dürfen: Ich halte es für angemessen, wenn man in dieser Situation die Gewinne, die wir erzielen, um 130 Millionen Euro reduziert. Dann stehen noch die 599 Millionen Euro zur Debatte, die aus dem SMP resultieren sollen. Darüber, meine Damen und Herren, können wir nicht befinden. Darüber entscheidet ganz allein die unabhängige Europäische Zentralbank bzw. die unabhängige Deutsche Bundesbank. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir zahlen es auf jeden Fall!) Wie hoch der an uns abgeführte Bundesbankgewinn im März des kommenden Jahres letztlich sein wird, wissen wir noch nicht. Es könnte durchaus sein, dass sich dieser Betrag wieder amortisiert. Da müssen wir abwarten. Ich stelle fest: Das, was wir bisher auf europäischer Ebene gemacht haben – das war die Politik und die klare Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble –, nämlich den -Fiskalvertrag durchzusetzen, die Schuldenbremse durchzusetzen, Finanzmarktreformen durchzusetzen, eine institutionelle Vertiefung der EU durchzusetzen, ist der richtige Weg in die Zukunft unserer Europäischen Union. Was hören wir von der Opposition? Herr Trittin redet wieder von einer Art Schuldentilgung. Er will die Schulden einfach beschneiden. Von der SPD hören wir, es gebe Uneinigkeit innerhalb der Regierung. Der eine redet von Schleiertanz, der andere von Eiertanz. Vielleicht können Sie sich einigen, um welchen Tanz es sich tatsächlich handelt. Ich habe eher den Eindruck, dass in den Reihen der SPD ein großer Eiertanz vollführt wird: Einmal enthalten Sie sich, dann stimmen Sie wieder zu, dann wissen Sie nicht, ob Sie zustimmen sollen. Jetzt stimmen Sie zu. Gott sei Dank haben Sie sich berappelt. Auch dafür meine Anerkennung. Wenn ich die Reden der Opposition höre, kann ich aber keinen Hinweis erkennen, dass es sowohl für Griechenland als auch für Europa als auch für Deutschland besser wäre, wenn Sie regieren würden. Hier habe ich keine Hinweise erkannt. Wir machen den Weg frei für die weitere Konsolidierung, für die Zukunft Griechenlands, für eine gute Zukunft Europas. Zeigen Sie Herz und Verstand! Stimmen Sie diesem Antrag zu! Dann tun Sie etwas Gutes für -Europa, für Griechenland und für Deutschland! Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von der FDP-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Frank Schäffler (FDP): Herr Präsident! Bei der Frage, die wir heute diskutieren, geht es auch um die Situation Griechenlands; das ist ganz klar. Es ist sehr einschneidend, was in Griechenland passiert. Es geht aber aus meiner Sicht um viel mehr. Es geht um die Frage: Welches Europa wollen wir? (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen Ihr eigenes!) Der heutige Finanzminister hat 1996 ein Buch geschrieben mit dem Titel „Und der Zukunft zugewandt“. Zur Rolle Deutschlands in Europa hat er formuliert: „Wir müssen uns davor hüten, als Besserwisser und Moralerzieher aufzutreten.“ Ich glaube, genau um dieses Spannungsfeld geht es. Es stellt sich jetzt die Frage in -Europa: Welches Europa wollen wir? Wollen wir ein -Europa der 17? Wollen wir ein Europa der 27? Oder wollen wir ein Europa der 50? Das ist die Frage, um die es jetzt geht. Das Europa der 17 führt am Ende, wie die aktuelle Entwicklung zeigt, dazu, dass es sich abschottet, dass es einen eigenen Weg geht, dass es die anderen am Katzentisch sitzen lässt. Das ist ein anderes Europa als das -Europa, das die Gründungsväter nach dem Krieg aufgebaut haben. Wir erleben in Europa, dass einige Länder schon nicht mehr dabei sind oder an den Katzentisch gedrängt werden. Schauen Sie sich England an. England zieht sich sukzessive aus dem Integrationsprozess in Europa zurück. Die Schweiz liegt mitten in Europa und ist ein Beispiel für ein föderales Europa. Tschechien und Polen gehören ebenfalls zu Europa. Sie sind Teil unserer langen Geschichte. Es sind viele Länder in Europa, die nicht am Euro partizipieren und beim Euro nicht mitmachen. Dies alles belegt, um welche Kernfrage es geht, nämlich um die Frage: Welches Europa wollen wir? An dieser Stelle möchte ich noch einmal den Finanzminister zitieren. Der Finanzminister hat in seinem Buch Lord Ralf Dahrendorf zitiert: Kein zentralistisches, sondern ein föderal aufgebautes Europa, organisiert nach dem Prinzip der Vielfalt, wird das Europa der Zukunft sein. Genau um diese Frage geht es. Ich glaube, Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn es föderal und vielfältig aufgebaut wird und wenn es sich nicht auf wenige Staaten konzentriert, die ein anderes Europa wollen als der Rest. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort Klaus-Peter Willsch von der CDU/CSU-Fraktion. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich danke meiner Fraktion dafür, dass ich als Vertreter einer Mindermeinung in der Fraktion gleichwohl heute im Rahmen ihres Zeitkontingents vortragen kann. Ich will beginnen mit einem Zitat: Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ausgerechnet die erfolgreichste europäische Zentralbank nach dem Zweiten Weltkrieg – die Bundesbank – in -Europa einmal in eine absolute Minderheitenposition geraten würde. Lange galt die Bundesbank als Leitbild für erfolgreiche Geldpolitik. Und darauf baut die heutige Währungsunion auf! Eine solche Institution nun so ins Abseits zu stellen und Positionen, die ihr jetziger Präsident vertritt, in Europa beinahe lächerlich zu machen – dass all das möglich ist, bedrückt mich sehr und ist kein gutes Zeichen für die Zukunft. Wir erleben einen Paradigmenwechsel. Das hat am 11. Oktober Professor Jürgen Stark gesagt. Das ist einer der Gründerväter des Euro, einer der Kon-strukteure des Euro, Sherpa und Staatssekretär im -Finanzministerium und später Chefvolkswirt der EZB. Warum sage ich das? Weil ich in der Tat Sorge habe um unsere Konstruktion einer unabhängigen Zentralbank sowohl auf der europäischen als auch auf der deutschen Ebene. Wenn ich sehe, dass umstandslos entsprechendes Handeln dieser unabhängigen Institutionen auf den Tagungen der Finanzminister in der Euro-Gruppe vorausgesetzt wird, dass einfach vorausgesetzt wird, dass Restgrößen durch die EZB durch Anleihekäufe oder ELA-Geschäfte mit Griechenland gedeckt werden, dass einfach vorausgesetzt wird, dass die Bundesbank Gewinne – vermeintliche oder tatsächliche – aus Sekundärmarktprogrammen weiterreichen wird, damit sie an Griechenland gezahlt werden können, dann muss ich sagen: Das ist nicht das, was ich unter Unabhängigkeit der Notenbanken verstehe. Es wird häufig – so auch heute wieder – denen, die der Rettungsschirmpolitik kritisch gegenüberstehen, vorgeworfen, sie würden mit zu hohem Einsatz spielen, und es sei unabsehbar, was danach folge. Natürlich ist es möglich, dass Länder aus einer Währungsunion ausscheiden. Dass ein Land aus der Währungsunion ausscheidet, führt nicht automatisch zu Armageddon. Wir haben das zuletzt praktisch erlebt bei der Auflösung der Währungsunion von der Tschechei und der Slowakei. Nachdem sich das Land nach einer Volksabstimmung in zwei Länder geteilt hatte, hatte man zunächst versucht, an der gemeinsamen Krone festzuhalten. Aber relativ schnell nach der staatlichen Unabhängigkeit ist man zu separaten Währungen übergegangen, weil es Wettbewerbsfähigkeitsdisparitäten gab. Im Übrigen ist für eine Vielzahl von Staatsinsolvenzen in der Nachkriegszeit genau aufgezeichnet worden, wie es funktioniert; denken Sie nur an die Arbeiten von Rogoff und Reinhart. Der Pariser Club und der Londoner Club sind angesprochen worden; der IWF kommt hinzu. Programme werden verhandelt, ein Moratorium wird erklärt, Quoten werden ausgehandelt. Das hat den Vorteil, dass alle Gläubiger am Tisch sitzen und die Schulden nicht auf staatliche Institutionen übertragen werden. Das hat in vielen Fällen funktioniert: Türkei, Polen, Russland. Ich könnte noch mehr Fälle aufzählen; das will ich Ihnen aber ersparen. Jedenfalls funktioniert es. Es ist keinesfalls so, dass der Weltuntergang droht, wenn man diesen Weg beschreitet. Der Euro-Raum ist nicht gleich Europa. Keiner stellt das kolossale Friedensprojekt, das Einigungsprojekt des gemeinsamen Europas infrage. Keiner stellt die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen dieses großen gemeinsamen Europas mit den vier Freiheiten infrage. Auch Solidarität gehört dazu. Aber der Euro-Währungsraum war nie als solidarisches, sondern als währungstechnisches Projekt gedacht. Wenn es dann nicht funktioniert, muss man auch offen sein für Änderungen dieses Währungsraumes; sonst führt der Weg zwangsläufig in eine Transferunion, die wir alle nie wollten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Nur wer für die Folgen des eigenen Tuns haftet, wird auf Dauer verantwortungsvoll handeln. Übergroße Solidarität – und zwar in Bereichen, für die sie nie gedacht war – macht träge und generiert Mitnahmeeffekte. Das kennen wir aus der Sozialpolitik, aber leider auch – ich komme aus Hessen – aus dem Länderfinanzausgleich. Deshalb lautet mein Appell ganz klar: Lassen Sie uns diese Politik beenden! Ich will zum Schluss kommen. Heute Morgen habe ich in der Financial Times Deutschland gelesen, dass Herr Juncker Helmut Kohl aus der Erinnerung zitiert: Von Helmut Kohl habe ich den Satz behalten: Was im Privatleben richtig ist, ist im zwischenstaatlichen Leben nicht falsch. Das kann ich nur nachhaltig unterstreichen. Wir alle wissen aus dem Privatleben, dass man zu hohe Schulden nicht mit immer neuen Schulden bekämpfen kann. Wir wissen aus dem Privatleben, dass man schlechtem Geld kein gutes hinterherwirft. Lassen Sie uns diesen Weg heute hier beenden! Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter Redner in dieser Aussprache hat jetzt das Wort der Kollege Gunther Krichbaum von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich respektiere absolut die Meinung anderer und insbesondere derer, die heute diesem Antrag vielleicht nicht zustimmen können. Ich habe den Kollegen, die unmittelbar vor mir gesprochen haben, sorgfältig zugehört. Ich muss Ihnen sagen: Heute steht sehr viel auf dem Spiel, und zwar viel mehr, als manchem möglicherweise bewusst ist. In Wahrheit entscheiden wir darüber, wie es bei uns in der Euro-Zone und in Europa weitergeht. Riskieren wir ein Auseinanderbrechen, oder gehen wir den Weg weiter, den wir bereits entschlossen eingeschlagen haben? Mein ausdrücklicher Dank gilt Ihnen, Herr Finanzminister Schäuble, und der Bundesregierung für die guten Verhandlungen. Wir sollten eines nicht in Abrede stellen: Wir hatten Griechenland zuvor bereits Bedingungen – Prior Actions, wie es technisch heißt – gestellt, 71 an der Zahl, bevor es jetzt zu diesem Abschluss kam. Sämtliche Bedingungen wurden erfüllt. Es wäre geradezu abwegig und unredlich, wenn man sich jetzt nicht auch in Verantwortung üben wollte und dem heutigen Antrag zustimmte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Griechenland hat die Bedingungen erfüllt. Die Erfolge, die sich zwischenzeitlich bereits eingestellt haben, sollten wir nicht in Abrede stellen. Gestern habe ich im Deutschlandfunk ein Interview des heute bereits erwähnten Herrn Professor Sinn verfolgt, das an Arroganz nicht mehr zu überbieten ist. (Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]) Denn es geht einfach nicht, dass alles und jedes in den Boden gestampft wird und man überhaupt nicht mehr davon Notiz nimmt, was sich in dem Land getan hat und weiterhin tun wird. Der Euro ist eine stabile Währung; er bleibt eine stabile Währung. An nichts anderem können wir das besser ablesen als am Außenwert dieser Währung im Verhältnis zum Dollar; dieser Wert ist nach wie vor stabil. Wir müssen auch unterstreichen, dass wir, vor allem unsere deutsche Wirtschaft, stark vom Euro profitieren. Es gehört an einem solchen Tag auch dazu, festzuhalten: Wenn wir in Deutschland das Zinsniveau der letzten Jahre beibehalten hätten und wir uns weiterhin zu diesem Zins hätten rekapitalisieren müssen, dann hätten wir Jahr für Jahr 15 Milliarden bis 17 Milliarden Euro mehr zahlen müssen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Das heißt, die Turbulenzen sind im Augenblick dafür verantwortlich, dass unsere Haushalte an dieser Stelle entlastet werden. Deswegen halte ich es für nicht ganz daneben, etwas zurückzugeben. Wir schaffen mehr Stabilität für die Euro-Zone, aber gerade auch für uns. Ich möchte noch einmal kurz die deutsche Wirtschaft beleuchten. Ich glaube, es reicht nicht, wenn allein die Bundesregierung oder wir Parlamentarier davon reden, was uns der Euro gebracht hat. In früheren Zeiten, bevor wir den Euro hatten, war es so, dass Abwertungen ständig unsere deutsche Wirtschaft, die exportorientiert aufgestellt ist, unter Druck gesetzt haben. Das bedeutet, über Nacht wurden unsere Produkte um den Faktor der Abwertung teurer; damit wurden unsere Chancen und unsere Wettbewerbsfähigkeit beschränkt. Das ist nicht mehr der Fall. Deswegen wünsche ich mir, dass gerade in den Unternehmen deutlicher kommuniziert wird, wie sehr jeder einzelne Arbeitsplatz davon abhängt. Die Situation in Europa und in der Euro-Zone ist natürlich nach wie vor schwierig. Ja, es ist auch wahr, dass der Weg, der vor uns liegt, steinig ist. Aber wir werden ihn gemeinsam gehen, weil wir nur gemeinsam von einem geeinten Europa profitieren können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die jetzigen Entwicklungen können uns allesamt nicht egal sein. Es geht darum, Vertrauen herzustellen und zurückzugewinnen, Vertrauen zwischen uns in Europa, aber auch in Europa; denn genau daran wird aktuell stark gezweifelt. Herr Bundesminister Schäuble, es ist ein Erfolg der Verhandlungen, dass die Troika bestehen bleibt; denn so mancher in der Welt fragt sich, was denn der IWF in Europa verloren hat, der normalerweise in ganz anderen Teilen dieser Welt agiert. Auch das ist ein Erfolg. Wir sollten ihn dadurch honorieren, dass wir dem heutigen Antrag zustimmen und damit ein gutes, vertrauensbildendes Signal nach Europa senden. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zu der Regierungserklärung. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11706? Ich bitte um Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag des Bundesministeriums der Finanzen einschließlich der Anlagen auf Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649 und 17/11669 mit dem Titel „Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages“. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zu der Abstimmung liegen zahlreiche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1 Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze eingenommen? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Karten einzuwerfen. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Dann schließe ich den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen nach der Auszählung bekannt gegeben.2 Wir setzen die Abstimmung fort und kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 17/11731? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD und Zustimmung der Grünen. Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen – Drucksachen 17/3685, 17/9587 – Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Edgar Franke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Heinz Lanfermann von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) Heinz Lanfermann (FDP): Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Mit Ihrem Antrag zeichnen Sie uns hier ein ganz finsteres Bild eines Korruptionssumpfes, in dem sich die gesamte Ärzteschaft die Taschen füllt, Abrechnungsbetrug auf der Tagesordnung steht, Fangprämien und Schmiergeldzahlungen gang und gäbe sein sollen und damit lebensgefährliche Beeinträchtigungen der Patienten wohlwissend in Kauf genommen werden. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lanfermann, das ist unter aller Kanone!) Damit verunglimpfen Sie einen in der Bevölkerung äußerst angesehenen Berufsstand, und das – das wird deutlich, wenn man es sich genau anschaut – eigentlich allein aufgrund von Vermutungen, unbewiesenen Schlussfolgerungen und Pauschalierungen. (Elke Ferner [SPD]: Mann!) Was fehlt, ist, was man bei solch schwerem Geschütz erwarten sollte, eine konkrete Darstellung von Fakten, Entwicklungen, Zahlen, Statistiken etc. Im Grunde genommen ist das alles absolut unseriös, was im Übrigen gar nicht so schlecht zu Ihrer Gesamthaltung in der Gesundheitspolitik passt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) Darüber hinaus vermischen Sie völlig undifferenziert tatsächlich korrupte Handlungsweisen mit Streitfragen zwischen Krankenhäusern und Kassen, zum Beispiel über die richtige Abrechnungsmethode. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt mal!) Sie scheinen kein Interesse daran zu haben, zu fragen, ob ein Tatbestand kompliziert ist, ob eine Berechnungssystematik vielleicht anfällig für Fehler ist oder ob es zumindest unterschiedliche Interpretationen gibt, über die man einmal in Ruhe nachdenken und diskutieren sollte. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, dass eine seriöse gesundheitspolitische Debatte Ihres Antrags wirklich nicht bedarf. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zumindest ein Gefühl des Unbehagens, wenn nicht mehr, haben wir bei den Fraktionen der Grünen und der Linken bemerkt, die sich im Ausschuss bei der Abstimmung über diesen Antrag enthalten haben. Gott sei Dank sieht die Realität in unserem Gesundheitswesen völlig anders aus als von Ihnen beschrieben. Wir haben in Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme in der ganzen Welt. Natürlich gibt es auch Kritikwürdiges. Aber das ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. (Elke Ferner [SPD]: Die Ausnahmen sind aber ganz schön teuer!) Um es Ihnen noch einmal zu erklären: Die Ausnahmen bestätigen die Regel, gerade weil es so wenige sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Trotz der begrenzten Mittel zur Finanzierung sind die Leistungsfähigkeit, der Versorgungsumfang und die Qualität des Gesundheitssystems unverändert Spitzenklasse. Das liegt vor allem daran, dass sich die Ärzte im besten hippokratischen Sinne um das Wohl ihrer Patienten kümmern. Trotz mancher als Unbill empfundener Maßnahmen oder schlecht organisierter Abläufe – sei es die Honorardeckelung, seien es die Pauschalvergütungen oder entsprechende Arbeits- und Bürokratieaufwände in den Praxen oder in Krankenhäusern oder Probleme bei den Hausbesuchen – tun sie ihre Arbeit. Natürlich beschweren sie sich auch einmal und sagen: Das könnte man alles besser machen. – Trotzdem tun sie ihre Arbeit auch in den Fällen, bei denen sie genau wissen, dass sie für diese konkrete Behandlung bei dem herrschenden System gar kein Honorar bekommen, sondern quasi umsonst arbeiten. (Beifall bei der FDP) Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es gibt keine Berufsgruppe ohne schwarze Schafe. (Elke Ferner [SPD]: Deshalb macht man dann auch nichts, oder?) Es geht auch nicht darum, irgendwelche Menschen oder Gruppen pauschal zu verteidigen. Wir sind uns alle einig: Missbrauch, Betrug und Korruption müssen in allen Bereichen bekämpft werden; sie können nicht geduldet werden. (Elke Ferner [SPD]: Warum tun Sie dann nichts?) Wir müssen aber auch sehen, dass es entgegen mancher Behauptung von Ihnen Instrumente gibt. Im Sozialrecht, im § 128 SGB V, gibt es Regelungen, die (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der gilt ausdrücklich nicht für Ärzte!) empfindliche Maßnahmen bei Fehlverhalten vorsehen, es gibt das Berufsrecht der Ärzte, das natürlich Bestechlichkeit verbietet. Bei Verstößen drohen – das wissen Sie ganz genau – berufsrechtliche Konsequenzen bis hin zum Verlust der Approbation. (Elke Ferner [SPD]: Und was passiert im Berufsrecht? Wie viele Approbationsentzüge sind denn beschlossen worden?) Natürlich gibt es menschliche Unzulänglichkeiten – überall. Natürlich gibt es auch Vollzugsdefizite. Das hat noch nie irgendjemand bestritten. Es sind allerdings auch Instrumente geschaffen worden. Zum Beispiel haben – darüber haben wir im Gesundheitsausschuss vor kurzem im Rahmen eines Expertengesprächs diskutiert – die Kassen, ihr Spitzenverband und die Verbände der Ärzteschaft schon vor Jahren die Antikorruptionsstellen eingerichtet. Wenn Sie konkrete Vorschläge dazu haben, wie sie besser arbeiten könnten oder was man am System verbessern kann, dann legen Sie diese bitte vor, statt – wie hier – wieder pauschale Verdächtigungen auszusprechen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Wer regiert denn? Sie oder wir?) Die zweite große Forderung betrifft die behaupteten Falschabrechnungen in Krankenhäusern – ein beliebtes Thema. Das fängt schon damit an, dass immer alle Zahlen nach dem Motto durcheinandergeworfen werden: Jede dritte Abrechnung ist falsch. – Ja, von den geprüften Abrechnungen. Wenn man dann aber schaut, wie viele Abrechnungen überhaupt geprüft werden, dann werden aus dem einen Drittel rund 4 bis 5 Prozent. Das ist schon etwas anderes, das sollten Sie auch so sagen. (Elke Ferner [SPD]: Sie können das doch nicht relativieren, Herr Lanfermann!) Was heißt im Übrigen falsch? Was meinen Sie damit? Heißt falsch, dass das inkorrekt ist? Heißt falsch, dass das Betrug ist? Oder ist es nicht so, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber geben kann, wie zum Beispiel Vorschriften auszulegen sind? Ist es nicht so, dass es auch sogenannte falsche Zahlen gibt, die auch deswegen angeblich falsch sind, weil dahinter unterschiedliche Indikationen stehen: die eine, die der Arzt im Krankenhaus tatsächlich gestellt hat, und die andere, die der Prüfer der Kasse rückblickend für richtig hält? Das kann ich nicht entscheiden. Wenn Sie aber einen Vorschlag für eine bessere Systematik haben, dann legen Sie ihn vor. Natürlich sind in diesem Fall beide Seiten aufgerufen, selbst im besten Sinne der von uns hochgeschätzten Selbstverwaltung Vorschläge dahin gehend zu machen, wie man diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen in Einklang bringen kann. Meine Damen und Herren, einer Berufsgruppe pauschal solche Neigungen zu unterstellen, wie Sie das tun, ist – ich wiederhole es – einfach unseriös. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war am eigentlichen Thema vorbeigeredet!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Anpassungsprogramm für Griechenland bekannt: abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 473, mit Nein haben gestimmt 100, Enthaltungen 11. Der Antrag ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 584; davon ja: 473 nein: 100 enthalten: 11 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Elisabeth Winkelmeier-Becker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Gabriele Groneberg Michael Groß Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Wolfgang Hellmich Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Thomas Oppermann Aydan Özo?uz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Karin Roth (Esslingen) Michael Roth (Heringen) Annette Sawade Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Ulla Schmidt (Aachen) Carsten Schneider (Erfurt) Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer FDP Christian Ahrendt Christine Aschenberg-Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Dr. Christel Happach-Kasan Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Arfst Wagner (Schleswig) Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Veronika Bellmann Wolfgang Bosbach Thomas Dörflinger Alexander Funk Dr. Peter Gauweiler Manfred Kolbe Paul Lehrieder Dr. Carsten Linnemann Thomas Silberhorn Christian Freiherr von Stetten Arnold Vaatz Klaus-Peter Willsch SPD Klaus Barthel Marco Bülow Wolfgang Gunkel Hilde Mattheis Dr. Wilhelm Priesmeier Gerold Reichenbach Dr. Ernst Dieter Rossmann Werner Schieder (Weiden) Ottmar Schreiner Rüdiger Veit Waltraud Wolff (Wolmirstedt) FDP Jens Ackermann Nicole Bracht-Bendt Sylvia Canel Joachim Günther (Plauen) Heinz-Peter Haustein Dr. Lutz Knopek Holger Krestel Lars Lindemann Frank Schäffler Torsten Staffeldt DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Da?delen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Neškovi? Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann Enthalten CDU/CSU Christian Hirte SPD Doris Barnett Dr. Peter Danckert Gabriele Hiller-Ohm Steffen-Claudio Lemme Holger Ortel Stefan Rebmann Ewald Schurer Rolf Schwanitz Dr. Marlies Volkmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele Wir fahren in der Debatte fort. Als nächste Rednerin rufe ich Elke Ferner für die SPD-Fraktion ans Rednerpult. (Beifall bei der SPD) Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Lanfermann, ich hätte wetten können, dass Ihre Rede so ausfällt, wie sie ausgefallen ist. Das entspricht Ihrer Klientelpolitik, die Sie in dieser Wahlperiode gemacht haben. (Zurufe von der FDP: Oh!) Die Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswesen ist längst überfällig. Die gesetzlichen Krankenkassen verlieren durch Korruption, Abrechnungsbetrug und falsche Abrechnungen Jahr für Jahr bis zu 18 Milliarden Euro. Herr Lanfermann, diese Summe als Peanuts abzutun, ist mehr als fahrlässig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was tun Sie von Schwarz-Gelb dagegen? Nichts. Bereits in der letzten Wahlperiode wollten wir etwas gegen die Korruption im Gesundheitswesen tun. Das ist leider an unserem Koalitionspartner CDU/CSU gescheitert. Dennoch finden wir, dass dies auch in dieser Wahl-periode ein Thema sein muss. 18 Milliarden Euro jährlich entsprechen 1,8 Beitragssatzpunkten oder – heruntergerechnet auf den Krankenkassenbeitrag eines Durchschnittsverdieners oder einer Durchschnittsverdienerin – 24 Euro im Monat, die die Versicherten mehr bezahlen als sie müssten, wenn man der Korruption im Gesundheitswesen wirklich den Kampf ansagen würde. Die Korruption im Gesundheitswesen führt also zu einem Schaden der Versichertengemeinschaft. Das Schlimmste aber ist, dass sie manchmal auch zu erheblichen Nachteilen für die betroffenen Patientinnen und Patienten führt. Herr Lanfermann, es ist eine Form der Körperverletzung, wenn ein kranker Mensch nicht die nach medizinischen Kriterien beste Therapie, sondern die Therapie erhält, für die der behandelnde Arzt vom Pharmahersteller das meiste Geld bekommt. (Beifall bei der SPD) Die Korruptionsskandale im Gesundheitswesen sind leider keine Seltenheit, sondern sie gehören mittlerweile fast zur alltäglichen Berichterstattung in der Presse: Fangprämien für Krankenhauseinweisungen, Herzklappenskandal und Ratiopharm-Affäre sind nur drei Beispiele von vielen. Sie wissen genauso gut wie wir, dass der BGH in seinem Urteil vom März dieses Jahres festgestellt hat, dass ein freiberuflicher Arzt wegen Bestechlichkeit nicht strafrechtlich belangt werden kann, weil er weder ein Amtsträger noch ein Beauftragter der Krankenkassen ist. Das ist eine Gesetzeslücke, die wir als Gesetzgeber schließen müssen. Wer das nicht will, der lässt eben auch dauerhaft Korruption im Gesundheitswesen zu. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie sagen, dass es keine Beispiele gibt. Ich möchte Ihnen daher ein paar Beispiele nennen. Erstes Beispiel. In Hamburg mussten aufgrund des BGH-Urteils zur Bestechlichkeit von Ärzten die Ermittlungen gegen ein Pharmaunternehmen eingestellt werden. Die Ermittlungsgruppe von acht Polizisten und einem Steuerfahnder wurde aufgelöst. Die Ankläger hatten dem Unternehmen vorgeworfen, Ärzte für die Verschreibung eines Krebsmedikaments bestochen zu haben. Insgesamt soll das Pharmaunternehmen seit 2006 rund 120 Ärzte und 60 Apotheker mit einer monatlichen Summe zwischen 1 000 und 5 000 Euro bedacht haben, um so den Verkauf des eigenen Medikaments anzukurbeln. Der Marktvorteil, den sich das Unternehmen dadurch verschafft hat, soll im siebenstelligen Bereich liegen. Die Staatsanwaltschaft hätte diesen Betrag gerne eingezogen. Durch das BGH-Urteil war dies leider nicht möglich – und Sie weigern sich, etwas an den Gesetzen zu ändern. (Heinz Lanfermann [FDP]: Mutmaßungen!) In Dresden – das ist das zweite Beispiel – musste ein Verfahren wegen Bestechlichkeit eingestellt werden. In diesem Verfahren ist bundesweit gegen mehr als 50 Krebsärzte ermittelt worden. Das Unternehmen soll Krebsärzten mehrere Hundert Euro pro Patient für die Bevorzugung seiner Produkte gezahlt haben. Laut Staatsanwalt lagen viele Beweismittel, viele Erkenntnisse über Zuwendungen vor. In einem Fall gab es Zahlungen von bis zu 500 000 Euro an einen einzigen Arzt. Wenn das kein Skandal ist, dann weiß ich nicht, was ein Skandal sein soll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Warum haben sie es eingestellt?) – Wegen des BGH-Urteils, Herr Lanfermann, nicht weil sie keine Beweise hatten. (Heinz Lanfermann [FDP]: Also wegen der Rechtslage!) – Wegen der unvollständigen Rechtslage, die Sie durch Ihre Untätigkeit zu verantworten haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben gar nichts verstanden! Das ist viel schlimmer!) Drittes Beispiel. Zwischen Januar und Oktober 2009 hat eine Ärztin mehrere Tausend Rezepte auf Namen ihrer Patienten ausgestellt, eine dritte Person ging damit zu einer Frankfurter Apotheke und ließ sich andere Medikamente im Wert von rund zwei Drittel des Rezeptwertes aushändigen. Der Apotheker hat die Rezepte dann bei der Krankenkasse vollumfänglich abgerechnet. Der Gewinn wurde zwischen Ärztin und Apotheker geteilt. Der Schaden der Krankenkassen belief sich auf 2 Millionen Euro. All das wird nicht geahndet. (Heinz Lanfermann [FDP]: Was? Da haben Sie wieder etwas verwechselt!) Wenn aber zum Beispiel ein Medikamentenabhängiger drei Rezepte fälscht, wird er wegen dieser drei Rezeptfälschungen – ein Schaden von unter 200 Euro – zu einer Geldstrafe von 2 000 Euro verurteilt; denn das ist Betrug. Niemand käme auf die Idee, Rezeptfälschungen durch Medikamentenabhängige zu legalisieren. Aber, liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP und der Union, eine Rezeptfälschung bleibt eine Rezeptfälschung, egal ob sie ein Medikamentenabhängiger oder ein Arzt begangen hat. (Heinz Lanfermann [FDP]: Die ist auch strafbar!) Das ist eine Zweiklassenjustiz. Deshalb müssen wir da etwas verändern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Fragen Sie einmal einen Juristen in Ihrer Fraktion!) In unserem Antrag steht, was genau wir wollen. Erstens. Wir brauchen eine ergänzende Regelung im Strafgesetzbuch, um sicherzustellen, dass Korruptionshandlungen Straftatbestände darstellen. Es kann nicht sein, dass sich ein angestellter Arzt, der sich von Pharma-unternehmen für die Verordnung bestimmter Arzneimittel schmieren lässt, strafbar macht, sein freiberuflich arbeitender Kollege aber nicht. Zweitens. Wir brauchen gesetzliche Regelungen, um systematischen Falschabrechnungen von Krankenhäusern ein Ende zu bereiten. Hierzu gehören wirkungsvolle Sanktionen. Ich sage Ihnen eines: Wenn die maximale Strafe für zu hohe Abrechnungen ist, nur das Honorar zu bekommen, das man sowieso bekommen hätte, dann könnte man genauso gut sagen, dass jemand, der beim Schwarzfahren erwischt wird, maximal den Fahrpreis nachzahlen muss, oder dass jemand für das Vorzeigen der Fahrkarte 1 Euro für den Aufwand bekommen sollte. Diese Regelungen gehen so nicht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Ferner, der Kollege Henke würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Elke Ferner (SPD): Gerne. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte. Rudolf Henke (CDU/CSU): Frau Kollegin Ferner, ich würde gerne wissen, ob Ihnen bewusst ist, dass jemand, auf dessen Fehlverhalten die zuständige kassenärztliche Vereinigung aufmerksam gemacht wird und dem dieses nachgewiesen wird, durch die Gesetzgebung der Koalition davon bedroht ist, seine Zulassung und damit seine Existenzgrundlage zu verlieren. Die Auswirkung besteht eben nicht nur darin, dass er nur noch das Honorar bekommt, das ihm zustünde, wenn er ehrlich agiert hätte, sondern darin, die komplette Tätigkeit als Kassenarzt einstellen zu müssen. Ich will nur wissen, ob Ihnen das bewusst ist. Sie haben ja den Gesetzgebungsprozess im Zusammenhang mit dem Versorgungsstrukturgesetz genau verfolgt. Elke Ferner (SPD): Herr Kollege Henke, erstens habe ich eben von Krankenhäusern und nicht von niedergelassenen Ärzten gesprochen. (Heinz Lanfermann [FDP]: Vorher schon!) – Herr Lanfermann, (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie müssen sich schon mit dem Kollegen unterhalten!) dass maximal das vergütet wird, was sowieso hätte vergütet werden müssen, war im Zusammenhang mit Krankenhäusern. Das können Sie, wenn Sie es akustisch nicht verstanden haben, im Protokoll nachlesen, wenn es dann vorliegt. Zweitens. Herr Henke, natürlich ist mir bekannt, dass das Standesrecht Regelungen dazu vorsieht. Aber es ist mir nicht bekannt, dass alle diejenigen, die Abrechnungsbetrug begangen haben, am Ende auch ihre Approbation verloren haben. Wie viele haben denn ihre Approbation für solche Vorgänge, über die wir hier diskutieren, abgeben müssen? (Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Keiner!) Dazu können Sie in Ihrem Redebeitrag ja noch etwas sagen. Auf alle Fälle ist mir persönlich davon nichts bekannt; im Gegenteil. Man sieht dann immer nur: Das Verfahren wird eingestellt, es wird ein kleines Bußgeld bezahlt, und dann läuft alles weiter wie bisher. Das ist die Realität, Herr Kollege Henke. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Drittens. Wir brauchen qualifizierte Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Ermittlungsgruppen bei der Kriminalpolizei, damit solchen Korruptionsfällen vernünftig begegnet werden kann. (Lars Lindemann [FDP]: Gesundheitsgeheimpolizei!) Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie nichts tun, machen Sie sich zum Handlanger derer, die im Gesundheitswesen mit sehr viel krimineller Energie agieren. Ich kann Sie nur auffordern, liebe Kollegen und Kolleginnen, im Interesse der Versicherten, im Interesse der -Patientinnen und Patienten und vor allen Dingen im -Interesse derjenigen Leistungserbringer und Leistungserbringerinnen, die sich korrekt verhalten – das ist die überwiegende Mehrzahl; sie werden bei Abrechnungsbetrug selber um ihren wohlverdienten Lohn gebracht –, (Beifall der Abg. Dr. Carola Reimann [SPD]) also im Interesse all derer jetzt endlich tätig zu werden. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben Regelungen!) Wenn Ihnen unser Antrag nicht gefällt, dann legen Sie doch selber einen vor! Aber tun Sie endlich etwas, anstatt hier nichts zu tun! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege Max Straubinger. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD malt wieder ein Zerrbild von den tatsächlichen Zuständen in unserem Gesundheitswesen. (Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das liefert ihr doch!) – Nein, das liefern Sie mit Ihrem Antrag, indem Sie nämlich all diejenigen, die Gesundheitsleistungen in unserem Land erbringen – seien es Ärzte, Apotheker oder andere Beteiligte –, grundsätzlich als korrupt hinstellen wollen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! – Elke Ferner [SPD]: Herr Straubinger!) – Ja, natürlich. (Elke Ferner [SPD]: Nur weil es das Strafgesetzbuch gibt, sind doch nicht alle kriminell!) Das ist ein völlig falscher Eindruck, den Sie bewusst mit der Schätzung einer Organisation erzeugen wollen, die mir persönlich nicht bekannt ist. (Elke Ferner [SPD]: Selbst wenn es nur die Hälfte wäre, wäre es schlimm genug!) Meines Erachtens sollte man mit Schätzungen immer sehr vorsichtig sein, zumal dann, wenn hier in keinster Weise Differenzierungen vorgenommen werden. Sie werfen Korruption und mögliche Falschabrechnungen in einen Topf. Vor allen Dingen Falschabrechnungen muss man sehr differenziert betrachten. Ich war selbst einmal Mitglied im Verwaltungsrat unseres örtlichen Krankenhauses. Natürlich gibt es immer wieder unterschiedliche Sichtweisen in der Frage, ob die eine Abrechnung oder Codierung richtig oder falsch war. Das kann unter den einzelnen Ärzten bzw. Beteiligten auch strittig sein. Das ist aber in keinster Weise gleichzusetzen mit Korruption oder mit bewusstem Abkassieren in unserem Gesundheitswesen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!) Das insinuieren Sie mit Ihrem Antrag, und dagegen wehren wir uns, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist richtig, dass festgestellt worden ist, dass Ärzte nicht Amtsträger sind und auch nicht der Bestechlichkeit geziehen werden können. In all den Fällen, die Sie genannt haben, gab es Ermittlungen von Staatsanwaltschaften, die nicht zu Ende geführt worden sind, (Elke Ferner [SPD]: Werden konnten! Wegen des BGH-Urteils!) aber nicht wegen der Rechtslage, sondern weil wahrscheinlich die Vorwürfe so substanzlos waren. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt ja nicht! So war es nicht!) Dies zeigt sehr deutlich, dass Sie hier mit Kanonen auf Spatzen schießen. Gleichwohl ist natürlich entscheidend und wichtig, dass ordentlich abgerechnet und korruptem Verhalten entgegengewirkt wird. Ich bin überzeugt, dass wir ein solches Verhalten bereits nach der bestehenden Gesetzeslage ausreichend bekämpfen können (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das können Sie eben nicht!) und auch bekämpft haben. Der Kollege Henke hat vorhin dargestellt, dass, wenn strafbares, betrügerisches oder bewusst manipulatives Verhalten an den Tag gelegt wird, über das Standesrecht letztendlich sogar die Approbation entzogen werden kann, und das geschieht auch. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seltenst!) Mir ist ein Fall bekannt, in dem einer Ärztin bei uns in Niederbayern die Approbation entzogen worden ist. Das zeigt sehr deutlich: Es gibt bereits gesetzliche Regelungen, die gewährleisten, dass man korruptem Verhalten, so es feststellbar ist, entgegenwirken kann. Was den Streit über die Abrechnungsmethoden betrifft, gilt es in unserem Gesundheitswesen die richtigen Grundlagen zu schaffen. Die Regelungen, die man trifft, haben angesichts der Materie letztendlich natürlich immer auch mit subjektiven Eindrücken zu tun, etwa mit eigenen medizinischen Kenntnissen oder der eigenen Codierfähigkeit. Es kann immer Streit darüber geben, ob alles richtig dargelegt worden ist. Ein Beispiel für einen solchen Streit ist die Frage, ob ein stationärer Aufenthalt notwendig war oder man eine Behandlung auch ambulant hätte durchführen können. Darüber kann man im Nachhinein natürlich immer streiten, und die Situation kann man unterschiedlich bewerten. Aber das hat mit korrupten oder strafbaren Handlungen nichts zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir lehnen Ihren Antrag, in dem Sie fordern, neue Straftatbestände zu schaffen, ab, weil es unserer Meinung nach derzeit ausreichende Regelungen gibt, im Strafrecht genauso wie im Standesrecht. Für uns ist nicht nachvollziehbar, warum neue Straftatbestände geschaffen werden sollten. Ich bin davon überzeugt, dadurch würde man eher für noch größere Verunsicherung sorgen – das könnte unter Umständen sogar die medizinische Versorgung der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigen –, als dass man etwas Positives bewirken würde. Was die Falschabrechnungen von Krankenhäusern angeht, gelten die bereits bestehenden Sanktionsmechanismen. Die Sanktionen sind massiv. Uns steht also ein wirksames Instrumentarium zur Verfügung. In der Vergangenheit haben wir vorgeschlagen, Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen einzurichten. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität und der Korruptionsbekämpfung haben zahlreiche Länder bereits solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften gebildet. Auch in diesem Zusammenhang bin ich der Meinung, dass Sie manchen Dingen, die es bereits gibt, „hinterhereilen“. Sie schlagen die Umstrukturierung der Stellen zur Fehlverhaltensbekämpfung in Profit-Center vor, um negative Auswirkungen der Verwaltungskostenbudgetierung zu vermeiden. Dazu muss ich sagen: Trotz der -Budgetierung der Verwaltungsausgaben konnten die Krankenkassen in den Jahren 2011 und 2012 ihre Aktivitäten zur Fehlverhaltensbekämpfung in unvermindertem Umfang fortsetzen; auch das muss festgestellt werden. Sie insinuieren in Ihrem Antrag, diese Aktivitäten seien ob der Begrenzung der Verwaltungskosten nicht fortgesetzt worden. Das ist nicht der Fall. Ich glaube, dass die rechtlichen Regelungen, die wir getroffen haben, ausreichend sind, um der Korruption wirksam entgegenzutreten. Besteht der Verdacht auf Falschabrechnung, muss ihm immer nachgegangen werden. Man muss die Situation allerdings differenziert -betrachten; auch hierfür haben wir ausreichende Möglichkeiten geschaffen. Ihr Antrag ist eher ein Schaufensterantrag; deshalb werden wir ihn ablehnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Kathrin Vogler. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Frühjahr hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die „Bestechung“ von niedergelassenen Vertragsärztinnen und -ärzten durch die Pharmaindustrie nach der jetzigen Gesetzeslage nicht strafbar sei. (Elke Ferner [SPD]: So ist es!) Wohlgemerkt: nach der jetzigen Rechtslage. Aber das bedeutet auf keinen Fall, dass das so bleiben muss. (Beifall bei der LINKEN) Die Folge war, dass die Staatsanwaltschaften reihenweise Ermittlungsverfahren gegen Ärzte und Pharmavertreter einstellen mussten, und das zeigt ein bisschen die Dimension des Problems. Dieses Problem scheint bei dieser Bundesregierung und der schwarz-gelben Koalition noch gar nicht angekommen zu sein. Ich habe hier eine Kleine Anfrage, die die Kollegin Ulrike Flach, die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, beantwortet hat. Da heißt es in der Vorbemerkung zum Beispiel, das BMG, also das Bundesministerium für Gesundheit, prüfe die Wirksamkeit der dargestellten berufs- und sozialrechtlichen Vorschriften. (Elke Ferner [SPD]: Aha! Was ist dann herausgekommen?) An weiterer Stelle heißt es, das BMG habe keine konkreten Erkenntnisse zur Anzahl von Zulassungsentziehungen, und auch das wolle es über eine Anfrage bei den Ländern usw. prüfen. Seit dem Urteil sind inzwischen acht Monate und nach der Antwort auf diese Kleine Anfrage immerhin ein Vierteljahr ins Land gegangen. Ich frage mich: Wann kommen denn Ihre Prüfungen, wann kommen Ihre Abfragen endlich zu Erkenntnissen, die Sie auch zum Handeln leiten könnten? (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber Sie wollen an das Thema nicht heran. Sie meinen, die Regelungen im Sozial- und Standesrecht würden reichen. Sie reichen eben nicht. Wenn wir noch nicht einmal wissen, wie viele Ärzte und Ärztinnen ihre Approbation verlieren, dann zeigt das doch, dass wir hier ganz dringend handeln müssen. (Beifall bei der LINKEN) Denn wenn wir das nicht tun, kann dieser Zustand von Ärzten und Pharmaindustrie geradezu als Freibrief für diese unzulässige Zusammenarbeit gedeutet werden. Vor kurzem hat es eine Studie gegeben, in der viele Ärzte und Ärztinnen und auch Pharmareferenten und Heilmittelerbringer befragt worden sind. Uns muss zu denken geben, was dabei herausgekommen ist. Viele Ärztinnen und Ärzte denken: Wenn das nicht strafbar ist, (Elke Ferner [SPD]: Ist es erlaubt!) dann ist es ja nur ein Kavaliersdelikt. Wenn wir damit Schluss machen wollen, dann brauchen wir dringend eindeutig schärfere Gesetze. (Beifall bei der LINKEN) Deswegen danke ich den Kolleginnen und Kollegen von der SPD auch ausdrücklich dafür, dass sie ihren Antrag „Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ heute hier zur Abstimmung stellen. Zu Recht führen Sie aus, dass es eben nicht um Kleinkram geht, sondern dass der mögliche Schaden allein für die gesetzliche Krankenversicherung zwischen 5 Milliarden und 18 Milliarden Euro im Jahr liegt. Ihre Vorschläge gehen in die richtige Richtung, aber sie reichen uns leider nicht aus. Deswegen werden wir uns heute enthalten. Sinnvoll finde ich die Forderung, Korruption von niedergelassenen Ärzten als Straftatbestand aufzunehmen. Allerdings frage ich mich und frage auch Sie, warum Sie entsprechende Regelungen auf die Kassenärzte begrenzen wollen und warum Sie zum Beispiel die Zahnärzte außen vor lassen. (Zurufe von der FDP: Oh!) Sie schreiben in Ihrem Antrag ganz richtig, dass es nicht nur um finanziellen Schaden geht, sondern dass es auch um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient geht und darum, dass ein Arzt, der sich in seinem Verordnungsverhalten durch finanzielle Vorteile steuern lässt, möglicherweise seinen Patienten nicht immer die beste Therapie zur Verfügung stellt. Ich frage mich natürlich: Sollen nicht auch Privatversicherte das gleiche Recht auf optimale Versorgung nach medizinischen Gesichtspunkten und nicht nach Profitkriterien erhalten? (Beifall bei der LINKEN) Darum sollte die Forderung umfassender sein und sich nicht nur auf Kassenärzte beschränken; denn alle Menschen haben ein Recht auf gute medizinische Versorgung. (Mechthild Rawert [SPD]: Frau Vogler, dann kennen wir ja schon Ihren nächsten Antrag!) – Ja, das ist doch schön. Vielleicht können wir den ja zusammen einbringen. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dann kriege ich Zahnschmerzen!) Vergeblich habe ich auch danach gesucht, wie Sie die hauptsächlichen Nutznießer von Bestechung und Vorteilsgewährung zur Rechenschaft ziehen wollen. Was ist mit Klinikleitungen, die Ärzte für die Einweisung von Patienten vergüten, also die sogenannten Fangprämien zahlen, oder was ist mit der Pharmaindustrie? Was sonst als Bestechung ist es, wenn Ärzte für die Verordnung bestimmter Mittel – wie die Kollegin Ferner beschrieben hat – mit Geschenken, schönen Reisen, Fortbildungen oder gleich mit Cash entlohnt werden? Auch die sogenannten Anwendungsbeobachtungen, bei denen es in der Regel nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um die Steuerung des Verschreibungsverhaltens geht, gehören meines Erachtens verboten. Es ist doch so: Tag für Tag stürmen 15 000 Pharma-referentinnen und Pharmareferenten die Praxen, (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das sind auch Arbeitsplätze!) halten die Ärztinnen und Ärzte von ihren eigentlichen Aufgaben ab und gaukeln ihnen vor, dass der 17. Lipidsenker viel besser sei als die anderen 16, obwohl die Inhaltsstoffe eigentlich gleich sind. Da werden viele Milliarden Euro für Marketing ausgegeben, damit noch mehr Milliarden zulasten der gesetzlichen Krankenkassen ausgegeben werden. Und die Kranken, was haben die davon? Nichts. Deswegen müssen wir dagegen etwas unternehmen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich finde es auch ein bisschen schade, dass Sie von der SPD vergessen haben, die Ursachen für die zunehmende Korruption im Gesundheitswesen etwas näher zu analysieren. (Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der FDP: Jetzt wird es spannend!) An etlichen Stellschrauben hat nicht zuletzt auch Ihre Fraktion gedreht. Denn Sie haben aktiv daran mitgewirkt, das Gesundheitswesen von einem sozialen Sicherungssystem zu einem Gesundheitsmarkt umzubauen. (Zuruf von der LINKEN: Genau!) Sie haben dazu beigetragen, dass manche Arztpraxis und manches Krankenhaus heute eher ein medizinisches Warenhaus ist (Zurufe von der FDP: Oh!) und dass privates Profitstreben mehr und mehr Vorrang vor der Sorge um die Patienten erhält. (Elke Ferner [SPD]: Wer Ihnen den Unsinn aufgeschrieben, den sollten Sie entlassen!) – Sie haben doch die Privatisierung der Krankenhäuser und die Konzentration in den großen Krankenhausketten vorangetrieben. (Elke Ferner [SPD]: Wie bitte? Seit wann ist denn der Bund für die Krankenhäuser zuständig?) – Davon wollen Sie heute nichts mehr wissen; glücklicherweise haben Sie dazugelernt. – Sie haben auch die individuellen Gesundheitsleistungen zugelassen, die Sie heute scharf kritisieren. Sie preisen den ökonomischen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und zwischen den Leistungserbringern. Jetzt haben Sie das, was Sie wollten: Sie haben einen Markt, Sie haben Marktteilnehmer, die miteinander konkurrieren und ihre Geschäftsgeheimnisse gewahrt sehen wollen, etwa wenn es etwa um Rabattverträge oder Versorgungsverträge geht. Im Interesse der Korruptionsbekämpfung wäre es doch sinnvoll, alle diese Verträge auch offenzulegen, um alle finanziellen Abhängigkeiten erkennen und Korruption einfach den Boden entziehen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Mehr Transparenz und Sauberkeit brauchen wir auch in den Gremien, in denen wichtige Entscheidungen für das Gesundheitswesen getroffen werden. Diese Entscheidungen müssen unabhängig von Industrieinteressen getroffen werden, sie sollten nur nach fachlichen Gesichtspunkten getroffen werden. Ich erinnere da nur an die Interessenkonflikte in der Ständigen Impfkommission, STIKO, und in der Weltgesundheitsorganisation. Es ist doch sehr anrüchig, wenn solche Gremien Beschlüsse fassen, bestimmte Impfstoffe in gigantischem Ausmaß anzuschaffen, während einige Mitglieder dieser Gremien gleichzeitig oder wenig später auf der Gehaltsliste der Pharmaindustrie auftauchen. Wir brauchen meines Erachtens auch hier Transparenz auf Euro und Cent sowie eine Karenzzeit, bevor Entscheider in die Indus-trie wechseln dürfen. (Beifall bei der LINKEN) Apropos Gehaltslisten: Die SPD hat diesen Antrag wahrscheinlich nicht zufällig heute auf die Tagesordnung gesetzt; eigentlich wollten Sie ja heute etwas anderes diskutieren lassen. Wir haben am Montag im Focus gelesen, dass einige Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitsausschuss doch eine ganze Menge Nebentätigkeiten ausüben. Wenn wir uns hier einig sind, dass die therapeutischen Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten nicht von finanziellen Zuwendungen der Industrie abhängig sein sollen, dann frage ich Sie jetzt – insbesondere in Richtung der Union –: Stimmen Sie mir dann auch zu, dass Gleiches für die Entscheidungen von Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern gelten sollte, also dass Abgeordnetenverhalten nicht durch Lobbygruppen und Geldflüsse beeinflusst werden darf? (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh!) Da möchte ich Sie jetzt fragen: Wie soll das gehen, wenn jemand aus Nebenjobs fünf- oder gar sechsstellige Beträge erhält, (Zurufe von der FDP: Oh!) wenn bei jemandem, wie zum Beispiel beim Kollegen Henke, die Abgeordnetentätigkeit vom Einkommen her eher der Nebenjob ist? (Heinz Lanfermann [FDP]: Oh! – Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Mein Gott! Unverschämt! – Weiterer Zuruf von der FDP: So billig!) Wenn man sich einmal die Vortragsliste des Kollegen Koschorrek anschaut, stellt man fest: Sie liest sich wie das Who is Who der Gesundheitswirtschaft. (Lars Lindemann [FDP]: Weil Ihnen keiner zuhören will! Das ist das Problem! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unfassbar!) Sie haben das alles veröffentlicht, wie es sich gehört, auch wenn wir nicht genau wissen, was sie denn für welchen Vortrag von wem bekommen haben. Jens Spahn hat mir in einem persönlichen Gespräch versichert, er habe durch seine frühere Teilhaberschaft in einer Beratungsfirma keinen Interessenkonflikt gehabt. Ich glaube Ihnen, Herr Kollege, dass Sie davon selber überzeugt sind; den anderen Kollegen glaube ich es auch. (Zurufe von der CDU/CSU) Aber wenn, wie wir wissen, auch die allermeisten Ärzte glauben, Zuwendungen der Pharmaindustrie würden ihr Verhalten gegenüber dem Patienten nicht beeinflussen, dann müssen wir doch auch vor der eigenen Tür kehren. (Heinz Lanfermann [FDP]: Nein, nein! Sie sind gerade bei fremden Türen, nicht bei eigenen! Das wollen wir mal nicht verwechseln! – Weiterer Zuruf der Abg. Beatrix Philipp [CDU/CSU]) – Ja, ja. Wenn das Verschreibungsverhalten nicht beeinflusst würde, würde sich die Industrie den Aufwand doch sparen. Ich denke, sie würde sich auch den Aufwand sparen, vierstellige Honorare für Vorträge zu zahlen, wenn sie sich nichts davon versprechen würden. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg. Beatrix Philipp [CDU/CSU]) Wenn im Stadtrat meiner Heimatstadt Emsdetten über die Schließung einer Grundschule entschieden wird, hat die Ehefrau des Schulhausmeisters als Ratsfrau den Ratssaal zu verlassen und darf sich nicht an der Abstimmung beteiligen. Aber im Gesundheitsausschuss des Bundestages stimmen der Ärzteverbandspräsident, der Klinikaufsichtsrat oder der Berater der Medizintechnikbranche über Gesetze ab, die Milliarden von Einnahmen oder Ausgaben für ihre Klientel, für ihre Mitglieder, für ihre Kunden bedeuten. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Versicherungs-vertreter haben Sie noch vergessen!) Das können Sie doch nicht wirklich ausblenden. (Beifall bei der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dürfen Gewerkschaftsmitglieder dann auch nicht mit abstimmen?) Vielleicht ist diese lange Reihe von Nebentätigkeiten für Unternehmen und Lobbyverbände ein Grund dafür, warum sich Ihre Fraktionen so hartnäckig gegen strengere Transparenzregeln im Bundestag gewendet haben und warum Sie auch seit Jahren verhindern, dass Deutschland endlich die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert. (Beifall bei der LINKEN) Ich finde, dieses Haus sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Was wir von Ärzten erwarten, sollten auch wir Abgeordnete leisten. Lassen Sie uns gemeinsam die Bestechlichkeit von Ärzten und Abgeordneten unterbinden und die UN-Konvention gegen Korruption endlich ratifizieren! Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin über den Verlauf der Diskussion ein bisschen ernüchtert, gerade vonseiten der Regierungskoalition. Denn Sie blenden den eigentlichen Aufhänger aus dem SPD-Antrag, den wir heute hier hätten aufnehmen müssen, völlig aus, nämlich die Frage: Was machen wir, nachdem der BGH entschieden hat, Korruption und Bestechlichkeit bei niedergelassenen Ärzten sind mit Mitteln des Strafrechts nicht zu ahnden, mit dieser Regelungslücke? (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist keine Regelungslücke! Es gefällt Ihnen nur nicht!) Dazu haben Sie keinen einzigen Satz verloren, und das nach der Diskussion, die wir gestern über Patientenrechte geführt haben und in der wir über den Schutz des Arzt- und Patientenverhältnisse sowie über das notwendige Vertrauen geredet haben. Vor diesem Hintergrund finde ich das mehr als dürftig. Das sei an dieser Stelle ganz klar gesagt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie arbeiten sich an einem alten SPD-Antrag ab, der zugegebenermaßen nicht besonders gut ist. (Widerspruch des Abg. Dietrich Monstadt [CDU/CSU] – Heinz Lanfermann [FDP]: Wir haben ihn nicht aufgesetzt!) In ihm wird ein richtiges Thema angesprochen, aber nicht zwischen Bestechlichkeit auf der einen Seite und Abrechnungsproblemen und Differenzen zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern auf der anderen Seite unterschieden. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, da haben Sie recht!) Das finde ich bedauerlich, weil das die notwendige Klarheit, die wir hier brauchen, verunmöglicht. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt!) Das ist der große Fehler an diesem Antrag. Trotzdem bezeichnet er doch ein richtiges Problem, das jetzt in der Welt ist. (Heinz Lanfermann [FDP]: Aber nicht die richtigen Lösungen!) Das Problem ist in der Welt; seit Juni dieses Jahres wissen wir das. Aber Sie gehen auf diesen Tatbestand nicht ein. Das finde ich wirklich bedauerlich; denn es geht doch darum: Wie können wir in der Öffentlichkeit den wichtigen Aspekt klarstellen – und wir als Gesetzgeber müssen dafür Sorge tragen –, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis eben nicht durch wirtschaftliche Interessen überformt werden darf? Das ist die große Aufgabe, die wir als Gesetzgeber haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Da reicht die Berufsordnung alleine nicht aus. Die Berufsordnung braucht im Hintergrund ein scharfes Schwert. Wenn Korruptionsregeln nicht als schärfstes Schwert im Hintergrund notwendig wären, gäbe es überhaupt keine in unserem Strafgesetzbuch. Ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie nicht in der Lage sind, auch nur ansatzweise darauf einzugehen, was Sie in Bezug auf diese Regelungslücke überhaupt tun wollen. Nichts sagen Sie dazu, und das finde ich dürftig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Wo Sie eine Lücke sehen, wo aber keine ist, werden wir nicht tätig! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Die Lücke sind Sie, Herr Lanfermann!) Die Richter haben sehr eindeutig klargemacht, dass es eine Regelungslücke gibt (Heinz Lanfermann [FDP]: Im Strafrecht, aber nicht anderweitig!) und dass sie mit den vorhandenen Mitteln des Strafrechts nicht auf einen solchen Fall reagieren können, wie er da vorgelegen hat. (Heinz Lanfermann [FDP]: Weil es andere Möglichkeiten gibt!) Es ging immerhin um eine Zuwendung in Höhe von 10 000 Euro. Das war ja nun nicht eine Petitesse, sondern eine richtig große Summe. Dies war aber strafrechtlich nicht zu ahnden. Jetzt kommen wir einmal zur Berufsordnung, dem Instrument, das dann gerne ins Feld geführt wird. Was finden wir sowohl in den Berufsordnungen der Ärztekammern in den Ländern als auch in der Berufsordnung der Bundesärztekammer? Natürlich gibt es dort eine Regelung, die davon spricht, dass es nicht erlaubt ist, Zuwendungen anzunehmen. Das ist das eine. Aber wie ahnde ich das, und wie setze ich die Berufsordnung um? Gucken Sie sich doch einmal die Berichte der verschiedenen Ärztekammern darüber an, wie sie mit dem Berufsrecht umgegangen sind. (Elke Ferner [SPD]: Ja, Herr Henke, wie machen Sie das denn?) Dort wird gesagt: Wir können nur dann wirklich tätig werden, wenn wir auch strafrechtliche Möglichkeiten im Hintergrund haben. – Wenn man nicht ganz eindeutige Belege hat, ist es nämlich nicht so einfach, eine Zulassung zu entziehen, weil man damit der betreffenden Person natürlich auch ihre wirtschaftliche Grundlage, ihre Erwerbsmöglichkeit, entzieht. Eine solche Eindeutigkeit wird in der Regel durch das Strafrecht und die staats-anwaltschaftliche Ermittlung erreicht. Diese Regelungslücke haben Sie offengelassen. Hier tun Sie derzeit nichts, wie man jetzt ja sehen kann. – Das ist der eine Punkt. Nächster Punkt. Welche Gemengelage entsteht jetzt insgesamt? Niedergelassene Ärzte können nicht belangt werden, Ärzte, die im gleichen MVZ arbeiten, aber dort angestellt sind, können sehr wohl belangt werden. Können wir das als gerecht empfinden? Kann die Bevölkerung so etwas als gerecht empfinden? Kann sie es als -gerecht empfinden, dass es im SGB V rechtliche Regelungen gibt, wonach andere Heilmittelerbringer in Regress genommen und mit einem Zulassungsentzug bedroht werden können? Ein Zulassungsentzug von zwei Jahren und das Verbot, in dieser Zeit für die GKV tätig zu werden, ist dort für die „anderen Leistungserbringer“, aber nicht für die Ärzteschaft vorgesehen. Ist das gerecht? Können Sie mir darstellen, inwiefern das Gerechtigkeit herstellt? Ich meine, nein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Nach all dem, was ich Ihnen hier jetzt aufgezeigt habe, sagen Sie: Wir werden nicht tätig. Das finde ich erstaunlich. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ein Armutszeugnis!) Wie müssten doch eigentlich in einem gestuften Verfahren vorgehen und auf der ersten Stufe zunächst schauen, was unsere Stellen gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen besser als bisher machen können und welche -Instrumente sie im Hintergrund brauchen, um ihre Ermittlungsmöglichkeiten auch tatsächlich umzusetzen. Jedoch Fehlanzeige bei Ihnen! Zweite Stufe: Wir müssen schauen, was wir in Bezug auf die Berufsordnungen machen können. Können wir hier nachschärfen? Ich höre nichts. Dritte Stufe. Wir müssen schauen, was wir im SGB V machen können. Warum stellen wir die Leistungserbringer und die Ärzteschaft dort nicht gleich? Vierte Stufe. Wir müssen schauen, was wir beim Strafrecht machen können. Folgen wir vielleicht dem Vorschlag, den uns auch der GKV-Spitzenverband vorgelegt hat, wonach für alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen eine strafrechtliche Norm im SGB V als besondere Gesetzgebung vorgesehen werden sollte? Dieses Vorgehen könnte man verantworten und würde dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und insbesondere auch dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient gerecht werden. Insofern würde ein wirklicher Patientenschutz erreicht werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich meine, das ist das Mindeste, das wir nach der Diskussion, die wir gestern über Patientenrechte geführt haben, auf den Weg bringen müssen. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Karin Maag von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Karin Maag (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es gibt ein BGH-Urteil, und erfreulicherweise wurde darin festgestellt, dass die niedergelassenen Ärzte weder Amtsträger noch Beauftragte der Krankenkassen sind. Das ist eine wichtige und zentrale Aussage, und das ist gut und richtig so. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und dann?) – Frau Klein-Schmeink, ich komme zu Ihnen. Wir wollen, dass sich die Leistungserbringer und die Kostenträger in diesem System auf Augenhöhe begegnen. Wir wollen vor allem, dass sie sich mit gegenseitigem Respekt begegnen. Deswegen brauchen wir die -niedergelassenen Ärzte als Freiberufler und als selbstständige Partner auch der Patienten und Versicherten in diesem System – als Partner mit Expertise. Vor allem – das ist mir ganz wichtig – brauchen wir sie als Vertrauenspersonen. So werden sie nämlich von den Versicherten empfunden. Ich bin mir ganz sicher, liebe Frau Ferner, dass sich die meisten Ärzte und auch alle anderen Leistungserbringer in diesem System als solche Vertreter der Versicherten verstehen und dass sie ihre Patienten gut durch dieses System begleiten wollen. (Elke Ferner [SPD]: Das hat ja niemand bestritten!) Ich bin mir genauso sicher, dass auch die Patienten das so sehen und sehen wollen. Für die Patienten ist doch ihr Arzt derjenige, der ihnen bei der Beantragung von Rehamaßnahmen hilft oder mit dem sie ganz intime Gespräche führen. Ich glaube, wir alle tun uns keinen Gefallen – jetzt wende ich mich an Sie, Frau Ferner –, wenn wir dieses System kaputtreden wollen und quasi einen Kreuzzug (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will doch keiner!) gegen einen Berufsstand anfangen. So wird das Ganze im Moment ja darstellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Tun wir doch gar nicht!) Ich bin mir sehr sicher, dass unser Gesundheitssystem nur dann funktioniert, wenn es von gegenseitigem Re-spekt und Vertrauen getragen wird: (Elke Ferner [SPD]: Deswegen kann man doch keine Korruption zulassen! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Deswegen müssen wir Korruption unterbinden! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit Vorteilsnahme?) gegenüber den Partnern und gegenüber den Patienten. Gestatten sie mir noch eine Anmerkung zu den Auseinandersetzungen in der letzten Zeit zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern. Wenn wir dieses Vertrauen der Patienten und Versicherten erhalten wollen, dann sollten sich auch die entsprechenden Selbstverwaltungspartner entsprechend verhalten. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Meinen Sie, Sie kommen mit Appellen gegen 10 000 Euro an?) Weil wir das Vertrauen brauchen und erhalten wollen, werden wir mit Augenmaß und einem sehr breiten Ansatz auch schwarze Schafe kenntlich machen müssen. Ja, es gibt diese schwarzen Schafe. Das bestreitet kein Mensch. (Elke Ferner [SPD]: Ach! Das ist ja schon einmal ein Fortschritt!) – Danke, Frau Ferner. – Diese schwarzen Schafe müssen wir aufspüren. Wir müssen einen Rahmen dafür vorgeben, dass diese schwarzen Schafe der Gemeinschaft der Versicherten nicht weiter schaden können. Ich sage das, weil uns heute Gegenteiliges wieder vorgeworfen wurde, aber vor allem, weil uns das Vertrauen der Patienten so wichtig ist: Wir haben in dieser Legislaturperiode schon einiges dafür getan, dass die Patienten sicher sein können, dass dann, wenn es um ihre Gesundheit geht, das Richtige und das Notwendige verordnet wird. (Elke Ferner [SPD]: Was ist denn mit den Beispielen? Wollen Sie die Beispiele, die ich Ihnen eben genannt habe, abstreiten?) Dazu gehört selbstverständlich, dass die Zuweisung gegen Entgelt verboten ist. Das wird nicht nur in den Berufsordnungen geregelt. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz haben wir das Verbot der Zuweisung gegen Entgelt für Vertragsärzte seit diesem Jahr im SGB V sozialrechtlich verankert. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr richtig!) Wir haben im Bereich der Hilfsmittel die entsprechenden Regeln (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Heilmittel?) in § 128 SGB V verschärft. Vertragsärzte dürfen sich deshalb nicht mehr an Gesellschaften von Gesundheitshandwerkern beteiligen. Die Anwendungsbeobachtungen, die kritisiert wurden, müssen die pharmazeutischen Unternehmen schon heute nach § 67 AMG anmelden. Sicher kann man hier über mehr Transparenz reden. (Elke Ferner [SPD]: Viel Spaß bei Ihrem Koalitionspartner!) Reden wir von dem, liebe Frau Klein-Schmeink, was im System noch möglich ist. Vor gut drei Wochen fand dazu ein Expertengespräch statt. Es ist nicht so, dass wir uns nicht kümmern. Hier wird immer der Eindruck erweckt: Es gibt eine gute und eine schlechte Seite. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu haben Sie beigetragen! – Elke Ferner [SPD]: Was haben Sie denn drei Jahre lang gemacht?) Ich glaube nicht, dass wir das, was im Expertengespräch herausgekommen ist, heute schon erörtert haben. Dabei ist herausgekommen, dass die Schwarz-Weiß-Sicht nicht weiterhilft. Einer der Experten war der Oberstaatsanwalt der Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt. Dieser Oberstaatsanwalt merkte ausdrücklich an, dass ergebnisoffen zu prüfen sei, dass ein Strukturwandel, wenn er denn notwendig ist, nur mit der Wirtschaft, mit den Unternehmen selbst erreicht werden könne, und zwar mit effizienten Lösungsansätzen außerhalb des Strafrechts. Ich empfehle die Lektüre. Uns geht es, wie gesagt, um diesen breiten Ansatz. Ich habe die berufs- und sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften genannt. Natürlich müssen auch die Kassen Verdachtsfälle melden, diesen konkret nachgehen und dann Konsequenzen ziehen. Ihnen stehen dazu seit 2004 die Einheiten zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zur Verfügung. Es wurde in dem genannten Expertengespräch darauf hingewiesen, dass Compliance ein wichtiges Thema ist. Rechtliche Schulung von Pharmareferenten und Verhaltenskodizes, die sicher früherer falscher Vermarktung entgegensteuern, wurden im Expertengespräch ausdrücklich als probate Mittel benannt. Die an der New Yorker Börse gelisteten Pharmaunternehmen – nicht nur die Pharmaunternehmen, aber auch sie – sind ohnehin den strengen US-Verhaltensregeln unterworfen. Dort müssen wir uns den Input holen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht in Deutschland! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber doch nicht hier!) Ich bin durchaus auch für weitere Neuregelungen offen. Ich nehme diese Anregung auch aus der Expertenanhörung mit. Frau Pfeiffer hat zu Recht auf etwas hingewiesen, was uns zu denken geben muss, nämlich den falschen Zungenschlag in der Berichterstattung in den Medien im dem Sinne, dass Korruption im Gesundheitswesen nach dem BGH-Urteil erlaubt sei. Das ist ein verheerender Eindruck, der durch diese Berichterstattung entstand. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Das sind natürlich Dinge, die geeignet sind, das Vertrauen der Patienten in dieses System zu erschüttern. Aber wenn wir jetzt bei den Experten bleiben, und daran halte ich mich, dann geht es um Maßnahmen wie Ordnungswidrigkeiten nach dem Heilmittelgesetz, die vorgeschlagen wurden, liebe Frau Klein-Schmeink, oder nach dem GWB. Das seien die Dinge, die angemessen und sinnvoll seien. Das wird nicht von mir vorgeschlagen, sondern vom genannten Oberstaatsanwalt. Ich bin auch davon überzeugt, dass man die Kontrollen im Bereich der Ordnungswidrigkeiten in Zusammenarbeit mit den Kammern effizient und effektiv ausgestalten muss. (Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Frau Klein-Schmeink hat eine Frage. Ich würde sie auch zulassen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Klein-Schmeink. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Maag, Sie haben dankenswerterweise die Probleme durchaus wenigstens angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob es nicht richtig wäre, dass man auf der einen Seite im SGB V entsprechend dem Umgang mit den anderen Leistungserbringern Regelungen gegen unerlaubte Zuwendungen schafft – das ist das eine – und auf der anderen Seite für die Verfolgung und Ahndung solch unerlaubter Zuwendung eine strafrechtliche Hürde einführt, damit man sagen kann: „Das ist nicht erlaubt und wird letztendlich auch geahndet“? Karin Maag (CDU/CSU): Frau Kollegin Klein-Schmeink, da will ich Ihnen auch aus der Expertenanhörung mit den Worten der Frau Pfeiffer antworten. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Sie hatten einen Experten aus dem Bereich! Andere sahen das anders!) Die sagt tatsächlich – ich finde das auch differenziert und richtig –, dass es als Ultima Ratio durchaus möglich sein kann, wenn wir es anders nicht in den Griff bekommen, dass wir uns strafrechtliche Sanktionen überlegen müssen – Ultima Ratio! Ich hoffe, ich habe damit Ihre Frage ausreichend beantwortet. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kommen darauf zurück!) Ich will nun zum Ende kommen und wiederholen, dass wir mit diesem ruhigen und breiten Ansatz auf dem richtigen Weg sind. Für mich ist zentral wichtig, dass wir darauf achten, dass dieses gute System weiterhin das Vertrauen der Patienten verdient. Wir setzen uns dafür ein, dass sich die Leistungserbringer und die Kostenträger mit Achtung und gegenseitigem Respekt begegnen und so die Basis für vertrauensvolle Zusammenarbeit schaffen, ohne die es gar nicht möglich ist, schwarze Schafe zu definieren und dann auch zu bestrafen. Wir werden dieses Expertengespräch in Ruhe auswerten und dann auch möglichen Handlungsbedarf definieren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kommen darauf zurück!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Edgar Franke das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Edgar Franke (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Antrag „Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ ist jetzt genau zwei Jahre alt. Der Antrag ist aktueller denn je. Als wir den Antrag eingebracht haben, sagten einige, er sei überflüssig. Herr Lanfermann hat es eben noch einmal bestätigt. Er hat gesagt, es gebe keine nennenswerte Korruption im Gesundheitswesen. Später wurde gesagt, der Antrag sei überflüssig, da bald alle Rechtsfragen in einer höchstrichterlichen Entscheidung beschieden würden. Frau Klein-Schmeink hat jedenfalls ein bisschen in diese Richtung argumentiert. Nun hat der BGH im März dieses Jahres entschieden, dass Schmiergeldzahlungen an niedergelassene Ärzte straflos sind. Der BGH hat in diesem Fall selbst nach einjährigem Suchen keinen Paragrafen gegen die Korruption im Gesundheitswesen gefunden. Der BGH sagt ausdrücklich – man kann es nicht oft genug wiederholen –, es sei Aufgabe des Gesetzgebers, „zu befinden, ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung entsprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden soll …“. (Elke Ferner [SPD]: Aha, Herr Lanfermann! Hören Sie mal genau hin!) Das heißt im Klartext – ich fasse es noch einmal zusammen –: Der BGH ist offenbar der Meinung, Herr Lanfermann: Erstens. Es gibt Korruption im Gesundheitswesen. Zweitens. Korruption im Gesundheitswesen ist derzeit nicht strafwürdig. Drittens. Eine effektive strafrechtliche Behandlung der Korruption im Gesundheitswesen ist derzeit nicht möglich. Die BGH-Entscheidung, Herr Lanfermann, wird übrigens von allen Fachleuten als Aufforderung an den Gesetzgeber verstanden, (Heinz Lanfermann [FDP]: Es heißt doch „ob“!) eine Gesetzeslücke zu schließen. Genau das fordert die SPD in ihrem Antrag, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben doch richtig zitiert! „Ob“!) Deswegen ist dieser Antrag alles andere als überflüssig. Es gibt für diese Regierung überhaupt keinen Grund, in dem Fall nicht tätig zu werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es ist niemandem zu erklären – das hat Frau Ferner schön dargelegt –, dass ein angestellter Arzt, wenn er geschmiert wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, dass dagegen dem niedergelassenen Kollegen – vielleicht arbeitet er sogar im selben MVZ – gar nichts passiert. Das versteht kein Mensch bei uns in Deutschland. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein freiberuflicher Arzt kann selbst dann nicht bestraft werden, wenn er beispielsweise im Bereich Onkologie, also im Bereich der Krebsbehandlung, bei der es um Leben und Tod geht, Schmiergeld nimmt. Er kann selbst dann nicht bestraft werden, wenn er aufgrund von Schmiergeldzahlungen Medikamente verschreibt, die vielleicht schlechter wirken und vielleicht sogar noch teurer sind. Auch das versteht kein Mensch in Deutschland. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich hatte Gelegenheit, mit dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt der USA, James Cole, ein persönliches Gespräch zu führen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ui!) Er sagte, in den USA wäre auch ein solches Verhalten „absolutely illegal“. Ich glaube, was in den USA illegal ist, muss auch in Deutschland illegal sein, meine sehr verehrten Damen und Herren! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh! Todesstrafe! – Schwangerschaftsabbruch, oder was?) Ich glaube, die Straflosigkeit eines solchen Verhaltens kann man wirklich niemandem erklären. Im Übrigen muss man auch die volkswirtschaftlichen Schäden nennen, ganz zu schweigen von den Schäden für die Krankenkassen und damit für die Beitragszahler. Wir wissen: Ein Kassenarzt löst durch sein Tun vom Rezept bis zur Krankenhauseinweisung im Schnitt fünfmal so hohe Kosten aus, wie er an Honoraren bekommt. Und: Die Liste der Abhängigen ist lang. Dazu gehören der orthopädische Schuhmachermeister, der Augenoptiker, das Sanitätshaus und der Hörgeräteakustiker. Da fließt Geld, es werden Verordnungspauschalen gezahlt, und, was viel schlimmer ist, es fehlt vor allen Dingen bei den handelnden Akteuren an Unrechtsbewusstsein. Zuweisungen gegen Entgelt hat auch die Bussmann-Studie der Uni Halle-Wittenberg ausdrücklich belegt. 20 Prozent der Ärzte haben gesagt, Zuweisungen gegen Entgelt seien gängige Praxis. Auch das hat Frau Elke Ferner genannt. (Elke Ferner [SPD]: 20 Prozent! Das sind ja keine Peanuts!) Nun wird verschiedentlich angemerkt – auch heute wieder –, es gebe zwei Gründe, die dagegen sprächen: zum einen die standesrechtliche Berufsordnung der Ärzte und zum anderen die Regelungen im SGB V, die es in der Praxis angeblich verbieten, finanzielle Zuwendungen anzunehmen. Aber wie ist die Praxis? Im Gesundheitsausschuss haben wir erfahren: Es gibt ganz wenige Verfahren im Rahmen der Berufsordnung. Zudem folgen auf die Vorschriften des SGB V keine Sanktionen. Auch Verfahren gemäß der Berufsordnung folgen keine Sanktionen, (Elke Ferner [SPD]: Aha, Herr Henke!) jedenfalls gibt es in der alltäglichen Praxis keine Sanktionen. Es gibt deswegen keine Sanktionen, weil zum Beispiel der Entzug der Approbation ein Grundrechtseingriff ist. Wenn es keine staatsanwaltschaftlichen Verfahren gibt, dann gibt es auch keine Verfahren der Ärztekammer. Hier beißt sich nämlich die Katze in den Schwanz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Auch deswegen brauchen wir eine rechtliche Grundlage, um hier Klarheit zu schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Patienten in Deutschland müssen sicher sein, dass bei Entscheidungen der Ärzte, etwa bei Verordnungsentscheidungen, keine monetären Gründe, sondern allein medizinische Gründe eine Rolle spielen. Auch deshalb muss die Politik handeln. Es war hier schon davon die Rede, dass ein falscher Zungenschlag aufkomme, und es wurde gesagt, Frau Maag, wir würden einen Kreuzzug gegen die Ärzte führen. Ich glaube, das ist dummes Zeug. Wir brauchen und wollen keine Lex Ärzte. Wir wollen auch keine Lex Pharmaindustrie. Wir wollen unser Gesundheitswesen schützen. Das ist unser Ziel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir wollen speziell die Effizienz unseres Gesundheitswesens schützen. Deshalb brauchen wir eine Abschreckung gerade für diejenigen, die bewusst das System ausnutzen. Wir brauchen eine Strafrechtsnorm für das Gesundheitswesen, die die Patienten, den fairen Wettbewerb – er ist die Grundlage für die Effizienz –, die Leistungsträger und die Ärzte schützt. In der Debatte wurde sowohl von Herrn Lanfermann als auch von Frau Maag das Bild vom schwarzen Schaf benutzt. Man muss ganz klar sagen: Ein Arzt, der betrügt, schädigt seine Kollegen. (Elke Ferner [SPD]: Wohl wahr! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Genau!) Warum schädigt er seine Kollegen? Es gibt nämlich eine Gesamtvergütung. Derjenige, der schummelt, schädigt die ordentlich abrechnenden Ärzte. Deswegen ist eine solche Vorschrift im Interesse der Ärztinnen und Ärzte. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man jetzt nicht handelt, ist das kein Etappensieg der Freiberuflichkeit, wie es der eine oder andere Verband nennt, sondern vielmehr eine Legitimierung der Korruption im Gesundheitswesen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, zu handeln. Unsere Vorschläge sind die richtige Antwort. Es ist kein Schaufensterantrag. Es ist ein Antrag, der dafür sorgt, dass wir unser gutes, effizientes Gesundheitswesen in Deutschland behalten. So wird ein Schuh daraus. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Erwin Lotter von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Erwin Lotter (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Franke, Ihr Antrag ist zwar schon zwei Jahre alt, aber er ist in der Zwischenzeit auch nicht besser geworden. Der BGH hat dem Gesetzgeber nur aufgetragen, zu prüfen, ob er Handlungsbedarf sieht. Er hat nicht das Ergebnis vorgegeben. (Elke Ferner [SPD]: Was haben Sie denn geprüft?) Wir sind im Gegensatz zu Ihnen der Meinung, dass die bisherigen Rechtsgrundlagen einschließlich Berufsrecht durchaus ausreichen. Ich will das, was Sie zuletzt sagten, aufgreifen: Wenn ein Arzt schummelt, also Abrechnungsbetrug begeht, (Elke Ferner [SPD]: Ah! Das ist nur schummeln bei Ihnen! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das können Sie einmal erläutern!) dann ist es jetzt schon möglich, das strafrechtlich zu würdigen. Es ist erstaunlich, wie die Opposition, namentlich die SPD, immer wieder versucht, bereits erledigte Themen zu exhumieren und in aller Ausführlichkeit noch einmal durchzuprügeln. Langsam macht sich nicht nur bei mir Ärger darüber breit, dass sich die Sozialdemokraten nicht den wirklich wichtigen Anliegen der Gesundheitspolitik widmen. Stattdessen werden alte Kriegsbeile wieder aus dem Archiv geholt und Zank angezettelt, ohne dass hierfür ein erkennbarer Anlass besteht. Vor noch nicht einmal einem halben Jahr haben wir hier im Plenum im Rahmen einer Aktuellen Stunde auf Antrag der SPD diskutiert. In dieser Debatte wurde der Ärzteschaft im Wege des Generalverdachts durchaus unterstellt, an allen Ecken und Enden der Korruption verfallen zu sein. Ein entsprechender Antrag wurde nicht nur im Gesundheitsausschuss abgelehnt. Am gleichen Tag, dem 25. April, hat auch der Rechtsausschuss mehrheitlich entschieden, diesen Antrag abzulehnen. (Zuruf von der SPD: Leider!) Seither gibt es keinen neuen Sachstand. Weder wurden neue Zahlen vorgelegt, die die Unterstellungen der Opposition untermauern könnten, noch hat es ein neues Gerichtsurteil gegeben, auf das sich die SPD berufen könnte. (Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Nichts dergleichen. Wieder sitzen wir hier und reiten ein totes Pferd. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass sich die Sozialdemokraten die Ärzteschaft als Lieblingsgegner auserkoren haben (Elke Ferner [SPD]: Oh! Das ist aber wichtig!) und alles versuchen, um dieser ungeliebten Berufsgruppe endlich etwas auf die Mütze zu geben. Allein, Ihre Behauptungen, meine Damen und Herren von der SPD, haben keine belastbare Basis. (Elke Ferner [SPD]: Selbst Ärzte finden das nicht in Ordnung, wenn Kollegen korrupt sind! – Gegenruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Frau Ferner, Sie dürfen gar keine Zwischenrufe machen, weil Sie nie im Gesundheitsausschuss dabei sind!) – Frau Ferner, wenn Sie schon Zwischenrufe machen, dann machen Sie doch wenigstens intelligente. Das würde die Debatte voranbringen. (Beifall bei der FDP) Im Rechtsausschuss haben die Liberalen klargestellt, dass selbstverständlich korruptes Verhalten von Medizinern nicht geduldet werden kann. Erneut muss ich darauf verweisen, dass die ärztliche Berufsordnung dies auch kodifiziert hat. In § 31 der bundesweit gültigen Bestimmungen ist geregelt: Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, … für die Verordnung oder den Bezug von Arznei- oder Hilfsmitteln … ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich … gewähren zu lassen. Auch wenn die Ärzte, wie der BGH eindeutig festgestellt hat, keine Adressaten der Strafvorschriften wegen Bestechlichkeit sind, ist die Berufsordnung hier eindeutig: Korruptes Verhalten bei Ärzten wird nach wie vor konsequent verfolgt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!) Dessen ungeachtet wirft die SPD zwei Sachen undifferenziert in einen Topf: Korruption und Falschabrechnungen. Dass es gerade im Bereich der Krankenhäuser zuweilen zu falschen Abrechnungen kommt, ist unbestritten. Aber die Rechtsexperten der Opposition sollten sich schon darüber klar sein, dass eine Strafverfolgung nur bei einer Vorsatztat in Betracht kommt, es sei denn, die Fahrlässigkeit ist schon eindeutig strafbewehrt, was sich aus § 15 StGB ergibt. Bei falschen Krankenhausabrechnungen muss differenziert werden, ob diese systematisch fehlerhaft erfolgten und eine betrügerische Absicht dahinter steht. Anderenfalls kann es sich auch um ein Versehen handeln. Ich räume gerne ein, dass es in diesem Bereich hier und da auch einmal zur Schlamperei kommen kann. Das liegt aber auch daran, dass es bei Abrechnungen häufig an einer eindeutigen Systematik fehlt. Manchmal handelt es sich um unterschiedliche Abrechnungsmöglichkeiten im Rahmen der diagnosebezogenen Fallgruppen; da ist das Fehlerspektrum sehr breit. Möchten Sie, meine Damen und Herren von der SPD, bei Ihrem Ruf nach neuen Vorschriften vorschlagen, dass auch fahrlässige Falschabrechnungen zu sanktionieren seien? Fahrlässig handelt, wer objektiv seine Pflichten verletzt und dies nach seinen eigenen Kenntnissen vorhersehen und vermeiden konnte. Wer eine unkorrekte Abrechnung einreicht, muss dabei erkannt haben, dass er gegen seine Pflicht gegenüber der Krankenkasse verstößt. Versuchen Sie bitte einmal, sich in den Krankenhausbetrieb mit seiner Unzahl von Vorgängen und Abrechnungen hineinzuversetzen. Die Ärzte leiden ohnehin dank der Gesundheitspolitik der SPD unter der Last der Bürokratie. (Elke Ferner [SPD]: Seit wann sind wir in der Regierung? Dann schaffen Sie doch die Bürokratie ab! Sie regieren doch!) Es passt ins Ärztebild der SPD, wenn sie meint, die Mediziner für mögliche Fehler bei der Ausführung der Bürokratie auch noch mit der Keule des Strafrechts bedrohen zu müssen. Aber wundern müssen wir Liberale uns über diese Auffassung schon lange nicht mehr. (Elke Ferner [SPD]: Vor allem seit die FDP den Minister stellt!) Auch wenn ich selber kein Jurist bin, so ist mir doch aus Gesprächen mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen der Grundsatz vertraut, dass bereits geregelte Sachverhalte nicht nochmals geregelt werden müssen. Dieser Grundsatz hebelt die Forderung der SPD, neue Strafrechtsvorschriften einzuführen, eindeutig aus. Das war vor einem halben Jahr so, und das ist heute nicht anders. Lassen Sie mich zum Abschluss eines deutlich sagen: Ich verwehre mich dagegen, dass die Liberalen ausschließlich als Lobbyisten der Ärzteschaft dargestellt werden, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das haben Sie gerade wieder bewiesen!) die vor Problemen in ihren eigenen Reihen die Augen verschließen. Ich bin selber Arzt und kann Ihnen versichern, dass wir um ein faires und positives Bild unseres Berufsstandes bemüht sich. Das Wichtigste für uns sind eine gute, innovative Patientenversorgung und das nachhaltige Bemühungen um die Gesundheit der Bevölkerung. Entscheidend hierfür ist ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und den Patienten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Keineswegs fehlt es den Ärzten, wie die SPD unterstellt, an einem Unrechtsbewusstsein gegenüber „schwarzen Schafen“ in ihren eigenen Reihen. Die gibt es, aber es gibt auch ein moralisches Selbstverständnis bei der übergroßen Mehrzahl der Ärzte, dass Fehlverhalten geahndet werden muss. Die Ärzte sind sicher keine „Halbgötter in Weiß“. Sie sind aber auch keine „Halbteufel in Weiß“. Wenn die Opposition dies endlich zur Kenntnis nehmen würde, wäre schon ein großer Schritt getan, und die heutige Debatte hätte gar nicht erst stattfinden müssen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Carola Reimann von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Redebeiträge der Koalitionsfraktionen, die wir hier bislang zu hören bekamen, lassen eine klare Botschaft erkennen. Sie lautet: Von dieser Bundesregierung ist in Sachen Korruptionsbekämpfung nichts zu erwarten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Schon der erste Satz ist falsch!) Wir alle kennen die Fakten; sie wurden in unserem Antrag schon umfassend genannt. Bis zu 18 Milliarden Euro gehen den Versicherten jährlich durch Korruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungen verloren. Noch gravierender sind die gesundheitlichen Gefahren für die Patientinnen und Patienten, wenn nicht allein medizinische Gründe den Ausschlag für eine Behandlungsentscheidung geben. Das ist für Sie ebenso wenig Anlass, gesetzgeberisch aktiv zu werden, wie das Urteil und die bemerkenswerten, geradezu auffordernden Worte des BGH im Juni dieses Jahres. Einige von Ihnen haben die Worte offensichtlich nicht mehr so ganz im Ohr, deswegen zitiere ich: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, so das Gericht, … durch die Schaffung entsprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahndung zu ermöglichen. (Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Ja! Und was tun Sie?) Ich frage mich: Wie viele Alarmglocken müssen denn noch läuten, damit Sie endlich aufwachen? Es ist nicht so – das ist ja auch angeklungen –, dass wir uns jetzt das erste Mal mit diesem Thema beschäftigen. Als Braunschweigerin kann ich mich noch gut an das Urteil des dortigen Oberlandesgerichts Anfang 2010 erinnern. Schon damals ging es um Zuwendungen von Apothekern, Pharmaunternehmen und anderen Partnern des Gesundheitswesens an niedergelassene Ärzte. Dies war letztlich Auslöser für die Rechtsprechung des BGH. Das Urteil des BGH liegt seit mehr als einem halben Jahr vor. Es hat weitreichende Folgen, unter anderem die, dass korruptes Verhalten von Kassenärzten nach geltendem Recht nicht strafbar ist. Dabei muss man sich die Rahmenbedingungen in unserem Gesundheitssystem vor Augen führen. Ärztinnen und Ärzte handeln in einem komplexen Umfeld, mit teilweise schwer durchschaubaren und intransparenten Abrechnungssystemen, einem Umfeld, in dem Milliarden Euro umgesetzt werden, in dem aber auch Kostendruck herrscht. Der gesunde Menschenverstand sagt uns doch, dass solche Rahmenbedingungen leider auch geeignet sind, einen Nährboden für Korruption zu bieten. (Elke Ferner [SPD]: Ja!) Dabei sind Ärzte nicht anfälliger als andere Berufsgruppen, aber eben auch nicht automatisch resistent. Deshalb ist der Dauervorwurf, hier würde ein ganzer Berufsstand unter Generalverdacht gestellt, genauso absurd wie das Gerede von einer Kultur des Misstrauens, das wir uns immer anhören müssen. Das sind alles Ablenkungsmanöver. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer zu solchen Vorwürfen greift, dem sind in der Regel die Argumente ausgegangen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann sich nicht einigen!) Wenig überzeugend ist auch Ihr Verweis auf berufsrechtliche Regelungen. Ich würde es ja gut finden, wenn es anders wäre, aber Sie wissen genau, dass diese Regelungen nicht wirksam sind und dass sie, Kollege Lotter, leider nicht zu einer konsequenten Strafverfolgung führen. Es fehlen einfach die strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten. Mir ist bis heute nicht bekannt, ob der Fall, der zum Urteil des Oberlandesgerichts Braunschweig und letztlich zur Rechtsprechung des BGH geführt hat, berufsrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hat. Bei der Ausschusssitzung im September haben wir im Rahmen eines Expertengesprächs danach gefragt. Der Vizepräsident der Bundesärztekammer konnte die Frage zum damaligen Zeitpunkt nicht beantworten. Auf eine schriftliche Darstellung warten wir noch heute. (Elke Ferner [SPD]: Tja!) Wir brauchen eine strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit, denn letztendlich sind Kassen und Ärztekammern immer auch auf die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften angewiesen; das sagen alle. Nur, wenn sich niedergelassene Ärzte bei korruptem Verhalten und Bestechung gar nicht erst strafbar machen – also Korruption gar nicht strafbar ist –, dann wird auch keine Staatsanwaltschaft tätig werden können. (Elke Ferner [SPD]: So ist es! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Ohne Straftatbestand werden Sie diese Probleme nicht in den Griff bekommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Kollege Franke und die Kollegin Klein-Schmeink haben es auch schon angesprochen: Was für angestellte Ärzte gilt, muss auch für niedergelassene Ärzte gelten. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! So ist es!) Tun Sie doch bitte nicht so, als ob die Freiberuflichkeit oder gar die Freiheit in Gefahr wäre, wenn korruptes Verhalten wirklich konsequent verfolgt wird. Das ist genauso absurd wie die anderen Vorwürfe, die wir hier gehört haben. Wir hatten eine Aktuelle Stunde, das ist richtig, aber nicht zu unserem Antrag, sondern zum BGH-Urteil. Minister Bahr hat in dieser Aktuellen Stunde vor gut einem halben Jahr angekündigt, das Urteil des Bundesgerichtshofs auszuwerten, zu prüfen, welche Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen seien, und ebenfalls zu prüfen, wie die weiteren Anregungen des Bundesgerichtshofs umgesetzt werden könnten. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, die prüfen sich doch tot!) Der Minister hatte seinerzeit gesagt, dass die Konsequenzen nicht schon ein paar Tage nach Erlass des Urteils gezogen werden könnten. Aber nun – der Minister ist leider nicht da – sind schon etliche Tage ins Land gezogen. Der Ausschuss hat sich mehrmals mit diesem Thema befasst, im Zusammenhang mit unserem Antrag natürlich, aber auch in Expertengesprächen zum Urteil des BGH. Alle Fachleute waren sich da einig, dass Handlungsbedarf besteht. Und was hören wir aus dem Ministerium? Nichts. Mit jedem Tag, der verstreicht, rückt die Bundestagswahl näher. Damit blüht der Korruptionsbekämpfung das gleiche Schicksal wie der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs oder dem Härtefallfonds, nämlich: keine Lösung in dieser Legislaturperiode. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, wer unseren Antrag „Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ genau gelesen hat, der weiß, dass es eben nicht um einen Generalverdacht geht. Es geht auch nicht um die Freiberuflichkeit der Ärzte, die Union, FDP und auch einige Ärztefunktionäre sehr hoch halten (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wie eine Monstranz!) und vielleicht mehr lieben als mancher Arzt oder manche Ärztin, die ich vor Ort treffe. Wir haben ein Ziel, und das ist der Schutz der Patientinnen und Patienten. Deshalb brauchen wir eine wirksame Bekämpfung von Korruption und Fehlverhalten im Gesundheitswesen, sodass die Patientinnen und Patienten sicher sein können, dass sie wirklich das bekommen, was medizinisch begründet ist. Deshalb bitte keine Ausreden mehr, bitte keine Ablenkungsmanöver mehr! (Elke Ferner [SPD], an die CDU/CSU und die FDP gewandt: Sagen Sie doch einfach: Wir wollen es nicht!) Gehen Sie das Problem endlich an! Unser Antrag ist der richtige Weg dahin. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den letzten Satz lassen wir mal weg! Aber ansonsten ist es gut!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Monstadt von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können jetzt noch richtig was gutmachen!) Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Mal diskutieren wir heute den Antrag der SPD zur Korrup-tionsbekämpfung im Gesundheitswesen. Aber auch Wiederholungen über zwei Jahre hinweg, meine Damen und Herren von der SPD, sind nicht geeignet, uns hier zu überzeugen. Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich bin gerne bei Ihnen, wenn Sie den Antrag für nicht besonders gut halten. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Ansatz war richtig!) Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor der festen Überzeugung: Weder der niedergelassene Arzt noch der Apotheker oder der Krankenhausdirektor in Deutschland steht morgens mit dem Vorsatz auf, sich wider besseres Wissen korrupt zu verhalten, Patienten und dem Gesundheitssystem bewusst zu schaden oder sich persönliche Vorteile zu verschaffen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Sie verallgemeinern! Das ist eine völlig unzulässige Verallgemeinerung!) Diese meine Überzeugung kann von Ihnen auch heute, in dieser Debatte, nicht erschüttert werden. Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, stellen Sie die Ärzteschaft und das Gesundheitssystem in Deutschland unter Generalverdacht. (Elke Ferner [SPD]: Das ist absurd, was Sie erzählen!) Sie, Frau Kollegin Ferner und Frau Dr. Reimann, bilden die Spitze dieser Bewegung mit Ihren unqualifizierten und undifferenzierten Behauptungen in Bezug auf Korruptionstatbestände (Elke Ferner [SPD]: „Unqualifiziert“ ist Ihre Rede!) und die angebliche Höhe der Fallzahlen. Sie zeichnen das nicht zutreffende Bild des gierigen Arztes. Damit treiben Sie einen Keil zwischen Arzt und Patient und gefährden das hier zu Recht bestehende Vertrauensverhältnis. (Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie die Beispiele bestreiten? – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein, die Korrupten treiben einen Keil!) Sie tragen die Verantwortung dafür, wenn durch derartige Forderungen die Beziehung zwischen Arzt und Patient gefährdet wird. Meine Damen und Herren, Ärzte in Deutschland sind keine raffgierigen Scharlatane, die den ganzen Tag damit beschäftigt sind, sich die Taschen vollzumachen (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nicht alle, aber einige!) und das Wohl ihrer Patienten aufs Spiel zu setzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Wirklichkeit sieht anders aus: Ärztinnen und Ärzte setzen sich umfassend, sieben Tage die Woche, bis zu 24 Stunden am Tag, teilweise unter großer körperlicher und seelischer Belastung für ihre Patienten ein. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer bestreitet das denn? – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie!) Meine Damen und Herren, wir haben uns bereits mit dem Antrag der SPD wie auch mit der BGH-Entscheidung vom 22. Juni 2012 beschäftigt. Der BGH hat entschieden, dass niedergelassene Vertragsärzte in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben weder Amtsträger noch Beauftragte der Krankenkassen sind. Insoweit betrifft dieser Beschluss ausschließlich den strafrechtlichen Bereich. Aber nach wie vor macht sich der Arzt, der dem Patienten einen Gesundheitsschaden zufügt, der Körperverletzung strafbar. Nach wie vor ist ein Verhalten des Arztes, das zu einem Vermögensschaden etwa der Krankenkasse führt, als Untreue gemäß § 266 StGB strafbar. Der BGH-Beschluss hat daran nichts geändert. Bedeutung entfaltet der BGH-Beschluss nur dort, wo weder ein Gesundheitsschaden noch ein Vermögensschaden eintritt. Der BGH-Beschluss bedeutet aber nicht, dass rechtsfreie Räume entstehen und etwa ein Pharmahersteller einem Kassenarzt für die Verschreibung seiner Produkte Vorteile gewähren darf. Vielmehr ist die Faktenlage auch und gerade durch die BGH-Entscheidung gleich geblieben. Fehlverhalten kann und wird geahndet. So bestimmt etwa die ärztliche Berufsordnung in § 31 Abs. 1, dass es Ärztinnen und Ärzten nicht gestattet ist, für Patientenzuweisungen oder Verordnungen … ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen oder zu gewähren. Die Überwachung dieser Vorschrift der Berufsordnung obliegt den Landesärztekammern. Bei Verstößen als Folge berufsunwürdigen Verhaltens kommen Maßnahmen wie Geldbußen bis 50 000 Euro oder Entzug der Approbation in Betracht. Sozialrechtlich sind die Kassenärztlichen Vereinigungen durch § 81 a SGB V verpflichtet, Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einzurichten. Sie haben dabei mit den Krankenkassen und ihren Verbänden zusammenzuarbeiten. Diese Stellen informieren die Staatsanwaltschaft, wenn es einen Anfangsverdacht auf strafbare Handlungen gibt. Weiter gibt es die Regelung im Arzneimittelgesetz, die in § 67 Abs. 6 die Anzeige jedweder Anwendungsbeobachtung vorschreibt. Sozialrechtliche Sanktionen ergeben sich aus § 128 SGB V; die Kollegin Maag hat auf diese Regelung bereits hingewiesen. Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern und Kassen können auf wirksame und sinnvolle berufs- und sozialrechtliche Regelungen zurückgreifen. Anstatt nach neuen Straftatbeständen zu rufen, sollten wir alle zusammen die konsequente Umsetzung der bereits existierenden Regelungen fordern. Herr Kollege Dr. Franke, wenn es keine Verfahren gibt, war die Beweislage offensichtlich nicht ausreichend und konnten entsprechende Verfahren nicht durchgeführt werden. Auch das müssen Sie akzeptieren. Erlauben Sie mir, mich in der gebotenen Kürze mit dem SPD-Antrag im Einzelnen auseinanderzusetzen. Die SPD fordert, im StGB einen Sonderstraftatbestand zu schaffen. Dieser Punkt des Antrags ist – ich hatte das bereits ausgeführt – überflüssig. Schon heute wird jede Korruptionshandlung, auch durch Ärzte, strafrechtlich sanktioniert. Schon heute kann jedes Fehlverhalten geahndet werden. Der SPD-Antrag fordert weiter, dass „systematische Falschabrechnungen“ von Krankenhäusern mit spürbaren Sanktionen geahndet werden. Falschabrechnungen im Krankenhaus kommen vor, und das ist nicht korrekt. Die Systematik, die von der SPD hier unterstellt wird, ist allerdings nicht belegbar. Ich habe vor diesem Hohen Haus schon einmal darauf hingewiesen: Es gibt keine amtliche Statistik über zu hohe Krankenhausabrechnungen. Prüfungen des MDK deuten aber darauf hin, dass circa 4 Prozent aller Krankenhausabrechnungen Auffälligkeiten aufweisen oder falsch sind. Die Prüfungen zeigen auch, dass bei einigen Häusern Auffälligkeiten besonders gehäuft vorkamen. Es kann aber doch nicht sein, meine Damen und Herren von der SPD, dass Sie aufgrund des Handelns einiger schwarzer Schafe den Ruf der Krankenhäuser ruinieren, indem Sie sie als systematische Falschabrechner bezeichnen. Im Übrigen kommen Falschabrechnungen sowohl zuungunsten der Krankenkassen als auch zuungunsten der Krankenhäuser vor. (Zuruf von der FDP: So ist das!) Die SPD fordert weiter die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften bzw. Verwaltungseinheiten mit sozialrechtlichem Spezialwissen. Bemerkenswert ist zuallererst, dass Sie damit allen Staatsanwälten der zuständigen Behörden unterstellen, sie würden die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des BGH in Strafsachen nicht kennen. Ich habe bereits in der letzten Debatte darauf hingewiesen, dass Sie zuerst vor Ihrer eigenen Tür kehren sollten. Niemand wird Sie hindern, in den von Ihnen geführten Bundesländern schnell und umfassend tätig zu werden und entsprechende Behörden einzurichten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Justizverwaltung ist Ländersache. Der Bund kann und darf hier nicht tätig werden. Weiterhin verlangt die SPD in ihrem Antrag die Einführung eines besonderen, auf sozialversicherungsrechtliche Sachverhalte abzielenden Straftatbestands. Dies ist ebenfalls überflüssig, das StGB ist auch in diesen Fällen ausreichend. Als letzten Punkt schlägt die SPD die Errichtung von Stellen zur Fehlverhaltensbekämpfung bei den Krankenkassen ergänzend zu den Verpflichtungen der Kassenärztlichen Vereinigungen vor. Dieser Ansatz, Fehlverhalten gebündelt zu bekämpfen, ist sicher sinnvoll und damit das einzig Gehaltvolle des gesamten Antrags. Die weitere Ausgestaltung dieser Stellen sowie ihre genaue finanzielle Ausstattung sollten wir gemeinsam weiter im Blick behalten. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Das Urteil des Großen Senats des BGH vom 22. Juni 2012 hat bestätigt: Niedergelassene Ärzte in Deutschland sind Freiberufler, und deshalb ist die Beeinflussung des Verordnungsverhaltens von niedergelassenen Vertragsärzten durch die Industrie nach StGB nicht strafbar. Als Freiberufler verbietet ihnen ihre Berufsordnung solches Verhalten jedoch ausdrücklich. Ärzte sollen nach medizinischen Kriterien entscheiden, nicht nach finanziellen Interessen der Krankenkassen oder anderer Beteiligter im Gesundheitswesen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass der Arzt in diesem Land Freiberufler ist. Er ist nicht Angestellter oder Beauftragter einer Krankenkasse. Bei den Ärzten eine Spezialregelung einzuführen und einen Sonderstraftatbestand im StGB zu schaffen, ist nicht nur überflüssig, sondern stellt Ärzte in Deutschland unter Generalverdacht. Das ist nicht die Politik dieser christlich-liberalen Koalition. Ich halte es da gerne mit Herrn Lanfermann: Wo keine Lücke ist, werden wir auch nicht tätig. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich aber ganz anders verstanden!) Ich bitte Sie, der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses zu folgen und den Antrag der SPD abzulehnen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da war Frau Maag aber ein bisschen differenzierter als Sie!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Maria Michalk (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Ende dieser Debatte und zu Beginn meiner Rede etwas Grundsätzliches sagen: Es geht bei dieser Debatte um Vertrauen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Darüber sind wir uns doch einig. Das Vertrauen ist ein ganz wichtiger Kapitalstock. Das gilt grundsätzlich, aber erst recht im Gesundheitswesen und vor allem im sogenannten Arzt-Patienten-Verhältnis. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht haben Sie!) Wer kein Vertrauen in Menschen, in Organisationen oder in Systeme hat, das heißt, sich überhaupt nicht mehr auf das Verhalten anderer verlässt oder verlassen will, der muss in unserer komplexen Welt eigentlich verrückt werden. In jeder Sekunde unseres Lebens verlassen wir uns darauf, dass ein anderer etwas richtig macht. Sonst wäre die Gestaltung unseres Lebens noch viel schwieriger. Und selbstverständlich sind wir Menschen enttäuscht, wenn man unser Vertrauen nicht rechtfertigt und wir auf das falsche Pferd gesetzt haben. Diese grundsätzliche Feststellung möchte ich einfach einmal an den Anfang meiner Rede stellen. In dieser Debatte über den Antrag der SPD ist mehrfach gesagt worden, wie falsch es ist, Korruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungen in einen Topf zu werfen. Vertrauen hat etwas mit Erwartungen zu tun. Erwartungen kann man in zwei Kategorien einteilen: Es gibt Erwartungen, die zwar erfüllbar sind, die aber durch Fehlverhalten enttäuscht werden. Dazu zähle ich zum Beispiel den bewussten Abrechnungsbetrug, den es in unserem Land tatsächlich gibt. Es gibt aber auch Erwartungen, die gar nicht erfüllt werden können. Dazu zähle ich die Erwartung, dass Menschen keine Fehler machen. Ich denke hier zum Beispiel an die Falschabrechnung. Oder will hier jemand behaupten, dass wir Menschen grundsätzlich fehlerfrei sind und immer alles richtig machen? Der Unterschied ist, dass bei einem Abrechnungsbetrug von Anfang an nicht die Bereitschaft besteht, die Erwartung zu erfüllen und Fehler zu vermeiden. Das muss man natürlich als verwerflich empfinden. Der Begriff der Korruption wurde hier mehrfach definiert. Korruption ist aufs Schärfste zu verurteilen; auch darüber sind wir uns einig. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja schon mal was!) Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass es auch in unserem Land diese kriminelle Energie gibt. Die Frage ist, wie viel von diesem Gift unser Land ertragen kann. Wie lange will man warten? So lange, bis dieses Gift dem Allgemeinwohl so schadet, dass der Schaden nicht mehr zu verkraften ist? An diesem Punkt sind wir nun angelangt. Wir haben viele Maßnahmen eingeleitet; sie wurden schon genannt. Ich will sie zum Schluss kurz zusammenfassend nennen: Mit den §§ 197 a SGB V und 47 a SGB XI ist eine Rechtsgrundlage geschaffen worden, um die verschiedenen Formen von Fehlverhalten im Gesundheitswesen effektiver ahnden bzw. vermeiden zu können. Ob bei den gesetzlichen Krankenkassen, den Pflegekassen, ihren Verbänden oder dem GKV-Spitzenverband – überall wurden Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen eingerichtet. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Michalk, die Frau Kollegin Klein-Schmeink würde Ihnen gerne eine Frage stellen. Maria Michalk (CDU/CSU): Bitte schön. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da Sie so deutlich darauf hinweisen, dass Sie Maßnahmen ergriffen haben: Können Sie mir vielleicht sagen, ob auch die Ärzteschaft in den Geltungsbereich des entsprechenden Paragrafen im SGB V, der Zuwendungen untersagt, einbezogen ist? Maria Michalk (CDU/CSU): Liebe Kollegin, Sie wissen, dass wir unterschiedliche Arbeitsverhältnisse und unterschiedliche Anstellungsverhältnisse haben. Darauf sind meine Kollegen, vor -allen Dingen Herr Monstadt, eingegangen. Deshalb müssen wir in diesem Bereich mit unterschiedlichen Instrumenten arbeiten. Fakt ist aber, dass es in unserem Land genügend Möglichkeiten gibt, Fehlverhalten zu ahnden und kriminelle Energie abzustrafen. Ich werde dazu gleich noch zwei Punkte nennen. (Elke Ferner [SPD]: Deshalb gibt es auch reihenweise Verfahren! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr spannend!) Ich komme noch einmal auf die Prüfstellen zurück. Sie wissen, wir haben uns im Gesundheitsausschuss mehrfach mit ihrer Arbeitsweise auseinandergesetzt. Die Liste der Fehlverhalten liest sich tatsächlich wie ein Krimi. Als normal denkender Mensch stellt man sich immer wieder die Frage, wie einfältig oder wie raffiniert der eine oder andere gewissenlose Zeitgenosse in unserer Gesellschaft ist, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Darin sind wir uns doch einig. Ein Unrechtsbewusstsein zu haben, hat etwas mit Gewissen zu tun. Bei dem einen schlägt das Gewissen wie eine große, in sich ruhende Uhr; da funktioniert das Gewissen. Leider gibt es in unserer Mitte Zeitgenossen, bei denen das Gewissen nur leise tickt. Bei ihnen meint man: Die Uhr steht still. Diese Menschen haben kein Gewissen. Auch darum geht es. Ich will ein Beispiel nennen: Es ist sicherlich ein riskantes Geltungsbedürfnis, wenn ein junger Mann seinen Doktortitel erschwindelt. Er wurde dann, unbemerkt von allen Beteiligten im System, als Falschdoktor eingestellt und hat längere Zeit in der Psychiatrie gearbeitet. Das ist tatsächlich geschehen. Aber am Ende wurde er bestraft. Ein zweites Beispiel: Es steckt sicherlich unfassbare Habgier dahinter, wenn die Ehefrau eines niedergelassenen Arztes bereits unterzeichnete Rezepte von ihrem eigenen Ehemann aus der Praxis stiehlt und jahrelang mit ihrer Apothekerfreundin Medikamente abrechnet, die nie verordnet und verkauft wurden. Sie wurden aber abgerechnet; anschließend wurde der Gewinn geteilt. Auch das ist geschehen; es ist ein Schaden entstanden. Aber unsere Instrumente haben bewirkt, dass beide bestraft wurden. Betrug ist in unserem Land strafbar, und auch wenn die Mühlen unseres Rechtsstaats gelegentlich sehr, sehr langsam mahlen – das will ich durchaus eingestehen –, so steht am Ende doch die Gerechtigkeit. In beiden Fällen gab es eine Verurteilung. Abgesehen von dem konkreten Schaden für unser Gemeinwesen ist nicht zu ermessen, wie groß die menschliche Enttäuschung und Verletzungen sind, die – so glaube ich – bei den Betroffenen und bei den Mitbetroffenen nie heilen. Jede Bürgerin und jeder Bürger unseres Landes kann sich mit einem konkreten Verdacht oder einem glaubhaften Hinweis auf Fehlverhalten im Gesundheitswesen an die zuständigen Kranken- und Pflegekassen, an die Verbände oder an den GKV-Spitzenverband wenden. Es sind sogar Hinweisgeberformulare entwickelt worden, um einerseits effizient den Hinweisen nachgehen zu können und andererseits Vertraulichkeit zu wahren; denn nicht jeder Verdacht hat sich bestätigt. Fassen wir zusammen: Wenn Leistungserbringer trotz Aufklärung öffentlich und weniger öffentlich bekanntgewordener Fehlverhalten und trotz des dazu ausgesprochenen Strafmaßes immer wieder versuchen, sich persönliche oder institutionelle Vorteile zu verschaffen, dann gehört das an den Pranger. Noch einmal: Hier sind wir uns einig. Wir dürfen aber um Gottes willen nicht alle und alles in einen Topf werfen. Es ist auch unsere politische Aufgabe, immer wieder für die Anerkennung der Leistungserbringer zu werben, die in unserem Gesundheitswesen Tag und Nacht fachliche Hochleistungen erbringen und einen uneingeschränkten Einsatz leisten. Neben ihrem Gehalt verdienen sie unsere Anerkennung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Anhörung zu diesem Antrag hat deutlich gemacht, dass die bestehenden sozialrechtlichen Regelungen zu Fehlverhalten wie etwa die Möglichkeit zum Entzug der Zulassung mindestens so wirksam sind wie die Debatte über neue Straftatbestände. Wettbewerbsrechtliche, sozialrechtliche oder berufsrechtliche Abmahnverfahren und die damit verbundenen Strafen wirken. Sie werden von wirklich Kriminellen aber leider manchmal als bedeutungslos erachtet. Sie tun es trotzdem nach dem Motto: Man wird mich schon nicht erwischen. Daher erinnere ich an die differenzierte Betrachtung, die in einer alten Volksweisheit sehr gut ausgedrückt wird und die uns mahnt, nicht alles in einen Topf zu werfen und die Dinge differenziert zu betrachten. Sie lautet: Nicht sehr groß ist meist die Kluft zwischen Teufelskerl und Schuft. (Elke Ferner [SPD]: Das gilt sogar für die Regierung!) Wir haben in unserem Gesundheitswesen Teufelskerle, die ihr ganzes Können dafür einsetzen, dass das Leben von Menschen gerettet wird und dass Menschen geheilt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, die Debatte hat gezeigt: Die Regelungen sind vorhanden. Sie müssen angewendet werden. Deshalb ist es richtig, dass der Gesundheitsausschuss empfohlen hat, den Antrag der SPD abzulehnen. Wir als Union werden es tun. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Maria Michalk. Wir haben keine weiteren Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt, sodass ich die Aussprache schließen darf. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9587, den Antrag der Fraktion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/3685 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind beim Tagesordnungspunkt 45: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung von Gefahren und Missbräuchen im Hochfrequenzhandel (Hochfrequenzhandelsgesetz) – Drucksache 17/11631 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Die Geschäftsführer haben diese Zeit vereinbart. Sie sind damit auch alle einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Ich kann die Aussprache eröffnen. Als Erster in unserer einstündigen Aussprache hat das Wort unser Kollege und Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen Hartmut Koschyk. Bitte schön, Kollege Hartmut Koschyk für die Bundesregierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Unser Parlament hat heute mit der Zustimmung zur Freigabe der nächsten Tranchen für Griechenland ein ganz wichtiges Signal für die Stabilisierung der Euro-Zone gesetzt. Mit dieser Plenardebatte markieren wir einen wichtigen Meilenstein des Masterplans der Bundesregierung, von CDU/CSU und FDP bei der Regulierung der Finanzmärkte. (Beifall des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]) Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Finanzpolitikern von CDU/CSU und FDP dafür bedanken, dass sie bei vielen dieser Gesetzesvorhaben eine wirkliche Schrittmacherfunktion haben, dass sie in einem guten Ringen mit unserem Haus auf zusätzliche und schnellere Initiativen drängen. Das ist gut und wichtig. Für diese Zusammenarbeit möchte ich mich zu Beginn der Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfes ausdrücklich bei den Kollegen bedanken. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schreitet die Bundesregierung abermals in Europa voran und leistet einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Wir haben dies beim Verbot von Leerverkäufen bereits getan. Wir haben dies bei unserem Gesetzentwurf für die Bankenrestrukturierung inklusive Bankenabgabe getan. Wir tun dies bei der Finanztransaktionsteuer, wo es der Bundesregierung gelungen ist, nach einer anfänglichen Unterstützung von nur wenigen Staaten jetzt die erforderlichen zehn Staaten zu gewinnen, um über verstärkte Zusammenarbeit bei diesem Thema endlich voranzukommen. Schließlich tun wir dies jetzt auch bei Maßnahmen zur Einschränkung des Hochfrequenzhandels. Wir alle wissen, dass sich in den letzten Jahren aufgrund technologischer Entwicklungen der elektronische Handel von Finanzprodukten zunehmend ausgeweitet und an Bedeutung gewonnen hat. Bestimmte Handels-teilnehmer setzen bei diesem elektronischen Handel algorithmische Handelsprogramme, also Computerprogramme, ein. Die Kauf- und Verkaufssignale erfolgen in sehr kurzen Abständen von teilweise nur einigen Sekundenbruchteilen, und die Titel werden nur für extrem kurze Zeiträume gehalten. Das versteht man unter Hochfrequenzhandel. Der Einsatz dieser computergestützten Hochfrequenzhandelsstrategien hat die Geschwindigkeit und die Komplexität des Handels massiv erhöht. Das birgt natürlich eine Vielzahl von Risiken und Gefahren für die Stabilität der Märkte. Extreme Börsenszenarien, bei denen in der Vergangenheit innerhalb weniger Minuten gravierende Marktausschläge vorkamen, dokumentieren diese Risiken eindrucksvoll. Wir haben wiederholt, insbesondere beim sogenannten Flash Crash im Mai 2010, erleben müssen, dass der computergesteuerte Hochfrequenzhandel -extreme Kursbewegungen ohne jeglichen Bezug zu realwirtschaftlichen Entwicklungen hervorrufen kann. Zugleich eröffnet der Hochfrequenzhandel auch erhebliche Möglichkeiten zum Marktmissbrauch. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir diesen Risiken und Gefahren entgegenwirken. Natürlich wurde dieses Problem auch auf europäischer Ebene erkannt, und das ist gut so. Es werden entsprechende Regelungen im Rahmen der Überarbeitung der europäischen Finanzmarktrichtlinie MiFID erörtert, aber es schadet nichts, wenn auch bei dieser wichtigen Finanzmarktregulierung Deutschland wieder – ich habe die Beispiele genannt – voranschreitet, Tempo macht und die Richtung bestimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Gesetz, das wir heute dem Bundestag zur Beratung vorlegen, ergänzt wichtige nationale und internationale Regulierungsvorhaben, die bereits auf den Weg gebracht wurden oder sich auf der Zielgeraden befinden. Ich denke nur an die neuen Vorschriften für außerbörsliche Derivategeschäfte, also Geschäfte mit sogenannten OTC-Derivaten. Ich denke an die Umsetzung von Basel III. Und ich denke an die Einführung zusätzlicher Kapitalzuschläge für systemrelevante Banken. Wir werden all diese Projekte zügig vorantreiben, um unser Finanzsystem national, europäisch und international robuster und stabiler zu machen. Das ist ein zentrales Anliegen dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen von CDU/CSU und FDP. Lassen Sie mich den Gesetzentwurf kurz vorstellen: Er sieht eine Zulassungspflicht für bislang nicht regulierte Hochfrequenzhändler vor. Damit wird eine derzeit bestehende Aufsichtslücke geschlossen. Erfasst werden nicht nur unmittelbare Handelsteilnehmer, sondern auch mittelbare, die über sogenannte Order-Routing-Systeme an der Börse handeln. Zudem werden strengere Anforderungen an den Hochfrequenzhandel gestellt. Die in diesem Marktsegment tätigen Wertpapierdienstleister und Fondsgesellschaften müssen ihre Handelssysteme künftig so umgestalten, dass Störungen des Markts unterbleiben. Darüber hinaus werden die Dokumentationspflichten erweitert. Künftig müssen alle Änderungen der Handelsalgorithmen dokumentiert werden, um die Arbeit der Aufsicht, aber auch – das ist für uns genauso wichtig – die Ahndung von marktmanipulierendem Verhalten zu erleichtern. Die Auskunfts- und Eingriffsrechte der Börsenaufsicht und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen werden in dem Gesetz konkretisiert, und bestimmte Handelsstrategien von Hochfrequenzhändlern werden als Marktmanipulation eingestuft. Ferner wird eine Pflicht zur Kennzeichnung der Algorithmen eingeführt. Damit wird die Abschaltung der Algorithmen, die fehlerhaft sind oder zur Manipulation der Märkte eingesetzt werden können, durch Börsenaufsicht und BaFin erleichtert. So werden die Aufsicht und Steuerung noch einmal gestärkt. Ebenfalls ist in dem Gesetzentwurf eine Verpflichtung für Börsenbetreiber vorgesehen, ihren Handelsteilnehmern für die exzessive Nutzung der Handelssysteme eine Gebühr aufzuerlegen. Eingeführt werden schließlich auch eine Begrenzung des Verhältnisses von aufgegebenen Orders und tatsächlich ausgeführten Geschäften sowie einheitliche Mindestgrenzen für die kleinstmöglichen Kursänderungen. Mit den Mindestpreisänderungsgrößen soll dem Trend im Wertpapiergeschäft zu immer kleineren Preisanpassungen und damit zu immer mehr Geschäftsabschlüssen entgegengewirkt werden. Um Ausweichreaktionen der Marktteilnehmer auf alternative Plattformen, wie zum Beispiel multilaterale Handelssysteme, zu verhindern, sollen die Regelungen des Hochfrequenzhandelsgesetzes auch auf diese Systeme erstreckt werden. Wir begrüßen, dass der Bundesrat diesem Gesetzentwurf grundsätzlich positiv gegenübersteht. Er schlägt jedoch vor, die im Gesetzentwurf vorgesehene Erlaubnispflicht für Hochfrequenzhändler zu streichen. Diesem Ansinnen können wir nicht entsprechen. Denn die Einführung einer Erlaubnispflicht ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Gesetzentwurfes und dient dazu, bestehende Aufsichtslücken zu schließen. Ein Verzicht auf die Erlaubnispflicht würde zu einer Verminderung der geplanten Aufsichtsintensität führen. Deshalb lehnen wir vonseiten der Bundesregierung das ab. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich darf zusammenfassen: Die neue gesetzliche Regelung, die wir Ihnen heute vorlegen, beseitigt entscheidende Schwachstellen, die sich im Zuge der Finanzkrise aufgetan haben. Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP bei diesem Thema, einem wichtigen Meilenstein der Finanzmarktregulierung in Europa, erneut voranschreitet. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Herr Staatssekretär Hartmut Koschyk. – Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Dr. Sieling. (Beifall bei der SPD) Dr. Carsten Sieling (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Staatssekretär, Sie können uns hier in jeder Rede die Geschichte – man ist ja geneigt, zu sagen: das Märchen – davon erzählen, was die Koalition schon alles angefasst und in Gang gebracht hat. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ihr Kanzlerkandidat hat doch schon vor drei Jahren gesagt, er habe alles erledigt!) Sie können aber nicht vergessen machen, dass Sie schon mehr als drei Jahre regieren. Es stellt sich die Frage, warum Sie bei einem so wichtigen Thema wie diesem erst jetzt etwas tun. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir sind die Ersten in Europa, Herr Sieling!) Also: Warum erst jetzt? (Dr. Daniel Volk [FDP]: Ist das eigentlich Ihre einzige Kritik an dem Gesetzentwurf, oder kommt da auch noch was anderes?) Der Staatssekretär hat auf ein Ereignis hingewiesen, das in Ihrer Regierungszeit stattgefunden und in der Tat die ganze Branche, die ganze Welt aufgeschreckt hat. Herr Kollege, es handelt sich um den Flash Crash vom Mai 2010. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wo?) Jetzt schreiben wir November 2012. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wo war das denn? Wo war denn der Flash Crash? In New York!) Zweieinhalb Jahre brauchten Sie – dieses Ereignis ist ja in Ihre Regierungszeit gefallen –, um uns Vorschläge vorzulegen. Das reicht nicht. Das ist armselig. Das ist keine durchgreifende Finanzmarktregulierung, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE] – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Oh! Das tut jetzt weh!) Sie sagen jetzt, Sie treiben nun die Finanztransaktionsteuer voran. Das ist wirklich eine Märchengeschichte. Wir haben Sie hier zum Jagen tragen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Übrigens ist das erst seit Sommer letzten Jahres Ihre Auffassung. Auch hier gilt: Wenn es nicht eine aktive Opposition gegeben hätte – da muss man alle drei Oppositionsfraktionen einbeziehen –, dann hätten wir das nicht erreicht. Sie können sich das wirklich nicht ans Revers heften. (Beifall bei der SPD) Es bleibt dabei: Sie kommen zu spät – auch in diesem Falle –, und Ihre Vorschläge sind unzureichend. Es ist sogar so, dass Sie uns in Wirklichkeit Sand in die Augen streuen. Sie sagen, Sie würden den Hochfrequenzhandel einschränken. Wenn Sie ihn wirklich einschränken würden, was notwendig ist, dann müssten Sie anders vorgehen. Sie machen nichts anderes, als die Computer, die Gefahren für die Stabilität der Märkte hervorrufen, neu anzustreichen; bestenfalls wechseln Sie einen Monitor aus. Sie müssten aber auch den Mut haben, Geschäfte, die schädlich sind, abzuschalten. Man kann nicht mit einem Bummelzug gegen eine Entwicklung in Lichtgeschwindigkeit anfahren. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Oh! Heute ist der Tag der missglückten Metaphern!) – Es handelt sich nicht um eine Metapher, sondern um ein ernstes Problem, Kollege, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann kommen Sie doch auch mal mit ernsten Argumenten! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Werden Sie doch mal konkret!) und zwar um das ernste Problem, dass in Europa mittlerweile 40 Prozent des Börsenhandels in Form des Hochfrequenzhandels abgewickelt werden; in den USA sind es sogar 70 Prozent. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Na ja!) Im Kern geht es darum, dass die Computeralgorithmen, die es gibt – der Staatssekretär hat dies angesprochen –, vorher betrachtet und untersucht werden müssen. Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf nichts anderes vor, als hinterher auf Fehlentwicklungen zu reagieren. Das reicht unseres Erachtens nicht aus. Man muss vorher tätig werden, um Schlechtes und Schlimmes zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Und Sie wissen bestimmt auch, wie!) – Natürlich. Ich komme gleich darauf zu sprechen, wenn ich die Vorschläge unserer Fraktion benenne. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ah!) Immer wieder werden Gegenargumente angeführt. Das beliebteste Gegenargument, das von den Börsenhändlern angeführt wird, ist die Liquidität: Durch den dynamischen Handel würde Liquidität erzeugt, die man so dringend braucht. – Jeder Börsenhändler bekommt bei diesem Wort in der Tat feuchte Augen. Man darf aber nicht vergessen, dass 90 Prozent der Orders in diesem Bereich storniert werden. Es sind Scheinaktivitäten, denen entgegengetreten werden muss. Erste Maßnahmen gibt es an den Börsen selber. Sie aber tun mit Ihrem Gesetz nichts dafür, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben es nicht gelesen!) durchzugreifen; Sie tun nichts dafür, das mit Ihren Vorschlägen hinreichend einzudämmen. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann gehen Sie auf unseren Vorschlag ein!) Ich bin ziemlich sicher, Herr Kollege: Wenn wir eine Anhörung durchführen, wird sehr sauber herausgearbeitet werden, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber jetzt wissen Sie es noch nicht!) dass Ihre Vorschläge an dieser Stelle nicht zureichend sind. Wir plädieren in der Tat dafür, Maßnahmen zu ergreifen, diesen Hochfrequenzhandel einzuschränken. Denn es ist nicht ersichtlich, dass diese explodierenden Märkte – dieser Bereich hat ja durchaus auch zu der Entwicklung von Blasen beigetragen – einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Sie haben wenig Bezug zur Realwirtschaft und müssen vor diesem Hintergrund auf den Prüfstand gestellt werden. Was Sie vorlegen, ist keine Antwort. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Es verursacht Gefahren, wenn der Handel in Millisekunden gemacht wird und niemand eine Möglichkeit hat, darauf zu reagieren. Sie sehen in Ihrem Gesetz ein paar Maßnahmen vor, die unseres Erachtens nicht hinreichend sein werden. Zunächst will ich die Volatilitätsunterbrecher ansprechen, die Sie an den Börsen einbauen wollen, um die Preisschwankungen einzuschränken. Solche Dinge werden an den Börsen schon angegangen. Es käme zu Unterbrechungen, die unseres Erachtens nicht hinreichend sind. Wir meinen, dass zwei wesentliche Maßnahmen ergriffen werden müssten, wenn man vorher in diesen -Finanzmarkt eingreifen will. Die Erste. Sie haben gesagt: Wir wollen genehmi-gen. – Ja, genehmigen ist wichtig. Man braucht ein Zulassungsverfahren für die Algorithmen. Man darf nicht erst hinterher reagieren, nachdem es Verwerfungen gegeben hat. Man braucht einen Stresstest für die gefährlichen und komplizierten Computerprogramme. Deshalb ist es notwendig, systematisch das zu untersuchen, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Unser Anliegen ist: Bevor es zu neuen Flash Crashs kommen kann – die Aufsicht in den USA hat hundert Fälle von Preisausschlägen oder Preisabstürzen benannt, die dem Markt schaden –, muss man die notwendigen Informationen und den Mut haben, gegebenenfalls schädliche Handelsstrategien zu verbieten. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Mindesthaltefristen. In dieser Frage ist der Gesetzentwurf leider ganz dünn; anders kann man es nicht sagen. Schauen Sie doch nach Australien! Warum ist es möglich, in Australien Mindesthaltefristen einzuführen, (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ein großer -Finanzplatz! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein großes Land, aber ein kleiner Finanzplatz!) die bei 2 bis 5 Sekunden liegen? Warum folgen Sie nicht dem Votum des Europäischen Parlaments? Das Europäische Parlament votiert dafür, eine Mindesthaltefrist von einer halben Sekunde einzuführen. Dem haben übrigens unter anderem die Europaparlamentskollegen von CDU und CSU zugestimmt. Warum, Kollege Michelbach, machen Sie das nicht auch hier? Wir brauchen eine Begrenzung und deshalb Mindesthaltefristen. Das ist aus unserer Sicht ein wichtiger Punkt; denn wir wollen eine wirkliche Regulierung dieses Bereichs. Wir wollen auch eine Reduzierung dieses Bereichs auf das wirtschaftlich Notwendige. Das muss ein Ziel sein. Eine solche Maßnahme ist allerdings nur ein Baustein. Sie muss sich in die anderen Maßnahmen einfügen. Das Wirkungsvollste – das will ich an dieser Stelle auch sagen – sind Preissignale, ist die Verteuerung von Aktivitäten, die keinen wirtschaftlichen Nutzen haben. Auch wenn es gerade in den Reihen der Koalition hier und da zu empörtem Aufstöhnen führt: (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein, nein! Das kriegen Sie nicht hin, dass wir empört aufstöhnen! Dazu ist die Qualität zu gering!) Das wirksamste Mittel ist das – Kollege Brinkhaus, Sie werden uns das nachher wieder erzählen –, was auch Sie in Ihrer Fraktion lange blockiert haben: eine Finanztransaktionsteuer, die die Vorteile, die diese Millisekunden bieten, nicht mehr wirksam werden lässt, sondern mit zusätzlicher Bepreisung marktnahe Signale aussendet, die solche Aktivitäten dann unterbinden. Das wird zur Stabilität der Finanzaktivitäten beitragen. Da müssen Sie mehr bringen als dieses Gesetz. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. – Nächster Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Björn Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Björn Sänger (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 28. Juli 1866 war ein Meilenstein in der Geschichte der Kommunikationstechnik. Was geschah an diesem 28. Juli 1866? (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden es uns gleich erzählen!) – Genau, ich werde es gleich ausführen; Sie brauchen nicht zu lange gespannt zu sein. – An diesem Tag wurde das erste Transatlantikkabel zwischen den USA und -Europa in Betrieb genommen. Es ist – es liegt ja noch da – 9 000 Tonnen schwer –, und es erreichte – man kann sich das kaum vorstellen – die sagenhafte Datenübertragungsrate von 36 Bit pro Sekunde – wir Parlakom-Nutzer wissen, wie schnell das ist. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ein wahres Wort, gelassen ausgesprochen! – Heiterkeit des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]) Zu der damaligen Zeit war das eine gigantische Investition. Diese Investition brachte große Veränderungen im Wirtschaftsleben: Die Märkte wuchsen zusammen, Preisunterschiede zwischen auf beiden Seiten gehandelten Rohstoffen und Wertpapieren schrumpften, und der wirtschaftliche Austausch wuchs. Die Kommentatoren der damaligen Zeit waren sich einmütig einig: Dieses Kabel ist ein Segen für die Menschheit. Heute, 146 Jahre später, sticht erneut ein Schiff in See, um ein Kabel zu verlegen: ein Glasfaserkabel zwischen London und Halifax. Es wird etwa 570 Kilometer kürzer sein, insgesamt nur noch eine Strecke von 6 000 Kilometern überbrücken. Durch dieses Glasfaserkabel sollen ab 2013 ausschließlich Finanzdaten und Kursinformationen übermittelt werden. Einmal hin und zurück wird 59 Millisekunden dauern – das ist eine Geschwindigkeit von 200 Kilometern pro Millisekunde – und damit – jetzt kommen wir zu dem Vorteil dieses Glas-faserkabels – 6 Millisekunden weniger als bislang. Für einen Vorteil von 6 Millisekunden werden also 6 000 Kilometer Glasfaserkabel verlegt. Daran kann man sehen, welche wirtschaftliche Bedeutung der Hochfrequenzhandel hat. Die Investorengruppe, die hinter dieser Investition steht, besteht ausschließlich aus Hochfrequenzhändlern; sie befördern an dieser Stelle den technischen Fortschritt. Heutzutage werden bereits circa 50 Prozent der an den wichtigsten Börsen durchgeführten Transaktionen durch Algorithmen abgewickelt, von Maschine zu Maschine. Die Software kann innerhalb von Bruchteilen von Sekunden Daten nicht nur erfassen, sondern auch analysieren und dann entscheiden und Transaktionen ausführen. Entscheidend für diese Systeme sind die Technik, das Limit und die Geschwindigkeit. Das macht den Menschen verständlicherweise Angst. Man fragt sich: Ist das sinnvoll? Braucht man das überhaupt? Es kommen Gedanken auf, wie das denn ist mit einem Zug ohne Zugführer oder mit einem Flugzeug ohne Pilot. Das alles ist technisch möglich; aber ein richtig gutes Gefühl dabei hat man als Nutzer nicht. Diese Fragen sind berechtigt; das zeigen nicht zuletzt die Flash Crashs der Vergangenheit. Im traditionellen Verhältnis Mensch/Maschine braucht man etwa 1 000 Millisekunden, um manuell in einen Prozess einzugreifen. Ich sagte anfangs: Für einen Vorteil von 6 Millisekunden wird eine gigantische Investition angeschoben. – Das zeigt eindeutig: 1 000 Milli-sekunden sind eine unendlich lange Zeit. Wir brauchen ganz klar Regulierung, wenngleich wir mit den bestehenden Circuit Breakern oder auch den Ex-post-Mechanismen zur Stornierung von Orders schon einen gewissen Schutz haben. Alle die Probleme sind ja nicht in Deutschland aufgetreten; vielmehr fand – der Kollege Flosbach hat vorhin sehr richtig dazwischengerufen – der Flash Crash im Mai 2010 in New York statt. Das zeigt eigentlich, dass wir in Deutschland am Markt schon sehr gute Schutzmechanismen haben, (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Darum konnten Sie sich so lange Zeit lassen mit dem Gesetz!) wenngleich wir natürlich noch nachrüsten müssen, was wir mit dem vorliegenden Gesetz tun. Auch hier gilt: Wir müssen uns das Ganze ziemlich genau anschauen, damit wir die guten Seiten, die vom algorithmischen Handel durchaus auch ausgehen, (Manfred Zöllmer [SPD]: Welche denn?) von den Problemen trennscharf unterscheiden können. Finanzprodukte sind Dual-Use-Güter, vergleichbar einem Unimog, der im Winter ein sehr sinnvolles Fahrzeug zum Räumen der Straßen ist, aber eben auch in Kriegseinsätzen einsetzbar ist. (Beifall der Abg. Dr. Birgit Reinemund [FDP]) Jetzt komme ich zu den, wohlgemerkt, guten Eigenschaften des algorithmischen Handels. Der Hochfrequenzhandel ist eine Teilmenge – Sie als Sozialdemokraten haben mit Sicherheit Mengenlehre in der Schule gehabt – des algorithmischen Handels. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Die Mengenlehre ist von den Sozialdemokraten erfunden worden!) Er wird unter anderem von großen Kapitalsammelstellen eingesetzt, von Fonds, die zum Beispiel Mittel für die Altersvorsorge verwalten. Wenn sie größere Aktienpakete in den Markt hineingeben, dann machen sie das nicht auf einmal, sondern da wird ein entsprechender Algorithmus eingesetzt, der das Aktienpaket sozusagen kurspflegend abstößt, genauso wie man natürlich auch kurspflegend ankauft. Das ist zumindest aus meiner Sicht ein sehr sinnvoller Einsatz des algorithmischen Handels. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber kein Hochfrequenzhandel!) – Das ist kein Hochfrequenzhandel; das ist richtig. Aber der Hochfrequenzhandel ist eine Teilmenge des algorithmischen Handels. Die Strategien des Hochfrequenzhandels werden immer komplexer und lasten die Systeme immer mehr aus. Es kommt zu einer Überlastung. Es kommt möglicherweise auch zu einer stärkeren Volatilität. Es kommt zu einer Missinformation zwischen vermuteter Liquidität und tatsächlich am Markt vorhandener Liquidität, weil über bestimmte Strategien sehr schnell Orders gestellt werden, die dann gar nicht zur Ausführung kommen. Der faire Handel wird beeinträchtigt. Es kommt zu einer Art technischem Insiderhandel, weil die Informationen zwar zur Verfügung stehen, aber eigentlich nur derjenige, der über die entsprechenden Systeme verfügt, diese auch nutzen kann. Wir als Koalitionsfraktionen haben gesagt – Staatssekretär Koschyk hat das gerade sehr richtig ausgeführt –: Wir wollen im Vorgriff auf das, was auf europäischer Ebene mit der MiFID kommt, voranschreiten und schon einmal ein paar Punkte festlegen. Das sind im Wesentlichen vier Punkte: Wir schaffen zum einen die Zulassungspflicht für Hochfrequenzhändler. Wir werden die Definition des Eigenhandels erweitern. Es wird eine Erlaubnispflicht geben, und die entsprechenden Herrschaften werden zukünftig von der BaFin beaufsichtigt werden. Wir schaffen, zweitens, Sorgfaltspflichten. Die Systeme dürfen den normalen Handel nicht stören. Es wird Gebühren für eine exzessive Systemnutzung geben. Des Weiteren wird es eine Verpflichtung geben, dass es zu einem angemessenen Verhältnis zwischen eingestellten Aufträgen und tatsächlich ausgeführten Aufträgen kommt. Es wird eine Veränderung der Mindestpreisänderungsgröße geben, um die hohe Frequenz zu reduzieren. Wir werden drittens Transparenz schaffen. Es wird eine Trader ID geben, damit man nicht mit geschlossenem Visier agieren kann. Wer am Markt handelt, muss klar sagen, wer er ist. Die Software und der Algorithmus werden dokumentiert werden müssen, damit man, wenn es Probleme gibt, darauf zurückgreifen und auch eingreifen kann. Dafür werden wir die Börsenaufsicht und die BaFin mit entsprechenden Auskunftsrechten ausstatten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weiterhin werden marktmissbräuchliche Handelsstrategien – damit kommen wir zum vierten Punkt – zukünftig verboten werden können. Wenn sich herausstellt, dass eine Strategie marktmissbräuchlich eingesetzt werden kann, dann kann sie verboten werden. So viel zu dem, was Sie vorhin gesagt haben, Kollege Sieling, offensichtlich ohne den Gesetzentwurf vorher gelesen zu haben. Klar ist: Wir müssen an der einen oder anderen Stelle noch das eine oder andere nachjustieren. Dazu wird es eine Anhörung geben, meines Erachtens insbesondere zu der Frage: Was genau ist denn der – in Anführungszeichen – „unschädliche“ algorithmische Handel, und wo fängt der Hochfrequenzhandel an? Da wird man sicherlich noch ein bisschen genauer hinschauen. Klar ist auch: Wir wollen diesen Bereich regulieren. Wir wollen Abwanderung verhindern; denn jeder Hochfrequenzhändler, der nicht mehr in Deutschland handelt, handelt auch nicht mehr unter Aufsicht der BaFin. Dieses Gesetz ist ein weiterer Beitrag dieser Bundesregierung zur Systemstabilität in den Finanzmärkten. Es ist ein gutes Gesetz. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Björn Sänger, vielen Dank. – Nächster Redner ist unser Kollege Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Kollege Richard Pitterle. (Beifall bei der LINKEN) Richard Pitterle (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der Hochfrequenzhandel an den Börsen und anderen Handelssystemen reguliert werden. Beim Hochfrequenzhandel geht es um Schnelligkeit, eine Schnelligkeit, die ich beim Regierungshandeln jedoch vermisse. Herr Flosbach, Sie sagten im Mai in einem Interview mit der Börsen-Zeitung, dass wir mit der Regulierung des Hochfrequenzhandels nicht warten sollten, bis entsprechende Regelungen auf europäischer Ebene verhandelt sind, und dass das noch lange dauern kann. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Als Erste in ganz Europa sind wir dran! – Gegenruf des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]: Bis jetzt haben Sie noch gar nichts! – Weiterer Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Japan und USA haben es schon lange!) Erst heute, also am 30. November 2012, findet die erste Lesung des Gesetzentwurfs statt. Für den 16. Januar 2013 ist eine Anhörung im Bundestag vorgesehen, und am 1. März 2013 soll der Gesetzentwurf verabschiedet werden. Insgesamt werden dann also rund zehn Monate vergangen sein. So eilig ist das also offenbar doch nicht; aber für den Wahlkampf kommt das gerade noch rechtzeitig. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Regierung kann dann nämlich behaupten, dass sie gehandelt hat und angeblich die Finanzmärkte reguliert. (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja, so ist es!) Herr Brinkhaus wird uns nachher in seiner Rede sagen, hier gehe Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Ich frage mich aber wirklich, warum Sie sich auf die vorgebliche Gründlichkeit immer nur dann berufen, wenn es darum geht, gegen die Spekulation vorzugehen. Als es darum ging, den Fiskalpakt zu beschließen, der tatsächlich gründlich zu hinterfragen ist, galt Ihr Motto „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ nicht. (Beifall bei der LINKEN) Ich meine, die schwarz-gelbe Koalition ist auch bei diesem Gesetzentwurf nicht gründlich; aber dazu komme ich noch. Was zeichnet den Hochfrequenzhandel aus? Das erste Merkmal sind extrem kurze Haltefristen von teilweise Nanosekunden. Das heißt, kaum hat man ein Wertpapier gekauft, wird es wieder verkauft. Das zweite Merkmal ist eine sehr hohe Anzahl von Kauf- und Verkaufsaufträgen. Beides lässt sich nur mit mathematischen Handelsprogrammen und mit superschnellen Computern umsetzen, mit Computern, die so programmiert sind, dass sie in Sekundenbruchteilen automatisch Wertpapiere kaufen und gleich wieder verkaufen. Menschen werden nicht mehr eingeschaltet, alles läuft automatisch ab. Dieses Geschäft ist sehr lukrativ. Zwar sind die Kursgewinne nur minimal, aber die Menge macht’s. Dass damit große Risiken für den Markt, aber auch für die Wertpapierhändler verbunden sind, ist offensichtlich. Das hat sich in der Praxis auch öfter gezeigt, zum Beispiel beim Einbruch des US-amerikanischen Aktienmarktes an der New Yorker Börse am 6. Mai 2010, bei dem die Börsenkurse innerhalb von Minuten kräftig fielen und sich genauso schnell wieder erholten, bekannt geworden unter dem Namen „Flash Crash“. Dieses Beispiel ist hier schon von mehreren Rednern aufgeführt worden. Darüber hinaus können Börsencomputerprogramme auf Marktereignisse überreagieren, sodass sich die Schwankungen der Kurse gegenseitig verstärken. Bei dem Hochfrequenzhandel geht es aber nicht nur um die Risiken aus Computerfehlern, um automatisch ausgelöste Reaktionen auf Marktbewegungen und um die Ausnutzung minimaler Kursdifferenzen, sondern auch um Manipulationen der Wertpapierkurse und damit um betrügerisches Handeln. Ich frage Sie: Was ist das für ein Geschäftsmodell? Das hat mit Realwirtschaft doch überhaupt nichts mehr zu tun. Einen volkswirtschaftlichen Nutzen sehe ich hier nicht. Stattdessen sehe ich vielerlei schädliche Praktiken. (Beifall bei der LINKEN) Hochfrequenzhändler spähen Gebote beispielsweise von Versicherungen aus, decken sich mit den entsprechenden Wertpapieren ein, treiben damit die Preise in die Höhe und stoßen die gekauften Papiere zu höheren Preisen wieder ab. Viele Aufträge von Hochfrequenzhändlern werden nur mit der Absicht gesetzt, die Preise zu manipulieren. Vor ihrer Ausführung werden sie storniert. Mit diesen Praktiken destabilisieren Hochfrequenzhändler die Märkte. Sie manipulieren die Preise und erwirtschaften daraus ihre Gewinne zulasten anderer, zum Beispiel zulasten von Versicherungsgesellschaften, die ihre Einnahmen am Kapitalmarkt anlegen müssen. Das ist doch eine Fehlentwicklung! Diese extrem kurzfristigen Zockereien verteuern realwirtschaftliche Transaktionen und dienen als Spielball von Spekulanten. Das muss doch beendet werden! (Beifall bei der LINKEN) Der vorliegende Gesetzentwurf wurde bereits im Mai eingebracht. Nicht nur wir, sondern auch die Fachwelt hatte sich darüber gewundert; denn auf europäischer Ebene werden die Richtlinien ebenfalls überarbeitet, um den Hochfrequenzhandel zu regulieren. Jetzt komme ich zu Ihrer Gründlichkeit. Der Gesetzentwurf enthält doch nichts Neues oder gar Überraschendes. Es soll in Deutschland im Wesentlichen das gesetzlich festgeschrieben werden, was bereits an den Börsen durch viele Börsenordnungen geregelt und praktiziert wird. Warum dann überhaupt noch ein Gesetzentwurf für Deutschland und im Vorgriff auf eine schon in der Diskussion befindliche Regelung auf EU-Ebene? Sie stehen unter dem Druck der Öffentlichkeit, die Maßnahmen gegen die Spekulation verlangt; aber Sie schrecken vor einer echten Regulierung zurück. Von wegen Richtung vorgeben! Herr Staatssekretär Koschyk sprach davon, die Richtung vorzubestimmen. Da lachen ja die Hühner. Was meine ich mit meiner Kritik? Uns fehlt beispielsweise eine Mindesthaltedauer. Das heißt, wenn ein Händler ein Angebot abgibt, soll er für eine bestimmte Zeit daran gebunden sein. Wir denken hier an mindestens eine halbe Minute. (Beifall bei der LINKEN) Es darf nicht sein, dass Angebote unterbreitet werden, die die Kurse beeinflussen und Marktreaktionen auslösen, die Angebote dann aber sofort storniert werden, noch bevor ein Kunde eine realistische Möglichkeit hat, das Angebot anzunehmen. Das hat sogar der CSU-Finanzexperte und Berichterstatter für dieses Thema im Europäischen Parlament, Markus Ferber, gemerkt, der genau diese Mindesthaltedauer fordert. Wenn Sie schon unsere Meinung nicht ernst nehmen wollen, dann hören Sie doch auf Ihren CSU-Kollegen im Europaparlament. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: Ausnahmsweise!) – Ausnahmsweise, ja. Die Risiken aus dem Hochfrequenzhandel würden sich schließlich reduzieren, sobald die Finanztransaktionsteuer eingeführt würde. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das musste kommen!) Mit dieser und der eben genannten Mindesthaltedauer würde der Hochfrequenzhandel schlicht nicht mehr attraktiv sein. Damit würden die Spekulanten ausgebremst, und wir hätten endlich ein Tempolimit beim Hochfrequenzhandel, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf fordern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke. – Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard Schick. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes kann man vielleicht einmal festhalten, dass bei den Abgeordneten der allgemeine Wunsch besteht, dass sich die Geschwindigkeit der Datenübertragung bei den Parlamentsrechnern nach und nach der an der Börse anpassen möge. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Ich bin Herrn Sänger sehr dankbar für dieses konkrete Beispiel aus der Praxis mit dem Kabel. An diesem Beispiel wird sehr gut deutlich, worum es geht und wo eine unterschiedliche Einschätzung besteht. Das alte Transatlantikkabel aus dem 19. Jahrhundert hat es in einer Zeit, in der es ganz schwierig war, über den Atlantik mit Schiffen Daten zu schicken, ermöglicht, auf Kaufaufträge und Entwicklungen verschiedenster Art viel schneller zu reagieren, und es hat damit wirklich realwirtschaftlichen Nutzen geschaffen. Was passiert heute? Das neue Transatlantikkabel ermöglicht es, innerhalb von 60 Millisekunden Daten hin- und herzuschicken. Zum Vergleich: Ein Wimpernschlag dauert 100 Millisekunden. Das heißt, wir erreichen hier eine Geschwindigkeit, in der der Mensch gar nicht denken kann, in der gar keine realwirtschaftlichen Disposi-tionen möglich sind. Die zusätzliche Geschwindigkeitserhöhung von 5 bis 6 Millisekunden kann deswegen überhaupt keinen realwirtschaftlichen Nutzen entfalten. Hier geht es um Ingenieurskunst. Es ist spannend, dass so etwas gemacht werden kann. Aber der realwirtschaftliche Nutzen ist gering; denn dieses Kabel wird, wie Sie richtig sagen, ausschließlich für den Hochfrequenzhandel, also für das Erzeugen von Finanzdaten, genutzt. Das heißt, da wird Geld mit Geld verdient. Das führt nicht dazu, dass ein einziger Unternehmer besser an Kredite kommt. Das heißt, der realwirtschaftliche Nutzen einer solchen Investition ist nicht gegeben. Das ist gerade ein Symbol dafür, dass die Finanzmärkte immer mehr um sich selbst kreisen und ihre eigentliche Dienstleistungsfunktion für unsere Wirtschaft, für unsere Gesellschaft nicht mehr erbringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Dann eben ist ein solches Projekt Verschwendung von Energie und Geld. Es wäre doch sinnvoll, dass sich Ingenieure an die Lösung von Problemen machen, die uns als Gesellschaft beschäftigen, anstatt die Möglichkeit zu erleichtern, dass Geld mit Geld verdient wird. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Diese Problemlösungen werden von den Grünen blockiert!) Das ist kein Seitenaspekt: In Europa werden etwa 40 Prozent und in den USA 70 Prozent des Handels von Hochfrequenzhändlern betrieben. Das heißt, es wird mit einem nur minimalen Informationsvorsprung Geld verdient, ohne dass die Marktinfrastruktur wirklich verbessert wird. Die langsameren Händler müssen schlechtere Preise akzeptieren, nachdem die Gewinne schon eingefahren sind. Damit wird viel in unregulierte Märkte verdrängt. Die Befürworter des Hochfrequenzhandels argumentieren mit einer besseren Liquidität oder mit geringeren Spreads, also mit Preisunterschieden zwischen den Handelsplätzen, die die Transaktionskosten für alle Investoren verringern. Aber genau das ist nicht der Fall. Vielmehr entsteht eine Pseudoliquidität, die für realwirtschaftliche Investitionen keinen Mehrwert schafft. Liquidität schaffen Market Maker, also Händler, die ständig An- und Verkaufspreise festsetzen. Aber Market Maker gab es lange vor dem Hochfrequenzhandel. Das ist kein Vorteil, sondern es ist eher so, dass der Hochfrequenzhandel die Market Maker zur Seite drängt. Dann kommt es genau zu den Problemen, die öffentlich diskutiert worden sind. Es gibt den englischen Begriff „fat finger“; das könnte man ungefähr mit „Wurstfinger“ übersetzen. Dies besagt, dass allein durch fehlerhafte Algorithmen oder Tippfehler plötzlich unglaubliche Kursentwicklungen entstehen. An dieser Stelle sieht man, dass Hochfrequenzhandel dieser Art nicht nur keinen Nutzen bringt, sondern tatsächlich auch für die Realwirtschaft Schaden verursachen kann, weil für diejenigen, die sich an diesen Preisen orientieren müssen, eine sinnvolle Orientierung nicht möglich ist, weil plötzlich irrationale Ausschläge stattfinden können. Jetzt ist die Frage, wie man vorgeht; das ist schon angesprochen worden. Es gibt eine europäische Entwicklung. Am 26. Oktober 2012 sind die beiden Entwürfe der Kommission im Europäischen Parlament in erster Lesung debattiert und an den Rat mit Veränderungen überwiesen worden. Warum machen wir das jetzt hier? Ich finde es durchaus richtig, dass man an manchen Stellen versucht, Impulsgeber zu sein. Aber hier sind wir gar nicht Impulsgeber. (Manfred Zöllmer [SPD]: So ist es!) Der Impuls ist längst da. Was soll das an dieser Stelle? Ich habe da Zweifel. Ich glaube, es würde mehr Sinn ergeben, wenn wir als Deutscher Bundestag uns mit Energie in die europäische Debatte einschalten und schauen würden, dass das Ganze in Europa zügiger vorankommt. Vor allem sollten die Regelungen stimmen. Aber selbst wenn man unterstellt, dass es sinnvoll ist, hier mit einem eigenen Gesetzentwurf in die Debatte zu gehen, müsste in der Substanz das Richtige auf den Weg gebracht werden. Es fehlt aber schon die klare Definition, was eigentlich Hochfrequenzhandel ist. Das Wort steht zwar in der Überschrift des Gesetzentwurfs, es wird danach aber nicht klar definiert. Ich glaube, so wird es schwierig, das sauber zu regeln. Sie bleiben nach wie vor dem Prinzip treu, dass die Selbstkontrolle der Märkte am besten funktioniert. Sonst kann man sich nicht erklären, warum die konkrete Ausgestaltung der Regeln den Handelsplattformen selbst überlassen wird. Sie tun so, als ob es da keine Interessenkonflikte gäbe. (Manfred Zöllmer [SPD]: So ist es!) Wenn Handelsplattformen einen großen Teil ihres Umsatzes im Hochfrequenzhandel machen und daran auch noch durch die Bereitstellung der IT-Infrastruktur an Hochfrequenzhändler verdienen, warum sollten sie dem dann klare Grenzen setzen? An dieser Stelle wird man staatliche Regeln und auch die Kontrolle der Einhaltung dieser Regeln durch staatliche Aufsicht brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich will ein Zitat von jemandem bringen, den ich selten zitiere: „Wir brauchen ein Tempolimit für den High-Speed-Handel.“ Das stammt von Markus Söder. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das hat Markus Söder nicht verdient, dass Sie ihn zitieren!) Das hat er beim Besuch der Börse gesagt. Es klingt gut. Ich würde diesen Satz unterschreiben. Aber das Problem ist: Genau dieses Tempolimit fehlt in dem hier vorliegenden Gesetzentwurf. Darin steht zwar alles Mögliche, aber keine Regelung eines Tempolimits. Wir Grünen haben ein Tempolimit auf europäischer Ebene klar eingefordert. Ich will unsere Vorschläge kurz nennen: Der Anteil des Hochfrequenzhandels sollte auf 20 Prozent der Orders begrenzt werden. Jede Order sollte für mindestens 1 Sekunde aufrechterhalten werden müssen. – Das war unser Vorschlag. Das Europäische Parlament hat sich jetzt auf eine halbe Sekunde geeinigt. Das ist genau die Regelung eines Tempolimits, die bei Ihnen fehlt. Die Orders sollten mit einer Latenz, einer Verzögerung, von 100 Millisekunden ausgeführt werden. Das Atlantikkabel wäre dann in der Tat überflüssig, und man könnte das Geld für sinnvollere Investitionen einsetzen. Wertpapiere sollten für mindestens 30 Sekunden gehalten werden. Die OrderTransaktions-Verhältnisse sollten auf 50 zu 1 begrenzt werden. Mit solchen klaren Regeln würden wir ein Tempo-limit einsetzen. Genau das wäre unsere Aufgabe. Nicht hilfreich ist ein Gesetzentwurf, der in dieser Form wahrscheinlich nichts bringen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Frau Bettina Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin Bettina Kudla. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bettina Kudla (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben jetzt mehrfach gehört, was Hochfrequenzhandel ist: In Bruchteilen von Sekunden werden an den Börsen extrem hohe Volumina bewegt. Ich denke, das Problem ist – die Welt hat sich nun einmal so entwickelt –, dass an den deutschen Börsen schon 40 Prozent der Umsätze über den Hochfrequenzhandel abgewickelt werden. In Amerika ist der Anteil deutlich höher; dort sind es 70 Prozent. Warum sind diese Zahlen so wichtig? Sie zeigen uns: In der Realität hat der Hochfrequenzhandel eine hohe Bedeutung, weil er schon einen hohen Anteil am Börsenhandel ausmacht. Die Befassung mit dem Thema hat mich ein bisschen an das Internet erinnert. Mit dem Internet kann man zwar viel Gutes machen, aber das Internet kann auch zu hohen Verwerfungen führen. Trotzdem ist das Internet heutzutage nicht mehr aus dem Leben wegzudenken. Insofern muss man das Problem von vielen Seiten betrachten. Die Geschwindigkeit ist dabei mit das größte Problem. Sie führt zu vielen Verwerfungen; das wurde bereits mehrfach angesprochen. Insbesondere hat sie zu -einem Preisverfall an den Börsen geführt. Aber ein generelles Verbot, wie es von einigen Personen in diesem Hause gefordert wird, lehne ich ab. (Manfred Zöllmer [SPD]: Wer fordert das denn?) Es gibt nämlich nicht den einen Hochfrequenzhandel, sondern es gibt verschiedene Handelsstrategien. Die meisten davon tragen positiv zum Marktgeschehen am Finanzmarkt bei, zum Beispiel durch Liquiditätsbereitstellung und -verbesserung. (Manfred Zöllmer [SPD]: Was wird denn da verbessert?) Das zeigt im Grunde die Komplexität des Problems. Ein pauschales Verbot ist daher weder angemessen, noch bringt es eine Verbesserung des regulatorischen Rahmens mit sich. Mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf zur Vermeidung sowohl von Gefahren als auch von Missbräuchen im Hochfrequenzhandel will die Bundesregierung den aufgezeigten Risiken entgegentreten. Insgesamt schaffen wir dadurch mehr Transparenz und mehr Sicherheit im Markt. Was bedeutet das im Detail? Wir wollen mit einer Zulassungspflicht für Hochfrequenzhändler eine Übersicht über die Marktteilnehmer in diesem Bereich schaffen. Darüber hinaus stellen wir deutlich strengere Anforderungen an die Branche. Die Handelssysteme müssen so ausgestaltet sein, dass Störungen des Marktes unterbleiben, damit eben nicht mehr solche binnen Sekunden ausgelösten Verwerfungen auf dem Finanzmarkt möglich sind. Außerdem stärken wir mit dem Gesetzentwurf die Auskunfts- und Eingriffsrechte für die Börsenaufsicht und für die BaFin, und wir schreiben Gebühren für die exzessive Nutzung von Handelssystemen vor. Ganz wichtig ist, dass bestimmte Handelsstrategien von Hochfrequenzhändlern als Marktmanipulation eingestuft werden können. Es soll eine Begrenzung des Verhältnisses zwischen aufgegebenen Orders und tatsächlich ausgeführten Geschäften eingeführt werden. Damit geht man ganz gezielt das kursmanipulative Problem der sogenannten Quote-Stuffing-Taktik an, bei der Händler aus handelstaktischen Gründen pro Sekunde eine große Anzahl an Orders senden, nur um sie sofort wieder unausgeführt zu löschen. Den Finanzmarkt in Deutschland kann man nicht isoliert betrachten, sondern man muss ihn in den weltweiten Finanzmarkt einordnen. Um Ausweichreaktionen zu vermeiden, werden die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfes daher auch auf multilaterale Handelssysteme ausgeweitet. Das Hochfrequenzhandelsgesetz ist somit ein wichtiger Baustein im Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte. Mit diesem haben wir gleichzeitig den positiven Nutzen erkannt und die Risiken deutlich begrenzt. Wir erreichen damit eine höhere Stabilität und Krisenfestigkeit. Abschließend möchte ich festhalten: Die Bundes-regierung ist tatsächlich Vorreiter. Die Bundesregierung zieht im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten die Vorschriften aus der sogenannten MiFID-Richtlinie, also der EU-Richtlinie zur Regulierung der Finanzmärkte, deutlich vor und schafft daher mehr Vertrauen im -Finanzmarkt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Bettina Kudla für die Unionsfraktion. – Jetzt als nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer. (Beifall bei der SPD) Manfred Zöllmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Knightmare on Wall Street“ – das war in diesem Fall keine Erfindung eines Hollywood-Regisseurs, sondern das Ergebnis des Handelns einzelner Computer an der New Yorker Börse, die eine neue Software hatten. Im Ergebnis hatte dann die Aktienhandelsfirma Knight -Capital in 45 Minuten 440 Millionen US-Dollar verloren. Das war schade für die Firma. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn es nur eine einzelne Firma betroffen hätte. Die Auswirkungen eines solchen Fehlverhaltens sind gesamtwirtschaftlicher Art, und das ist das Problem. Der Hochfrequenzhandel birgt – das haben wir vorhin schon gehört – eine ganze Reihe von Risiken. Dabei steht die Geschwindigkeit im Vordergrund. Es geht eigentlich gar nicht mehr um Mikro-sekunden. Inzwischen sind wir bei Nanosekunden. Das heißt, es geht um ein milliardstel Teil einer Sekunde. Es geht um Algorithmen, das heißt, der Mensch ist weitgehend außen vor. Die Computer haben die Möglichkeit, Märkte zu manipulieren. Sie können Aufträge geben, die sie sofort wieder zurückziehen. Das ist eine Lizenz zum Gelddrucken für diejenigen, die dort tätig sind; sonst würden sie nicht solche aberwitzigen Investitionen machen, wie sie Herr Sänger hier beschrieben hat. Liebe Frau Kudla, mit Liquiditätsverbesserung und der Verbesserung der Märkte hat dies überhaupt nichts zu tun. Wir haben eben gehört, dass die Realwirtschaft überhaupt keinen Nutzen von dieser Art der Tätigkeit hat. Die Konsequenzen muss die Allgemeinheit tragen. Wir sind nicht gegen Veränderungen an der Börse. Der Parketthandel ist Geschichte. Seit 1987 ist eigentlich klar, dass es Probleme geben kann. In diesem Jahr brach der Markt an einem Tag um 22 Prozent ein. Simple automatisierte Systeme hatten das verursacht. Natürlich können auch die „Wurstfinger“ irgendeines Menschen, der etwas in die Tastatur eingibt und sich um ein paar Stellen vertut, die Ursache für einen Crash sein. Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Kann der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung die Bedrohung der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte verhindern? (Björn Sänger [FDP]: Ja!) Erste Vorbemerkung: Sie müssen verdammt viel Angst vor Peer Steinbrück haben, (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, wo Sie doch ganz genau wissen, dass Brüssel daran arbeitet, dass wir eine entsprechende Richtlinie bekommen. Es geht bei Ihnen zunächst wie immer nach dem Motto: Schnell noch ein bisschen virtuelle Regulierung. (Beifall bei der SPD) Sie wollen Vorreiter sein. Das geht dann nach dem Motto: Wo wir sind, ist vorne, und wenn wir hinten sind, ist hinten vorne. Ich frage mich: Warum handeln Sie erst jetzt? Die Probleme sind doch seit geraumer Zeit bekannt. Sie haben bisher aber nichts gemacht, obwohl die Algorithmen teilweise wirklich außer Rand und Band sind. Die entscheidende Frage ist: Was würde dieses Gesetz eigentlich bewirken? Nicht nur Herr Söder hat das Stichwort „Tempolimit“ aufgebracht. Auch auf der Homepage des Finanzministeriums heißt es: „Tempolimit für den Hochfrequenzhandel“. Schauen wir uns den Gesetzentwurf doch einmal an. Ein Punkt ist die Zulassungspflicht für Hochfrequenzhändler. Sehr schön, das kann man machen; aber das hat mit Tempolimit überhaupt nichts zu tun. Dann wollen Sie die Systeme so ausgestalten, dass Störungen des Marktes unterbleiben. Sehr schön – getreu dem Motto: Wir verbieten den Diebstahl; damit verhindern wir in Zukunft Diebstähle –; aber auch das bedeutet kein Tempolimit für den Hochfrequenzhandel. Sie sprechen von zusätzlichen Informationspflichten. Ja, nur mit Tempolimit ist es nicht weit her. Die Verantwortung für die Umsetzung laden Sie dann bei der Börse bzw. der Geschäftsführung der Börse ab. Man muss einmal die Frage stellen – der Kollege hat das eben schon deutlich gemacht –: Hat die Geschäftsführung der Börse eigentlich ein Interesse daran, ein Tempolimit für den Hochfrequenzhandel umzusetzen? (Björn Sänger [FDP]: Ja!) Die Antwort ist klar; sie lautet: Nein. Sie hat kein Interesse daran, weil sie daran verdient, und wenn man an etwas verdient, hat man kein Interesse daran, es einzudämmen. Sie machen in diesem Fall sozusagen den Bock zum Gärtner. (Beifall bei der SPD) Zusammenfassend können wir also feststellen: Im Gesetzentwurf wird darauf verzichtet, eine wirklich wirksame Tempobremse einzuziehen. Sie haben keine Mindesthaltedauer vorgesehen, was eine Tempobremse wäre. Das Europäische Parlament wird darauf aber nicht verzichten. Sie werden dies letztendlich umsetzen müssen. Eine Finanzmarkttransaktionsteuer in Verbindung mit einer Mindesthaltefrist wäre eine echte Tempobremse. Ich glaube, wir müssen hier noch ordentlich nacharbeiten. Das Europäische Parlament und wir werden Sie weiter drängen, hier richtig zu regulieren, damit das Ziel „Tempolimit“ auch tatsächlich erreicht wird. Der uns vorliegende Gesetzentwurf leistet das nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE]) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handeln nicht mehr Menschen, sondern Computer in Bruchteilen von Millisekunden über Glasfaserkabel jenseits und diesseits des Atlantiks. Wir betreten scheinbar das Reich der Finsternis. Wir blicken in das Auge des Bösen, und irgendwo riecht es auch ein bisschen nach Schwefel, sagen die einen. Die anderen sagen: Hochfrequenzhandel ist doch gut; das verschafft den Märkten Liquidität und hilft bei der Preisstellung. Nun ist es an uns, diesen Widerspruch in irgendeiner Art und Weise aufzulösen. Das kennen wir; denn bei allen Projekten, die wir bei der Finanzmarktregulierung in den vergangenen zwei Jahren angegangen sind, haben wir mit diesem Widerspruch leben müssen. Die einen -sagen: Komplett verbieten! Alles ist böse, und die anderen sagen: Wir haben mit der Krise nichts zu tun gehabt. Das ist doch alles gar nicht so schlimm. Das ist funktional; das ist unter anderem für die Versorgung der Realwirtschaft mit Liquidität wichtig. – Wir haben dies erlebt, als wir die Vergütungsstrukturen reguliert haben. Wir haben dies erlebt, als wir die Leerverkäufe reguliert haben. Wir haben dies erlebt, als wir die Ratingagenturen reguliert haben. Wir haben dies erlebt, als wir die Fonds reguliert haben. (Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber interessant!) Wir haben dies auch erlebt, als wir das Bankenrestruk-turierungswesen reguliert haben. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr gut!) Wir haben dies erlebt, als wir die Wertpapierberatung reguliert haben, und wir werden dies noch erleben und erleben es gerade bei der Regulierung von Eigenkapital und Liquidität bei Banken und Versicherungen. Wir erleben dies auch ganz aktuell in den letzen Wochen und Tagen, wenn es darum geht, die OTC-Derivate zu regulieren. Mit diesem Widerspruch müssen wir leben. Wie gehen wir damit um, meine Damen und Herren? Schauen wir doch zunächst einmal auf die Opposition. Die Opposition sagt: Das ist alles ganz fürchterlich schlimm. – Ich glaube, die Bilder von Schwefel, die ich eben gezeichnet habe, reichen Ihnen noch nicht. Sie sagen: Verbieten! Mehr einschränken! Das ist alles viel zu wenig, alles viel zu spät. – Ehrlich gesagt, kann ich das überhaupt nicht kritisieren; denn das ist die Aufgabe der Opposition. Die Aufgabe von Regierungshandeln ist eine andere. Die Aufgabe von Regierungshandeln ist es, abzuwägen, auszugleichen und Kompromisse zu finden. Für Ihre Kritik müssen Sie keine Verantwortung übernehmen. Wir aber müssen für das, was wir umsetzen, Verantwortung übernehmen. Das Leben ist also nicht ganz so leicht, wie Sie sich das an der einen oder anderen Stelle vorstellen. Zur Philosophie dieses Gesetzentwurfs gehört es, dass wir die Vor- und Nachteile abgewogen haben. Dadurch sind wir zu einem Ergebnis gekommen, das aus Sicht der Opposition sicherlich mehr beinhalten könnte – das zu sagen, ist auch Ihre Aufgabe –, wozu wir aber sagen: Wir müssen uns auch der Kritik der Märkte stellen. Jetzt komme ich auf den „Flash Crash“, der heute schon eine große Rolle gespielt hat. Ich denke einmal, Herr Zöllmer und Herr Sieling, das war ein bisschen komplizierter, als Sie es hier dargestellt haben. Ich gehe aber davon aus, dass Sie alle den 100-Seiten-Bericht der amerikanischen Börsenaufsicht im Detail studiert haben und uns im Rahmen der Anhörung an der einen oder anderen Stelle sagen können, was da genau passiert ist. Es ist jedenfalls komplizierter, als Sie es hier ausgeführt haben. Deshalb sind wir in diesem Zusammenhang gegen einfache Lösungen. Ich komme jetzt zu den Kritikpunkten, die Sie angeführt haben. Sie sagen: zu spät. Dieses Argument kommt immer; was wir machen, machen wir immer zu spät. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Weil die keine Gegenargumente haben!) Dabei sind wir oft die Ersten in Europa. Man kann sich aber auch fragen, liebe Kollegen von der SPD – es sind nur wenige da, und ich sehe nur Kollegen –, ob es den Hochfrequenzhandel nicht schon in den Jahren 2007, 2008, 2009 gegeben hat und was zu jener Zeit dagegen gemacht worden ist. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Elf Jahre SPD-Finanzminister!) Dieses Argument der SPD ist also nicht überzeugend. Vorschläge zum Hochfrequenzhandel habe ich in den letzten Jahren weder von Ihnen noch von Ihrem gut beschäftigten Kanzlerkandidaten gehört. Deshalb sollte man das Argument „zu spät“ nicht gelten lassen. Die Linken sagen: Ganz verbieten. (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Das haben wir nicht gesagt!) – Das ging ein bisschen in diese Richtung. – Ein komplettes Verbot wäre natürlich ein radikaler Schnitt. Man müsste einmal sehen, welche Auswirkungen das auf die Finanzmärkte hätte. Vielleicht ist dieser Schritt sogar richtig; aber den Nachweis sind Sie uns bisher schuldig geblieben. Ich glaube, das Schwert „Komplettverbot“, das allzu oft von der linken Seite dieses Hauses geschwungen wird, hilft uns am Ende des Tages nicht weiter. Jetzt komme ich zu einem Thema, das Sie alle an irgendeiner Stelle vereint, nämlich die Mindesthaltefristen. Auch wir haben uns mit diesem Thema beschäftigt. Haben Sie sich eigentlich auch einmal mit der Frage beschäftigt, was Mindesthaltefristen verursachten, wenn sie denn eingeführt würden? Ich rede jetzt nicht davon, dass irgendwelche Geschäfte abwandern, dass die Geschäfte von Computern in Frankfurt auf Computer in der Schweiz übertragen werden, sondern ich rede davon, was es bedeutet, wenn ich mein Angebote über eine gewisse Zeit stellen muss, während andere in kürzeren Abständen hineingehen können. Was bedeutet das für die Preisstellung? Was bedeutet das für die Liquidität der Märkte? Was bedeutet das für die Stornoraten? (Manfred Zöllmer [SPD]: Klären Sie uns auf!) Im Grunde genommen werden doch bei einer Mindesthaltedauer Frequenz und Geschwindigkeit bei den Angeboten durch Frequenz und Geschwindigkeit bei den Stornierungen ersetzt. Das muss man doch beachten. Deswegen sage ich Ihnen: So einfach, wie Sie es dargestellt haben, ist es nicht. Ich glaube, es lohnt sich, dass wir uns im Rahmen der Anhörung noch einmal intensiv mit diesem Thema beschäftigen (Manfred Zöllmer [SPD]: Das werden wir tun!) und prüfen, ob eine Mindesthaltefrist tatsächlich gut ist oder weniger gut. Ich denke, wir werden dort zu einem Ergebnis kommen. Ich könnte auf weitere Kritikpunkte eingehen. Das ist aber nicht Aufgabe in erster Lesung; denn darüber werden wir uns noch zur Genüge austauschen. Ich möchte noch etwas Grundsätzliches sagen, weil das bereits angesprochen wurde. Die einen haben gesagt, wir würden zu spät handeln. Herr Schick von den Grünen hat gesagt: Wartet doch ab, was auf europäischer Ebene unternommen wird! Das steht doch bald an. – Wieso machen wir das jetzt eigentlich, wo doch auf europäischer Ebene im Rahmen der MiFID-Überarbeitung auch sehr viel über den Hochfrequenzhandel gesprochen wird? Diese Frage kann ich Ihnen beantworten. Erstens. Die MiFID ist hier in Deutschland wahrscheinlich nicht vor 2014 oder 2015 umsetzbar. Wir haben mit unseren europäischen Freunden die Erfahrung gemacht, dass die Bereitschaft, eine Sache fertigzubekommen, in der letzten Zeit arg abgenommen hat – es sei denn, man ist motiviert wie bei der Bankenunion, wenn es darum geht, an irgendwelche Geldtöpfe heranzukommen. Wir warten auf europäischer Ebene immer noch auf die Umsetzung von Basel III. Wir warten immer noch auf die Umsetzung von Solvency. Bei Solvency ist überhaupt kein Ende absehbar; bei Basel III werden wir vielleicht ein bisschen Verspätung haben. Wir wollen uns also nicht darauf verlassen, wann die Kollegen in Europa fertigwerden. Wir wollen unsere Finanzmärkte jetzt regulieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist die Aufgabe dieser Regierung. Dieser Aufgabe haben sich diese Regierung und diese Koalitionsfraktionen gestellt mit wahrscheinlich schon über 20 Gesetzen und Initiativen. Es würde sich einmal lohnen, sie nachzuzählen. Zweitens. Regulierungspolitik setzt immer auch Zeichen. Wir setzen auf nationaler Ebene das Zeichen gegenüber der Branche, dass wir nicht alles dulden. Ich denke, dieses Zeichen ist dringend notwendig, weil wir alle – da sind wir uns sicherlich einig – wissen, dass wir höllisch aufpassen müssen, dass die Exzesse der Finanzmärkte nicht fortgeführt werden. Dementsprechend setzen wir an dieser Stelle ganz bewusst das Zeichen: Es gibt Grenzen. Ich glaube, es ist richtig und auch wichtig, dass wir da nicht auf europäische Initiativen warten, sondern es selber machen. Wir senden aber auch ein Zeichen an die Opposition: Wir können mehr, als nur kri-tisieren, problematisieren und Vorschläge machen; wir sind auch in der Lage, etwas umzusetzen. Wir haben -gezeigt, dass wir Dinge umsetzen. Wir versuchen, möglichst viel von dem umzusetzen, was in unserem Koalitionsvertrag steht: Kein Finanzmarktprodukt, kein Vertriebskanal, kein Akteur soll unreguliert bleiben. Ich glaube, meine Damen und Herren, wir sind da in den letzten drei Jahren schon verdammt weit gekommen. Wenn ich vergleiche, was diese Regierung geleistet hat und was Vorgängerregierungen mit einem SPD-Finanzminister geleistet haben, komme ich zu dem Ergebnis: Es ist bravourös, was wir gemacht haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Sie müssen sich schon selber loben!) Vor diesem Hintergrund denke ich, dass es sich lohnt, noch in dieser Legislaturperiode den Hochfrequenzhandel zu regulieren, genauso wie wir noch die Honorarberatung regeln und Ihnen Vorschläge zu einem Bankentestament und zum Umgang mit dem Problem „too big to fail“ vorlegen werden, genauso wie wir die OTC-Derivate in den nächsten Wochen regulieren werden und im Bereich der Versicherungsaufsicht, wenn die Umsetzung von Solvency II zu lange dauert, darauf drängen werden, das eine oder andere vorzuziehen. So werden wir es beim Hochfrequenzhandel machen: Wir werden diesen Gesetzentwurf überweisen und ihn in den Ausschüssen beraten. Wir werden die Stellungnahmen erhalten und uns jeder Kritik stellen. Ich denke, wir werden zu einem guten Ergebnis kommen und auch diesen Punkt, die Regulierung des Hochfrequenzhandels, mit der Koalition beschließen. Wir machen einen Haken dran. Das zeigt, wie gut wir sind. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus. Wir haben auf unserer Rednerliste keine weitere Wortmeldung, sodass ich die Aussprache schließe. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11631 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 12 auf: 15 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen – Drucksachen 17/9150, 17/10361 – Berichterstattung: Abgeordneter Sebastian Körber ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen sichern – Drucksachen 17/9737, 17/10717 – Berichterstattung: Abgeordneter Peter Götz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat unser Kollege Gero Storjohann für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Kollege Gero Storjohann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Gero Storjohann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aus der Treuhandanstalt entstandenen Nachfolgegesellschaften, die Treuhandliegenschaftsgesellschaften TLG Immobilien GmbH und die TLG Wohnen GmbH, sollten bereits 2008 vom Bund verkauft werden. Die damalige Finanzkrise stand einer Veräußerung der Immobilien im Wege. Inzwischen hat sich der Markt verändert, und so ist jetzt seitens der Bundesregierung eine Veräußerung eingeleitet worden. An beiden Gesellschaften – das möchte ich feststellen – besteht kein wichtiges Bundesinteresse im Sinne der Bundeshaushaltsordnung. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aber an so-zialem Wohnen, Herr Storjohann!) Die Bundesrepublik ist deshalb verpflichtet, sich von den Beteiligungen an den Treuhandliegenschaftsgesellschaften zu trennen. Das Verkaufsverfahren wurde vom Bundesfinanzministerium europaweit bekannt gemacht. Investoren konnten bis zum 16. April ihr Kaufinteresse bekunden. Die Anträge der Fraktion Die Linke und der SPD zielen darauf ab, die Privatisierung der TLG Immobilien GmbH bzw. ihres Wohnungsbestandes zu stoppen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das trifft nicht zu!) In der Begründung des Antrags der Linken heißt es, dass der Ausverkauf öffentlichen Eigentums die wirtschaftliche und politische Handlungsfähigkeit des Sozialstaates schwäche und daher verhindert werden müsse. (Beifall bei der LINKEN) Diese Auffassung teilen wir (Beifall bei der LINKEN) von der CDU/CSU nicht. Ich erinnere an den Verkauf von 114 000 bundeseigenen Eisenbahnerwohnungen im Jahre 2000, der damals von der rot-grünen Bundesregierung vorgenommen worden ist. (Sören Bartol [SPD]: Aber wir sind lernfähig! Das ist doch jetzt eine ganz andere Wohnungssituation! Es war damals falsch!) Jetzt geht es um einen Bestand von 11 350 Wohnungen im Osten Deutschlands. In den damaligen Verhandlungen wurde der denkbar weitestgehende Mieterschutz erreicht. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) So bewertete es jedenfalls der von mir geschätzte Kollege Kurt Bodewig, damals Verkehrsminister von der SPD, (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das mit dem TLG-Verkauf zu tun?) auf dem Gewerkschaftstag der Eisenbahner in Magdeburg am 26. November 2000. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie wissen doch, dass es schiefgegangen ist!) Warum sollte dies also beim Verkauf der TLG-Immobilien nicht zutreffen? (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Weil es schiefgegangen ist! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Weil wir zur Bundesregierung kein Vertrauen haben!) Ich möchte hervorheben, dass in Deutschland angemessenes und bedarfsgerechtes Wohnen im Rahmen des geltenden Rechts sehr wohl gewährleistet ist. Im föderalen System der Bundesrepublik ist es übrigens nicht Aufgabe des Bundes, unmittelbar oder mittelbar über Bundesunternehmen wie die TLG Wohnen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Deswegen wollten wir es ja übernehmen!) Ihre Schwarzmalerei über die zukünftige Situation der Mieter ist verantwortungslos, und Sie schüren Ängste bei den betroffenen Menschen. Das soziale Mietrecht stellt einen angemessenen Ausgleich zwischen Mietern und Vermietern her. (Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mehr lange!) Ein gegebenenfalls vereinbarter Mieterschutz in Form einer Sozialcharta erreicht in aller Regel ein höheres Schutzniveau als gesetzlich ohnehin vorgesehene Regelungen. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Storjohann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Bockhahn von der Fraktion Die Linke? Gero Storjohann (CDU/CSU): Aber gern. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. Es war ja ein schwerer Vorwurf, als Sie sagten, dass wir Ängste schüren würden und unsere Befürchtungen unbegründet seien. Haben Sie gestern Abend zufällig Zeit gehabt, eine Sendung im Zweiten Deutschen Fernsehen zu schauen? Ein gewisser Rolf Elgeti – wenn ich richtig informiert bin, ist er der Vorstand der kaufenden TAG – hat in einer Sendung darüber gesprochen, dass die Mietpreise in Deutschland viel zu niedrig seien, dass Wohnen deutlich teurer werden müsse und dass das Investment in Wohnungen noch lange nicht ausgeschöpft sei. Er hat darüber hinaus in der letzten Woche erklärt, dass er der Auffassung ist, dass eine Mietpreiserhöhung in Höhe von 5 Prozent per annum auch in den gerade gekauften Wohnungsbeständen absolut in Ordnung sei. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist es ja auch!) Ich frage Sie, ob Sie sich in die Lage einer Mieterin oder eines Mieters einer der gerade verkauften Wohnungen hineinversetzen können. Die haben schon Befürchtungen, dass die bisherige solide und die Mietpreise dämpfende Wohnungspolitik nicht mehr fortgeführt wird. Gero Storjohann (CDU/CSU): Erstens. Ich hatte gestern Abend keine Gelegenheit, eine Sendung im ZDF zu schauen, weil ich hier im Plenum war. (Florian Pronold [SPD]: Die ganze Zeit? Wir prüfen das!) Zweitens ist eine Erhöhung von 5 Prozent im Rahmen des Mietspiegels in Berlin etwas ganz Normales. Insofern ist das keine besondere Situation, die Sie hier beschreiben. Ich bin hier in Berlin auch Mieter und bekomme ähnliche Mieterhöhungen präsentiert. Ich habe die Gewissheit, dass mein Vermieter die Finanzkraft hat, dafür zu sorgen, dass der gesamte Wohnungsbestand energetisch top ist und dass alles für mich als Mieter prima hergerichtet ist. Insofern kann ich Ihre Befürchtung nicht nachvollziehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Präsident, ich fahre fort. – Wir haben bei den Wohnungsverkäufen in einzelnen Fällen selbstverständlich auch negative Erfahrungen gemacht. Aber mit der TAG haben wir einen Käufer gefunden, der in Deutschland sehr wohl ein gutes Renommee hat. Es handelt sich um eine Firma, die schon lange auf dem Markt ist, und nicht um einen Finanzinvestor aus Übersee, der sich um die Wohnungsbestände beworben hat. Eine Sozialcharta wird dafür sorgen, dass Kündigungen für ältere und behinderte Menschen ausgeschlossen werden. Auch ein Verbot von Luxussanierungen wird enthalten sein. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir eine gute Entscheidung getroffen haben. Aus Gründen des EU-Beihilferechts ist es übrigens nicht zulässig, die Bieter zum Verbot von Mieterhöhungen zu verpflichten, wie Sie das hier anregen. Es ist auch nicht erlaubt, mit den Kommunen im Rahmen einer solchen Ausschreibung in Einzelverhandlungen einzutreten. Alles das, was Sie vorschlagen, ist im Ergebnis unredlich. Ich kann nur hoffen, dass Sie im Laufe der Zeit erkennen, dass wir hier eine gute Entscheidung vorbereitet haben und die Immobiliengesellschaft TAG aus Hamburg etwas Gutes entwickelt. Sie hat letzten Endes auch eine gute Entscheidung für sich selbst getroffen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die vorgesehene Sozialcharta eingehalten wird. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Prinzip Hoffnung!) Wir sind zuversichtlich, dass die Veräußerung eine gute Entscheidung für die Bundesrepublik Deutschland und auch für die Mieter gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Haben Sie die mal gefragt?) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. – Der nächste Redner ist schon da: für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte schön, Kollege Hans-Joachim Hacker. (Beifall bei der SPD) Hans-Joachim Hacker (SPD): Danke, Herr Präsident. – Das Wochenende steht vor der Tür; deswegen wollen wir zügig über die beiden vorliegenden Beschlussempfehlungen diskutieren. Herr Kollege Storjohann, das, was Sie hier vorgetragen haben, ist reine Ideologie. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Schauen Sie sich doch einmal den Wohnungsmarkt an! Der Wohnungsmarkt ist im Moment durch steigende Mieten gekennzeichnet – das ist der Trend –, insbesondere bei Neuvermietungen in Ballungsräumen und in Universitätsstädten. Es gibt entsprechende Statistiken. Danach betrug die Mietsteigerung in Hamburg allein im Jahr 2011 7,5 Prozent. (Oliver Luksic [FDP]: Wer regiert denn in Hamburg? – Sebastian Körber [FDP]: Sie regieren ganz allein in Hamburg!) – Ursache dafür ist doch die Situation auf dem Wohnungsmarkt in Hamburg und nicht die Wohnungswirtschaft des Senats. – (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) In Berlin gab es eine Mietsteigerung von 7,4 Prozent. Der eine oder andere von uns wird etwas davon gemerkt haben. In Freiburg im Breisgau betrug die Mietsteigerung 8,1 Prozent. Das lässt sich grafisch darstellen als Linie der Mietpreissteigerungen in den letzten Jahren, Herr Storjohann. Die SPD-Bundestagsfraktion meint: Wir dürfen nicht nur zuschauen, sondern müssen das Mietrecht gestalten, und zwar im Großen wie im Kleinen. Mit „im Kleinen“ meine ich die TLG Wohnen. Hier hätten wir handeln müssen. Es gibt zwei TLG-Teilbestände: TLG Wohnen und TLG Immobilien. Der SPD-Bundestagsfraktion geht es bei der Frage, wie mit dem Bestand der TLG Wohnen umgegangen werden soll, der vor allem an der Ostseeküste, im Großraum Berlin und in Sachsen zu finden ist, um soziale Aspekte und den Mieterschutz. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt. Wir fordern in unserem Antrag, die Bestände der TLG Wohnen nicht weiter zu veräußern. Bei der TLG Immobilien sieht das anders aus, Herr Storjohann; auch wir sind der Meinung, dass der Bund bei Bürohäusern und ähnlichen Immobilien nicht ewig und drei Tage die Eigentümerfunktion ausüben muss. Im Bereich Wohnen ist das aber etwas anderes. Wohnen ist ein soziales Gut. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE] – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!) Warum haben Sie etwas dagegen, dass die Länder durch den Bund angesprochen werden. Bei den Liegenschaften, die durch die Konversion, die Reform der Bundeswehr frei werden, machen wir doch Ähnliches. Da wird sogar mit den Kommunen gesprochen, allerdings nicht konkret genug; doch das ist ein anderes Thema. Die Botschaft, dass mit den Ländern gesprochen werden soll, war richtig. Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir hier über ein ähnliches Thema diskutiert, über den Seenverkauf vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Damals haben wir gesagt: Stopp der Verkäufe und Aufnahme von Verhandlungen mit den Ländern! Dann soll entschieden werden, wie die Seen an die Kommunen oder Länder übergeben werden können. – Dieses Vorhaben haben Sie von FDP und CDU/CSU damals blockiert. (Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Sie wollten das geschenkt haben!) Was haben Sie später tatsächlich gemacht? Sie haben Verhandlungen mit den Ländern aufgenommen; auf diesem Wege wurden Lösungen gefunden. Warum haben Sie unseren Antrag damals eigentlich abgelehnt? Dafür gab es keinen sachlichen Grund. (Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter nimmt in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion Platz.) Auch bei diesem Thema gibt es keinen sachlichen Grund, unserem Antrag nicht zuzustimmen, Herr Storjohann. Sie haben aber nicht reagiert. Wir haben uns auch mit anderen Vorschlägen beschäftigt. Wer den Antrag gelesen hat, stellt fest, dass wir ein Festpreisverfahren wollten. Wir wollten, dass die Sanierungsmaßnahmen weitergeführt werden. Vor allen Dingen wollten wir aber, dass dieser Prozess mit den Mieterinnen und Mietern organisiert wird und die Mieterinnen und Mieter nicht einfach durch ein Rundschreiben informiert werden. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aber eine sehr umfassende Sozialcharta, die wir vereinbart haben!) Das alles haben Sie abgelehnt. Das kritisieren wir scharf. Wir kritisieren, dass Sie sich den Erfordernissen des Wohnungsmarktes verweigern und in keiner Weise auf die Notwendigkeiten eingehen. Sie haben hier eine Sozialcharta angekündigt, Kollege Storjohann. Ich glaube nicht, dass eine Sozialcharta Sicherheit und Ruhe bringen wird. Wir haben das Projekt in Dresden noch vor Augen, bei dem auch eine Sozialcharta existierte. Am Ende mussten wir aber feststellen, dass sie viele Lücken hatte. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber der Bund macht doch eine Schlichtungsstelle zur Einhaltung, eine von uns finanzierte Schlichtungsstelle!) Dass die Sozialcharta keine Sicherheit bringen wird, beweist die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage, die wir zu diesem Thema gestellt haben. Das war keine schlüssige Antwort. Sie haben nur auf das Phänomen Sozialcharta verwiesen. Wir wissen alle, dass dieses keine Sicherheit gibt. Wir werden das alles erleben. Sie hätten auf unsere Vorschläge eingehen können. Sie hätten sie nicht alle übernehmen müssen; aber Sie hätten die Verhandlungen mit den Ländern aufnehmen können und den Kommunen, den kommunalen Wohnungsgesellschaften und den Genossenschaften Angebote machen können. Herr Staatssekretär (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Abgeordneter!) – Herr Abgeordneter; aber Sie haben hier eine Doppelfunktion, lieber Kollege –, im Informationsblatt des GdW lese ich, mit welchen Lobgesängen die Bundesregierung das Genossenschaftswesen preist, das in diesem Jahr übrigens ein Jubiläum hat. Die Frau Bundeskanzlerin preist das Genossenschaftswesen über alle Maßen. Jetzt bieten wir an, die Fähigkeiten und Qualitäten von Wohnungsgenossenschaften in den neuen Ländern zu nutzen, und Sie gehen nicht darauf ein. Das ist doppelzüngig. Dazu kann ich nichts anderes sagen. (Jan Mücke, Parl. Staatssekretär: Das ist aber das wirtschaftlichste Angebot für den Bund!) – Herr Mücke, Sie haben noch Gelegenheit, zu diesen Vorwürfen Stellung zu nehmen. Herr Minister Ramsauer kündigt, gerade was Wohnungen angeht, ständig etwas Neues an. Im Zusammenhang mit den Immobilienliegenschaften, die von der BImA verwaltet werden, und den Konversionsflächen durch die Bundeswehrreform kommt er mit der Idee, einen geschlossenen Konversionsfonds vorzulegen. Ich hatte Sie neulich schon gefragt, wann das kommen wird. Das kann nicht kommen, weil Ihr Kollege Ihnen das aus der Hand genommen hat. Der Bundesfinanzminister hat Ihnen das untersagt. Jetzt kommt der Bundesbauminister mit einer neuen Idee, nämlich aus den Liegenschaften der Bundeswehr Studentenwohnungen zu machen. Herr Mücke, ich stelle Ihnen die Frage: Wird Herr Dr. Ramsauer auch den Nahverkehr zwischen dem Campus und der Liegenschaft im Wald organisieren? (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist doch nicht der Punkt!) Das sind doch fixe Ideen, die Sie am Wochenende in Traunstein ausbrüten. Das, was Sie hier an Wohnungs-politik vorlegen, hat doch keine Substanz. (Beifall bei der SPD) Es gibt einen zweiten Antrag, und zwar von den Linken. Sie wollen den Gesamtverkauf stoppen. Ich glaube, wir haben uns im Ausschuss schon darüber unterhalten. Das war eine kleine Fehlformulierung. Sie meinen wohl eigentlich den Wohnungsbestand und nicht die Gewerbeimmobilien. Das nehmen wir jetzt einfach so hin. – Für mich ist es nicht ganz einfach, nachzuvollziehen, dass Sie sich selbst – entgegen der Intention Ihres Antrags – am Bieterverfahren beteiligen. Das ist für mich nicht logisch. Ich kann das nur damit in Verbindung bringen, dass Sie vielleicht doch die Absicht hatten, die Experten Lafontaine und Dr. Gysi in den Vorstand dieser Gesellschaft aufzunehmen. Oder was stand dahinter? Ich war mir darüber nicht so ganz im Klaren. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist jetzt wirklich unter Ihrem Niveau!) Ich warne davor. Mir ist in diesem Moment eigentlich das Interesse der Mieterinnen und Mieter höherwertig als die Funktion dieser beiden Experten, die sich bekanntermaßen schon als Minister und Senator betätigt haben. (Beifall bei der SPD – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das sind ja üble Unterstellungen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sehr einfältig, Herr Kollege!) Meine Damen und Herren, der Vorschlag, dass eine Partei eine Genossenschaft gründet, ist wirklich ein Ding aus der Mottenkiste. Das nehmen wir Ihnen nicht ab. Den zweiten Punkt Ihres Antrags unterstützen wir nachdrücklich, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommt der erste gute Teil Ihrer Rede, Herr Kollege!) nämlich dass die soziale Kompetenz bei diesen Entscheidungen beachtet werden muss, was durch Schwarz-Gelb leider nicht beachtet worden ist. Deshalb enthalten wir uns bei Ihrem Antrag. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich komme zum Ende. Was ist das Fazit dieser beiden Anträge? Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ist gut. Er ist gut für die Mieterinnen und Mieter, und er ist auch gut für den regionalen Wohnungsmarkt in den Gebieten, in denen die TLG-Wohnungen liegen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er ist auch gut für Ihre PR! Aber er ist nichts in der Substanz!) Die Koalitionsfraktionen – Herr Storjohann, ich schreibe Ihnen das ins Stammbuch – haben aus ideologischen Gründen blockiert. Es gibt viele andere Beispiele dafür, dass Bundesvermögen auf andere, sozialverträgliche Weise privatisiert worden ist. Mein letzter Satz: Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie fahren heute mit einem „Mangelhaft“ nach Hause in Ihre Wahlkreise. Ich wünsche Ihnen trotzdem eine gute Fahrt. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Das war unser Kollege Hans-Joachim Hacker. – Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär, Kollege Jan Mücke. Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Jan Mücke. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Hacker, wenn ich Ihre Rede so höre und Ihre Anträge lese, und zwar sowohl den von der SPD-Fraktion als auch den von den Linken, dann könnte man meinen, dass der von den Maya prophezeite Weltuntergang auf heute vorverlegt wurde; denn Sie tun so, als stünde die gesamtdeutsche Wohnungsversorgung auf dem Spiel. (Zuruf von der SPD: Sie müssen an Ihrer Lesekompetenz arbeiten!) Ich darf Sie bitten, auf dem Teppich zu bleiben. Worüber reden wir? Wir reden über die Privatisierung der TLG-Wohnungen. Dabei geht es um 11 500 Wohnungen; dies sind 0,03 Prozent des deutschen Gesamtwohnbestandes bzw. 0,14 Prozent des ostdeutschen Bestandes. Die Objekte verteilen sich weiträumig auf insgesamt 53 Standorte in ganz Ostdeutschland. Es gibt demzufolge auch keine Konzentration. Der größte Standort ist meine Heimatstadt Dresden mit 2 173 Wohneinheiten. Selbst das ist nicht einmal 1 Prozent des Dresdener Gesamtwohnungsbestandes. Zudem liegen diese Domizile nicht in angespannten, sondern in entspannten Wohnungsmärkten, meist dort, wo Leerstand und Bevölkerungsschwund herrschen. Angesichts dieser Fakten ist es, meine Damen und Herren von den Linken, geradezu absurd, Grundfragen der Wohnungspolitik an der Privatisierung der TLG-Wohnungen festzumachen. Aber die Realität hat Sie ja noch nie gestört, liebe Kollegen von den Linken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN) In Teil eins Ihres Antrags haben Sie entweder Allgemeinplätze oder sogar Falschbehauptungen formuliert. Die Forderungen in Teil zwei Ihres Antrags sind angesichts der tatsächlichen Lage auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt schlicht und ergreifend überflüssig. Keine Kommune und keine Landesregierung – auch nicht die rot-rote in Brandenburg – hat Interesse am Erwerb der TGL-Wohnungen bekundet. Das finde ich sehr spannend. (Zurufe von der FDP: Aha! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie haben doch kein Angebot gemacht!) Offenbar sehen die Länder und Kommunen selbst dort, wo SPD und Linke gemeinsam regieren, die Lage längst nicht so kritisch, wie Sie hier der Öffentlichkeit weismachen wollen. Zurück zur Realität und damit zu Ihnen, verehrte Kollegen von der SPD. Auch Sie haben in Ihrem Antrag gefordert, die Privatisierung der TLG-Wohnungen nicht fortzuführen. Nebenbei betrachtet: Sie haben Ihren Antrag einige wenige Tage nach den Linken eingebracht. Ich war versucht, an ein linkes Wettrennen zu denken. Wenn ich beide Anträge nebeneinanderlege, habe ich den Eindruck, dass die Aussagen inhaltlich fast identisch sind. (Karin Binder [DIE LINKE]: Das sollte Ihnen doch zu denken geben, die große Einheit in diesem Hohen Hause!) Insofern wäre es ehrlicher gewesen, Sie hätten gemeinsam einen Antrag eingebracht. Aber dass die SPD überhaupt die Unverfrorenheit besitzt, (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Na, na, Herr Mücke!) einen solchen Antrag einzubringen, geschätzte Kollegen von der SPD, das finde ich ein sehr starkes Stück. Denn als Sie noch im Bund regierten, sind Sie nicht halb so zimperlich gewesen, wenn es um Wohnungsprivatisierungen ging. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Da hatten wir eine andere Situation!) Erstes Beispiel. In Ihrer Regierungszeit, im Jahr 2000, gingen – das ist schon angesprochen worden – rund 113 000 Eisenbahnerwohnungen über den Verkaufstisch, davon rund 64 000 an einen durch die japanische Großbank Nomura finanzierten Investor. (Zuruf von der FDP: Heuschrecke!) In Münteferings Diktion ist dies eine klassische Heuschrecke. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Amerikanisch!) Die ehemalige Arbeiterpartei SPD verkaufte damit nicht nur einfach Wohnungen an eine Heuschrecke, sondern auch eine ganze betriebliche Sozialeinrichtung. (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) Ihr damaliger SPD-Bauminister Reinhard Klimmt wischte die Kritik daran rigoros beiseite und erklärte mannhaft, die Bundesregierung halte an der Absicht fest, notwendige Beiträge zur Haushaltsentlastung durch Privatisierung der Eisenbahnerwohnungen zu realisieren. (Beifall bei der FDP – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war allerdings noch von Kohl eingefädelt!) Das ist sehr interessant. Zweites Beispiel. Unter Ihrer Regierungsverantwortung, Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, wurden 2004 weitere 82 000 öffentliche Wohnungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, BfA, privatisiert. Das sind die sogenannten GAGFAH-Wohnungen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Grünen auch neoliberal!) Beide Großverkäufe sind schon allein zahlenmäßig ganz andere Kaliber als die TLG-Wohnungen, ganz abgesehen von den sozialen Rahmenbedingungen. Erst mit dem GAGFAH-Verkauf wurde überhaupt erstmals eine Sozialcharta eingeführt, (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr richtig!) wobei diese Sozialcharta gegenüber der Dresdner So-zialcharta inhaltlich deutlich abfällt. Ein Blick auf die Details lohnt sich. Ihre damalige GAGFAH-Sozialcharta beinhaltete sieben Punkte. Diese bezogen sich hauptsächlich auf den Mieterschutz. Die Dresdner Sozialcharta beinhaltete hingegen 20 Punkte (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hat auch nicht geholfen!) zum Mieterschutz, zum Arbeitnehmerschutz, zur Stadtentwicklung, zu Vertragsstrafen und zu Kontrollen. Das ist die Wahrheit, und bitte bleiben Sie bei der Wahrheit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Mücke, wir haben doch heute eine andere Situation als vor zehn Jahren!) Ich weiß, es tut Ihnen jetzt weh, aber es kommt noch ein drittes Beispiel. Auch im rot-roten Berliner Senat – man höre und staune! – ging es forsch zur Sache. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ein Zerberus!) 2004 wurde die landeseigene GSW mit fast 70 000 Wohnungen verkauft, und weitere Tausende Wohnungen veräußerten die kommunalen Berliner Wohnungsgesellschaften seither allein. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war auch falsch! Das haben wir unterdessen ganz klar gesagt! – Lachen bei der FDP) – Hochinteressante Bemerkung. Aber auch die Berliner Grünen zierten sich nicht. 2003 schlugen sie angesichts des „katastrophalen Schuldenbergs“ bei den Berliner Wohnungsgesellschaften vor, mehr als die Hälfte des gesamten Berliner Wohnungsbestandes – man höre und staune! – zu verkaufen. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wir sind fassungslos!) Meine Damen und Herren, da liegt es wohl auf der Linie, wenn erst Anfang dieses Jahres die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg mit dem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann an der Spitze die 21 000 Wohnungen ihrer Landesbank an einen privaten Investor verkaufte. (Oliver Luksic [FDP]: Dann ist das moralisch in Ordnung!) Man kann es sehr einfach zusammenfassen: Niemand hat in Deutschland mehr öffentliche Wohnungen an sogenannte Heuschrecken verkauft als Linkspartei, SPD und Grüne zusammen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das mit der heutigen Entscheidung zu tun?) Deshalb: Verschonen Sie bitte die Öffentlichkeit mit Ihren Täuschungsmanövern! Sie handeln zutiefst unaufrichtig, und Ihre Anträge sind unredlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was stört die FDP an Privatisierungen?) Meine Damen und Herren, es ist doch sehr seltsam, dass Ihnen derartige Großtransaktionen im Gegensatz zur Mini-TLG-Transaktion offenbar keine Bauchschmerzen bereitet haben. Klar, es waren ja Ihre eigenen Veräußerungen, es waren sozusagen gute Verkäufe, die von den Richtigen durchgeführt wurden. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie denken an die Redezeit, Herr Staatssekretär? (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Schade eigentlich! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Es könnte stundenlang so weitergehen!) Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich bin gleich am Ende meines Manuskripts. – Auch hierzu ein Beispiel: Das SPD-Mitglied Franz-Georg Rips, Direktor des Deutschen Mieterbundes, lobte nach dem Verkauf der 82 000 GAGFAH-Wohnungen durch die rot-grüne Landesregierung die Sozialcharta: „Dieses Mieterschutz-Paket kann sich sehen lassen“. (Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Das hat nicht so geklappt!) Als ein Jahr später Dresden die WOBA verkaufte, sprach er von einem Albtraum für die Mieterinnen und Mieter – trotz weitaus besserer Sozialcharta. – Klar, hier hatten die Falschen verkauft. (Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um „falsch“ oder „richtig“!) Bitte hören Sie auf mit dieser Doppelmoral! Das, was Sie hier tun, ist eine Verhohnepipelung der Öffentlichkeit. Das hat nichts mit Wahrheit und Klarheit zu tun. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Staatssekretär. Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich glaube, dass die Veräußerung der TLG Wohnen eine gute Entscheidung ist. Wir gucken uns die Märkte an. Sie können weiter versuchen, die Öffentlichkeit zu belügen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Na ja, Mücke, das war ein bisschen zu viel! Das gehört sich für einen Staatssekretär nicht!) Vizepräsident Eduard Oswald: Jeder ist für das verantwortlich, was er sagt. Aber das Wort „Lüge“ sollte in diesem Haus nicht vorkommen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das finde ich aber auch! Das war nicht in Ordnung!) Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Heidrun Bluhm. Bitte schön, Frau Kollegin Heidrun Bluhm. (Beifall bei der LINKEN) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor allem meine Damen und Herren der Bundesregierung und auch sehr geehrter Herr Kampeter vom Bundesfinanzministerium – wo ist er jetzt? Er sitzt jetzt hier als Abgeordneter –, glauben Sie vielleicht im Ernst, dass Sie uns durch Ihren hektischen Aktionismus, den Sie beim Verkauf der TLG Wohnen GmbH an den Tag gelegt haben, austricksen können? (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein!) Der vorgestern eilig vollzogene und geheimnisvolle Abschluss des Kaufvertrages wird Sie nicht davor schützen, dass Ihre Machenschaften nicht doch ans Tageslicht kommen; denn dafür werden wir sorgen. (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Den Termin habe ich öffentlich verkündet, Frau Kollegin!) Abgesehen davon, dass Sie in vollem Wissen darum gehandelt haben, dass die Parlamentarier in dieser Woche Anträge auf einen Verkaufsstopp öffentlich abschließend beraten werden, haben Sie damit vor allem die Mieterinnen und Mieter vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Unglaublich!) Das soll der neue Eigentümer nicht morgen, nicht nächste Woche oder nächsten Monat tun; nein, das soll er im nächsten Jahr machen; so ist die Verlautbarung. Aber das Jahr ist lang! Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren, (Beifall bei der LINKEN) so wie Ihre gesamte Informationspolitik gegenüber den betroffenen Mieterinnen und Mietern in den letzten Monaten ein Skandal war. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nach Mückes Rede könnt ihr euch das ersparen, oder?) Offensichtlich haben Sie sehr viel zu verheimlichen, wenn Sie sowohl Ihr Parlament als auch die Mieterinnen und Mieter, vor allem aber die Öffentlichkeit völlig he-raushalten wollen. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nach des Staatssekretärs Rede könnt ihr euch das sparen, könnt ihr nach Hause gehen, oder?) Eigentlich wollten Sie ein offenes, transparentes und bedingungsfreies Bieterverfahren durchführen. Ihre Vorgehensweise ist weder transparent noch offen und schon gar nicht bedingungsfrei. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben vorgestern für knapp eine halbe Milliarde Euro das letzte Wohnungsvermögen der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR an den internationalen Immobilienmarkt verscherbelt, (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist jetzt aber Ideologie!) obwohl Sie auch die Chance gehabt hätten, diese Wohnungen denjenigen zu verkaufen, denen sie eigentlich gehören. (Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wem denn?) Wenn die Mieterinnen und Mieter auch ein zweites Mal dafür bezahlt hätten, wären sie doch nach 22 Jahren endlich rechtmäßige Eigentümer der Wohnungen geworden. Sie wollten Tatsachen schaffen, obwohl im Parlament Anträge eingebracht wurden, den Verkauf zu stoppen oder eine Übertragung an die Kommunen, wie es der Einigungsvertrag vorsieht, vorzunehmen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Gut zuhören, Kollegen!) Ich zitiere aus § 1 Abs. 1 des Treuhandgesetzes: Volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufgaben und kommunalen Dienstleistungen dient, ist durch Gesetz den Gemeinden und Städten zu übertragen. (Beifall des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]) Aber für Sie ist das, wie der aktuelle Verkaufsfall beweist, keine kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge. Das ist ein Irrtum. Das ist ein sozialer Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, Sie begünstigen schamlos private Finanzinvestoren. Schon vor der Verkaufsentscheidung haben Sie diese Haushaltseinnahme in das Jahr 2013 verschoben. Warum? Ich sage es Ihnen: Weil die TAG das Kapital erst an der Börse besorgen muss. 30 Millionen Aktien müssen erst verkauft werden, damit der Kaufpreis aufgebracht werden kann. Das braucht natürlich Zeit; deshalb die Verschiebung. Diese Aktien werden vornehmlich angelsächsische Kapitalanleger mit hohen Renditeerwartungen, die die Mieterinnen und Mieter hinterher zu erwirtschaften haben, erwerben. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was ist denn eine hohe Renditeerwartung?) Mit diesem Deal tragen Sie dazu bei, dass sich die Gesamtbilanz des Käufers allein durch die hohe Werthaltigkeit der TLG Wohnen GmbH wesentlich verbessern wird. Das ist Begünstigung der Privatwirtschaft auf Kosten des Allgemeinwohls. Auch das ist ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Die viel gepriesene Sozialcharta, die Sie verhandelt haben wollen, geht völlig am Leben vorbei. Vereinbart wurde hauptsächlich das, was sowieso nicht eintreten wird oder ohnehin geltendes Recht ist, zum Beispiel Luxussanierungen im Plattenbau. Ich bitte Sie: Wo wollen Sie da eine Luxussanierung durchführen? Das fällt überhaupt nicht an. Ein anderes Beispiel sind Eigenbedarfskündigungen. Eine Aktiengesellschaft kann überhaupt keine Eigenbedarfe anmelden, es sei denn, der Vorstandsvorsitzende hat keine Wohnung. (Sebastian Körber [FDP]: Was hat das denn mit dem Thema zu tun?) Aber ich denke nicht, dass er in Kitzscher, in Dresden oder vielleicht in Strausberg wohnen möchte. Deshalb kommt für ihn auch keine Eigenbedarfskündigung infrage. Wirklich geholfen hätte den Mieterinnen und Mietern, wenn in dieser Sozialcharta die jetzige Miethöhe festgeschrieben worden wäre. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Oh ja! Am besten für 50 Jahre! – Oliver Luksic [FDP]: Reichen denn die nächsten 100 Jahre?) Davon steht in Ihrer Sozialcharta allerdings überhaupt nichts. Ihre Sozialcharta ist scheinheilig, gewissenlos und wird keinen Mieter vor maximaler Verwertung seiner Wohnung schützen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Sebastian Körber [FDP]: Ihre Rede ist scheinheilig!) Der Vorstandsvorsitzende der TAG Immobilien AG hat sich erst gestern bei Frau Illner zu dem Thema geäußert, das Herr Bockhahn eben angesprochen hat. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war echter Quatsch!) Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Rolle der Barclays Bank, meine Damen und Herren. Vizepräsident Eduard Oswald: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Arnold Vaatz? Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Wenn das meine Redezeit verlängert, bitte. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, leider! – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Jetzt bin ich ja mal gespannt!) Arnold Vaatz (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie haben sich doch selber an dem Bieterverfahren beteiligt, und zwar mit der extra neu gegründeten Wohnungsgesellschaft FAIRWOHNEN. (Beifall bei der LINKEN – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine lustige Idee!) Können Sie erläutern, wie die Bedingungen für die Erwerber dieser Wohnungen, also für die Mitglieder der Genossenschaft, gewesen wären, wenn Sie den Zuschlag erhalten hätten, und können Sie erläutern, wie Sie das Ganze finanziert hätten? (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sehr gute Frage!) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Kollege Vaatz, vieles darf ich Ihnen nicht sagen, weil wir in diesem Zusammenhang eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben haben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ach, sieh an! Der Bundesregierung vorwerfen, sie sage nichts, und selber Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen! Das ist typisch! – Gegenruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wer hat die Verschwiegenheitserklärung denn verlangt? – Oliver Luksic [FDP]: Hinterzimmer! So viel zum Thema Transparenz!) Aber ich glaube, das, was Sie wissen wollen, darf ich an dieser Stelle sagen. Die TLG FAIRWOHNEN hätte sich für die Mieterinnen und Mieter als Eigentümer zur Verfügung gestellt, um ihnen diese Genossenschaft hinterher zu übergeben. Die Vermutung, Gysi und Lafontaine seien vielleicht für den Vorstand vorgesehen gewesen – Herr Hacker hat das in seiner Rede gesagt –, ist falsch. (Beifall des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]) Wäre uns der Zuschlag erteilt worden, hätten wir den Mieterinnen und Mietern diese Genossenschaft selbstverständlich für die Eigenverwaltung zur Verfügung gestellt. Wenn Sie die Satzung der TLG FAIRWOHNEN gelesen hätten, dann würden Sie wissen, was eine wirkliche Sozialcharta ausmacht: das Festschreiben und Selbstbestimmen, wie sich eine solche Genossenschaft entwickelt, das Festschreiben und Selbstbestimmen, wann wo investiert wird, und das Festschreiben und Selbstbestimmen, wie hoch die Miete sein soll. (Beifall bei der LINKEN) Das wäre eine Sozialcharta gewesen, die wirklich hätte verhandelt werden können. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Leider haben Sie meine Frage damit aber nicht beantwortet! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: War das jetzt die Antwort auf die Frage?) Im Übrigen, Herr Vaatz, rede ich hier und heute nicht als Aufsichtsratsvorsitzende der TLG FAIRWOHNEN, sondern als Mitglied und wohnungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Bravo! – Oliver Luksic [FDP]: Gut, dass Sie das noch mal gesagt haben! Sicher ist sicher!) Ein letztes Wort zur Rolle der Barclays Bank. Gerade hat der Bundesfinanzminister für die Einfädelung des Deals jemanden als Transaktionsbeauftragten bestellt, der in England wegen Manipulation des Libor vor Gericht steht. Der Vorstandsvorsitzende der Bank ist bereits zurückgetreten, sicherlich nicht, weil diese Vorwürfe vor Gericht haltlos sind. Die Auswahl dieses Transakteurs durch den Bundesfinanzminister ist zumindest instinktlos, wenn nicht auch schon ein Skandal. (Beifall bei der LINKEN) Was der wirkliche Skandal ist, sage ich Ihnen jetzt. Drei Mal dürfen Sie raten, wen die TAG Immobilien mit der Börsenemission für die 30 Millionen Aktien beauftragt hat, die für das Eigenkapital notwendig sind. Natürlich die Barclays Bank. Da kommt übrigens auch der jetzige TAG-Vorstandsvorsitzende her, wie in seiner Vita zu lesen ist. So schließt sich der Kreis und – so sollte ich vielleicht besser sagen – der Filz. Vizepräsident Eduard Oswald: Jetzt muss ich Sie trotzdem auf die Redezeit aufmerksam machen. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Ja, sofort. Ich komme zum Schluss. – Egal, was auf dem Immobilienpaket der TLG draufsteht – immer ist Barclays drin. Nehmen wir einmal an, die Barclays Bank wird dafür auch noch bezahlt. Das hat Herr Kampeter mir auf meine Anfrage aus Geheimniskrämerei nicht beantwortet. Aber 1 Prozent wird schon drin sein. 1 Prozent für diesen Deal heißt für die Barclays Bank fast 5 Millionen Euro. Meine Damen und Herren in der Regierung und aus der Koalition, fragen Sie sich gelegentlich auch einmal, für wen Sie Politik machen oder wer Sie gewählt hat? Sicher nicht. Sonst würden Sie sich nicht als Trittbrett für die internationale Finanzindustrie betätigen. Aber eins haben Sie ja jetzt erreicht. Vizepräsident Eduard Oswald: Sie haben mir versprochen, zum Schluss zu kommen. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Das leidige und von vielen Skandalen begleitete Thema der Treuhand ist nach 22 Jahren endlich Geschichte. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald: Das war unsere Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke. – Jetzt gebe ich dem Kollegen Steffen Kampeter das Wort zu einer Kurzintervention. Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin Bluhm, Sie haben mich persönlich angesprochen und insinuiert, dass der Verkauf dieser Wohnungen ein unsozialer Akt sei. Sie sind leider über die wesentlichen Inhalte der Sozialcharta hinweggegangen. Da ich sie den Linken in der letzten Fragestunde eigentlich erläutert haben sollte, möchte ich sie hier heute nicht vortragen. Ich möchte Sie aber im Wesentlichen daran erinnern. Es gibt eine umfassende erweiterte Kündigungsschutzregelung für fünf Jahre, ein lebenslanges Wohnrecht für ältere Bewohnerinnen und Bewohner, das auch von Angehörigen weiter genutzt werden kann, einen Sanierungsschutz, den Vorrang der Mieterprivatisierung. Darüber hinaus hat sich die TAG verpflichtet, die Beratung beim örtlichen Mieterverein zur Sozialcharta zu unterstützen. Sie hat – das halte ich für viel besser als die Festschreibung der derzeitigen Mieten, wie von Ihnen gefordert – die Beibehaltung des bisherigen Investitionsniveaus akzeptiert. Denn es geht hier doch nicht um Miethöhe, sondern es geht um anständiges Wohnen, das wir den Mieterinnen und Mietern garantieren können. (Zuruf von der FDP: So ist es!) Selbst für den möglichen Weiterverkauf dieser Wohnungen hat sich der Erwerber verpflichtet, die Rechte aus der Sozialcharta weiter zu gewähren. Es gibt Vertragsstrafen für Nichteinhaltung. Von der TAG aus Hamburg ist eine sehr individuelle Mieterinformation vorgesehen. Dies ist ein sehr umfassendes soziales Absicherungspaket für diese Privatisierung. Wir haben zum einen für den Bundeshaushalt einen auskömmlichen Ertrag erzielt, und wir haben zum anderen mit der Sozialcharta für die Mieterinnen und Mieter bei dieser Privatisierung eine lebendige soziale Marktwirtschaft aufleben lassen. Ihre Hetze, Ihre Unterschlagung der Sozialcharta (Widerspruch bei der LINKEN) ist unangemessen, führt zur Verängstigung der Mieter. Sie sollten das einstellen. Dies ist ein faires Angebot an alle Beteiligten. Die christlich-liberale Koalition steht zu den Verpflichtungen der sozialen Marktwirtschaft auch im Wohnungsbereich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Eduard Oswald: Das war die Kurzintervention des Abgeordneten Steffen Kampeter. – Wollen Sie, Frau Kollegin Heidrun Bluhm? Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Kollege Kampeter, Sie rufen hier so laut und müssen natürlich das verteidigen, was die Bundesregierung an dieser Stelle verhandelt hat. Legen Sie die So-zialcharta doch offen. Legen Sie sie auf die Startseite des Internetauftritts des Bundesfinanzministeriums. Dann legen wir andere Sozialchartas dagegen. Dann können wir vergleichen, was das wert ist, was Sie hier eben so emotional vorgetragen haben. Man könnte ja glauben, Sie stünden wirklich dahinter. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Tue ich!) Wir sind gemeinsam mit den Mieterinnen und Mietern, mit denen wir sehr intensiv im Gespräch waren, und gemeinsam mit dem Deutschen Mieterbund zutiefst der Auffassung, dass das, was Sie hier vorgelegt haben, sowieso geltendes Recht ist. Was Sie zusätzlich geregelt haben, ist nur das, was bei diesen Wohnungen sowieso nicht zu befürchten ist – mit einer Ausnahme: Im Hinblick auf behinderte und ältere Menschen haben Sie etwas geregelt, was den Investor immerhin für fünf Jahre bindet, danach aber nicht mehr. Insofern ist das, was Sie eben veranstaltet haben, eine schöne Show gewesen. Aber im Sinne der Mieterinnen und Mieter, die von dieser Privatisierung betroffen sind, haben Sie nichts geregelt. (Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Plattitüden, sonst nichts!) Vizepräsident Eduard Oswald: Wir fahren fort in der Rednerliste. Frau Kollegin Daniela Wagner, Sie waren schon einmal fast vorne am Rednerpult, jetzt erneut, bitte schön. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Daniela Wagner. Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Es befinden sich noch knapp 10 Prozent des Wohnungsbestands in der Bundesrepublik in der Hand von öffentlichen Wohnungsunternehmen; diese sind vor allen Dingen im Besitz von Ländern und Kommunen. Nach zahlreichen -Privatisierungen ist der öffentliche Wohnungsbestand bereits deutlich geschrumpft, obwohl er bei der Vermeidung von Verdrängungsprozessen eine wesentliche Rolle spielen kann und sollte. So kann zum Beispiel einkommensschwachen Mietern bezahlbarer Wohnraum bereitgestellt werden. Die öffentlichen Wohnungsunternehmen können aber auch beispielgebend sein bei der ökologischen und energetischen Gebäudesanierung oder bei dem altersgerechten Umbau des Wohnungsbestands. Überall dort ist die öffentliche Hand, sind die öffentlichen Wohnungsunternehmen ein bisschen Vorbild. Die öffentliche Wohnungswirtschaft muss daher auf allen Ebenen – Länder und Kommunen – gestärkt werden. Einen weiteren Verkauf öffentlicher Wohnungen an nicht nachhaltig wirtschaftende Finanzinvestoren darf es aus unserer Sicht nicht mehr geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Müssen öffentliche Wohnungen dennoch aufgrund -finanzieller Zwänge verkauft werden, dann sind nachhaltig wirtschaftende Wohnungsgesellschaften, Genossenschaften oder kommunale Konsortien oder eine Mieterprivatisierung zu bevorzugen. Wir sagen aber auch: Eine Privatisierung öffentlichen Wohnungsbestandes ist nicht per se abzulehnen. Sie muss allerdings im Einzelfall geprüft werden. Das Ergebnis kann in dem einen Fall so, in dem anderen Fall anders ausfallen. Wir sehen vor allen Dingen darin ein Problem, dass der Wohnungsbestand der TLG en bloc verkauft werden soll. Damit entzieht er sich einer Mieterprivatisierung. Auf den uns vorliegenden Antrag möchten wir nur in aller Kürze eingehen; wir hatten die Debatte ja schon einmal. Die TLG in eine bundeseigene Wohnungsgesellschaft umzuwandeln, macht angesichts der Größe und der Struktur des Unternehmens – 1 151 Objekte, 11 917 Mietwohneinheiten, verteilt über 212 Kommunen und eine lokale Konzentration in den neuen Bundesländern – keinen Sinn. Die Rahmendaten machen deutlich, dass die TLG als wohnungspolitisches Steuerungsinstrument des Bundes schlicht nicht geeignet ist. Selbst wenn man die Wohnungen der TLG mit denen der BImA fusionierte, hätte das entstehende Unternehmen nicht einmal die Größe der Nassauischen Heimstätte mit 60 000 Wohnungen in Hessen. Wir halten es durchaus für richtig, die TLG zu privatisieren. Allerdings glauben wir, dass es besser gewesen wäre, sie in kleine Pakete aufzuteilen und diese an lokale Wohnungsgesellschaften zu verkaufen, auf gar keinen Fall aber an einen einzelnen Finanzinvestor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Ich habe den Eindruck, dass der politische Druck, der angesichts der Erfahrungen aus der Vergangenheit mit den Machenschaften der GAGFAH respektive Fortress, Annington und anderer entstanden ist, Wirkung zeigt. Es gibt in diesem Fall eine Sozialcharta, die sich verglichen mit früheren Sozialchartas sehen lassen kann. Wenn ich es richtig verstanden habe, finden die einzelnen Regelwerke sogar Eingang in die individuellen Mietverträge. Wenn dem so ist, dann ist das ein riesiger Fortschritt; denn eine Sozialcharta, die nicht in den individuellen Mietvertrag aufgenommen wird, ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Mücke, es geht nicht darum, ob der Richtige oder der Falsche verkauft. Es ist nicht so, dass man das beurteilen muss entlang der Frage: Sind das Liberale oder Schwarze oder Grüne oder Rote, die die Privatisierung beschlossen haben? Entscheidend ist, dass die Privatisierung funktioniert, das heißt, dass am Ende nicht die Mieterinnen und Mieter die Angelegenheit ausbaden müssen. Ihre Interessen müssen geschützt sein: Sie müssen die Chance haben, sich an jemanden zu wenden. Sie müssen ein Vorkaufsrecht bekommen, wenn ihre Wohnung verkauft werden soll. Sie müssen einen Ansprechpartner im Haus haben. Es muss sich jemand kümmern – anders als man das bei großen Wohnungsverkäufen in der Vergangenheit erleben musste. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie das bewerkstelligt haben sollten, dann wäre das gut. Allerdings haben Sie sich nur für fünf respektive zehn Jahre festgelegt. Wir wissen nicht, was dann die TAG mit den Beständen vorhat. Das ist genau der Punkt, an dem ich große Sorge habe. Wenn man zum Beispiel die Äußerungen des TAG-Vorstands von gestern Abend in der Sendung von -Maybrit Illner verfolgt hat, die ich mir natürlich angeschaut habe, dann kann man durchaus auch böse Ahnungen haben, was in fünf oder zehn Jahren mit diesen Wohnungsbeständen geschieht. Dann gnade den Mietern Gott. Deswegen sage ich: Es ist sehr wichtig, dass man den richtigen Vertragspartner hat, dass die richtigen Regelungen Eingang in die Mietverträge finden und dass bei einer solchen Sozialcharta am besten noch eine dingliche Absicherung im Grundbuch passiert, damit die Mieterinnen und Mieter nachher nicht das Nachsehen haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Eduard Oswald: Vielen Dank, Frau Kollegin Daniela Wagner. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist Kollege Karl Holmeier. Bitte schön, Kollege Karl Holmeier. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Karl Holmeier (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nichts ist so alt wie der Antrag der Linken von gestern. Der heute zur Debatte stehende Antrag ist sogar von vorgestern. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Erstens hat der Bund die TLG-Wohnungen inzwischen verkauft. Damit hat sich der Antrag zu einem Großteil erledigt. Zweitens offenbart dieser Antrag, dass die Kolleginnen und Kollegen von der Linken auch über 20 Jahre nach dem Ende des SED-Staates noch immer nicht in der Wirklichkeit angekommen sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich will daher gleich zu Beginn zum Zwecke der Staatsbürgerkunde der Linken eines darstellen: VEB-Wohnen gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht; denn nach unserem Staatsverständnis ist es nicht Aufgabe des Bundes, den Menschen mit eigenen Unternehmen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sollte es auch nicht!) Genauso wenig ist es Aufgabe des Staates, mit eigenen Supermärkten Lebensmittel anzubieten. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das sollte er auch gar nicht!) Das ist sogar gesetzlich geregelt. Sie müssten es nur nachlesen. Nach der Bundeshaushaltsordnung soll sich der Bund nur dann an privaten Unternehmen beteiligen, wenn ein wichtiges Interesse dafür besteht. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist unbestritten!) Mit dem Wegfall des Treuhandauftrages der TLG besteht aber gerade kein wichtiges Interesse des Bundes mehr, sodass er zur Privatisierung verpflichtet ist. Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Kollege Karl Holmeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Heidrun Bluhm? Karl Holmeier (CDU/CSU): Gerne. Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte schön. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Herr Kollege Holmeier, ich möchte Sie fragen, wenn das stimmt, was Sie gerade zu den Eigentumsmöglichkeiten des Bundes gesagt haben, wie sich die Bundes-regierung und die Koalition vorstellen, mit den Gott sei Dank noch vorhandenen Wohnungen in der Bundes-anstalt für Immobilienaufgaben umzugehen. Karl Holmeier (CDU/CSU): Es ist zurzeit nichts in der Planung. Wir werden sehen, was kommt. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Komisch!) Mit Ihrer Forderung operieren die Linken insofern nahe an der Rechtswidrigkeit. Das wichtige Bundesinteresse lässt sich auch nicht aus der unbestrittenen Verantwortung des Staates herleiten, für bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraum in Deutschland zu sorgen. Mit Blick auf die TLG Immobilien, die in ihrem Portfolio Büros, Einzelhandelsgeschäfte und Gewerbeflächen hält, ist dies so klar, dass dies eigentlich auch der Linken auffallen müsste. Aber auch bei einem Blick auf das Portfolio der TLG Wohnen ist kein wichtiges Interesse des Bundes zu erkennen; denn diese Wohnungen befinden sich im Wesentlichen überhaupt nicht an den Orten, wo Wohnungsengpässe bestehen – es ist bereits gesagt worden, dass diese Wohnungen sich auf über 50 Orte in Deutschland verteilen – und wo eventuell der Staat zur Stabilisierung des Mietwohnungsmarktes gefragt wäre. Die Wohnungen befinden sich vielmehr im Wesentlichen dort, wo ein ausgewogener Wohnungsmarkt vorhanden ist und wo zum Teil sogar Leerstand herrscht. Vor diesem Hintergrund kann ich nicht erkennen, warum der Staat in den Wettbewerb mit privaten Unternehmen treten und in das Immobiliengeschäft einsteigen sollte. Im Übrigen möchte ich betonen, dass die christlich-liberale Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung die Unterstützung sozial schwacher Haushalte bei der Wohnraumversorgung durchaus ernst nimmt; denn letztlich ist dies Aufgabe eines Sozialstaates. Dazu, meine Damen und Herren, stehen wir uneingeschränkt. Wesentliche Anhaltspunkte hierfür sind die Gewährung von Wohngeld zur Stärkung der Mietzahlungsfähigkeit und die soziale Wohnraumförderung der Länder. In diesem Rahmen kümmert sich der Staat um die Bereitstellung preiswerter Mietwohnungen für sozial schwache Haushalte und die Unterstützung bei der Bildung selbst genutzten Wohneigentums vor allem für Haushalte mit Kindern. Auch die Schaffung von behindertengerechtem Wohnraum wird von zahlreichen Ländern und Kommunen gefördert. Darüber hinaus hat sich der Bund auch direkt im Zusammenhang mit der Privatisierung der TLG Wohnen erfolgreich dafür eingesetzt, dass sozial schwache Mieter und Menschen mit Behinderung geschützt werden. Im Rahmen einer dem Käufer auferlegten Sozialcharta werden die Mieter umfassend und weit über die gesetzlichen Vorschriften hinaus geschützt. Herr Staatssekretär Kampeter hat es ja bereits gesagt, aber ich möchte es trotzdem erwähnen: Alle bestehenden Mietverträge werden unverändert übernommen. Bestandsmieter erhalten fünf Jahre Schutz vor Kündigungen wegen Eigenbedarfs und wegen Hinderung an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung sowie zehn Jahre Schutz vor Mieterhöhungen wegen Luxussanierung. Ältere und schwerbehinderte Bestandsmieter erhalten ein lebenslanges Wohnrecht. Zusätzlich hat sich die TAG Immobilien AG gegenüber dem Bund vertraglich verpflichtet, Instandhaltungen und Investitionen im bisherigen Umfang fortzusetzen. Um die Einhaltung der Sozialcharta zu überwachen, wird der Bund sogar eine Ombudsstelle einrichten. Die Mieter der TLG Wohnen können sich jederzeit dorthin wenden. Die Ombudsstelle unterstützt die Mieter bei der Durchsetzung ihrer Rechte aus der Sozialcharta. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Antrag zeigt nicht die besondere soziale Einstellung der Linken. Dieser Antrag zeigt vielmehr, dass diese Fraktion leider noch immer nicht in der Wirklichkeit angekommen ist und hierzu offensichtlich auch nicht willens ist. Sie blendet die Realität schlichtweg aus und bleibt damit die Fraktion von gestern. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was sagen Sie denn zu dem SPD-Antrag? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, das ist die Fraktion von vorgestern! Alter Erich! – Zuruf von der LINKEN: Sie haben die Realität wirklich ausgeblendet!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10361, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9150 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 12. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10717, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9737 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben, den Tagesordnungspunkt 47 – es handelt sich hier um Vorlagen zur Verbraucherpolitik – von der Tagesordnung abzusetzen. Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 49 und 50 getauscht werden, sodass wir zunächst über den Tagesordnungspunkt 49 beraten. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 49 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister (Krebsfrüherkennungs- und -register-gesetz – KFRG) – Drucksache 17/11267 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heinz Lanfermann (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir kennen die Fallzahlen: Jährlich verzeichnen wir in etwa 500 000 Neuerkrankungen. Gut 220 000 Patienten mit Krebsdiagnose sterben in Deutschland pro Jahr an ihrer Erkrankung. Jeder vierte Todesfall ist krebsinduziert. Auch wenn in Europa die Sterbensraten zum Beispiel bei Darm, Magen, Prostata- oder auch Brustkrebs erfreulicherweise und nicht zuletzt aufgrund verbesserter Behandlungsmethoden rückläufig sind, so ist schon allein wegen der höheren Lebenserwartung mit einer generellen Zunahme von Krebserkrankungen zu rechnen. Diese Tatsache allein ist Anlass genug, um die Bemühungen im Kampf gegen diese Krankheit zu verstärken. Die Entwicklung neuartiger Medikamente dauert Jahre, erfordert einen sehr hohen Finanzaufwand und muss hohe Zulassungshürden überwinden. Ohnehin ist auf lange Sicht keine Standardtherapie zu erwarten, die zu einer garantierten Heilung führen würde. Aber jeder Schritt, den wir heute unternehmen, um das Bewusstsein für Krebs und die damit zusammenhängenden Probleme zu stärken, wird der Gesellschaft helfen, die Krankheit zu vermeiden und zu bekämpfen, und den Betroffenen und Angehörigen helfen, mit ihr besser umgehen zu können. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass die Bundesregierung mit der Präventionsstrategie das Bewusstsein der Bevölkerung für eine gesunde Lebensweise frühzeitig schärfen will – darüber werden wir hier demnächst diskutieren –, um bereits an der Wurzel anzusetzen und Auslöser bzw. Entwicklungsverlauf bei vielen Krankheiten zu verhindern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein weiterer wichtiger Ansatz sind die im Nationalen Krebsplan identifizierten und mit dem Krebsfrüherkennungs- und Krebsregistergesetz benannten Lösungsmaßnahmen, mit denen wir wichtige strukturelle Fortschritte bei der onkologischen Versorgung initiieren werden. Der erste Schwerpunkt unseres Gesetzes ist auf die Verbesserung der Früherkennungsmöglichkeiten gerichtet. Schon heute gibt es zahlreiche Früherkennungsmechanismen, die allen Menschen offenstehen. Leider wird das bestehende Angebot bisher nur unzureichend genutzt. Außerdem erfüllen die Vorsorge für Gebärmutterhals- und Darmkrebs nicht die Empfehlungen der EU-Leitlinie zur Qualitätssicherung von Krebsfrüherkennungsprogrammen, ein Umstand, dem wir mit dem Gesetz Rechnung tragen. Wir wollen und werden mit unseren Maßnahmen dafür sorgen, dass die Qualität der Krebsfrüherkennung verbessert wird und damit die Grundlage dafür schaffen, dass insgesamt mehr Menschen an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr gut!) Wir werden deshalb ein Einladungswesen institutionalisieren. Die Bürger werden künftig in regelmäßigen Abständen ein Schreiben erhalten, in dem die Krankenkassen auf die Möglichkeiten zur Teilnahme an entsprechenden Vorsorgeprogrammen hinweisen. Heute gibt es ein solches Verfahren bereits für das Mammografie-Screening. Wir werden das auch auf den Bereich von Gebärmutterhals- und Darmkrebsvorsorge ausweiten. Außerdem sorgen wir dafür, dass die Altersgrenzen und die Häufigkeit für einzelne Voruntersuchungen an den Stand des aktuellen medizinischen Forschungswissens angepasst werden. Die Wirksamkeit der organisierten Krebsfrüherkennung werden wir dann alle zwei Jahre auf den Prüfstand stellen. Wie im Nationalen Krebsplan vorgeschlagen, legen wir den zweiten Schwerpunkt unseres Gesetzes auf den flächendeckenden Ausbau klinischer Krebsregister. Das erlaubt uns in Zukunft eine bundesweite Datenerhebung und -auswertung, bezogen auf die verschiedenen Einrichtungen. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, da die unterschiedlichen Kliniken nach unterschiedlichen Methoden und Ansätzen verfahren. Damit lassen sich wichtige Schlüsse auf die Wirksamkeit von Therapien ziehen. Das fördert und beschleunigt die Forschung und animiert die Kliniken, nach wirksameren Behandlungsmethoden zu streben. Aber auch die Patienten profitieren beispielsweise bei der Krankenhauswahl von den gewonnenen Erkenntnissen. Um den Wettstreit um die beste Behandlungsmethode zu befeuern, wollen wir eine möglichst transparente Datenbasis schaffen. Deshalb verpflichten wir die Länder zu einer jährlichen landesweiten und den GKV-Spitzenverband zu einer bundesweiten Auswertung alle fünf Jahre. Sicherlich gibt es den einen oder anderen sachlichen Aspekt, den man im Zusammenhang mit diesem Gesetz diskutieren kann, sei es die Höhe der Krebsregisterpauschale, seien es die Finanzierungsanteile, die Kassen oder Länder aufzubringen haben, seien es die Fragen nach der genauen Auswertbarkeit der Datensätze durch Politik, Wissenschaft und Bevölkerung. Darüber können und werden wir im Ausschuss konstruktiv beraten. Die Stoßrichtung – da bin ich mir sicher – stimmt. Wir sind uns einig, dass die identifizierten Maßnahmen der richtige Schritt sind, um die Volkskrankheit Krebs weiter einzudämmen, besser behandeln zu können und empirisch belegt wirksame Behandlungsmethoden zu entwickeln. Auch mit Blick auf die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems sind Früherkennung und die frühe Bekämpfung von Krebs wichtig. Sie vermeiden auch hohe Behandlungskosten in Millionenhöhe; diese Mittel können wir sehr gut an anderer Stelle verwenden. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Marlies Volkmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zur gestrigen Debatte wird die heutige nicht so kontrovers verlaufen. Das ist in Anbetracht der späten Stunde auch ganz gut so. Die Überlebenschancen und die Lebensqualität krebskranker Menschen haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Das liegt an der verbesserten Früherkennung sowie an verbesserter Diagnostik und Therapie. Aber die demografische Entwicklung, die eine höhere Lebenserwartung zur Folge hat, wird die Zahl krebskranker Menschen wieder ansteigen lassen. Es bleibt eine große Herausforderung. Mein Vorredner hat schon darauf hingewiesen, dass jährlich über 470 000 Menschen an Krebs erkranken und fast 220 000 Menschen pro Jahr daran versterben. Damit ist in Deutschland Krebs die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wir haben in unserer Regierungszeit bereits wichtige und erfolgreiche Initiativen im Bereich der Früherkennung gestartet. Die bekannteste Initiative ist das Mammografie-Screening, das 2004 eingeführt worden ist. Mammografie-Screening-Zentren arbeiten inzwischen flächendeckend in Deutschland. Sie arbeiten nach einem Einladungssystem und qualitätsgesichert. Diese gelungene Initiative dient als Vorbild für weitere Früherkennungsmaßnahmen, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht. Wir haben im Jahr 2008 in der Großen Koalition im SPD-geführten Gesundheitsministerium einen Nationalen Krebsplan erarbeitet. Daran haben wir 20 Organisationen mit weit über 100 Fachleuten beteiligt. Mit dem Krebsplan, den wir 2008 vorgelegt haben, haben wir -einen wichtigen Meilenstein gesetzt und den Ausgangspunkt für weitere gesetzgeberische Maßnahmen geschaffen, die jetzt erfolgen sollen. Das Krebsplan-Umsetzungsgesetz soll erste Ziele dieses jüngst aktualisierten Planes umsetzen. Dazu wird die Krebsfrüherkennung weiterentwickelt und werden weiter reichende Regelungskompetenzen in die Hände des Gemeinsamen Bundesausschusses gelegt. So soll die Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungen verbessert werden. Wir wollen die Altersgrenze, die jetzt sehr starr festgelegt ist, verändern; wir wollen sie flexibilisieren. In stärkerem Maße sollen organisierte, qualitätsgesicherte Krebsfrüherkennungsprogramme etabliert werden. Als weitere Maßnahmen werden die Bundesländer zur Einrichtung klinischer Krebsregister verpflichtet. Klinische Krebsregister erfassen die Qualität der Behandlung eines jeden Krebspatienten, also idealerweise vom Beginn der Diagnose über die Nachsorge bis zum Versterben eines Patienten in einer Einrichtung, idealerweise aufgeschlüsselt nach Region und Bundesland und dann zusammengefasst für Deutschland. Der vorliegende Gesetzentwurf hebt sich positiv von all den anderen Gesetzentwürfen oder Initiativen ab, die Sie bisher vorgelegt haben. (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist doch gut, dass Sie das auch so sehen!) Er kann helfen, sowohl die Forschung zu Krebserkrankungen als auch die Qualität der gesundheitlichen Versorgung Krebskranker zu verbessern. Die bundesweite Einführung klinischer Krebsregister ist überfällig. Denn es ist an der Zeit, dass wir auch in Deutschland Aussagen darüber machen können, welche Art der Therapie in welchem Stadium bei welcher Krebserkrankung am erfolgversprechendsten ist. Das können wir nämlich bisher noch nicht. Hier waren die neuen Bundesländer mit ihrem Gemeinsamen Krebsregister Vorreiter. Ich denke, die Erfahrungen, die wir in den neuen Bundesländern mit dem Gemeinsamen Krebsregister gemacht haben, können für uns Vorbildcharakter haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieser Gesetzentwurf hat aber auch verschiedene handwerkliche Mängel, und verschiedene Aspekte bleiben unberücksichtigt. Ich will einige Beispiele nennen. Was die Frage der Finanzierung angeht, ist es richtig, neben den gesetzlichen Krankenkassen die Länder zu beteiligen. Auch die Länder müssen ein Interesse an klinischen Krebsregistern haben, weil auch sie daran interessiert sein müssen, dass sich die Versorgung in ihrer Region verbessert. Aber aus welchem Grund werden die privaten Krankenkassen bei der Finanzierung außen vor gelassen? Auch privatversicherte Patientinnen und Patienten profitieren von den Forschungsergebnissen, und Screening-Untersuchungen sollten auch für privatversicherte Patientinnen und Patienten möglich sein. Wenn Sie jetzt sagen, das sei bei der privaten Krankenversicherung nicht möglich, dann müssten Sie auch einmal erklären, warum Sie sich immer für das offensichtlich unfaire zweigeteilte Gesundheitssystem einsetzen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Etwas erstaunlich finde ich auch, dass Sie zwar der Früherkennung als Präventionsmaßnahme einen hohen Stellenwert beimessen, dabei aber auf halber Strecke stehen bleiben. Denn noch wichtiger als Screenings in der Vorbeugung sind doch gesundheitsbewusstes Verhalten und eine gesundheitsfördernde Umwelt. Sie vernachlässigen zudem wichtige Ursachen der Krebsentstehung. Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir alle wissen, dass Rauchen unumstritten Krebs, insbesondere Lungenkrebs, verursacht. Der Zigarettenkonsum stellt heute das bedeutendste einzelne Gesundheitsrisiko in den Industrieländern dar und ist die Hauptursache für frühzeitige Sterblichkeit. Warum also sollte nicht ein Teil der Einnahmen aus der Tabaksteuer für die Finanzierung klinischer Krebsregister herangezogen werden? Lungenkrebs ist schließlich die dritthäufigste Krebserkrankung in Deutschland. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts ist eine Lungenkrebserkrankung bei neun von zehn Männern und bei mindestens sechs von zehn Frauen auf das Rauchen zurückzuführen. Warum – das muss ich dann auch fragen – verbieten Sie nicht endlich konsequent die Tabakwerbung? (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Von einem Gesetz, das als Krebsplan-Umsetzungsgesetz betitelt ist, hätten wir uns weitergehende Verbesserungen vor allem im Präventionsbereich gewünscht, insbesondere da Ihr groß angekündigtes und übrigens im Bundeshaushalt nicht vorgesehenes Präventionsgesetz in Ihrer Regierungszeit wohl nicht mehr kommen wird. Wir werden uns aber einem konstruktiven Dialog nicht verweigern, und wir hoffen sehr, dass die Mängel, die sich noch in dem Gesetzentwurf finden, im Laufe des parlamentarischen Verfahrens ausgeräumt werden können. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Vorrednerinnen und Vorredner haben bereits auf die Bedeutung von Krebs als Erkrankung für die Patientinnen und Patienten selbst in ihrer gesundheitlichen Lage und auf die Bedeutung und die Auswirkungen auf die Familien und das berufliche und soziale Umfeld hingewiesen. Ich möchte das unterstreichen: Krebs ist eine Diagnose, die nicht nur den Menschen persönlich in eine ganz neue Überlegensphase bringt, sondern auch das gesamte Umfeld vor viele Fragen stellt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir das nicht nur im Hinblick auf das Gesundheitswesen mit dem Fokus auf Versicherungen und Leistungserbringern diskutieren, sondern dabei auch den Blick auf die Menschen nicht vergessen. Genau das war das Ziel des Nationalen Krebsplans, der, wie die Kollegin Volkmer ausgeführt hat, im Jahr 2008 vom Bundesministerium für Gesundheit gemeinsam mit der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen Krebshilfe und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren ins Leben gerufen wurde. Mehr als 20 Organisationen und weit über 100 Fachexperten und Fach-expertinnen haben seit dieser Zeit konkrete Empfehlungen erarbeitet. Weit über 100 Empfehlungen sind es geworden. In diesem Frühjahr wurden sie der Öffentlichkeit vorgestellt. Mit dem Entwurf eines Krebsfrüherkennungs- und -registergesetzes, den wir heute im Deutschen Bundestag in erster Lesung einbringen, gehen wir den nächsten Schritt. Denn wir setzen zwei zentrale Bereiche des Nationalen Krebsplans um: zum einen die Verbesserung und Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zum anderen den Aufbau und Ausbau flächendeckender klinischer Krebsregister. Krebs ist eine schwerwiegende und zunehmende Erkrankung. Daher müssen wir die Chancen der Früherkennung gerade in diesem Bereich besser nutzen. Im Bereich des Darmkrebses könnten wir durch eine rechtzeitige Früherkennung deutlich mehr Krebs vermeiden oder in einem heilbaren Stadium entdecken. Mit diesem Gesetz bieten wir den Versicherten ein weiteres Angebot an. In Deutschland gibt es schon ein breites Angebot an Leistungen zur Krebsfrüherkennung. Dennoch ist in Deutschland Darmkrebs bei Frauen und Männern die zweithäufigste Krebserkrankung und Todesursache. Ganz offensichtlich erreicht das bestehende Früherkennungsangebot unsere Bürgerinnen und Bürger nur unzureichend. Deshalb sollen anspruchsberechtigte Frauen und Männer künftig persönlich zur Krebsfrüh-erkennung eingeladen werden. Hiermit folgen wir den guten Erfahrungen bei der Umsetzung des Modells des -organisierten Mammografie-Screenings und den entsprechenden Empfehlungen der europäischen Leitlinien. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen niemanden zu einer Krebsfrüherkennung überreden oder ihn dazu drängen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen vielmehr zu einer selbstbestimmten und vor allen Dingen zu einer informierten Entscheidung befähigt werden; das ist wichtig. Genauso wie jede andere medizinische Maßnahme ist kein Krebsfrüherkennungstest perfekt. Auch er beinhaltet Risiken und Belastungen. Auch falsche positive Diagnosen können vorkommen, die dann wiederum zu unnötiger Diagnostik oder Therapie führen können. Daher muss gleichzeitig mit der Einladung verständlich und neutral über Vor- und Nachteile solcher Krebsfrüherkennungsuntersuchungen informiert werden. Belastungen für die Versicherten, zum Beispiel durch fehlerhafte Diagnosen, müssen wir auf ein Minimum reduzieren. Die Qualität und der Erfolg der Krebsfrüherkennung, insbesondere die Senkung der Sterblichkeit bei Krebserkrankung, sollen mithilfe epidemiologischer Krebsregister erfasst und überwacht werden. Der zweite Schwerpunkt des Gesetzes liegt im flächendeckenden Ausbau klinischer Krebsregister; denn hier kommt die Qualität der Krebsbehandlung in den Fokus. Patientinnen und Patienten haben ein Recht auf eine qualitativ hochwertige Versorgung auf dem aktuellen Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse. Leider aber weist die Qualität der Versorgung von Krebspatienten in unserem Land immer noch erhebliche Unterschiede auf. Die Arbeit klinischer Krebsregister macht diese Unterschiede sichtbar. Dies wird dadurch erreicht, dass die Qualität der onkologischen Versorgung für jede Patientin und jeden Patienten in allen Behandlungsphasen und allen Behandlungsschritten erfasst, bewertet und rückgemeldet wird. Krebspatientinnen und Krebspatienten profitieren von diesen klinischen Krebsregistern; denn durch deren Arbeit können sie sicher sein, dass die Behandlung von unabhängigen Fachleuten geprüft wird und dadurch Maßnahmen ergriffen werden, um die Therapie so optimal wie möglich zu gestalten. Es wird auch ein Qualitätsvergleich zwischen den Einrichtungen gezielt gefördert; denn das Ziel ist, dass sich die Versorgung und die Einrichtungen an den Besten orientieren und sich auch qualitativ weiterentwickeln. In einem zweiten Schritt erhalten wir dadurch natürlich auch wichtige Erkenntnisse für die Forschung, die dann wiederum die Voraussetzungen liefert, dass die Krebsbehandlung auch in Zukunft gemäß aktuellem wissenschaftlichen Stand durchgeführt werden kann. Klinische Krebsregister sind nicht neu. Wir haben schon heute 50 Register dieser Art, die auch bereits erfolgreich arbeiten. Uns fehlen aber einheitliche Strukturen; denn die existierenden klinischen Krebsregister sind zu unterschiedlich strukturiert und organisiert. Sie unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Aufgaben, die sie wahrnehmen. Deshalb schaffen wir mit diesem Gesetz den rechtlichen und finanziellen Rahmen für eine einheitliche und flächendeckende klinische Krebsregistrierung in ganz Deutschland. Wir können mit diesem Gesetz Gutes für die Menschen in unserem Land bewirken, und wir werden genügend Zeit haben, in den Beratungen im Ausschuss die wesentlichen Details zu vertiefen, um im Interesse der Menschen in unserem Land einen wichtigen Schritt voranzukommen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie wissen, hatte ich in dieser Woche noch nicht so oft Gelegenheit, die Arbeit dieser Bundesregierung zu loben. Das möchte ich zum Wochenende hin noch nachholen. (Beifall bei der CDU/CSU) – Danke schön. – Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Krebsfrüherkennung korrigieren Sie nämlich einen ausgemachten Unsinn aus den Zeiten der Großen Koalition. Diese wollte nämlich Krebskranke, die vor ihrer Erkrankung nicht an Vorsorgeuntersuchungen teilgenommen hatten, dadurch bestrafen, dass sie die sogenannte Chronikerregelung verlieren und dadurch doppelt so hohe Zuzahlungen leisten müssen wie andere chronisch Kranke. Was für ein Unsinn! (Beifall bei der LINKEN) Menschen durch finanzielle Anreize und Strafen zu gesundheitsbewusstem Verhalten quasi nötigen zu wollen, ist der falsche Ansatz, und es widerspricht auch dem Bild vom mündigen, selbstbestimmten Bürger. Das Einladungsmodell, das Sie jetzt einführen wollen, wird der Freiheit und Selbstbestimmung sehr viel besser gerecht. Aber diese Verbesserung ist aus unserer Sicht nur die halbe Miete. Wie Sie wissen, lehnt die Linke Zuzahlungen, also die Beteiligung Kranker an den Krankheitskosten, generell als unsozial und unsolidarisch ab. (Beifall bei der LINKEN) Sie abzuschaffen, würde auch verhindern, dass künftige Regierungskoalitionen wieder derartigen Unsinn damit anstellen können. Gut ist auch, dass Sie endlich die Qualität der Versorgung, aber auch der Vorsorge bei Krebs durch Krebsregister voranbringen wollen. Das sagen auch die Fachverbände, die die Bedeutung von Krebsregistern betonen. Kritisch bewerten sie aber Ihre Umsetzungsstrategie. Das Ziel, alle Daten flächendeckend zu erfassen und auszuwerten, um sie für eine bessere Versorgung der Krebskranken zu nutzen, kann mit diesem Gesetz nur bedingt erreicht werden. Hier können wir noch gemeinsam für Verbesserungen sorgen. Ich hoffe auf konstruktive Anregungen in der Sachverständigenanhörung, die wir im Dezember im Gesundheitsausschuss durchführen werden. Anregungen können wir uns auch aus der Geschichte holen. Die DDR zum Beispiel hatte ein zentrales Krebsregister. Die ostdeutschen Bundesländer haben das gemeinsam weitergeführt, und das könnten wir vielleicht als Muster für eine bundesweite Lösung verwenden. (Beifall bei der LINKEN) Der vorliegende Gesetzentwurf klebt jedenfalls zu sehr an den bestehenden Strukturen. Bei aller Wertschätzung für den Föderalismus, man bekommt einfach verlässlichere Daten für die Qualität von Krebsvorsorge und Krebsversorgung, wenn man sie zusammenführt und die Kräfte bündelt. Auch mit Ihrem Vorschlag zur Finanzierung sind wir noch nicht ganz einverstanden. Vom Krebsregister und von der verbesserten Forschung sollen ja alle Menschen in Deutschland profitieren. Aber bei den Kosten wird allein die gesetzliche Krankenversicherung verpflichtet. Die privaten Krankenversicherer können, wenn sie es denn mögen, auch etwas dazugeben. Das hat bei Ihnen ja schon System. Bei der Patientenberatung haben Sie das ganz genauso gemacht: Die gesetzlichen Kassen müssen zahlen; die privaten Versicherungskonzerne werden freundlich um einen Obolus gebeten. Die privaten Krankenversicherer einmal zu irgendetwas zu verpflichten, das ist wohl mit der FDP nicht drin. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das geschieht doch dauernd in allen möglichen Gesetzen! Da fehlt Ihnen der Überblick!) – Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das wäre, Herr Lanfermann, wenn die FDP ihre Pläne zur Privatisierung der gesamten Krankenversicherung durchsetzen könnte. Dann gäbe es Fortschritte wohl nur noch durch freiwillige Selbstverpflichtung, und wir hätten anstelle eines Gesundheitsministers einen Chefbittsteller. Das ist mit uns auf jeden Fall nicht zu machen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Auf euch kommt es aber nicht an! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Auf Sie auch nicht mehr!) Deswegen wird die Linke auch in diesem Gesetzgebungsverfahren wieder darauf drängen, dass die Zweiklassenmedizin beendet wird. Wir kämpfen weiterhin für eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in der alle versichert sind und in der alle eine Top-Gesundheitsversorgung erhalten. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ende des Jammers!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Regierung kann sich glücklich schätzen, wenn sie die Chance bekommt, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen, insbesondere was die Frage der Einführung oder der Stärkung der Krebsregister betrifft. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass es in der deutschen Geschichte auch gute Vorläuferbeispiele gibt. Insbesondere die epidemiologischen Krebsregister, die in den ostdeutschen Bundesländern, aber auch in einigen westdeutschen Bundesländern geführt werden, kann man als Basis für die Weiterführung dieses Krebsregisters nehmen. Ein Meilenstein an dieser Stelle ist für meine Begriffe jedoch die Stärkung der klinischen Krebsregister. Ich selbst habe während meiner beruflichen Tätigkeit die Möglichkeit gehabt, in Mecklenburg-Vorpommern sowohl ein epidemiologisches als auch ein klinisches Krebsregister für Forschungsarbeiten und für die Patientenbetreuung zu nutzen. Ich kann nur sagen, dass wir an dieser Stelle wirklich – auch wenn es schon Freitagnachmittag ist und kaum noch einer zuhört – einen Meilenstein setzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich will auf der anderen Seite noch einige Punkte aufgreifen, bei denen wir in der Ausschussberatung an dieser oder jener Stelle vielleicht noch etwas nachbessern können. Wir wissen ja, dass die Weltgesundheitsorganisation davon ausgeht, dass man 30 Prozent der Krebs-erkrankungen durch Prävention verhindern kann. Im Gesetz ist zugegebenermaßen zwar etwas zur Prävention ausgeführt, aber da geht es im Wesentlichen um die Sekundärprävention, zu der ich nachher noch etwas sagen werde. Die Primärprävention wird jedoch an keiner Stelle erwähnt. Es gilt aber auch die Primärprävention zu stärken. Wir finden, sie muss, gerade was die Krebs-erkrankungen betrifft, auch finanziell unterlegt sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf auf die Ausweitung der Früherkennungsuntersuchungen ein und wollen die Sekundärprävention stärken. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Nutzen und Qualität von Früherkennungsmaßnahmen nachgewiesen sein bzw. von Zeit zu Zeit überprüft werden müssen. Auch hierzu wird im Gesetzentwurf an einigen Stellen etwas ausgeführt, beispielsweise dass alle zwei Jahre evaluiert werden muss. Wir wissen, dass Brust-, Darm- und Gebärmutterhalskrebsvorsorgeuntersuchungen im Rahmen der Krebsfrüherkennung bereits einen festen Platz im deutschen Gesundheitssystem haben. Aber mangelnde Sensitivität oder Spezifität, auch falsche Befunde, Überdiagnosen und Übertherapien können den Nutzen für die Patientinnen und Patienten reduzieren oder schlimmstenfalls den Patienten sogar schaden. Das ist allen in der Fachwelt bekannt. Deswegen hat die EU-Kommission zu Recht empfohlen, neue Krebsfrüherkennungsuntersuchungen erst dann einzuführen, wenn sie randomisiert in kontrollierten Studien evaluiert worden sind. Insofern haben wir als Gesetzgeber natürlich Sorge zu tragen, dass Krebsfrüherkennung durch entsprechende Studienbelege und Begleitforschung gerechtfertigt wird, beispielsweise für Darmkrebsfrüherkennung, Darmspiegelungen und Stuhluntersuchungen. Ein Einladewesen wird erst dann sinnvoll, wenn man es auf eine solche Basis stellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf etwas hinweisen – auch das wurde schon angesprochen –, das wir kritisieren und wo wir noch eine Änderung herbeiführen wollen: Das Prognos-Institut hat empfohlen, bei der -Finanzierung dieses Vorhabens nicht nur die gesetzlichen Krankenkassen, sondern auch die privaten Krankenkassen einzubeziehen. Nun wird formuliert, diese könnten sich ja auf freiwilliger Basis beteiligen. Ich glaube, das ist zu wenig. Wir müssen uns immer wieder fragen: Welche Interessen vertreten wir denn eigentlich als Gesetzgeber, als Abgeordnete? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rudolf Henke (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In diesen Minuten treffen sich im Rathaus meiner Heimatstadt Aachen auf Einladung des Oberbürgermeisters Marcel Philipp Vertreter aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, um mit dem Betriebsrat der Firma Talbot über die Zukunft dieses fast 175 Jahre alten Werks für Waggonbau und Eisenbahntechnik zu sprechen. Der Eigentümer Bombardier hat angekündigt, das Unternehmen im nächsten Jahr zu schließen. Bleibt es dabei, dann werden rund 600 Beschäftigte in Aachen ihren Arbeitsplatz verlieren, obwohl der Konzern früher versprochen hatte, dass das Werk Aachen gesetzt ist. Mit der heutigen Konferenz soll ein Plan entwickelt werden, die Arbeitsplätze in der Aachener Bahnindustrie zu erhalten und die Zerstörung der dortigen betrieblichen Kompetenz abzuwenden. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Falsches Manuskript!) Dem Betriebsrat, der Belegschaft und der Stadt Aachen wünsche ich von hier aus viel Erfolg bei dem Bemühen, die Pläne von Bombardier zu durchkreuzen. Dass eine solche Konferenz überhaupt möglich ist, hängt damit zusammen, dass die Information über die beabsichtigte Werkschließung fast ein Jahr vor deren geplantem Termin zur Verfügung steht. (Iris Gleicke [SPD]: So viel zum Krebsregister! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Thema verfehlt!) So ähnlich muss man sich auch die Verbesserung der Behandlungschancen vorstellen, die dann erzielt wird, wenn eine Krebskrankheit bei Vorsorgeuntersuchungen entdeckt wird, lange bevor sie beim Patienten zu konkreten Beschwerden führt. Je kleiner der Tumor, so die Annahme, desto größer die Chance, die Krankheit durch frühzeitige Intervention zu heilen und damit Leben zu retten. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke der Stärkung der Früherkennungsuntersuchungen auf Krebs nur zu begrüßen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht für den Bereich der Früherkennung vor, die informierte Entscheidung über eine Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen zu verbessern, Altersgrenzen und Zielgruppen bei der Krebsfrüherkennung zu flexibilisieren sowie in stärkerem Maße organisierte und qualitätsgesicherte Krebsfrüherkennungsprogramme zu etablieren. Es ist in früheren Zeiten anders beurteilt worden, aber ich persönlich finde in diesem Zusammenhang die Streichung der gesetzlichen Regelung aus § 62 Abs. 1 SGB V, welche die Gewährung einer reduzierten Belastungsgrenze für chronisch Kranke an die regelmäßige -Inanspruchnahme an einer Krebsfrüherkennungsuntersuchung gekoppelt hatte, sehr begrüßenswert, nicht deswegen, weil ich glaube, dass Eigenbeteiligung von vornherein Schimpf und Schande verdient hätte, sondern deswegen, weil eine Freiwilligkeit der Teilnahme an einer Krebsfrüherkennungsmaßnahme notwendig ist; denn es handelt sich um eine Intervention bei Gesunden. Weil es dabei natürlich sowohl zu unterbleibenden Diagnosen als auch zu Diagnosen kommen kann, die falsch positiv sind und eine Abklärungsdiagnostik auslösen, macht es wenig Sinn, einen materiellen Anreiz zu setzen; es ist viel vernünftiger, dafür zu sorgen, dass der aufgeklärte Adressat eine informierte Entscheidung trifft. Frau Klein-Schmeink hat eben in einem Zwischenruf an das Epidemiologische Krebsregister Nordrhein-Westfalen erinnert. Wir wissen aus seinem aktuellen „Report 2012 mit Datenbericht 2010“, dass infolge der Mammografie-Screenings im Zeitraum von 2005 bis 2008 insgesamt 7 176 positive Diagnosen gestellt wurden, es aber auch 2 036 Intervallkarzinome gab, bei denen die Diagnose nicht infolge des Screenings gestellt wurde, sondern in den nachfolgenden 24 Monaten. Das offenbart ein bisschen die Problematik und die Notwendigkeit der Abwägung. Zweiter Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist der flächendeckende Aufbau klinischer Krebsregister, welche den stationären Bereich unseres Gesundheitswesens stärker betreffen. Die Idee: Durch aussagekräftige Qualitätsberichterstattung in Form klinischer Krebsregister kann die Behandlung von Krebspatienten in Deutschland transparenter gestaltet werden. Durch die Berücksichtigung der erhobenen Erkenntnisse können wir die Behandlung von Krebskranken im Alltag verbessern. Zwei Beispiele. Erstes Beispiel. Bei Darmkrebs zeigen Untersuchungen, dass zusätzlich zur Operation eine Chemotherapie das Überleben der Patienten deutlich verbessert; sie haben eine 15 Prozent höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Aufgrund der klinischen Krebsregister weiß man, dass diese Therapieempfehlung jedoch bisher noch unzureichend umgesetzt wird; so kann man gezielt auf Verbesserungen hinarbeiten. Zweites Beispiel. Bei manchen Patientinnen mit Brustkrebs soll eine zusätzliche Hormontherapie über fünf Jahre durchgeführt werden. Aus Daten klinischer Krebsregister erfährt man, dass diese Hormontherapie mitunter vor Ablauf der fünf Jahre beendet wird. Ist dies der Fall – das zeigen die Daten –, geht das mit einer -verminderten Überlebenswahrscheinlichkeit der Patientinnen einher. Diese Erkenntnisse bekräftigen die Notwendigkeit einer konsequenten Orientierung an der leitliniengerechten Therapie und erlauben entsprechende Interventionen. Wir machen die Therapie also dadurch wirksamer und effektiver für die Patienten, dass aus den Krebsregistern Erkenntnisse resultieren, die dann zur Korrektur von festgestelltem leitlinienabweichendem Verhalten führen. Ich warne ein bisschen vor der Illusion, zu glauben, dass man damit auch gleich neue Therapieschemata entwickelt. Ich glaube, die Krebsregister werden eher zur Entwicklung von Hypothesen führen, und aus diesen Hypothesen werden dann wissenschaftliche Studien entwickelt, die prospektiv und, wenn nötig, randomisiert so durchgeführt werden, dass man echte Wirksamkeitsvergleiche anstellen kann. Darüber werden wir sicher im Ausschuss in allen Einzelheiten debattieren. Das gilt auch für den Hinweis, dass es klug wäre, die neu zu schaffenden Krebsregister so zu konzipieren, dass den beteiligten Kliniken die eigenen Daten für Maßnahmen innerhalb ihres internen Qualitätsmanagements einfach und zeitnah zur Verfügung stehen, ohne dass eine doppelte Erfassung an mehreren Stellen notwendig wird. Man muss das so einfach wie möglich gestalten. Gestatten Sie mir – nachdem ich den Gesetzentwurf der Bundesregierung derart begrüßt habe – zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung. Die Leiterin meines eigenen Büros hier in Berlin, Frau Inken Benthien, scheidet mit dem heutigen Tag aus der Arbeit im Deutschen Bundestag aus. Sie hat sechs Jahre lang bei drei Abgeordneten, den Kollegen Hubert Hüppe und Volkmar Klein und bei mir, gearbeitet. Sie ist in dieser Zeit zu einer Expertin der Gesundheits- und Behindertenpolitik geworden. Ich nehme das zum Anlass, um mich bei all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten in diesem Bundestag zu bedanken, die unendlich viel dazu beitragen, dass die Qualität unserer Arbeit auch von außen wahrgenommen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mit ihrer engagierten Arbeit begleiten sie das Parlament und unterstützen damit die Menschen und die Demokratie in Deutschland und in Europa und erweisen ihnen einen großen Dienst. Dafür herzlichen Dank. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/11267 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 50 a bis 50 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines -Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Ergänzung des Artikels 6 zur Klarstellung der Kinderrechte) – Drucksache 17/11650 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten) – Drucksache 17/10118 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Federführung strittig c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Jerzy Montag, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte der Kinder von Strafgefangenen und Inhaftierten wahren – Drucksache 17/11578 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Es ist längst überfällig, die Kinderrechte explizit ins Grundgesetz aufzunehmen und damit die Rechte der Kinder zu stärken. Die Zeit ist einfach reif dafür. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) 20 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, nach der mehrfachen Aufforderung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, nach langen, intensiven Diskussionen auch in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und nach jahrelangen, intensiven Vorarbeiten des Aktionsbündnisses Kinderrechte, das vor zwei Wochen einen interessanten Formulierungsvorschlag vorgelegt hat, sollten sich jetzt auch die Regierungsfraktionen einer Diskussion auf der Grundlage konkreter Formulierungen, so wie sie heute vorliegen, nicht länger verweigern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Die Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken, ist mitnichten Symbolpolitik. Ich sage das, weil ich weiß, dass diese Argumentation gleich vonseiten der Regierungsfraktionen kommen wird. Ich will die Symbolfunktion gar nicht geringschätzen. Auch das Zeichen – uns geht es um die Kinder, die Kinder stehen im Mittelpunkt, und ihre Rechte haben Verfassungsrang – ist nämlich sehr wohl viel wert, insbesondere in einer Gesellschaft wie der unseren, die sich nicht gerade durch Kinderfreundlichkeit auszeichnet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Unser Vorschlag macht klar, dass es bei der expliziten Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz um viel mehr geht. Es geht darum, klarzustellen, dass Kindern mit Blick auf Förderung, auf Schutz und auf Beteiligung bei allen sie betreffenden Entscheidungen Rechte zustehen, die sich von denen der Erwachsenen durchaus unterscheiden. Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen. Naturgemäß bzw. entwicklungsbedingt haben Förderung, Schutz und Partizipation für sie eine ganz besondere Bedeutung. Hier sind Eltern, aber eben auch der Staat ganz besonders in der Pflicht. Es geht darum, zu verankern, dass das Wohl des -Kindes bei allem staatlichen Handeln besonders zu berücksichtigen ist. Das ist sehr wichtig. Dies zu berücksichtigen, ist von zentraler Bedeutung für die Kinderfreundlichkeit eines Landes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Das Grundgesetz ist das Fundament unserer gesamten Gesetzgebung. Durch die Aufnahme dieser Anforderungen, der besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls, überwinden wir das derzeitige Stückwerk. Ich kann mir denken, dass die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen gleich aufzählen werden, was sie in dieser Legislaturperiode angeblich alles zugunsten der Kinder getan haben. Ich verzichte ausdrücklich darauf, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Sagen Sie es ruhig!) hier darzulegen, was Sie nicht getan haben; denn ich finde, das gehört heute nicht hier her. Heute geht es darum, dass mit der Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz in jedem Gesetzgebungsprozess, ob in der Energiepolitik, beim Planungsrecht oder im Bereich der sozialen Sicherung, das Kindeswohl besonders berücksichtigt werden muss. Ich frage mich, was daran Symbolpolitik sein soll. Ich finde, das ist ein Paradigmenwechsel im Sinne der Kinder. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Ich finde es auch sehr schade, dass sich Ministerin Schröder zum Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses so skeptisch geäußert hat, und das sogar, bevor der Formulierungsvorschlag überhaupt öffentlich kommuniziert worden ist. Auch die Haltung der Bundesjustizministerin finde ich sehr enttäuschend. In ihrer Stellungnahme zur Initiative des Bundesrates hat sie im Grunde nur gesagt: Schon jetzt sind die Kinderrechte im Grundgesetz angemessen verankert, weil auch Kinder Menschen sind. Dazu muss man sagen: In der Debatte über Kinderrechte sind wir eigentlich schon weiter. Ich appelliere an die beiden Ministerinnen: Lassen Sie doch eine offene Debatte über dieses Thema in diesem Hause zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir möchten auf der Grundlage eines konkreten Formulierungsvorschlags mit allen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause, auch mit Ihnen von den Regierungsfraktionen, ins Gespräch kommen. Ich weiß, dass es in allen Fraktionen Unterstützerinnen und Unterstützer dieses Anliegens gibt. Warum sollte uns im Bund nicht -gelingen, was in einigen Bundesländern mit breiter Mehrheit interfraktionell – ich erwähne Bayern und Nordrhein-Westfalen – gelungen ist? Um die Rechte der Kinder zu stärken, müssen wir viele kleine Schritte unternehmen. Wir müssen aber auch im Sinne der Kinder gemeinsam große Sprünge machen. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir eine ernsthafte Diskussion führen werden. Ich würde mich über eine kon-struktive Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens sehr freuen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat für die Unionsfraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Schutz der Kinder und der Kinderrechte ist ein besonderes Anliegen, nicht nur der Opposition, Frau Dörner, sondern auch der Koalition. Kinder genießen unsere besondere Aufmerksamkeit, (Caren Marks [SPD]: Sie tun nur nichts!) weil sie ihrer bedürfen – als schwächere Menschen, die ihre Rechte nicht so leicht durchsetzen können wie Erwachsene. Die christlich-liberale Koalition hat sie im Blick. Ich danke ganz besonders denjenigen, die sich seit Jahren für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz einsetzen, aber aus einem anderen Grund als dem, den Sie, Frau Kollegin, schwerpunktmäßig genannt haben. Wichtiger ist meines Erachtens der Punkt, den Sie nur am Rande erwähnt haben. Ich glaube wie Sie, dass das wiederholte Aufzeigen von Kinderrechten in unserer Gesellschaft etwas verändert. Dieser Dialog hilft, den Fokus auf die Rechte zu legen, die Kinder erhalten müssen. Von daher danke ich ganz explizit den am Aktionsbündnis Beteiligten, UNICEF, dem Deutschen Kinderhilfswerk und vielen anderen, auch den Lehrerinnen und Lehrern, die sich an Schulen immer wieder mit dem Thema beschäftigen. Ich selbst habe erst letzte Woche zugesagt, einen Termin wahrzunehmen, bei dem wir über das Thema Kinderrechte im Grundgesetz diskutieren werden. Die Frage ist aber: Was haben Sie mit Ihrem Antrag eigentlich gemacht? Ich habe ihn mir angeschaut und gesehen, dass Sie den Vorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte fast wortgleich kopiert haben. (Zuruf der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie haben ein bisschen am Satzbau gedreht, aber ansonsten ist das keine eigene Leistung, außer dass Sie die Verortung in Art. 6 gewählt haben statt in einem neuen Art. 2 a. Das ist auch unter dem Gesichtspunkt der Systematik des Grundgesetzes nicht besonders klug. (Zuruf von der CDU/CSU: Ein Plagiat!) Zu fragen ist erst einmal: Wo ist eigentlich die Lücke im Grundgesetz? Wo brauchen wir im Grundgesetz eigene Regelungen für die Kinderrechte? Ein Beispiel ist der geforderte Schutz der Kinder, wenn es um Fürsorge und um einen angemessenen Lebensunterhalt geht. Auch der Anspruch auf Meinungsfreiheit wird geäußert sowie das Recht auf Anhörung in Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Man findet auch Rechte in Form eines Verbots, zum Beispiel Kinder als Soldaten zu rekrutieren. Wo gibt es im Grundgesetz Lücken, die wir schließen müssen? Wenn Sie so einen Antrag stellen, dann hätte ich mir von Ihnen gewünscht, dass Sie die Lücken aufzeigen. Wir haben im Grundgesetz genügend Artikel. Sie hätten doch wenigstens einen finden können. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie hätten zuhören können!) Wo diskutieren Sie zum Beispiel über das Thema Kindersoldaten? Würden Sie in diesem Zusammenhang im Grundgesetz nichts ändern wollen? Das ist bezeichnend. Denken Sie einmal über Art. 4 Abs. 3 nach. Man könnte viel weiter gehen, als Sie es in Ihrem Antrag tun. Da scheint nicht viel mehr zu kommen als das reine Kopieren eines Antrags, den eine gute Vereinigung gestellt hat, wie ich es eingangs bereits sagte. Ich würde mir wünschen, dass Sie eigene inhaltliche Arbeit leisten. Da kommt nicht viel. (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Dörner: Machen Sie es doch besser! Was kommt denn von Ihnen? – Diana Golze [DIE LINKE]: Wann kommt denn Ihr Antrag?) – Ich habe noch ein paar Minuten, in denen ich noch ein paar Dinge sagen werde. Ich möchte mich aber erst einmal mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beschäftigen. Frau Kollegin Dörner, Sie haben Politikwissenschaften und im Nebenfach öffentliches Recht studiert. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja richtig informiert, Herr Sensburg!) Sehen wir uns das Grundgesetz an: Ihnen müsste doch bekannt sein, dass alle Menschen von Geburt an Grundrechtsträger sind. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Die herrschende Meinung sagt sogar, dass die Grundrechte auch für diejenigen gelten, die noch nicht geboren sind. Sie gelten also sogar vor der Geburt. Ich würde mir wünschen, dass Sie diese Breite der Grundrechtsträgerschaft wahrnehmen. Das tun Sie vom Bündnis 90/Die Grünen gerade nicht. Wenn wir uns die einzelnen Artikel des Grundgesetzes anschauen, dann werden wir feststellen, dass alle von Ihnen geforderten Rechte – seien es die Meinungsfreiheit, die Handlungsfreiheit oder die Koalitionsfreiheit bei Kindern – im Grundgesetz bereits verankert sind; denn Kinder sind Grundrechtsträger, und zwar nicht, wie Sie fälschlich meinen, als Objekte, sondern als Subjekte, die einen Anspruch haben. Ich glaube, das ist Ihnen bei der gesamten Diskussion bisher noch nicht aufgefallen. Wir sehen das. Wir wünschen uns eine stärkere Fokussierung auf die Kinderrechte. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie es doch besser!) Ich frage mich: Wo ist in Ihrem Vorschlag der Bereich sexueller Missbrauch von Kindern enthalten? Müssen wir hierzu das Grundgesetz ändern? Sie glauben das anscheinend nicht. Sie sind ja der Meinung, man müsse noch nicht einmal einfachgesetzliche Regelungen treffen. Wenn wir zum Beispiel im Kampf gegen Kinderpornografie im Internet Kinderrechte durchsetzen wollen, dann verabschieden sich die Grünen. Sie sagen ganz schnell: Da müssen wir nichts machen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist also eine reine Schaufensterpolitik, wenn Sie angeblich neue Grundrechte fordern, die sich nicht benennen lassen, sich bei den einfachgesetzlichen Maßnahmen aber verabschieden. Ich habe mir die Parteiprogramme der Grünen angesehen und gefragt: Wie halten es denn die Grünen tatsächlich mit dem Kinderschutz? (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sich richtig gut vorbereitet!) Gehen sie über die Forderung hinaus, Grundrechte zu verändern? Wird etwas Neues geschaffen? Ist etwas daran? 1985 forderten Sie in Lüdenscheid im Sauerland, dass gewaltfreie Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen niemals Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sein dürfe. Das ist ein Zitat. Im Gegenteil, sie sei von allen Restriktionen zu befreien, die ihr in dieser Gesellschaft auferlegt sind. Das verstehen Sie also unter Wahrnehmung von Kinderrechten. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Ihnen zu diesem Thema nichts anderes einfällt, dann ist das armselig!) Wenn Sie jetzt sagen, das sei von 1985 und davon hätten Sie sich ja verabschiedet, dann frage ich: Was war denn 2008, als es um die Veränderung von § 182 StGB ging und Sie nicht gegen den sexuellen Missbrauch durch Lehrer vorgehen wollten? Sie sind immer noch der Meinung, dass wir – ich betone, dass wir von Lehrern reden, die sexuellen Kontakt mit Kindern haben – keine neuen Gesetze und keine Gesetzesänderung brauchen. So sieht die Realität aus, wenn Sie von Kinderschutz reden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welcher Welt leben Sie eigentlich?) Das ist das Schlimme. Deswegen haben Sie für mich jede Glaubwürdigkeit verloren, für Grundrechte von Kindern zu kämpfen. Sie benennen kein einziges, das wir ändern müssten. Sie sträuben sich, Kinderschutz einfachgesetzlich durchzusetzen. Ich bin froh, dass wir eine Ministerin haben, die das Thema anpackt, die mit dem Bundeskinderschutzgesetz und mit vielen anderen Gesetzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die richtigen Maßnahmen zum Kinderschutz ergreift. Ich glaube, Sie haben sich mit Ihrem Antrag, mit Ihrem Gesetzentwurf und in der Praxis selbst disqualifiziert. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Kollegin Dörner hat das Wort zu einer Kurzintervention. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich fühle mich (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Miss-verstanden?) äußerst angegriffen durch die Äußerungen unseres Kollegen Herrn Dr. Sensburg. Er hat hier in den Raum gestellt, dass Mitglieder meiner Fraktion oder meiner Partei den sexuellen Missbrauch von Kindern in irgendeiner Weise relativieren, für gutheißen oder für nicht absolut abscheulich halten. Ich möchte Sie wirklich bitten, diese Aussage, die Sie hier zumindest indirekt in den Raum gestellt haben, zurückzunehmen. Ich muss sagen: Das ist wirklich eine Unverschämtheit meiner Partei und meiner Fraktion gegenüber. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben das Wort zu einer Erwiderung. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin Dörner, ich kann natürlich relativ wenig zu Ihrem Parteiprogramm sagen. Sie selbst sind dafür verantwortlich, alte Zöpfe abzuschneiden und vielleicht auch neue Wege zu beschreiten. Ich lade Sie ein, Frau Dörner, die Strafbarkeit von sexuellem Kontakt von Lehrern mit Minderjährigen zu regeln und dabei gemeinsam mit uns zusammenzuarbeiten. Ich lade Sie ein, in Ihrer Partei eine Diskussion zum Thema Pädophilie zu führen (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird immer schlimmer!) und sich damit auseinanderzusetzen, um in Ihren eigenen Reihen mit diesen alten Dingen aufzuräumen, die Sie anscheinend seit Jahren immer noch mitschleppen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Nun hat die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die meisten hier kennen mich und wissen, dass ich eher zusammenbinde und nicht trenne. Aber jetzt muss ich erst einmal ein paar Watschen verteilen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Dr. Sensburg, wenn man neu ist und noch nichts vom Thema versteht, sollte man den Mund halten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie haben keine Ahnung von dem, was hier gemacht worden ist und wer was gemacht hat. (Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Ist das so in der SPD?) Ich habe lange genug an einer Förderschule gearbeitet. Ich erkläre Ihnen jetzt, warum wir Kinderrechte ins Grundgesetz schreiben wollen, und zwar so, dass auch Sie es verstehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Alles, was einer Gesellschaft wichtig ist, legt sie in ihrer Verfassung nieder; in unserem Fall ist dies das Grundgesetz. In einem ersten Entwurf des Grundgesetzes stand, dass Ehe, Familie und Kinder unter besonderem Schutz stehen. Das Wort „Kinder“ hat man dann gestrichen, weil man Kinder unter Familie subsumierte. Das Verfassungsgericht hat bis 1968 gebraucht, um festzustellen, dass Kinder Grundrechtsträger sind. Daher erklären Sie uns hier jetzt nicht, dass das alles selbstverständlich ist. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir sind hoffentlich eine Gesellschaft, die lernt. Wenn man lernt, verändert man auch seine Sichtweise auf Kinder. Früher hat man Kinder ohne Bestrafung verkauft. In der Bibel ist von den Sklaven, den gekauften Kindern und den eigenen, den leiblichen die Rede. Das steht übrigens im Zusammenhang mit dem, worüber wir zurzeit heftig diskutieren. Wir haben heute eine andere Sichtweise auf Kinder. Kinder werden zum Subjekt und sind nicht mehr Objekt von Eltern, von Gesellschaft etc. Dies ist aber bisher in der Verfassung so nicht nachlesbar. (Zuruf von der CDU/CSU: So einen Quatsch hört man von der SPD eher selten!) Ich habe viel mit Kindern gearbeitet und zum Beispiel auch versucht, ihnen klarzumachen, dass in unserer Verfassung unsere gesellschaftlichen Werte niedergelegt sind. Die erste Frage, die Kinder dann stellen, ist: Wo sind wir? Sind wir nur Objekte, nur Gegenstand elterlicher Erziehung? – Die Kinder drücken dies natürlich anders aus. Deshalb wollen wir, dass die Kinderrechte in unserer Verfassung verankert werden. Es geht um die Niederlegung unserer gemeinsamen Werte; darüber steht nichts. Die Menschenrechte in unserer Verfassung sind die Basis, auf der wir stehen, und unser Wertekanon. Das ist hier manchmal ein bisschen unbekannt. Aber deshalb wiederhole ich es ja. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Bei Ihnen vielleicht! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, na!) – Wissen Sie, ich habe eines gelernt in meinem Leben, nämlich dass ich bei bestimmten Dingen ruhig bin und erst einmal lerne. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Seien Sie doch jetzt einmal ruhig!) Aber es scheint bei Ihnen nicht modern zu sein, dass man erst einmal zuhört und schaut: Was haben die anderen schon gemacht? Warum haben sie es gemacht? Wir wollen die Kinderrechte deshalb in der Verfassung haben, damit das, was sich an gesellschaftlicher Veränderung vollzogen hat, nämlich dass Kinder bei uns einen anderen Stellenwert als früher haben, auch in der Verfassung erkennbar wird. Wir wollen die Kinderrechte dort haben, wo es um individuelle Rechte geht, wo es darum geht, was Familie bedeutet. Wir wollen sie in Art. 2 haben – unser Gesetzentwurf kommt noch –; dort, wo es um die individuellen Rechte geht, nämlich um die Rechte auf Schutz und Förderung, (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das habe ich doch gesagt!) soll das Recht auf Schutz der Kinder verankert werden. Wir wollen die Kinderrechte auch in Art. 6 haben. Zur Stärkung der Familien und der Kinder soll bestimmt werden, dass der Staat dafür sorgt, dass die für Kinder und Familien notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden; das darf nicht nur eine Wohltat sein. Wir wollen auch, dass es einen Lautsprecher für Kinder gibt, wo dies nötig ist, damit man sie hört. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie brauchen gar kein Mikrofon!) Ich habe es schon einmal gesagt: Hier im Saal gibt es einen einzelnen Stuhl; der gehört dem Wehrbeauftragten. Der Wehrbeauftragte ist für 180 000 Menschen da. Für Millionen von Kindern haben wir hier keinen Fürsprecher, (Michaela Noll [CDU/CSU]: Wir haben die Kinderkommission!) es sei denn, wir Kinderbeauftragte machen den Mund auf und sind laut genug. Wir debattieren die Kinderrechte heute als letzten Tagesordnungspunkt am Freitagnachmittag! (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind laut genug!) – Ja, ich weiß. Ich kann das hier auch im nächsten Jahr tun. Ich hoffe, dass es dann genug Lautsprecher gibt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich wünsche mir, dass dann da hinten jemand sitzt und die Kinderrechte hier verteidigt, für die Kinder spricht und sich nicht abmeiert mit parteipolitischem Gezänk. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind uns einig: Es kommen unterschiedliche Gesetzentwürfe in den Bundestag. Was wir machen müssen, ist, darüber zu debattieren, wie wir die Kinderrechte verankern wollen. In der Sache ist Bewegung. Ich lade Sie dazu ein, mitzumachen. Machen Sie mit! Begeben Sie sich auf den Weg dahin, dass unsere Kinder merken, dass wir sie wertschätzen! (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun wir doch!) Denn Demokratie braucht Menschen, die wertgeschätzt werden, die aufrecht gehen und die verstanden werden. Den Eindruck, dass das bei Ihnen so ist, habe ich im Moment nicht. Danke. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Marco Buschmann (FDP): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Rupprecht, bei allem Respekt vor Ihrem Engagement und Ihrer Leidenschaft: Manchmal ist es besser, die Dinge sine ira et studio, mit einer gewissen Nüchternheit anzugehen, (Zurufe von der SPD: Oh! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein ganz Schlauer!) insbesondere dann, wenn es um zwei Themen geht, die so viel Besonnenheit erfordern wie diese. Wir diskutieren ja einerseits über die Stellung der Kinder in unserem Rechtssystem. Andererseits diskutieren wir über die Frage, ob es angemessen, richtig und geboten ist, unsere Verfassung zu ändern; denn die Bindungswirkung, die Orientierungskraft unserer Verfassung resultiert daraus, dass wir nur Hand an sie anlegen, nur dann wirklich etwas ändern, wenn wir auch aufzeigen können, dass damit echter Fortschritt verbunden ist, und nicht lediglich Symbolpolitik betrieben wird. (Dagmar Ziegler [SPD]: Sie machen doch nichts!) Ich habe mir Ihre Argumentation sehr aufmerksam angehört. Gehen wir einmal einzeln die Argumente, die Sie vortragen, ganz nüchtern, sine ira et studio durch: Sie sagen erstens, die Subjektstellung der Kinder sei im Grundgesetz nicht ausreichend dokumentiert. Sie haben aber gerade doch selber die Verfassungsrechtsprechung angeführt, die noch einmal ausdrücklich klargestellt hat, dass selbstverständlich Kinder auch Menschen sind, dass sie Menschenwürde haben, dass sie natürlich Träger der Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 usw. sind. Professor Sensburg hat uns gerade weitere Beispiele genannt. Die Subjektstellung der Kinder stellt niemand in unserem Rechtssystem – niemand! – infrage. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Abwegig!) Deshalb gibt es hier auch kein Defizit in der Rechtsordnung. Niemand stellt das infrage! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Abwegige Debatte! – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: 20 Jahre hat das Verfassungsgericht gebraucht, dies festzustellen!) Ihr zweites Argument ist sicherlich das gewichtigste. Sie sprechen über den Schutz vor Gewalt, vor Vernachlässigung, vor Ausbeutung. Das ist sicherlich ein zentrales Argument. Wer könnte dagegen sein, dass Kinder davor zu schützen sind? Nur, die Frage ist: Was kann die Verfassung hier leisten? Ist das nicht genau eine Frage des einfachen Rechts? Dazu möchte ich gerade für Sie auszugsweise aus einem Beitrag der Berliner Republik zitieren; die Berliner Republik ist ja nicht gerade das Verkündungsorgan der Koalition. Diese Bemerkung in der Berliner Republik ist gemacht worden vor dem Hintergrund des schrecklichen Versagens der Jugendämter in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, durch das der kleine Kevin und die kleine Lea-Sophie zu Tode kamen. In der Berliner Republik ist zu lesen: Die Jugendämter dürfen und müssen daher im Notfall eingreifen. Weil sie dies in Bremen und Schwerin versäumt haben, wurden sie mitschuldig am Tod des kleinen Kevin und von Lea-Sophie. Wenn sich jetzt gerade die Länder Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für Kinderrechte im Grundgesetz stark machen, ist dies bestenfalls Ausdruck politischer Hilflosigkeit, schlimmstenfalls der Versuch, die Verantwortung für eigenes Versagen der Bundesverfassung zuzuschreiben. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Sie sind ja unterirdisch, Herr Kollege! Absolut unterirdisch! Sie missbrauchen die Kinder! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird ja immer schlimmer! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirklich unterirdisch! Das ist an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten!) Die Landesverfassungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern kennen schon heute ausdrückliche Kinderrechte, gerettet hat dies Kevin und Lea-Sophie nicht. Hier zeigt sich: Probleme beim Gesetzesvollzug löst man nicht mit Verfassungsänderungen. Ende des Zitats aus der Berliner Republik, die, wie gesagt, nicht das Verkündungsorgan unserer politischen Richtung ist, sondern Ihrer Fraktionskollegen. (Beifall bei der FDP – Dagmar Ziegler [SPD]: Die von der Berliner Republik sitzen aber nicht im Bundestag! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie manchmal mit den Kollegen aus Ihrer eigenen Fraktion? Die sehen das nämlich anders!) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Buschmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Lenkert? (Norbert Geis [CDU/CSU]: Nur Fragen, keine Bemerkungen!) Marco Buschmann (FDP): Selbstverständlich. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege Buschmann. – Ich habe neulich im Internet nach Urlaubsangeboten gesucht. Da habe ich ein Hotel gefunden, das geschrieben hat: „garantiert kein Kinderlärm“, und: „Kinder ausdrücklich nicht erwünscht“ – und das in unserer Republik! (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Es gibt nun mal auch alte Menschen!) Jetzt sage ich Ihnen: Wenn wir wollen, dass so etwas nicht vorkommt, dann müssen wir die Kinderrechte im Grundgesetz verankern, (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?) weil dann diese Werbung eindeutig gegen die Verfassung verstoßen würde. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach was! Das ist doch Quatsch!) Bis jetzt berufen sich solche Hotels darauf, dass die Kinderrechte nicht in der Verfassung stehen, und ignorieren sie. Durch die Toleranz, die Sie gegenüber solchen Äußerungen zeigen, und durch Ihre Weigerung, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, befördern Sie Kinderfeindlichkeit in unserem Lande. Das müssen Sie sich anheften lassen. Ich würde gern von Ihnen wissen, was Sie unternehmen wollen, damit ich solche Werbeangebote zukünftig nicht mehr finden muss. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die finden Sie, mit und ohne Kinderrechte im Grundgesetz!) Marco Buschmann (FDP): Lieber Herr Kollege, beide Dinge haben nichts miteinander zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Man tut nämlich etwas für Kinder, wenn man, so wie wir es getan haben, das Bürgerliche Gesetzbuch ändert, wenn man das Baurecht ändert, um zu verhindern, dass mit Verweis auf Kinderlärm gegen die Schaffung neuer Kindergartenplätze vorgegangen werden kann, (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Man kann auch das eine tun, ohne das andere zu lassen! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau! Dafür brauchen wir nichts im Grundgesetz!) wenn man in den Bundesländern dafür sorgt, dass die Jugendämter ordentlich ausgestattet sind, und wenn man das materielle Recht so ändert, dass die Rechte der Kinder in concreto verwirklicht und verteidigt werden können. Mir, weil ich einen anderen Maßstab anlege und auf die Frage: „Was bringt diese vorgeschlagene Verfassungsänderung?“, (Dagmar Ziegler [SPD]: Nehmen Sie doch erst mal die Hand aus der Tasche! Das lernen schon Kinder! – Gegenruf der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht die FDP!) antworte, dass sie nichts bringt, Kinderfeindlichkeit vorzuwerfen, ist ein rhetorischer Taschenspielertrick, der näherer Erläuterung nicht bedarf. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Ungeheuerlich! – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Aber was tun Sie denn? Sie missbrauchen die Kinder, um Parteipolitik zu machen!) Ich möchte noch einmal auf die Bemerkung aus der Berliner Republik zurückkommen und wiederhole den letzten Satz: Probleme beim Gesetzesvollzug löst man nicht mit Verfassungsänderungen. Man muss das einfache Recht und vor allen Dingen die Ausstattung der Behörden, die es durchsetzen müssen, so anpassen, dass wirklich etwas für Kinder getan wird. Eigentlich wissen das die Kollegen von den Grünen, und das wissen auch die Kollegen von der SPD. Denn wenn man danach schaut, was Sie in der Endphase Ihrer Regierungsverantwortung vorgeschlagen haben, findet man einen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Die Zukunft unseres Landes sichern – Ein kindergerechtes Deutschland schaffen“. Ihr Anspruch war in diesem Antrag, den Sie auf den Weg gebracht haben, ein kindergerechtes Deutschland zu schaffen. Sie diagnostizierten aber nicht an einer einzigen Stelle ein Defizit in unserer Verfassungsordnung, sondern schlugen ausschließlich Maßnahmen auf der Ebene des einfachen Rechts vor. Das ist auch richtig so. Warum sich daran in den letzten Jahren etwas geändert haben soll, darauf gehen Sie mit keinem Wort ein. Ich möchte zu einem weiteren Argument kommen. Frau Dörner hat sehr intensiv mit der UN-Kinderrechtskonvention argumentiert. Nur: Sie müssen sehen, dass selbst die Rechtsexperten, die Ihrem Anliegen sehr aufgeschlossen gegenüberstehen, beispielsweise der DAV-Verfassungsrechtsausschuss, die also sagen: „Das ist ein sympathisches Anliegen; lasst uns darüber sprechen“, darauf hinweisen, dass selbstverständlich aus der UN-Kinderrechtskonvention keinerlei Notwendigkeit abgeleitet werden kann, unsere Verfassung zu ändern. Zum Schluss möchte ich Sie auffordern: Um den Kindern konkret zu helfen und ihre Lage zu verbessern, müssen wir auf der Ebene des einfachen Rechts und des Gesetzesvollzugs in den Ländern ansetzen. Hier müssen wir etwas tun! (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Natürlich! Das ist doch unbestritten!) Selbst in solchen Bundesländern, die die Kinderrechte in ihre Landesverfassungen aufgenommen haben, kommt es zu schlimmen Skandalen, weil das einfache Recht und der Gesetzesvollzug dort nicht klappen. Daran müssen wir vorrangig etwas ändern. Das ist die vorrangige Baustelle, mit der wir Kindern wirklich helfen. Das mit uns zu tun, dazu lade ich Sie ein und ermutige ich Sie. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Diana Golze (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Buschmann, man kann auch das eine tun, ohne das andere zu lassen. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!) Natürlich können wir einfache Gesetze machen, die gut sind und den Kindern helfen, und uns trotzdem für die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz aussprechen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir – Sie mit Ihrer Mehrheit, die Opposition hat sich enthalten – haben in diesem Hause ein Bundeskinderschutzgesetz beschlossen, das sicherlich gute Ansätze beinhaltet, das aber ganz konkret – Sie haben von der personellen, der ordentlichen Ausstattung der Jugendämter gesprochen – vor Ort für Probleme sorgt. Mein Landkreis, in dem leider die Linke nicht die Mehrheit hat – Entschuldigung! –, (Marco Buschmann [FDP]: Die FDP wohl auch nicht!) wird jetzt gegen dieses Gesetz klagen. Andere Landkreise im Land Brandenburg werden ebenfalls klagen. Sie haben zwar nette Dinge beschlossen, sagen aber nicht, wie die Jugendämter das umsetzen sollen. Einfache Gesetze helfen nämlich nicht, wenn sie vor Ort nicht umsetzbar sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Sensburg, dieselben Argumente, die Sie gebracht haben, wurden gebracht – es war weit vor meiner Zeit, aber ich habe sie nachgelesen –, als es um die Gleichberechtigung von Mann und Frau ging. Zum Glück gab es dann irgendwann andere Mehrheiten. Deswegen werden Sie es jetzt ertragen müssen, dass Ihnen eine Frau noch einmal sagt, warum wir für Kinderrechte im Grundgesetz sind. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vor wenigen Tagen haben wir den Weltkinderrechtstag begangen. Am 20. November 1989 ist die UN-Kinderrechtskonvention beschlossen worden. 1992 ist sie in Deutschland ratifiziert worden. Das Problem ist aber, dass die Kinderrechtskonvention – im Gegensatz zu anderen Staaten – mit einfacher Gesetzgebung gleichzusetzen ist, (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!) zum Beispiel mit einem Sozialgesetzbuch oder einem Baugesetzbuch. In anderen Staaten, zum Beispiel Norwegen – die Kinderkommission war letztes Jahr dort –, steht die UN-Konvention über der Verfassung. Norwegen hat diese Konvention erst dann ratifiziert, als festgestellt wurde: Wir können es rechtfertigen, wir haben unsere einfache Gesetzgebung und unsere Verfassung so angepasst, dass wir die Konvention tatsächlich umsetzen können. – Deutschland geht leider bei allen Menschenrechtskonventionen einen anderen Weg. Wir ratifizieren erst, schmücken uns damit und sehen dann, dass wir Probleme bei der Umsetzung im Alltag bekommen. Die Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, wäre ein weiterer Schritt für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention auch in Deutschland. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Aktionsbündnis Kinderrechte begrüßt die heutige Debatte hier sehr. Die Mitglieder sind schon genannt worden: Kinderhilfswerk, Kinderschutzbund, UNICEF, Deutsche Liga für das Kind haben sich zusammengeschlossen und einen eigenen Vorschlag gemacht. Der Gesetzentwurf, den die Linke einbringt, liegt schon etwas länger vor. Im Endeffekt kommt es mir nicht auf jedes einzelne Wort an, nicht darauf, dass alles so geregelt wird, wie wir es in unserem Gesetzentwurf – meine Fraktion möge es mir verzeihen – formuliert haben. Im Endeffekt geht es doch darum, endlich eine parlamentarische Mehrheit für die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz zu gewinnen. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!) Eine gesellschaftliche gibt es bereits. Das zeigen alle möglichen Umfragen. Ich finde es einfach schade, dass die Vertreter der Koalitionsfraktionen diese Debatte dafür benutzen, die Unterstützerinnen und Unterstützer dieser Gesetzentwürfe zu diskreditieren und ihnen in einer Art und Weise, die ich einfach ablehne, unmögliche Dinge zu unterstellen. Es geht uns schlicht und ergreifend darum, den Kindern und ihren Rechten einen höheren Stellenwert zu verleihen. Kinder sind nämlich keine kleinen Erwachsenen. Sie sind zum Beispiel auch keine kleinen Erwerbslosen. Deshalb glaube ich auch, dass eine Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz eine Besserstellung auch im einfachen Gesetz für die Kinder nach sich ziehen würde. Das würde ich mir an vielen Stellen sehr wünschen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine Anmerkung möchte ich noch zu der Frage, was die Bundesländer dazu sagen, machen. Vor genau einem Jahr, im November 2011, hat der Bundesrat eine Entschließung verabschiedet, in der der Bundestag aufgefordert wird, ein Gesetzesvorhaben zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz auf den Weg zu bringen. Der Vorbehalt der Länder ist demzufolge keine Ausrede, diese grundgesetzliche Änderung nicht vorzunehmen. Ich freue mich übrigens sehr, dass Ministerin Schröder an dieser Debatte heute teilnimmt. Frau Schröder, ich wünsche mir auch von Ihnen, eine Offenheit für dieses Thema zu zeigen. Sie haben zum Beispiel die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kinderrechtekongresses sehr enttäuscht. Die jungen Delegierten waren am Mittwoch in der Kinderkommission zu Gast. Sie haben vor zwei Wochen am 2. Kongress der Kinderrechte teilgenommen. Als sie nach Hause kamen, mussten sie in den Zeitungen lesen: Die Ministerin hat sich gegen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ausgesprochen. Das finde ich sehr schade. Ich bitte Sie alle von den Koalitionsfraktionen: Öffnen Sie sich für die inhaltlichen Argumente! Seien Sie bereit für Veränderungen! Das Rad der Geschichte hat sich weitergedreht. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Verfassung ändern will, braucht man sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Richtig!) Wenn man eine Chance haben will, eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen, muss man sich zusammensetzen, bevor man überhaupt einen Gesetzentwurf einbringt. Das haben Sie nicht getan. Deswegen besteht natürlich schon ein bisschen der Verdacht, dass es hier mehr um die Demonstration geht und weniger um die Frage, ob Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen bzw. einfachgesetzlich geregelt werden sollen. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind ja überzeugende Argumente! – Diana Golze [DIE LINKE]: Seit sieben Jahren diskutieren wir darüber!) Lassen Sie mich ein Weiteres nennen – wir reden ja nicht das erste Mal über die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz –: (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Eben!) Es wird immer wieder behauptet, die Kinderrechtskonvention sei erst dann richtig umgesetzt, wenn sie – in Form von Kinderrechten – im Grundgesetz steht. (Diana Golze [DIE LINKE]: Das wäre zumindest eine Konsequenz!) Liebe Frau Rupprecht, ich respektiere Sie sehr und ich schätze auch Ihr Engagement; aber ich glaube, über die Aufnahme von Rechten ins Grundgesetz muss man wirklich in aller Ruhe nachdenken. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!) Dann muss man auch einmal feststellen, dass das, was Sie fordern, schon im Grundgesetz enthalten ist. Das ist nun einmal so, und das hat auch das Bundesverfassungsgericht so festgestellt. Lassen Sie mich Art. 1 Grundgesetz nennen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist der tragende Satz in unserem Grundgesetz, er gilt für jeden in Deutschland, ob er Ausländer ist, ob er im Gefängnis sitzt, ob er alt ist, ob er jung ist. Er gilt natürlich auch für Kinder. Oder Art. 2 Grundgesetz: Wie für jeden Erwachsenen gilt dieser auch für Kinder. Das Kind hat ein Recht darauf, sich entfalten zu können, sich entwickeln zu können. Es hat einen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit, natürlich auch auf die Freiheit der Person und das Recht auf Leben. Das steht den Kindern genauso zu wie jedem anderen. Jeder, der in Deutschland wohnt oder sich in Deutschland bewegt, hat diese Rechte. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Geis, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Rupprecht? Norbert Geis (CDU/CSU): Bitte. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Geis, ich stimme Ihnen natürlich zu, dass die Grundrechte für alle Menschen in Deutschland gelten. Aber unser Grundgesetz ist von Erwachsenen für Erwachsene geschrieben. Haben Sie die genaue Formulierung, die in Art. 2 steht, wirklich so gut in Erinnerung? Da steht: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit … Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass es sich um eine fertige Persönlichkeit handelt, die diese nun entfaltet. Im Hinblick auf Kinder müsste formuliert werden: Jeder hat das Recht auf die Entwicklung und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. – Dann wäre niedergelegt, dass wir dem Kind alles geben, damit es sich zu einer Persönlichkeit entwickeln kann und diese dann entfalten kann. Da ist der ganze Fördergedanke drin. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Damit schaden Sie den Kindern!) So gibt es viele Stellen, wo wir nur Erwachsene im Blick haben und das nur in Erwachsenensprache festgehalten wird. Deshalb wüsste ich gern, wie Sie es interpretieren, wenn Nichtjuristen, aber auch Verfassungsrechtler hier ein Defizit feststellen und nicht sehen können, dass hier Kinderrechte niedergelegt wären. (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das sagt keiner!) Norbert Geis (CDU/CSU): Ich darf Ihnen ganz kurz darauf antworten: Art. 2 Grundgesetz gilt natürlich für jedes Kind genauso. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Natürlich!) Entwicklung bedeutet natürlich auch Förderung der Entwicklung. Ich komme nachher noch darauf zu sprechen, wenn ich Art. 6 Grundgesetz behandle; da sind die eigentlichen Kinderrechte ja enthalten. Art. 2 Grundgesetz hat beispielsweise am Anfang der 90er-Jahre eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Es wurde festgestellt – vom Bundesverfassungsgericht genauso wie auch von der Gesetzgebung –, dass jedes Kind, auch das noch nicht geborene Kind, das Recht auf Leben hat. Das gilt also nicht nur für Erwachsene, sondern auch für jedes Kind, ja sogar für das noch nicht geborene Kind; auch dieses Kind hat im Sinne von Art. 2 und Art. 1 Grundgesetz bereits Rechte. Deswegen kann ich das, was Sie sagen, so nicht annehmen. Ich komme jetzt aber darauf zu sprechen, wo es um Art. 6 Grundgesetz geht. Da sagt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 1. April 2008, dass die Eltern die Verpflichtung haben, Kinder zu erziehen, dass die Eltern die Verpflichtung haben, für die Kinder zu sorgen, dass sie aber auch das Recht gegenüber dem Staat haben, zunächst einmal allein für ihre Kinder zu sorgen, und dass der Staat zunächst nur ein Wächteramt hat. Erst dann, wenn die Eltern diesem Anspruch nicht gerecht werden, hat der Staat das Recht, einzugreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem von mir erwähnten Urteil festgestellt, dass damit ein Grundrecht der Kinder gegenüber den Eltern auf Erziehung sowie auf Sorge und gegenüber dem Staat auf Schutz der Familie, auf Schutz der Erziehung durch die Eltern korrespondiert. Dies ist also in Art. 6 Grundgesetz niedergelegt. Ich halte diesen Artikel für einen elementaren Grundsatz unserer Verfassung, und zwar auch deswegen: In Art. 6 Abs. 2 bis 5 geht es nur um das Wohl des Kindes. Was heißt „Wohl des Kindes“? Das heißt, wenn den Eltern das Wohl des Kindes anvertraut ist, dann geht es darum, dass die Eltern kein Gewaltverhältnis gegenüber dem Kind entfalten, sondern dass sie für das Kind sorgen. „Wohl“ heißt, dass sie das Kind lieben. Das ist ein natürliches Recht der Eltern, aber auch ihre natürliche Pflicht. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!) Art. 6 Grundgesetz ist hervorragend formuliert. Es handelt sich um einen Grundsatz unseres ganzen gesellschaftlichen Zusammenlebens, nämlich dass es in einer Familie ohne Liebe nicht geht. Das Wohl des Kindes fordert dies. Deswegen leite ich daraus ab, dass Kinderrechte sogar im Grundgesetz festgelegt sind. Ich meine, das hat eine so fundamentale Bedeutung auch für die Rechte der Kinder, dass ich Ihnen nicht recht geben kann, liebe Frau Rupprecht, dass die Kinderrechte noch nicht in unserer Verfassung sind. Sie sind bereits enthalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Geis, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Buschmann? Norbert Geis (CDU/CSU): Ich glaube, wir dürfen nur Fragen zulassen. Vizepräsidentin Petra Pau: Nein, beides ist möglich. Norbert Geis (CDU/CSU): Bemerkungen also auch. – Gerne, Herr Buschmann. Marco Buschmann (FDP): Herr Kollege Geis, würden Sie mir zustimmen, dass sich das Argument der Kollegin Rupprecht, dass der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes nur an die fertige Persönlichkeit und damit an den Erwachsenen -adressiert ist, vor dem Hintergrund, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ab dem 53. Band seiner Entscheidungen in Art. 2 Abs. 1 immer auch die Entfaltung des Kindes und damit seine Entwicklung geschützt sieht, beispielsweise in der Schule, so wahrscheinlich nicht halten lässt? Norbert Geis (CDU/CSU): Ich bedanke mich für den Hinweis und für die Klarstellung. Danke schön. Die Privilegierung von Ehe und Familie, verehrte Frau Rupprecht, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat ihren Grund in der Sorge der Eltern für die Kinder. Es gibt keinen anderen Grund für diese Privilegierung. Wir haben hier schon oft genug über die Privilegierung von Ehe und Familie gestritten, als es um die Frage der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit Ehe und Familie ging. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie auch noch einiges zu lernen, Herr Geis!) Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften können diese Privilegierung nicht haben. Die Privilegierung haben Ehe und Familie wegen der Generationenfolge, aber auch um das Humankapital, wie es die Juristen nennen, zu übertragen. Das heißt, all das, was wir an Entwicklung haben, und all das, was wir an Kulturwerten haben, wird zunächst erst einmal dem Kind übertragen und ihm gewissermaßen schon von ganz klein auf eingepflanzt. Ich meine, aus dem Grundsatz der Verfassung bezüglich der Privilegierung von Ehe und Familie selbst ergibt sich – oder zumindest ist das ein Hinweis darauf –, dass die Kinderrechte bereits in der Verfassung stehen. Das, was Sie wollen, ist einfachgesetzlich, wie es Herr Buschmann und auch Herr Sensburg gesagt haben, viel besser zu lösen. Sie können einfachgesetzlich auf die einzelnen Ansprüche eingehen und sie vernünftig regeln. Das haben wir auch getan. Im Übrigen ist im Gesetzentwurf der Grünen in wunderbarer Weise aufgezählt – Frau Dörner, Sie sollten zuhören; das ist nämlich ein Lob für Ihren Gesetzentwurf –, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kann der Herr Sensburg einmal zuhören!) was alles geleistet worden ist, und zwar einfachgesetzlich. Meiner Meinung nach ist es entscheidend, dass Sie das, was Sie wollen, einfachgesetzlich und nicht im Grundgesetz regeln. Frau Rupprecht, Sie haben es mit Recht gesagt: Im Grundgesetz sollen die Grundlinien der Rechtsordnung aufgezeigt werden. Und die Grundlinien werden in diesem Grundgesetz in einer wunderbaren Weise aufgezeigt. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja, sehe ich auch so!) Wir sollten und dürfen das Grundgesetz nicht überfrachten; denn sonst kommen noch ganz viele andere, die ihre Rechte auch im Grundgesetz verankert sehen wollen. Wir haben aber alle Not, auf dem einfachgesetzlichen Weg für die Rechte der Kinder zu kämpfen. Hier sehe ich in Ihnen eine gute und starke Bundesgenossin. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Edgar Franke hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Dr. Edgar Franke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte nicht gedacht, dass wir heute, am Freitagnachmittag, eine so emotionale Debatte führen, aber ich glaube, bei diesem Thema ist das nicht verwunderlich, und Marlene Rupprecht ist ja auch jemand, die gerne emotional diskutiert. „Das Grundgesetz hat keine Kinder“, hat Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 17. dieses Monats formuliert. Ich denke, er hat recht; denn Kinder, Herr Geis, kommen als Inhaber eigener Rechte in unserer Verfassung in der Tat nicht vor. Das verwundert eigentlich. In letzter Zeit wird unser Grundgesetz ja in fast schon inflationärer Weise – da gebe ich Ihnen auch teilweise recht – mit immer mehr Forderungen bezüglich der Aufnahme von Staatszielen und verfassungsrechtlichen Ergänzungen konfrontiert. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Da stimme ich auch zu!) Es stimmt auch, dass bei solchen Forderungen immer die Gefahr besteht, dass man die wirklich wichtigen Grundrechte und Staatsziele entwertet, indem man alles und jedes in die Verfassung aufnimmt. Auch hier gebe ich Ihnen recht. Für mich als zweifacher Vater ist es aber schon erstaunlich, dass man den Kindern bis zum heutigen Tage keine originären Verfassungsrechte gegeben hat – und das vor dem Hintergrund der Diskussion über Kindesmisshandlungen, Kindestötungen und Kindesverwahrlosung. Es ist sicherlich auch so – das hat 1968 ja das Bundesverfassungsgericht formuliert –, dass Kinder einen Anspruch auf Förderung ihrer Fähigkeiten und auf bestmöglichen Schutz haben. Das ist aber, Herr Geis, ein ungeschriebenes Grundrecht. Marlene Rupprecht hat wirklich richtigerweise formuliert: Alles, was wichtig ist, wird in der Verfassung niedergelegt. Deshalb sollten auch Kinderrechte in der Verfassung ausdrücklich normiert werden. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Natürlich ist das auch ein Programmsatz bzw. eine Symbolnorm, aber Kinder sollten in unserer Gesellschaft einen anderen Stellenwert haben. Auch deshalb sollten ihre Rechte ausdrücklich in unserer Verfassung normiert werden. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vor 20 Jahren – das ist auch schon angesprochen worden – ist die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland in Kraft getreten. Das war ein Meilenstein in der Entwicklung der Kinderrechte. Gerade Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben immer dafür gestanden. Jetzt müssen wir sie tatsächlich umsetzen. „Tatsächlich umsetzen“ bedeutet, dass wir Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz ändern. „Tatsächlich umsetzen“ bedeutet auch, dass wir noch mehr machen. Ich glaube, unser Vorschlag, den Frau Rupprecht schon verschiedentlich vorgetragen hat, dass wir einen Kinderbeauftragten ähnlich wie den Wehrbeauftragten in Art. 45 b Grundgesetz schaffen wollen, ist vernünftig, weil man dann auch gucken kann, was tatsächlich gemacht wird. Dieser Kinderbeauftragte könnte sich dabei auf eine verfassungsrechtliche Regelung stützen. Deswegen erscheint das sinnvoll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das politische Problem ist immer – das war ja auch ein Thema, das Sie angesprochen haben –: Wie setze ich etwas um? Ich glaube, ein Kinderbeauftragter könnte hier das eine oder andere bei Diskussionen über die Frage, wie sich die Verwaltung dazu verhält, ganz pragmatisch leisten. Vor allen Dingen muss man sagen: Wenn wir einen Kinderbeauftragten haben, dann brauchen wir natürlich auch die notwendigen personellen und sachlichen Ressourcen. Sonst würde das nicht funktionieren. Insofern spricht doch einiges dafür, eine institutionelle Absicherung zu schaffen. Meine Damen und Herren, ich glaube, eine Verfassungsänderung würde zu einer Bewusstseinsänderung führen und auch dazu, dass viele darüber diskutieren würden, welche Bedeutung Kinder in unserer Gesellschaft haben. Eine Grundgesetzänderung würde zweierlei bewirken: Erstens. Kinder sind eigene Subjekte – dieser Punkt spielte auch bei der Diskussion um die Beschneidung eine Rolle – mit damit verbundenen Rechten. Zweitens – ich habe es vorhin schon angedeutet –: Die Verwaltung ist angehalten, die Verfassung insofern zu respektieren, als die Rechte der Kinder bei der Umsetzung von Vorgaben immer eine höhere Priorität haben. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe von Caren Marks etwas gelernt. Wenn sie in familienpolitischen Diskussionen auftritt, dann sagt sie immer: Jedes Kind kann es schaffen, vorausgesetzt, wir sind gut genug. – Wir, das ist die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund sollten wir die gesellschaftliche Diskussion führen. Die heutige Diskussion, auch wenn sie teilweise sehr emotional war, ist eine gute Grundlage, um diese wichtige Verfassungsänderung zu erreichen und die Rechte von Kindern in unserem Land zu verbessern. Danke schön. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/11650 und 17/11578 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 50 b. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/10118 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. Dezember 2012, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen etwas Erholung, bevor wir wieder zusammenkommen. (Schluss: 16.33 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 30.11.2012 Bulmahn, Edelgard SPD 30.11.2012 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 30.11.2012 Ernst, Klaus DIE LINKE 30.11.2012 Fischer (Göttingen), Hartwig CDU/CSU 30.11.2012 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 30.11.2012 Granold, Ute CDU/CSU 30.11.2012 Hardt, Jürgen CDU/CSU 30.11.2012* Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 30.11.2012 Hirte, Christian CDU/CSU 30.11.2012* Humme, Christel SPD 30.11.2012 Klamt, Ewa CDU/CSU 30.11.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 30.11.2012 Dr. Lauterbach, Karl SPD 30.11.2012 Leibrecht, Harald FDP 30.11.2012 Mast, Katja SPD 30.11.2012 Menzner, Dorothee DIE LINKE 30.11.2012 Dr. Miersch, Matthias SPD 30.11.2012 Nink, Manfred SPD 30.11.2012 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 30.11.2012 Rachel, Thomas CDU/CSU 30.11.2012 Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 30.11.2012 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 30.11.2012 Schieder (Schwandorf), Marianne SPD 30.11.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 30.11.2012 Schuster, Marina FDP 30.11.2012 Dr. Schwanholz, Martin SPD 30.11.2012 Simmling, Werner FDP 30.11.2012 Dr. h. c. Thierse, Wolfgang SPD 30.11.2012 Ulrich, Alexander DIE LINKE 30.11.2012 Dr. Wadephul, Johann CDU/CSU 30.11.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 30.11.2012 Zypries, Brigitte SPD 30.11.2012 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung der NATO Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger (FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Patientenrechte wirksam verbessern (Drucksache 17/11008) (211. Sitzung, Tagesordnungspunkt 6 b) In der Abstimmungsliste fehlt mein Name. Mein Votum lautet NEIN. Anlage 3 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen hinsichtlich Kleinstbetrieben (Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz – MicroBilG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse (Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b) Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Kleinstkapitalgesellschaften--Bilanzrechtsänderungsgesetz ist nicht nur ein Wortungetüm geschaffen worden, sondern vor allem ist es der Versuch von Schwarz-Gelb, kleine Unternehmen zu entlasten. Schauen wir uns diesen Versuch einmal genauer an: Kleine Unternehmen können sich zukünftig aussuchen, ob sie ihren Jahresabschluss im Bundesanzeiger bekannt machen lassen oder ob sie ihn lediglich zur dauerhaften Hinterlegung beim Unternehmensregister einreichen. Die Unterlagen müssen dann aber trotzdem rechtzeitig elektronisch beim Bundesanzeiger eingereicht werden. Viel Entlastung kann dadurch also nicht erwartet werden; denn der Zeitdruck und Erfüllungsaufwand bleiben ja nahezu unverändert. Wirkungsvoller ist eher, dass Kleinstkapitalgesellschaften keinen Anhang zur Bilanz mehr erstellen müssen. Dafür müssen unter der Bilanz ein paar mehr zusätzliche Angaben gemacht werden, also zum Beispiel die Darstellung der Haftungsverhältnisse. Außerdem kann ein vereinfachtes Gliederungsschema angewandt werden. Das eigentliche Problem blieb vom ersten Entwurf der Bundesregierung zunächst unberührt: die unangemessen hohen Ordnungsgelder ab 2 500 Euro aufwärts, die zu entrichten sind, wenn die Rechnungsunterlagen nicht spätestens zwölf Monate nach Abschluss des Geschäftsjahres beim Bundesanzeiger elektronisch eingereicht wurden und die sechswöchige Androhungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelaufen ist. Um zu verstehen, wer von diesen Ordnungsgeldern am stärksten betroffen ist, muss man folgende Zahl im Hinterkopf haben: In den Ordnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurden laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfahren gegen kleine Unternehmen eingeleitet. Aber gerade für kleine Unternehmen ist der buchhalterische Aufwand und die Erstellung des Jahresabschlusses schwerer zu erfüllen als für mittlere und große Unternehmen. 2 500 Euro sind für kleine Unternehmen ein harter Schlag – bis hin zur Existenzbedrohung. Die Bundesregierung hätte am Ordnungsgeldverfahren durchaus spürbare Änderungen vornehmen können. Die EU-Richtlinie gibt hier nämlich keine verpflichtenden Details vor. Mit dem nachträglich hinzugefügten Entschließungsantrag will Schwarz-Gelb unserem Vorschlag nun kurzfristig nachkommen, die Höhe der Ordnungsgelder zu senken. Man könnte fast meinen, unser Antrag wäre abgeschrieben worden. Das finden wir beinahe schmeichelhaft, hätten die Autorinnen und Autoren halt auch unsere Zahlen übernommen. Wenn abschreiben, dann schon richtig! Denn leider meinen CDU/CSU und FDP, dass 1 000 Euro für kleine Unternehmen durchaus verträglich seien. Also, sagen wir es mal so: Natürlich ist dies besser, als alle pauschal mit 2 500 Euro oder mehr zu bestrafen. Aber wir glauben, dass auch eine geringere Summe ausreicht, um Unternehmen zur Ordnung zu rufen. Der Vorschlag im Entschließungsantrag geht uns nicht weit genug. Wir enthalten uns deshalb dazu. In unserem Antrag fordern wir echte Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenlegung der Jahresabschlüsse: Wir wollen, dass die Ordnungsgelder an die Größe der Unternehmen angepasst werden. Dabei schlagen wir als Mindesthöhe für Kleinstunternehmen zukünftig 250 Euro vor, für Kleinunternehmen 500 Euro. Das ist ausreichend abschreckend und kann ja immer noch progressiv gestaltet werden. Wir wollen außerdem, dass das Bundesamt für Justiz in Härtefällen ganz vom Ordnungsgeld absehen oder zumindest die Frist verlängern kann. Ich habe es in der ersten Rede zu diesem Thema ja bereits erwähnt: Gerade in kleinen Betrieben ist nur eine Person für die Rechnungslegung und Buchhaltung verantwortlich. Vertretungskräfte sind ein Luxus, die sich die Kleinen nicht unbedingt leisten können. Im Krankheitsfall kann sich logischerweise die Einreichung der Bilanz drastisch verzögern. Deshalb begrüßen wir, wenn das Bundesjustizministerium zukünftig mehr Flexibilität beweist und nicht gleich nach starr bürokratischer Art mit Ordnungsgeldern droht. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alexander Funk und Manfred Kolbe (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) In der Konsequenz unserer prinzipiellen ökonomischen und rechtlichen Bedenken gegen den eingeschlagenen Weg zur Eindämmung der Euro-Schuldenkrise lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. Diese von uns seit nunmehr zweieinhalb Jahren immer wieder vorgetragenen Einwände werden leider vollumfänglich durch die Entwicklung in Griechenland und den vorliegenden Bericht der Troika aus EZB, IWF und der Kommission bestätigt. Weder eine weitere Auszahlung der Tranchen aus den bereits beschlossenen Programmen noch eine Veränderung der Zinskonditionen, die de facto einen Forderungsverzicht darstellt, lässt sich aus den bisherigen Erfahrungen und den vorliegenden Daten aus unserer Sicht vertreten. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen dokumentieren nichts weniger als die im Übrigen realistische Einschätzung, dass trotz der Bemühungen der griechischen -Regierung und insbesondere der von den Reformen betroffenen Menschen mittelfristig keine Schuldentragfähigkeit Griechenlands hergestellt werden kann. Sie sind ein klares Eingeständnis, dass weder Programmkonzeption, ökonomische und gesellschaftspolitische Entwicklung sowie die Umsetzung der Reformschritte richtig eingeschätzt worden sind noch dass unter diesen Rahmenbedingungen Griechenland eine tatsächliche Option auf eine Rückkehr an die Kapitalmärkte und wirtschaftliche Konsolidierung hat. Im Gegenteil: Ausdrücklich nennt der Troika-Bericht eine Verschlechterung der Schuldentragfähigkeit seit der Verabschiedung des zweiten Programms; selbst nach den optimistischen hier zugrunde liegenden Szenarien steigt die Verschuldungsquote im Programmverlauf auf über 190 Prozent des BIP. Wie indes bei einer Zielgröße der Schuldenquote von 122 Prozent des BIP mittelfristig überhaupt eine Rückkehr Griechenlands an die Kapitalmärkte denkbar sein soll, bleibt ebenso fragwürdig wie bereits beim Beschluss des 1. Griechenland-Programms. Klar und unmissverständlich dokumentiert der Troika-Bericht überdies die enormen Rückstände bei zentralen Programmpunkten: Seit Herbst stehe die Reform der Steuerverwaltung nahezu still, die notwendige Senkung der Lohnstückkosten kommt bereits 2014 zum Erliegen, und die Erlöse aus Privatisierungen bedürfen einer stetigen Korrektur nach unten. Erstmalig wird bereits im vorliegenden Antrag seine eigene Hinfälligkeit vorweggenommen: Bereits 2014 legt das Basisszenario eine weitere Finanzierungslücke von mindestens 4 Milliarden Euro nahe. Als wesentlicher Risikofaktor kommt der nur noch über EZB-Gelder (T-Bills) liquide griechische Bankensektor hinzu, dessen Rekapitalisierungsbedarf auf 50 Milliarden Euro geschätzt wird. In Überdehnung ihres Mandats betreibt die EZB überdies seit Mai 2010 eine Finanzierung des griechischen Staates in der Höhe von 45 Milliarden Euro. Wenn Konditionalität Bedingtheit und Bindung von Maßnahmen an die Umsetzung von gemeinsamen Absprachen und Beschlüssen bedeutet, kann und darf die Konsequenz nun nicht sein, die Beschlüsse aufzuweichen, sondern dies muss eine ehrliche, selbstkritische und realistische Prüfung des bisherigen Weges zur Folge haben. Nach dieser Prüfung, die wir mit bestem Wissen und Gewissen vorgenommen haben, warnen wir nachdrücklich vor einer Fortsetzung dieser Strategie und verweisen auf unsere Alternativvorschläge, die wir seit Mai 2010 zusammen mit zahlreichen Ökonomen immer wieder vorgebracht haben. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Ewald Schurer und Rolf Schwanitz (alle SPD) zur -namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungs-programm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Wir werden uns bei der heutigen Abstimmung einer Zustimmung verweigern und uns der Stimme enthalten. Diese Entscheidung haben wir nach reiflicher Überlegung und unter Zugrundelegung der folgenden Bewertungen getroffen. Zur Situation in Griechenland halten wir fest: Die bis jetzt in Abstimmung mit der Troika getroffenen Maßnahmen in Griechenland haben nicht zur Stabilisierung geführt. Die Rezession der griechischen Wirtschaft ist nicht gestoppt. Der Schuldenberg wächst. Es ist inzwischen von vielen anerkannt, dass Griechenland die härtesten Maßnahmen beschlossen und bereits in Teilen umgesetzt hat, die je ein europäischer Staat ergriffen hat. Trotzdem reichen die vorgeschlagenen Maßnahmen für eine längerfristige Konsolidierung nicht aus. Im Sozial-, Renten- und Gesundheitsbereich werden einschneidende Maßnahmen durchgeführt. Andererseits -haben die europäischen Finanzminister bis jetzt nicht wirksam darauf gedrungen, eine Kapitalflucht aus Griechenland zu verhindern, das aus dem Land geschaffte Vermögen einzufrieren und die Vermögenden in größerem Umfang an den Konsolidierungsmaßnahmen in Griechenland zu beteiligen. Wir halten eine solche Beteiligung sowohl gegenüber der griechischen als auch deutschen Bevölkerung für unerlässlich und erwarten eine solche Initiative von der Bundesregierung. Wir mussten in den vergangenen Jahren mehrfach die Erfahrung machen, dass diese Bundesregierung wichtige Entscheidungen nach Terminen von Landes- und Bundestagswahlen trifft. Dass eine solche Verzögerung von Entscheidungen sowohl zulasten der hilfesuchenden Länder als auch zulasten des deutschen Steuerzahlers geht, wird immer offensichtlicher. Aktuell praktiziert die Bundesregierung diese Verzögerungstaktik wieder bei dem für Griechenland notwendigen Schuldenschnitt: Die von der EZB, dem IWF und der Bundesbank vorgeschlagene Maßnahme wurde in den Verhandlungsrunden von der Bundesregierung nicht akzeptiert. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis ein Schuldenschnitt für Griechenland unausweichlich sein wird. Die SPD-Fraktion wollte die Abstimmung über den Haushalt 2013 um einige Tage verschieben, bis endgültig die Auswirkungen des Anpassungsprogramms für Griechenland feststehen. Heute, sieben Tage nach der Verabschiedung des Haushalts 2013, steht fest: Es werden nachträglich außerplanmäßige Ausgaben in Höhe von 600 Millionen Euro und Verpflichtungsermächtigungen für 2014 in Höhe von 530 Millionen Euro eingestellt werden. Zur Beratung im Deutschen Bundestag halten wir fest: Wir beanstanden die kurzfristige Zuleitung der Unterlagen seitens des Bundeministeriums der Finanzen, die aufgrund ihrer Komplexität und der darin enthaltenen volkswirtschaftlichen Detailfragen keineswegs die gebotene inhaltliche Auseinandersetzung und darauffolgende parlamentarische Befassung gewährleistet hat. Im Einzelnen gab es folgende Zeitabläufe: Am Abend des 27. November wurde ein Anschreiben des Bundesfinanzministers an den Präsidenten des Bundestags samt Anlagen – Nrn. 2 bis 5a: Euro-Gruppen-Statement; Berechnung der Beitragsschlüssel der Slowakei für das Griechenland-Programm; Informationen zur Verbesserung des Sonderkontos sowie eine Übersicht über die Umsetzung der vorrangigen Maßnahmen/Prior Actions – versandt. Der aktualisierte Troika-Bericht sowie das Memorandum of Understanding, MoU, in deutscher Übersetzung lagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor. Am Morgen des 28. November folgte das wortgleiche Schreiben als Drucksache 17/11647 – Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes. Ebenfalls am Morgen des 28. November wurde sodann der bis dato fehlende Troika-Bericht sowie das MoU nachgereicht, allerdings nur in englischer Sprache. Die deutsche Übersetzung des Troika-Berichts wurde um 12.42 Uhr versandt; die deutsche Fassung des MoU wurde lediglich als Tischvorlage – nach Beginn der Sitzung des Haushaltsausschusses um 14 Uhr – verteilt. Zur Beschlussfassung im Deutschen Bundestag halten wir fest: Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass für den Deutschen Bundestag ein aus dem Demokratieprinzip -erwachsendes Verbot der Entäußerung seiner Haushaltsautonomie besteht. Der Deutsche Bundestag ist selbst dem Volke gegenüber verantwortlich und muss über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. Das Parlament darf seine Budgetverantwortung auch nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen selbst bewilligt werden. Es wäre eine verfassungsrechtlich unzulässige Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeit des Bundestages, wenn die Bundesregierung ohne konstitutive Zu-stimmung des Bundestages Gewährleistungen übernehmen dürfte, bei denen der Eintritt des Gewährleistungsfalles allein vom Verhalten anderer Staaten abhängig wäre. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag der Bundesregierung soll der Deutsche Bundestag seine Zustimmung zur Änderung des bestehenden Anpassungsprogramms für Griechenland sowie zur Änderung des Garantieschlüssels erteilen, Drucksache 17/11647. Diese Änderungen hat die Bundesregierung jedoch ihrerseits in der Euro-Gruppe unter einen Vorbehalt gestellt. Die Änderungen, Erleichterungen, für Griechenland sollen nur ins Auge gefasst werden, wenn zuvor ein von Griechenland vorzunehmender Schuldenrückkauf zu einem positiven Ergebnis gekommen ist. Ob die Schuldenrückkaufaktion durch Griechenland positiv verlaufen ist, wird die Euro-Gruppe – und damit die Bundesregierung – erst später bewerten und danach bis zum 13. Dezember eine offizielle Entscheidung treffen. Die für diese Bewertung erforderlichen Ergebnisunterlagen, insbesondere die Auswirkungen auf die Tragfähigkeitsanalyse, sind zum Zeitpunkt der konstitutiven Entscheidung des Deutschen Bundestages noch nicht bekannt. Das von der Bundesregierung eingeleitete Zustimmungsverfahren läuft darauf hinaus, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung vorbehaltlos zu den Änderungen ermächtigen soll, obwohl die Bundesregierung ihre Zustimmung innerhalb der Euro-Gruppe unter einen weiteren Vorbehalt gestellt hat. Der Deutsche Bundestag soll somit im Rahmen seines Budgetrechts eine konstitutive Zustimmung zu den Programmänderungen zu einem Zeitpunkt erteilen, an dem die Erfüllung der Vorbedingung, die sich die Bundesregierung ausbedungen hat, unklar ist. Dies ist mit dem Grundsatz des Verbots der Entäußerung der parlamentarischen Haushaltsautonomie nur schwer in Übereinstimmung zu bringen. Nach unserer Überzeugung darf der Deutsche Bundestag deshalb über die Programmänderungen erst dann entscheiden, wenn er selbst auch Kenntnis über die Erfüllung oder Nichterfüllung des von der Euro-Gruppe formulierten Vorbehalts – positives Ergebnis beim Schuldenrückkauf – erlangt hat. Eine vorbehaltlose Ermächtigung der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang unzulässig. Wir halten deshalb eine Abstimmung des Deutschen Bundestages über die Programmänderung in zeitlicher Nähe zum 13. Dezember für rechtlich zwingend. Deshalb können wir bei der heutigen Entscheidung nicht zustimmen und werden uns der Stimme enthalten. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, Wolfgang Tiefensee und Heidemarie Wieczorek-Zeul (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Europa steht vor einer historischen Aufgabe. Es geht um die Zukunft der gemeinsamen Währung und damit auch des gemeinsamen europäischen Projekts, eines Projekts, das auf unserem Kontinent nicht nur zur Wohlstands-, sondern vor allem auch zur Friedenssicherung beiträgt. Wir bekennen uns als Sozialdemokraten ohne Wenn und Aber zu Europa. Die gemeinsame Währung, der Euro, spielt dabei eine zentrale Rolle. Ohne den Euro wären die negativen Auswirkungen der Banken- und Finanzkrise noch stärker ausgefallen. Die Staaten der Euro-Zone sind längst eine Schicksalsgemeinschaft. Eine wirksame und nachhaltige Stabilisierung der Euro-Zone muss daher im Fokus unserer Bemühungen stehen, um die gegenwärtigen Herausforderungen zu bewältigen. Eine Rückabwicklung des Euro lehnen wir ab. Eine Renationalisierung der Politik liegt keinesfalls im Interesse Deutschlands. Zur Lösung der Finanz- und Staatsschuldenkrise in Europa sehen wir die Einrichtung eines Schuldentilgungsfonds mit einer spezifischen Ausprägung als eine der Kernmaßnahmen. Wir geben hier auf dem Weg der persönlichen Erklärung die Arbeitsrichtung vor, mit der wir die Kanzlerin zur Neuverhandlung nach Brüssel geschickt hätten: Auflage eines Wachstumsprogramms. Dabei sind Kernelemente: Stopp des kontraproduktiven Austeritätsprogramms (Binnennachfrage), Unterstützung einer Verwaltungsstrukturreform in Griechenland, Konjunkturprogramm zur Verstärkung der Infrastruktur, Bankenunion. Im Mittelpunkt der Bankenunion stehen: europäische Aufsicht, Rekapitalisierungsregime und Rekapitalisierungsbehörde, Bankenfonds und Einlagensicherung. Hierzu sind die wichtigsten Ideen und Maßnahmen von Peer Steinbrück in seinem Papier zur „Bändigung der Finanzmärkte“ bereits erarbeitet. Schuldentilgungsfond (in Anlehnung an die Empfehlungen des Sachverständigenrates). Dabei bezieht sich der Vorschlag des Sachverständigenrates ausschließlich auf „Nicht-Programmländer“, also zum Beispiel nicht auf Griechenland. Deshalb müssen die Vorschläge des Sachverständigenrates modifiziert und weiterentwickelt werden. Gleichwohl geht es uns auch um „eine Brücke in eine langfristige Stabilitätsordnung“, wie der Sachverständigenrat formuliert. Dabei sollen die Euro-Länder jenseits eines Verschuldungsniveaus von 60 Prozent des jährlichen BIP in einem Zeitraum von 20 bis 30 Jahren durch ein Umschuldungsprogramm auf einen langfristigen Tilgungspfad orientiert werden. Es wird von den Verhandlungen mit den anderen Mitgliedstaaten abhängen, ob dies auf der Basis einer gemeinsamen Haftung möglich ist. Die Gründung eines Schuldentilgungsfonds wäre eine eindeutige, transparente, langfristige und glaubwürdige Verpflichtung aller teilnehmenden Länder für den Schuldenabbau, und damit auch ein klares Signal an „den Markt“. Der „Markt“ wird aber von Menschen betrieben, denen klar würde, dass es sich nicht lohnt, gegen eine solch starke Gemeinschaft zu spekulieren. Mit diesen Maßnahmen – Wachstumsprogramm, Bankenunion und Schuldentilgungsfonds –, gepaart mit unseren bekannten Regulierungsvorschlägen (Trennbankensystem, Selbstbehalt, Finanztransaktionsteuer etc., etc.), besteht die Chance auf eine nachhaltige – bis in die kommende Generation reichende – Hilfe für Griechenland im aktuellen Beispiel, aber insbesondere für Europa im Allgemeinen. Peer Steinbrück hat es in der Generalaussprache zu den Haushaltsberatungen klar formuliert: Ein Kollaps Griechenlands führt zu unhaltbaren politischen und ökonomischen Kosten. Deshalb muss Griechenland in der Euro-Zone gehalten und stabilisiert werden. Dafür braucht es mehr Zeit und eine Streckung der Auflagen, die Griechenland erfüllen muss. Diese Punkte müssen im Zusammenhang weiterer finanzieller Hilfen berücksichtigt werden. Als Ergebnis der wochenlangen Verhandlungen der Finanzminister der Euro-Gruppe, des Internationalen Währungsfonds, IWF, und der Europäischen Zentralbank, EZB, soll Griechenland nun eine weitere Tranche aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, in Höhe von 34,7 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Weitere beabsichtigte Maßnahmen, um die Schuldenlast Griechenlands zu senken, sind ein Schuldenrückkaufprogramm, Zinsstundungen für Hilfskredite der EFSF und längere Darlehenslaufzeiten. Grundsätzlich gilt, dass die EFSF Finanzhilfen an Euro-Mitgliedstaaten nur gegen klar definierte Auflagen ausgeben soll. Im Falle Griechenlands sind die Auflagen bislang kaum erfüllt worden. Dennoch sind eine zeitliche Streckung der Auflagen und eine Reduzierung der Schuldenlast das Gebot der Stunde, um einen Konkurs in Griechenland zu vermeiden. Teile der nun vorgelegten Maßnahmen sind notwendig, aber bestimmt nicht hinreichend, um die Probleme Griechenlands zu bewältigen. Die Bundesregierung allein sitzt auf europäischer Ebene an den Verhandlungs-tischen – und nicht die Opposition. Daher ist es zwar geboten, den lindernden Maßnahmen aus europapolitischer Verantwortung zuzustimmen, sich aber nicht damit zufriedenzustellen, dass die Ursachen der Krise von der Bundesregierung nicht bekämpft werden. Dies wäre jedoch dringend erforderlich, um die Steuerzahler auf Dauer zu schützen und die Stabilität in Europa wiederzugewinnen. Unsere Zustimmung zu den weiteren finanziellen Hilfen für Griechenland ist daher keine Billigung der Politik der schwarz-gelben Bundesregierung. Aus innenpolitischen, opportunistischen Überlegungen heraus informiert sie die Öffentlichkeit nur häppchenweise über die Kosten der Rettung des europäischen Projekts. Im Gegensatz zur Regierungskoalition, deren einziges Ziel es ist, die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl politisch zu überleben, steht die SPD-Bundestagsfraktion zu ihrer Verantwortung für unser Land und für Europa. Unsere Vorschläge, wie die Krise wirtschaftspolitisch sinnvoll und sozial gerecht überwunden werden kann, habe wir immer wieder vorgebracht. Die schwarz-gelbe Mehrheit hat diese aber aus parteitaktischen Gründen stets ignoriert. Einfache Bürgerinnen und Bürger nehmen deutsche Hilfe als Selbsthilfe für die deutsche Banken wahr, Hedgefonds erhalten die Möglichkeit, entlang des Schlingerkurses der Kanzlerin Gewinne zu machen – „keinen Cent“ für Griechenland, eiserne Kanzlerin, einige Wochen später dann doch … Und immer freut sich der Spekulant, und Deutschland übernimmt den größten Teil an Bürgschaften und Krediten – die aber nicht bei den „einfachen Bürgerinnen und Bürgern“ ankommen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben nur wenig bis nichts vom deutschen Engagement, griechische schon gar nicht. Aber wenn es schiefgehen sollte, bezahlen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland – viele davon sind „einfache Bürgerinnen und Bürger“ – die Zeche. Wir meinen: Wenn schon bittere Medizin, dann soll sie wenigstens helfen. Aber die innenpolitisch motivierte Diskreditierung der Griechen als faule und unzuverlässige Europäer in den ersten Monaten während der Bewusstwerdung der griechischen Staatsschuldenkrise war eine schreckliche Weichenstellung der Kanzlerin und ließ jegliche interkulturelle Kompetenz/europäische Verantwortung vermissen, von einem halbwegs ordentlichen, außenpolitisch vorbereiteten diplomatischen Krisenmanagement ganz zu schweigen. Die stets verabreichte bittere Medizin hieß Austerität: Strenge, Sparsamkeit, Enthaltsamkeit – Sparen bis zur Implosion der gesamten Wirtschaft in Griechenland. Die Binnennachfrage kollabiert, steigende Arbeitslosigkeit, besonders die Jugendarbeitslosigkeit ruiniert die Entwicklungschancen der Gesellschaft, das Wirtschaftswachstum bricht ein. Und wie heißt die Medizin für die nächsten Rettungsschritte? Austerität. Das ist Merkel’sche Europapolitik. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn viele Menschen in Europa unterhalb der Millionärsschwelle schlecht über Deutschland denken. Nun wird jeder sagen: Deutschland ist doch nicht allein auf der Welt. Ja, aber Deutschland tritt mit einer Wirtschaftsmacht in Europa auf, die ihresgleichen nicht findet, und kaum eine andere Regierung ist dazu imstande, anderen ein Spardiktat zu verordnen, aber im eigenen Land das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auszugeben – für ausgewiesen unsinnige Klientelprojekte oder für solch exorbitant teure Schlingerkurse. Natürlich hat auch Griechenland – dies sei hier allein deshalb erwähnt, weil der heutige Beschluss Griechenland betrifft – in den vergangenen Jahrzehnten und in jüngster Zeit Fehler gemacht und muss diese korrigieren. In den Verwaltungen, in der Industrie und Tourismuspolitik, hinsichtlich der Finanzverwaltung und anderer Vollzugsverwaltungen, in der Strukturpolitik, durch Günstlingswirtschaft – aber nach den oben erwähnten fehlerhaften Weichenstellungen in der ersten Phase der Banken- und Staatsschuldenkrise; hier trägt die deutsche Regierung einen großen Anteil – sind diese Maßnahmen nicht mehr einfach durch „Druck auf Griechenland“ zu erwirken; denn „Druck auf Griechenland“ zeigt sich inzwischen als Verstärkung von Armut, Gefährdung der Demokratie und Verschärfung der Spaltung Griechenlands in Armut zu Hause und Reichtum anderswo. Würde auch nur der Hauch einer Chance bestehen, dass die deutschen Interessen in Europa und die europäischen Interessen in Deutschland mit dieser Regierung – wir denken an Kanzlerin Merkel, den Außenminister Westerwelle, den Wirtschaftsminister Rösler – zu einem vernünftigen Ausgleich gebracht werden könnten, wir hätten den Antrag gestellt, die Kanzlerin mit ihrer Entourage nach Europa zurückzuschicken, um neu zu verhandeln. Diese Hoffnung besteht nicht – und doch wollen wir uns verbieten, Europa unter einer schlechten Regierung in Deutschland leiden zu lassen. Europa als Friedensunion, Europa als Wirtschaftsregion einer globalisierten Welt ist zu wichtig für alle Mitgliedstaaten, um sich solche Experimente leisten zu können. Um eine Idee von der Prozesssteuerung dieser Regierung zu bekommen, um einen indirekten Blick auf die Organisation internationaler Verhandlungen zu geben, sei hier erwähnt, warum wir uns mit jeglicher Entscheidung auf der Grundlage solcher Vorbereitungen unendlich schwertun. Dabei sei auch auf den Zeitablauf, die Zeitplanung demokratischer Entscheidungsprozesse hingewiesen, die gegenwärtig von einer Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und FDP mit ihrer Verfahrensmehrheit durchgedrückt wird. Am Dienstag erhalten wir, jedenfalls jene Kolleginnen und Kollegen, die bis in die späten Abendstunden im Büro arbeiten, erste Informationen zum Verhandlungsergebnis von Kanzlerin Merkel und Minister Schäuble. Innerhalb der nächsten 24 Stunden gibt es noch viel Post. Hunderte Seiten Kleingedrucktes, einiges zunächst nur in englischer Sprache. Nur mit größter Anstrengung und unter Vernachlässigung anderer Pflichten kann es gelingen, die Texte vollständig zu lesen. Eine vertiefende Beratung mit Fachleuten, mit Freunden, mit Befürwortern und mit Gegnern aus den Wahlkreisen solcher Beschlüsse, all dies ist in dem angestrebten Beratungsgang praktisch nicht möglich. Hinzu kommt, dass Fragen, die mündlich oder schriftlich gestellt werden, im Regelfall nur rudimentär beantwortet werden. Die Abstimmung war für Donnerstag geplant, drei Tage nach den Verhandlungen in der Euro-Gruppe. Hätten wir nicht Zusatzinformationen aus Regierungen anderer Länder, hätten wir nicht Zusatzinformationen von Sozialdemokraten aus dem Europäischen Parlament, hätten wir nicht die Unterstützung sehr kompetenter Fachbeamter aus einigen Ministerien und einiger Wissenschaftler – von denen viele ihre eigenen Terminkalender aus Verantwortung für unsere Demokratie drangsaliert haben – und hätten wir nicht diese große arbeitsteilig organisierte Fraktion, in der sich für fast jede Spezialfrage eine Fachfrau oder ein Fachmann findet: Qualifizierte Beratungen und unsere Entscheidungsfähigkeit wären gefährdet gewesen. Und dies, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Regierung Merkel schon mehrfach ermahnt hat, die -Beratungsrechte des Bundestages nicht zu beschneiden und die Exekutivmacht der Regierung nicht zu über-dehnen. Die SPD-Fraktion hatte folgerichtig eine Beschlussfassung erst in der nächsten Woche (Sondersitzung) oder in der kommenden regulären Sitzungswoche vorgeschlagen – leider gab es für diesen Vorschlag keine Mehrheit. Nun soll es dieser Freitag sein – ein Tag später als geplant. In dieser schlechten und schwierigen Ausgangslage mit unkalkulierbaren Risiken liegt der Gedanke nahe, die Griechenland-Hilfe abzulehnen. Einzelne Kollegen in der CDU und einzelne Kollegen in der FDP gehen diesen Weg. Allerdings lassen diese Kollegen die Frage offen, was eine Ablehnung der Hilfen für Griechenland kosten würde. Dabei denken wir nicht nur an Geld, sondern auch daran, welchen Einfluss eine solche Entscheidung auf die Vision Europa und seinen Stellenwert in der Welt hätte. Aber auch finanziell wäre zu beschreiben, was passierte, wenn plötzlich 60 Milliarden Euro Schulden bei privaten Banken, davon 30 Milliarden Euro bei griechischen Banken, und etwa 190 Milliarden Euro in nicht privaten Instituten ungeplant abgeschrieben werden müssten – mit Blick auf die Insolvenz von Lehman Brothers und deren Folgen, ein Szenario, dessen Folgen nicht zu übersehen sind. Dagegen sind die Kosten der jetzt gemachten Vorschläge vergleichsweise genau kalkulierbar – wenn, ja wenn sie nachhaltig zur Lösung der Probleme geeignet wären. Aber tatsächlich sind diese Vorschläge nur geeignet, Zeit zu gewinnen für Griechenland, das Zeit benötigt für den Aufbau eines Wachstumspfades, und für unsere schwarz-gelbe Regierung, die die Zeit bis zu den Bundestagswahlen überbrücken will, ohne die tatsächlichen Konsequenzen aus ihrer bisherigen Politik offenbaren zu müssen. Bei richtiger Weichenstellung in der Anfangsphase der Krise in Griechenland, also bei rechtzeitiger, klarer, eindeutiger und massiver Hilfe, auch deutscher Hilfe, wäre es nicht zu diesen Zwangskräften gekommen, und außerdem wären die finanziellen Risiken und die möglicherweise entstehenden Kosten viel, viel niedriger gewesen. Aber das war gestern – vor circa drei Jahren. Heute schlägt uns die Regierung im Wesentlichen eine Maßnahme vor, den Schuldenrückkauf. Griechenland erhält aus schon zugesagten Programmen 10 Milliarden Euro (geliehen), um damit eigene Schuldtitel zurückzukaufen. Also, Griechenland kauft von professionellen Investoren, die griechische Staatsanleihen/Staatsschuldverschreibungen halten, ihre eigenen Anleihen (Schuldtitel) zurück (Debt Buy-Back). Der Gedanke dabei ist, dass eine Anleihe mit einem Nennwert (als sie ausgereicht wurde) von 100 Euro heute vielleicht nur noch 25 Euro am Markt wert ist. Wenn nun Griechenland diesen Schuldtitel für zum Beispiel 30 Euro (der genaue Wert ist kleiner gleich dem Schlusspreis vom Freitag, dem 23. November 2012) zurückkauft, vermindert sich sein Schuldenstand um 70 Euro, der Verkäufer gewinnt gegenüber dem Marktwert 5 Euro, verliert gegenüber dem Nennwert aber 70 Euro. Wenn nun die professionellen Investoren denken, wissen, hoffen, dass sich Griechenland erholt und ihre Papiere wieder steigen, werden sie möglicherweise nicht jetzt verkaufen, sondern noch warten. Welche spekulativen Risiken mit diesem Verfahren verbunden sind, ist daran zu erkennen, das bereits öffentlich davon gesprochen wird, dass ein Hedgefonds, Third Point, bei einem Nennwert von 1 Euro für 17 Cent gekauft hat und nun darauf setzt, zu 26 bis 35 Cent zu verkaufen – im Rückkaufprogramm. Das sind Beispiele für Transferkanäle zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum. Um hier mehr Klarheit zu haben, will der IWF – mit der für ihn gebotenen Vorsicht – seine „Entscheidungen unmittelbar nach den Ergebnissen des Schuldenrückkaufs“ veröffentlichen. Hieran ist auch zu erkennen, dass die jetzt getroffenen Beschlüsse noch nicht als Bekämpfung der Ursachen der Krise angesehen werden, sondern als eine Flickschusterei, um Schlimmeres in nächster Zukunft zu verhindern. (Deshalb wäre eine Abstimmung, gegebenenfalls in einem zweistufigen Verfahren, im Deutschen Bundestag auch erst zu diesem Zeitpunkt notwendig gewesen.) Und wenn diese Maßnahme erfolgreich sein sollte, werden weitere zwei Maßnahmen möglich: Zinserleichterungen und Laufzeitverlängerung. Deutschland, konkret etwa die KfW, soll die Zinsgewinne an den Krediten für Griechenland vermindern, die Zinsen für Darlehen der EFSF, European Financial Stability Facility, sollen zehn Jahre gestundet werden, die Laufzeiten der bilateralen Kredite der EFSF sollen um 15 Jahre verlängert werden, definierte Zinsgewinne der Notenbanken aller Euro-Staaten sollen auf ein Sperrkonto in Griechenland einbezahlt werden. Bei all diesen Maßnahmen – es geht insgesamt um circa 44 Milliarden Euro – rund ums Geld stehen die Menschen nicht im Mittelpunkt. Aber auch wenn die Länder in der Euro-Zone eine gemeinsame Währung haben – Europa ist ein Europa der Menschen. Deshalb wollen wir das Augenmerk besonders auf die sozialen Folgen der Austerität in Griechenland lenken. Menschen verlieren Arbeit und Einkommen, Mindestlöhne wurden gesenkt, Familien können sich die Miete nicht mehr leisten, viele Menschen, besonders die jungen, verlassen Griechenland – unsere bisherige „Hilfe“ hat den Kollaps verhindert, aber den Menschen zu wenig bis gar nicht geholfen, oft waren die mit der Hilfe verbundenen Auflagen für viele Menschen die Vorboten von Armut. Diese Entwicklung wollen wir anhalten und in eine Hilfe wenden, die den Menschen tatsächlich hilft. Wir erinnern an die Maßnahmen, die wir für Deutschland beschlossen und durchgeführt haben, als das Wirtschaftswachstum in mehreren Quartalen in Folge negativ war. In dieser Schrumpfungsphase wurden Konjunkturprogramme und die Kurzarbeit beschlossen – und alles vermieden, was die Binnennachfrage schwächen könnte. Mit dieser Erfahrung schlagen wir andere, jedenfalls deutlich weiter gehende Hilfsmaßnahmen für Griechenland vor. Wir legen neben der monetären Seite der Hilfe stärkeren Wert auf die soziale Seite der Hilfe. Anders als die Regierung und die Koalitionsfraktionen wollten wir, ganz abgesehen von formalen Hinderungsgründen, dem Parlament gleichwohl keinen Antrag zumuten, den wir zwischen Dienstag und Donnerstag in ungebührlicher Hektik erarbeiten, schreiben, beraten, abstimmen. Ein allgemeiner Entschließungsantrag – ohnehin routinemäßig von den Regierungsfraktionen abgelehnt – wäre der Problematik nicht angemessen gewesen. In der hektischen Beratungsfolge der Regierung und aufgrund der täglich neuen Hiobsbotschaften war es auch nicht möglich, einen fundierten Antrag langfristig vorzubereiten. Wir müssen eine neue Langsamkeit einführen, uns nicht mehr zu Getriebenen „der Märkte“ machen lassen – der größte Fehler der Regierung. Zusammenfassend bietet sich hier ein Zitat von Obama an: „Put people first“, und wir ergänzen: „not money“. Da wir diese Möglichkeit nicht haben, die Kanzlerin zur Neuverhandlung zu schicken, da die Koalitionsmehrheit vor einer umfassenden Lösung zurückschreckt, auch infolge ungeschickter Verhandlungen mit den anderen Mitgliedstaaten, da die Verfahrensmehrheit keine ausreichende Zeit lässt, mehr zu überlegen, unterstützen wir die mageren Vorschläge, um Griechenland und dem Zusammenhalt Europas und allen Staaten, die diesem Kompromiss zugestimmt haben, etwas Zeit zu verschaffen – wohl wissend, dass schon bald weitere Maßnahmen erforderlich sein werden, die dann gegebenenfalls teurer werden, als wenn schon heute eine komplexe und umfassende Lösungsstrategie erarbeitet würde. In Ermangelung demokratischer Parlamentsmehrheiten für bessere Lösungen nehmen wir unsere Verantwortung für alle Menschen in Europa mit unserer Zustimmung zur Hilfe für Griechenland wahr. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus Barthel, Wolfgang Gunkel, Hilde Mattheis, Marianne Schieder (Schwandorf), Ottmar Schreiner, Rüdiger Veit und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Wir sind überzeugt, dass auch innerhalb der Europäischen Union Solidarität herrschen muss und wir als größtes europäisches Land sowie als eine der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt auch Verantwortung gegenüber schwächeren Ländern haben. Wir wollen, dass Griechenland in der Euro-Zone bleibt. Wir halten den beschrittenen Weg aber für falsch. Wir sehen, dass in Griechenland zulasten der unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung Sparopfer in bisher unbekannten Ausmaßen durchgedrückt werden. Dadurch wird die Wirtschaft immer weiter in die Rezession getrieben. Die Verschuldung und Massenarbeitslosigkeit wachsen weiter an. Insbesondere die dramatisch hohe – jetzt schon 55 Prozent betragende und weiter steigende – Jugendarbeitslosigkeit ist nicht mehr hinzunehmen. Gleichzeitig wird nichts unternommen, damit auch die Vermögenden einen wirksamen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen leisten. Wir wollen ein soziales und demokratisches Europa. Genau aus diesem Grund können wir die Politik des Verschleierns, Verzögerns und der Krisenverschärfung dieser Bundesregierung nicht mittragen. Deshalb sagen wir Nein zu der heutigen Entscheidung, die diesen falschen Kurs weiter fortsetzt. Anlage 8 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Num-mer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich trage im Wesentlichen die Begründung meiner Kollegen Alexander Funk und Klaus-Peter Willsch zur Ablehnung oben genannten Antrages: In der Konsequenz unserer prinzipiellen ökonomischen und rechtlichen Bedenken gegen den eingeschlagenen Weg zur Eindämmung der Euro-Schuldenkrise lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. Diese von uns seit nunmehr zweieinhalb Jahren immer wieder vorgetragenen Einwände werden leider vollumfänglich durch die Entwicklung in Griechenland und den vorliegenden Bericht der Troika aus EZB, IWF und der Kommission bestätigt. Weder eine weitere Auszahlung der Tranchen aus den bereits beschlossenen Programmen noch eine Veränderung der Zinskonditionen, die de facto einen Forderungsverzicht darstellt, lässt sich aus den bisherigen Erfahrungen und den vorliegenden Daten aus unserer Sicht vertreten. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen dokumentieren nichts weniger als die im Übrigen realistische Einschätzung, dass trotz der Bemühungen der griechischen -Regierung und insbesondere der von den Reformen betroffenen Menschen mittelfristig keine Schuldentragfähigkeit Griechenlands hergestellt werden kann. Sie sind ein klares Eingeständnis, dass weder Programmkonzeption, ökonomische und gesellschaftspolitische Entwicklung sowie die Umsetzung der Reformschritte richtig eingeschätzt worden sind noch dass unter diesen Rahmenbedingungen Griechenland eine tatsächliche Option auf eine Rückkehr an die Kapitalmärkte und wirtschaftliche Konsolidierung hat. Im Gegenteil: Ausdrücklich nennt der Troika-Bericht eine Verschlechterung der Schuldentragfähigkeit seit der Verabschiedung des zweiten Programms; selbst nach den optimistischen hier zu grundeliegenden Szenarien steigt die Verschuldungsquote im Programmverlauf auf über 190 Prozent des BIP. Wie indes bei einer Zielgröße der Schuldenquote von 122 Prozent des BIP mittelfristig überhaupt eine Rückkehr Griechenlands an die Kapitalmärkte denkbar sein soll, bleibt ebenso fragwürdig wie bereits beim Beschluss des ersten Griechenland-Programms. Klar und unmissverständlich dokumentiert der Troika-Bericht überdies die enormen Rückstände bei zentralen Programmpunkten: Seit Herbst stehe die Reform der Steuerverwaltung nahezu still, die notwendige Senkung der Lohnstückkosten kommt bereits 2014 zum Erliegen, und die Erlöse aus Privatisierungen bedürfen einer stetigen Korrektur nach unten. Erstmalig wird bereits im vorliegenden Antrag seine eigene Hinfälligkeit vorweggenommen: Bereits 2014 legt das Basisszenario eine weitere Finanzierungslücke von mindestens 4 Milliarden Euro nahe. Als wesentlicher Risikofaktor kommt der nur noch über EZB-Gelder (T-Bills) liquide griechische Bankensektor hinzu, dessen Rekapitalisierungsbedarf auf 50 Milliarden Euro geschätzt wird. In Überdehnung ihres Mandats betreibt die EZB überdies seit Mai 2010 eine Finanzierung des griechischen Staates in der Höhe von 45 Milliarden Euro. Die Inflationsgefahr ist damit nicht gebannt. Wenn Konditionalität Bedingtheit und Bindung von Maßnahmen an die Umsetzung von gemeinsamen Absprachen und Beschlüssen bedeutet, kann und darf die Konsequenz nun nicht sein, die Beschlüsse aufzuweichen, sondern muss dies eine ehrliche, selbstkritische und realistische Prüfung des bisherigen Weges zur Folge haben. Wenn die bisherige Rettungspolitik beibehalten werden soll, eine Staatsinsolvenz, ein temporärer Austritt aus dem Euro-Gebiet oder die Einführung einer Parallelwährung nicht ermöglicht werden sollen, dann sollte man wenigstens so ehrlich sein, zu sagen, dass ein dauerhafter Transfer und damit eine dauerhafte Haftung unvermeidbar sind. Nach dieser Prüfung, die wir mit bestem Wissen und Gewissen vorgenommen haben, warnen wir nachdrücklich vor einer Fortsetzung dieser Strategie und verweisen auf unsere Alternativvorschläge, die wir seit Mai 2010 zusammen mit zahlreichen Ökonomen immer wieder vorgebracht haben. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Maßnahmenpaket meines Erachtens eine Scheinlösung ist, um den Internationalen Währungsfonds, IWF, im Boot zu halten. Zweifel sind angebracht, ob das Schuldrückkaufprogramm von privaten Gläubigern tatsächlich funktioniert. Beim letzten Schuldenschnitt wurde ihnen für die Hälfte der 60 Milliarden Euro Anleihen eine Garantie für 100-prozentige Rückzahlungen gegeben. Wozu sollten die Anleger jetzt für 30 Prozent verkaufen? Zweifel sind ebenfalls angebracht bei dem anderen Teil, der sich noch in Händen von Hedgefonds befindet. Die haben noch in den letzten Tagen teilweise Anteile zu weniger als 20 Prozent erworben und bekommen sie nun vom europäischen Steuerzahler für 30 Prozent zurückgekauft – Verluste werden sozialisiert, Gewinne privatisiert. Zweifellos verschaffen die Maßnahmen Griechenland eine Verschnaufpause. Allerdings folgen alle Maßnahmen dem Grundsatz, dass derjenige belohnt wird, der widerrechtlich Schulden macht. Wichtig ist für Griechenland, dass nicht nur die Politik Reformen beschließt und auf Papier schreibt, sondern dass das ganze Land, Unternehmer, Arbeitnehmer und Selbstständige ihr Verhalten ändern. In diesem Sinne bedauere ich außerordentlich, dass zwar die Euro-Staaten alle möglichen Regeln und Rechtsvorschriften sehr „kreativ interpretieren“, aber nicht wenigstens vorübergehend Kapitalverkehrskontrollen eingeführt haben. Das wäre ein gutes Zeichen sowohl an den europäischen Steuerzahler als auch an die griechische Bevölkerung gewesen, dass es keine Kapitalflucht und Steuerhinterziehung bei Beziehern von hohem Einkommen und Kapitaleinkünften geben kann. Als Verwirrspiel und In-sich-Geschäft bezeichne ich den Verzicht auf Zinseinnahmen. Das heißt, die Euro-Länder leiten die „Gewinne“ aus griechischen Staatsanleihen an Griechenland weiter. Die Zinsen, die die Bundesbank aus griechischen Staatsanleihen einnimmt, werden vom europäischen Partner an Griechenland gezahlt und landen erst einmal auf einem Sonderkonto. Von da werden sie an die weitergegeben, die griechische Staatsanleihen halten; das ist zum Beispiel die Deutsche Bundesbank. Wir bezahlen uns also quasi unsere Zinsen selbst. Wir erleben einen Schuldenschnitt durch die Hintertür, noch dazu einen, der vorwiegend Deutschland betrifft. Denn offiziell heißt es, man wolle Griechenland eine Summe im Gegenwert dieser Gewinne schenken. Die Bundesbank schüttet Zinsgewinne aber nicht aus, sondern verwendet sie für die Risikovorsorge. Das Geld muss also aus dem Bundeshaushalt vom Steuerzahler vorgestreckt werden. Nur wenn kein Ausfallrisiko entsteht, kann die Bundesbank vielleicht in 5, 10 oder 20 Jahren das Geld der Gewinne in den Bundeshaushalt zurückfließen lassen. Ob das eintritt, weiß niemand. Das ganze Paket ist eine Wette auf die Zukunft, ohne Aussicht auf Gewinn. Gleiches gilt für die Schuldenlasttragfähigkeit Griechenlands. Keiner von uns kann prognostizieren, ob es die Griechen bis 2022 tatsächlich von heute 190 Prozent auf unter 110 Prozent schaffen. Diese Zahlen sind reine Annahmen und politisches Wunschdenken, das sich wieder einmal über ökonomische Realitäten hinwegsetzt. Die Genauigkeit, mit der hier gerechnet wurde, ist eine Scheingenauigkeit. Nur auf dem Papier sind die Bedingungen erfüllt. Da aber Griechenland um jeden Preis im Euro gehalten und seine Zahlungsunfähigkeit vermieden werden soll, ist ein Schuldenschnitt auch für die öffentlichen Gläubiger zu erwarten – nicht heute und morgen, aber vielleicht schon in einem oder zwei Jahren. Denn es ist mehr als wahrscheinlich, dass die aktuellen Vereinbarungen nicht funktionieren. Die Rettungspolitik ist in eine Sackgasse geraten; denn sie verliert das Geld, das sie in Griechenland hineingepumpt hat, wenn sie nicht immer noch mehr hineinpumpt oder wie ein europäischer Diplomat so treffend formulierte: „Wer permanent den Konkurs verschleppt, muss sich im Klaren sein, dass er permanent zahlen muss.“ Die Bundesregierung hat den Bürgern bisher immer gesagt, Griechenland koste kein Geld, es seien alles nur Garantien. Inzwischen ist klar, dass der Steuerzahler auf Geld verzichten muss, – in welcher Form auch immer. Das Maßnahmenpaket für Griechenland ist insofern nur eine Scheinlösung. „Es ist möglicherweise nicht das letzte Mal, dass der Deutsche Bundestag sich mit Finanzhilfen für Griechenland befassen muss.“ Alles sei auf Kante genäht, sagte Bundesfinanzminister Dr. Schäuble und drückt sich damit schon bedeutend vorsichtiger aus, als all die seinerzeitigen Zusicherungen es erahnen ließen. Wir sind mit den Beschlüssen voll in der Transfergemeinschaft an- und der Haftungsgemeinschaft wieder mit großen Schritten nähergekommen. Wenn jetzt argumentiert wird, dass ohne die Haftungsgemeinschaft die Euro-Zone zerbricht, dann zitiere ich den ehemaligen slowakischen Parlamentspräsidenten Richard Sulik: „Doch es verhält sich genau umgekehrt: Die Haftungsgemeinschaft führt dazu, dass die Euro-Zone zerbricht.“ Statt uns auf den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone politisch und ökonomisch – zum Beispiel durch Einführung einer Parallelwährung – vorzubereiten, sind wir weiter dem Argument der Pfadabhängigkeit gefolgt, nachdem der einmal eingeschlagene Weg nicht mehr verlassen werden kann. Wenn Politik weiter am Markt vorbei agiert, wird sie längerfristig den Kürzeren ziehen. Ein Staatsbankrott wurde ausgeschlossen, deshalb muss gerettet werden, koste es, was es wolle. Michael Brand (CDU/CSU): In der gebotenen Kürze will ich zunächst feststellen, dass ich dem Griechenland-Paket heute zustimmen werde. Allerdings will ich darauf hinweisen, dass ich diese Zustimmung nach intensiver Lektüre und einer Reihe von Gesprächen in einer Abwägung von 51 : 49 entschieden habe. Dies stelle ich auch deshalb fest, um für etwaige Abstimmungen in der Zukunft und für meine Position zu den Verhandlungen innerhalb der Euro-Gruppe das Signal zu geben, dass auch in Zukunft bei der sicherlich prinzipiell erforderlichen Hilfe für überschuldete Euro-Länder natürlich kein Automatismus für eine Zustimmung vorausgesetzt werden kann. Ausdrücklich will ich nochmals appellieren, noch mehr zu unternehmen, um dem Eindruck entgegenzutreten, dass in der Schuldenkrise zu viel Taktik im Spiel wäre. Auf Dauer wird die Glaubwürdigkeit von Politik auch dann leiden, wenn die Menschen – ob zu Recht oder zu Unrecht – den Eindruck erhalten, als ginge es um Taktik und als wolle man statt reinen Weins eine politische Salamitaktik anbieten. Dabei kann jeder erkennen: Die einfache Lösung für das sehr komplizierte Thema der Überschuldung von Griechenland und der daraus gewachsenen Gefahr für den Euro-Raum, die wäre schön – aber die gibt es nicht. Wir fahren auf Sicht, und wir müssen von Stufe zu Stufe beim Weg durch die Krise und heraus aus der Krise denken. Zum heute vorliegenden Paket ist richtig festzustellen: Nein, es ist keine einfache Entscheidung, und es gibt auch keine völlige Garantie auf den gewünschten Erfolg. Aber richtig ist auch: Ein Abbruch der Hilfe würde weit größere Risiken verursachen. Mir erscheint eine ganze Reihe von Fragen noch immer offen. Wenn ich dem Paket dennoch zustimme, dann liegt das auch an der im vertretbaren Rahmen auf uns zukommenden zusätzlichen Belastung, die offenbar auch mit Blick auf den IWF zugestanden wurde. Den IWF an Bord zu behalten, erscheint mir deshalb von strategischer Bedeutung zu sein, um Unabhängigkeit von außerhalb der EU-Beteiligten in der Bewertung der erforderlichen Restrukturierungsschritte weiter an Bord halten zu können. Zudem brauchen wir ernsthafte und zeitnahe Schritte, um zu einer Regelung für mögliche Insolvenzen von Staaten in der EU oder der Euro-Gruppe zu kommen. Wir sind in diese heutige Lage auch deshalb gekommen, weil es in der Euro-Gruppe keine Vereinbarungen dazu gibt, wie man mit derlei überschuldeten Staaten verlässlich und in den Auswirkungen kontrollierbar umgehen sollte. Es ist gut und richtig, dass wir den Griechen helfen, aber zugleich den Druck aufrechterhalten, um Griechenland und die anderen Partner weiter auf Kurs von Reform und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu halten – denn ohne Wettbewerbsfähigkeit gibt es kein Wachstum und keine Chance, langfristig aus dem Schuldental herauszukommen. Das gilt für alle, auch für Griechenland. Obschon Griechenland durch unsere Maßnahmen vor ebendieser Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden soll, sind klare Regelungen erforderlich, damit die Lage von Griechenland und möglicherweise auch anderen Schuldnerländern nicht den Druck hin zu einer fatalen Schulden- und Transferunion ins Unermessliche erhöht. Wir alle wissen nicht, was die Euro-Zone und was auch die Bundesrepublik Deutschland an Lasten alles aushält. Es geht hier nicht um eine verfrühte Entlastung des Schuldners, es geht auch um die Verminderung der Überlastung von starken Schultern. Das Schlimmste für die Euro-Zone wäre, dass ihr Hauptpfeiler, nämlich die deutsche Volkswirtschaft, unter der Folge zu hoher Traglasten zusammenbrechen würde – auch das muss hier festgestellt werden. Es geht auch darum, einem Überspringen auf weitere Länder in der Euro-Zone zu begegnen. Mir sind der Ernst und die komplexe Verhandlungslage durchaus bewusst, in der sich die Euro-Zone und in der Folge auch unser Land befinden. Mit scheint, dass nicht nur aus deutschem, sondern vielleicht gar noch mehr aus gut verstandenem europäischem Zukunftsinte-resse heute zumindest schwere Fehler vermieden und grundsätzliche Regelungen angestrebt werden sollten, die uns und die unmittelbar nachfolgenden Generationen vor einem Versinken in der Schuldenfalle bewahren. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Neuverteilung der politischen und wirtschaftlichen Gewichte auf dem Globus noch einmal bedeutender für den „alten Kontinent“ Europa. Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich stimme heute gegen den Antrag des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, weil er nicht der griechischen Bevölkerung hilft. Leider stimmen alle Fraktionen außer der Linken zu. Mit dem Antrag zwingen sie die Regierung in Athen, 10 Milliarden Euro an Banken und Hedgefonds zu zahlen, anstatt sie für Maßnahmen zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Einrichtungen des Sozialstaats zu verwenden, wie zum Beispiel das Gesundheitssystem. Die alten und neuen Bedingungen für Griechenland bestehen in einem unmenschlichen Sozialkahlschlag, der die griechische Bevölkerung in die Verelendung treibt. Die Bundesregierung will die Auszahlung jeder einzelnen Tranche davon abhängig machen, ob die vereinbarten Lohn- und Rentenkürzungen stattgefunden haben. Die Steuern werden weiter erhöht, Renten und Löhne um 30 Prozent gekürzt und die Gesundheitsausgaben jährlich um 12 Prozent zusammengestrichen. Die Kürzungen im Gesundheitswesen haben dramatische Auswirkungen. In Athen ist die Zahl der HIV-Neuinfektionen drastisch angestiegen. Auf diese tödliche Folge des Kürzungsdiktats möchte ich einen Tag vor dem morgigen Welt-Aids-Tag hinweisen. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat in der Debatte offen gesagt, worum es wirklich geht: „Niemand profitiert von Europa mehr als wir Deutsche.“ Wenn er von Deutschen spricht, meint er die deutsche Wirtschaft. Die könne sich in der globalen Konkurrenz besser behaupten mit den ökonomischen Vorteilen, die ihr der Euro bringt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Griechenland und Deutschland sollen für die deutschen Wirtschaftsinteressen zahlen. Das ist der Kern der heutigen Abstimmung. Meine Solidarität gilt der Bevölkerung in Griechenland, die sich gegen das Verarmungsprogramm wehrt. Deshalb habe ich heute gegen den Antrag gestimmt, der ein Antrag für die Banken und Hedgefonds ist. Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsverhalten zum heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich lehne den Antrag ab und möchte dazu eine persönliche Erklärung zu Protokoll geben: Ich kann dem vorliegenden Antrag des Bundesministeriums der Finanzen nicht zustimmen. Die Bundesregierung will Griechenland Finanzhilfen in Höhe von knapp 44 Milliarden Euro gewähren. Leider wurden die Abgeordneten wieder einmal in einer indiskutablen Art und Weise über dieses Paket informiert. Am Dienstag habe ich in der SPD-Fraktion von der Bitte der Bundesregierung erfahren, dass der Bundestag der nächsten Tranche in Höhe von 43,7 Milliarden Euro, die im Rahmen des zweiten Anpassungsprogramms für Griechenland bereitgestellt werden sollen, zustimmen möge. Vorgelegt wurde von Bundesminister Schäuble dazu ein zweiseitiges englisches Papier. Dieses Papier war völlig ungenügend, sodass wir uns in der SPD-Bundestagsfraktion als Bundestagsabgeordnete keine Meinung dazu bilden konnten. Bundesminister Schäuble schickte uns danach in mehreren Mails Texte zu der Thematik. Am Mittwoch habe ich zwei deutsch übersetzte Texte erhalten, die 83 Seiten bzw. 153 Seiten lang waren. Es ist unmöglich diese Texte in zwei Tagen in der gebotenen Sorgfalt durchzuarbeiten, geschweige denn, darüber zu diskutieren und zu einer angemessenen Entscheidung zu kommen. Hier geht es schließlich nicht um Nebensächlichkeiten. Eigentlich sollte die Entscheidung sogar am Donnerstag stattfinden, und nur auf Druck der SPD-Fraktion wurde die Abstimmung auf Freitag vertagt. Aber auch ein Tag mehr macht den Vorgang nicht akzeptabler. Leider ist diese Vorgehensweise keine Ausnahme, sondern scheint von Regierungsseite aus zur Regel zu werden. Viele Kolleginnen und Kollegen sind zu Recht brüskiert. Ich kann das ebenfalls nicht unterstützen. Hier geht es immerhin um 44 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im Bundeshaushalt wären das mehr als die kompletten Etats im Bereich Verkehr/Bau (25,9 Milliarden Euro) und Gesundheit (14,5 Milliarden Euro) zusammen. Man kann und darf so eine wichtige Entscheidung nicht nebenbei treffen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von ihren Abgeordneten, dass sie verantwortungsvolle und gut überlegte Entscheidungen treffen. Ich halte auch insgesamt die Lösungsversuche für die griechische Schuldenkrise für höchst problemtisch. Es liegt weiterhin kein vernünftiger Wirtschaftsplan für Griechenland vor. Es gibt keine wirkliche Strategie, wie diese Krise nachhaltig angegangen werden soll. Es gibt keine ausreichenden Kontrollmöglichkeiten dafür, wie das bewilligte Geld verwendet wird. Es gibt noch immer offene Fragen, die vor der Abstimmung nicht mehr geklärt werden können. Auch die Zusagen – wie zum Beispiel die Finanztransaktionsteuer – wurden bisher nicht erfüllt. Die Politik in Griechenland ist immer noch un-sozial. Sie setzt auf einseitige Sparmaßnahmen, die besonders die unteren Bevölkerungsschichten treffen. Wir brauchen aber nachhaltige Maßnahmen: einen umfassenden Sozial- und Wachstumspakt, eine umfassende Regulierung des Finanzmarktes, eine bessere Abstimmung in der Wirtschaftspolitik in der EU, eventuell eine europäische Wirtschaftsregierung und eine wirkungsvollere Verteilungspolitik, die die Ungleichgewichte in der EU ausgleicht. Ich werde deshalb aus inhaltlichen und formalen Gründen gegen die Vorlage der Regierung stimmen. Sylvia Canel (FDP): Wir werden heute gefragt, den Änderungen des zweiten Anpassungsprogramms für Griechenland zuzustimmen, damit die nächste Tranche in Höhe von 43,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden kann. Das Budgetrecht ist unser Königsrecht. Ausgaben haben wir dem Steuerzahler gegenüber zu verantworten. Etwas zu verantworten, bedeutet, Antworten geben zu können und die Fragen zu kennen. Wird der Steuerzahler ungeschoren davonkommen? Die Verschleppung der Reformen hat zu einem höheren Finanzierungsbedarf geführt. Dieser wird unter anderem über drei verschiedene Maßnahmen gedeckt, die jeweils eine Beteiligung der Zentralbanken des Euro-Systems voraussetzen: Erstens hat die Europäische Zentralbank Griechenland erlaubt, einen größeren Teil seiner Staatsfinanzierung über Schatzwechsel, T-Bills, zu finanzieren. Diese kurzfristigen Anleihen sind so gut wie Geld und erhöhen unmittelbar die Geldmenge, bewirken also inflationäre Effekte. Zweitens haben Zentralbanken des Euro-Systems einem Rollover von griechischen Staatsanleihen in ihren Beständen zugestimmt. Das bedeutet, dass sie die Erlöse aus fällig werdenden Anleihen in ihrem Bestand in neu aufgelegte Anleihen Griechenlands reinvestieren werden. Diese Maßnahme ist direkte monetäre Staatsfinanzierung, die verboten ist. Drittens werden erstmals Mittel aus dem Bundeshaushalt direkt an den griechischen Staat überwiesen, die der Höhe nach dem Gewinn der Bundesbank aus dem Erwerb von griechischen Anleihen im Rahmen des früheren Aufkaufprogramms SMP entsprechen. Es geht um einen Barbetrag von annähernd 3 Milliarden Euro. Diese Milliarden werden kassenwirksam. Was haben die Griechen von den Hilfsmilliarden? Zur Auszahlung vorgesehen sind 43,7 Milliarden Euro. Doch nur 10,6 Milliarden Euro davon sind für den Defizitausgleich des griechischen Budgets gedacht. Dagegen sind 23,8 Milliarden für die Abwicklung und Rekapitalisierung des griechischen Bankwesens vorgesehen. Gerettet wird nicht die griechische Bevölkerung. Wer der Hilfe zustimmt, der kann dies also nicht mit seiner Solidarität begründen – für die man überdies auch noch die Steuerbürger bezahlen lässt. Es geht vielmehr um Griechenlands Bankensektor. Leider soll erst gegen Ende April 2013 feststehen, wie hoch das jeweilige individuelle Kapitalbedürfnis der griechischen Banken ist. Allerdings wird der griechische Bankenstabilisierungsfonds bereits vorher, nämlich schon im Dezember 2012, gegenüber vier „besonders wichtigen“ Banken eine Selbstverpflichtung abgeben, jedes spätere Kapitalbedürfnis dieser vier Banken zu befriedigen. Da jedes Loch in der Kapitaldecke dieser Banken unbedingt gestopft werden soll, entstehen hier Fehlanreize zur Verlagerung von Bankrisiken auf den europäischen Steuerzahler. Überdies werden diese vier „besonders wichtigen“ Banken gerettet, obwohl die EBA in ihrem Stresstest nur zwei griechische Banken als systemrelevant erkannt hat. Es ist überhaupt unklar, warum diese vier „besonders wichtigen“ statt der zwei bekannten systemrelevanten griechischen Banken gerettet werden sollen. Wem nutzt dies? Die Gläubiger dieser „besonders wichtigen“ Banken profitieren am meisten von unseren Überweisungen. Wir kennen nicht einmal ihre Namen. Die sogenannte Griechenland-Hilfe dient nicht Europa oder Griechenland, sondern ist und bleibt eine Subven-tionsmaschine für Griechenlands Gläubiger und die Gläubiger seiner Banken. Bemerkenswert: Erst jetzt kommt man auf die Idee, verbliebene Nachranggläubiger der griechischen Banken an deren Sanierung durch Bail-in zu beteiligen. Dies bringt 600 Millionen Euro. Es stellt sich die Frage, wie viele zusätzliche Milliarden Bail-in-Kapital zur Verfügung gestanden hätten, wenn man diese Maßnahme zu Beginn und nicht erst im dritten Jahr der griechischen Insolvenzverschleppung verlangt hätte. Werden wir uns heute das letzte Mal mit dem Anpassungsprogramm für Griechenland befassen? Erstens werden die Mittel für die griechische Bankenrettung wegen der Fehlanreize nicht ausreichen. Wer heute zustimmt, der legt die Grundlage für die spätere Abforderung weiteren Sanierungskapitals für die griechischen Banken. Zweitens erwartet die Troika bis 2016 trotz der inzwischen vorgenommenen Abstriche immer noch Privatisierungserlöse in einer Höhe von fantasievollen 22 Milliarden Euro. Jeden fehlenden Privatisierungseuro muss der europäische Steuerzahler später ausgleichen. Drittens haben die Euro-Staaten weitere Eventualmaßnahmen vereinbart. Sie sollen die Schulden Griechenlands um fast 8 Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts reduzieren. Nach heutigen Verhältnissen entspricht dies weiteren 16 Milliarden Euro. Wie diese versprochenen Maßnahmen konkret aussehen sollen, bleibt uns indes unbekannt. Doch nur mit ihnen kann überhaupt 2020 der in Aussicht gestellte Schuldenstand von 124 Prozent und 2022 von 110 Prozent erreicht werden. Viertens kommen weitere Milliarden wegen der zehnjährigen Stundung der Zinsen auf die EFSF-Kredite dazu. Die gestundeten Zinsen sind nicht mehr fällig und senken dadurch den Schuldenstand, weil nicht fällige Forderungen auf diesen nicht angerechnet werden müssen. Die gestundeten Zinsforderungen verzinsen sich allerdings während der zehn Jahre dauernden Stundungsphase! Diese Milliardenforderung wird die EFSF im Jahr 2023 fällig stellen. Dann wird sie die Staatsschuld erhöhen. Allein in der Hälfte des Zeitraums der Stundung von 2012 bis 2016 geht es um 13,6 Milliarden Euro. Man kann also realistisch mindestens mit der doppelten Summe gestundeter Schulden rechnen. Diesen Betrag muss man ab 2023 der griechischen Staatsschuld hin-zurechnen. Die Angabe, im Jahr 2022 rechne man mit einem tragfähigen Schuldenstand Griechenlands von 110 Prozent, trifft ab 2023 nicht mehr zu. Fünftens klafft trotz aller Maßnahmen immer noch eine aus der Streckung des Programms resultierende Finanzierungslücke von fast 4 Milliarden Euro in den Jahren 2015 und 2016. Manche Fragen sind gestellt, einige Antworten liegen vor. Aus Verantwortung für das Budget, die Steuerzahler und auch für die griechische Bevölkerung ist festzuhalten: Es ist klar, dass heute erneut die Gläubiger von Banken und Staaten auf Kosten der Allgemeinheit gerettet werden. Es ist klar, dass diese Anpassung des Programms keine Lösung der griechischen Schuldenmisere bedeutet. Es ist klar, dass die Zahlen geschönt und geglättet wurden. Es ist klar, dass bald wieder Mittel für Griechenland in einem hohen zweistelligen Milliardenbetrag fehlen werden. Es ist klar, dass der Bundestag nochmals über Griechenland verhandeln wird. Es ist vor allem klar, dass der eingeschlagene Weg gescheitert ist. Die uns zur Entscheidung gegebene Anpassung des Programms verschleiert und verschleppt in Wahrheit die seit 2010 anhaltende Insolvenz Griechenlands. Dazu senkt und stundet man die Zinsen, verschiebt Fälligkeiten, verzichtet auf Avalgebühren, beteiligt die Privatgläubiger durch einen Schuldenrückkauf und prolongiert die laufenden Kredite der Zentralbanken. Im Ergebnis bedeutet dies einen zweiten Schuldenschnitt mittels einer Restrukturierung der Staatsschulden Griechenlands. Fände diese Schuldenrestrukturierung nach einem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone statt, wären die Maßnahmen als erster Schritt zur Rückkehr in die Normalität und Stabilität zu begrüßen. Für ein Griechenland Innerhalb des Euro-Raums sind sie nicht mehr als Flickschusterei. Christian Hirte (CDU/CSU): Den zur Abstimmung stehenden Anträgen der Bundesregierung stimme ich nicht zu. Die Abstimmung über ein weiteres Hilfspaket für Griechenland untermauert das wichtige und notwendige Mitspracherecht der Parlamente. Nur mit einer deutlichen Einbindung der Parlamente kann überhaupt eine grundlegende Akzeptanz der politischen Entscheidungen innerhalb der Schuldenkrise in Europa erarbeitet werden. Die Entscheidungen und Maßnahmen der letzten Jahre habe ich mit großer Skepsis und Sorge begleitet. Ich bin weiterhin nicht davon überzeugt, dass alle bisherigen Maßnahmen ausreichen, die Schuldenkrise dauerhaft zu überwinden. Das Grundziel ist und bleibt für mich, Entscheidungen zu treffen, mit denen in den Krisenländern eine Perspektive geschaffen wird, die dabei helfen, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zu entwickeln. Am Ende des Weges muss erkennbar sein, dass die Lage in den Peripherieländern besser wird. Dies ist der Grund, warum ich dem Rahmen hierfür, mithin EFSF und ESM, zustimmen konnte. Das Ringen um die Beteiligungsrechte des Parlaments hat dazu geführt, dass die Abgeordneten im konkreten Einzelfall entscheiden können, ob sie die Einzelmaßnahmen für die jeweiligen Staaten mittragen können. Ich habe Hochachtung vor dem Weg, den das griechische Volk und die Politik in Griechenland in den vergangenen Jahren gegangen sind. Die massiven Einschnitte und Reformen sind gegen große Widerstände auf den Weg gebracht worden. Kein Staat in Europa hat in jüngerer Vergangenheit so entschieden Kurskorrekturen vornehmen müssen. Zugleich halte ich grundsätzlich den von Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bundesregierung eingeschlagenen Weg für richtig. Die vorsichtigen und abwägenden Schritte sind bisher der Garant dafür, dass Europa als Ganzes und insbesondere Deutschland in der Krise überhaupt noch Handlungsspielräume hat. Die Haltung der Bundesregierung hat eine generelle Vergemeinschaftung der Schulden verhindert, hat die Position der nationalen Parlamente gesichert und den notwendigen Reformdruck auf die Krisenstaaten erhalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer jüngsten Regierungserklärung deutlich gemacht, dass wir weiterhin nur mit kleinen, die Folgen abschätzenden Schritten die bestehende Krise bewältigen können. Jeder Ruf einzelner Akteure oder auch Wissenschaftler nach der einen großen Lösung kann gegenüber dem Anspruch praktischer und komplexer Politikgestaltung in der demokratischen Wirklichkeit nicht Stand halten. Deshalb stütze ich auch weiterhin grundsätzlich den Kurs der Bundesregierung in der Schuldenkrise. Es ist zudem ein richtiges Zeichen, dass wir nach innen wie außen mit solider Haushaltspolitik ein Signal setzen, dass wir uns in Europa an den eigenen Maßstäben messen lassen wollen. Trotz Zustimmung im Allgemeinen kann das vorliegende dritte Paket für Griechenland nicht meine Zustimmung finden. Auch wenn Troika und Euro-Gruppe den Reformweg Griechenlands insgesamt positiv bewerten, sind die skeptischen Erwähnungen nicht zu übersehen. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen wie Schuldenrückkäufe, Laufzeitverlängerung von Krediten oder Zinssenkungen können einen Beitrag zur Entspannung der Belastungen Griechenlands leisten. Sie ändern jedoch nichts an der weiter deutlich unzureichenden Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Der Ausblick auf Wirtschaftswachstum, Schuldenstand im Verhältnis zum BIP oder Rückzahlbarkeit der Kredite hat sich im Vergleich zur Vergangenheit weiter verschlechtert. Dies alles zeigt aus meiner Sicht, dass wir mit der Streckung und Fortführung der bisherigen Maßnahmen allein nicht zu einem Aufwärtspfad in Griechenland gelangen können. Der weiter wachsende Schuldenberg und die volkswirtschaftlichen und politischen Konsequenzen einer nun -lediglich gestreckten Schuldenpolitik bereiten mir allergrößte Sorge – nicht nur für Griechenland, sondern für den generellen Weg in Europa, vor allem auch für das Verhältnis der europäischen Nationen untereinander. Mir ist bewusst, dass Deutschland und die übrigen -europäischen Länder Griechenland auf dem Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und einem Aufschwung massiv helfen müssen. All dies wird am Ende Geld kosten – auch deutsche Steuermittel. Dies wird auch meine Zustimmung finden. Der vorab beschriebene Weg zwischen grundsätzlicher Zustimmung für den Weg der Bundesregierung und großer Skepsis im Einzelfall eines Staates illustriert zum einen meine persönliche Ambivalenz bei der Bewertung des Themas. Er illustriert aber auch, dass es aus meiner Sicht längst kein klares Richtig oder Falsch mehr gibt. Unabhängig von den politischen Entscheidungen muss allen klar sein, dass wir Geld in die Hand nehmen müssen, um Europa und auch den Euro zu sichern, vor allem aber, um Schuldenländern wie Griechenland zu helfen. Maßstab meiner Entscheidung wird aber die Abwägung bleiben, ob die konkreten Punkte helfen, dem Ziel von mehr Wettbewerbsfähigkeit und einem wieder wachsenden Wohlstand gerecht zu werden. Im vorliegenden konkreten Fall kann ich dies nicht mit Ja beantworten. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Am heutigen Tag entscheidet der Deutsche Bundestag über Änderungen am Finanzhilfeprogramm für Griechenland. Alle Entscheidungen des Bundestages, Griechenland betreffend, standen unter dem Vorbehalt der prognostizierten Wirtschaftsentwicklung. Diese ist aus jetziger Sicht ungünstiger verlaufen als 2011 erwartet. Hintergrund dieser negativen Entwicklung sind zwei Parlamentswahlen, welche aufgrund des Scheiterns der Regierungsbildung nötig wurden. Um das vereinbarte Programm dennoch zum Erfolg zu führen, sind Korrekturen und Anpassungen im Konzept erforderlich geworden. Aus meiner Sicht kann die Möglichkeit eines erforderlichen Schuldenschnittes für Griechenland nicht kategorisch ausgeschlossen, sollte aber auch nicht herbei-geredet werden. Entgegen früherer Äußerungen von Bundesfinanzminister Schäuble gehe ich fest davon aus, dass es schon in 2013 zu negativen Auswirkungen von knapp 1 Milliarde Euro auf den Bundeshaushalt kommen wird. Auch rechne ich mittelfristig fest mit einem Anstieg der Inflation, welche als Folge der eingeschlagenen Maßnahmen zu sehen ist. Auch wenn die Inflation zurzeit sehr niedrig und eine Erhöhung insbesondere der exorbitant gestiegenen Energiepreise zuzurechnen ist, muss die Gefahr der Inflation offen und ehrlich angesprochen werden. Ich werde am heutigen Tag, trotz meiner geäußerten Vorbehalte und meiner Kritik, den Änderungen am Finanzhilfeprogramm für Griechenland meine Zustimmung nicht verweigern. Eine sofortige Beendigung der Finanzhilfen, wie sie die Kritiker vorschlagen, hätte verheerende Folgen. Schon im Dezember würde Griechenland die Zahlungsunfähigkeit drohen. Alle Verbindlichkeiten würden damit – auch das gehört dann auf der anderen Seite zur notwendigen Ehrlichkeit – vollständig verloren sein, und mit negativen Auswirkungen auf weitere EU-Staaten wie insbesondere Italien, Spanien und Portugal ist fest zu rechnen. Dieser Dominoeffekt hätte auch direkte negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Steigende Arbeitslosigkeit und ein Rückgang der Steuereinnahmen sowie der Sozialversicherungsbeiträge wären die direkten Folgen. Europa ist mehr als nur ein Währungsraum. Europa hat eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Zukunft. Die Europapolitik der FDP glaubt an das Erfolgsmodell Europa. Die jetzigen Kosten, trotz ihrer Höhe, sind wichtige Investitionen für die konsequente Umsetzung des europäischen Gedankens von Frieden, Freiheit und Zusammenhalt. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bei der Abstimmung über den ESM habe ich mich gegen die Fraktionsmeinung für ein Nein entschieden, weil ich Einrichtung und Ausgestaltung für verfassungsrechtlich problematisch hielt und die pünktlich zur Abstimmung publizierte Auffassung von Spanien und Italien, sie würden Mittel ohne Auflagen bekommen, als Provokation und das Konterkarieren der Bemühungen unserer Kanzlerin empfunden habe. Meine heutige Jastimme ist geschuldet der Fraktionssolidarität und hat ausdrücklich und ausschließlich das Ziel, Angela Merkel als letzte Bastion gegen die europäische Transferunion zu stützen. Ansonsten spricht -lediglich die Tatsache, dass der IWF sich trotz allem weiterhin beteiligt, für eine Weiterfinanzierung Griechenlands. Die Mehrheitsinteressen im Euro-Raum und die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag, wo sich SPD und Grüne als Retter in der Not gerieren, machen mich aber minder optimistisch, dass am Ende eine Transferunion vermieden wird. Ausgerechnet SPD und Grüne, die Griechenland wider besseres Wissen den Weg in den Euro geebnet haben, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgegeben haben! Würde Angela Merkel intern an unseren Voten scheitern und die linke Seite des Hauses das Heft in die Hand bekommen, wäre der Weg in die Schuldenunion klar und die Stabilität unserer Währung endgültig dahin. Vor dem, was die SPD und die Grünen wollen, kann man nur warnen: Die Einführung des Euro und die damit verbundene Ausdehnung unseres Realzinsvorteiles auf die Euro-Zone wurde von den meisten Staaten nicht zur Investition, sondern zu Konsumzwecken genutzt. Mir fehlt das Vertrauen, dass diese Staaten sich anders verhalten, wenn wir ihnen über Euro-Bonds noch einmal und diesmal zulasten der deutschen Bonität niedrige Zinsen bescheren. Es liegt gleichwohl auch an uns, zu verhindern, dass dies alles durch die Hintertür kommt. In weiten Teilen bin ich aber durchaus auch anderer Auffassung als viele Kollegen der CDU: Griechenland wird nicht wettbewerbsfähig werden. Auch hinsichtlich der Haushaltsdisziplin gibt es berechtigte Zweifel, wenngleich die uns dargestellten Änderungen einen leichten Hoffnungsschimmer begründen. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir jetzt endlich die Zeit nutzen müssen, das Währungsgebiet neu zuzuschneiden. Griechenland hat ohne Abwertungsmöglichkeit keine Chance, wirtschaftlich wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Im Übrigen mussten einige von uns schmerzlich lernen, dass ein Schuldenschnitt kein wirkliches Sanktionsmittel ist. Wenn wir den Währungsraum nur mit Transfermitteln und Haushaltskuratel zusammenhalten, entwickelt der Euro nicht die intendierte Binde, sondern eine Sprengkraft. Das sollten all diejenigen sich vor Augen führen, die in der argumentativen Sackgasse immer das übergeordnete Thema „Krieg und Frieden“ bemühen. Das gilt übrigens auch für die Europapolitik insgesamt. Wenn wir nicht aufhören, das Europa der Konzerne zulasten der kleinen Leute zu formen, verliert diese großartige Idee weiter an Akzeptanz. Unser Anliegen muss es sein, das bestaustarierte demokratische und gewaltenteilige System unserer Republik der EU als Gestaltungsmaßstab anzubieten. Unser Anliegen muss es sein, das Prinzip der Subsidiarität in Europa endlich wirklich zu verankern. Der Lissabon-Vertrag, dem ich damals nicht zugestimmt habe, hat mir deutlich gezeigt, wie weit weg die Akteure von diesen Gedanken sind. Die Euro-Krise müsste ihnen zeigen, wie weit man damit kommt. Und ein ceterum censeo kann ich mir an dieser Stelle abschließend nicht verkneifen: Weil mein Ziel immer noch das Europa der Regionen ist, stehe ich den politischen Ideen unseres Finanzministers klar ablehnend gegenüber, der sich offenkundig einen europäischen Bundesstaat vorstellt. Nach den Erfahrungen mit dem Euro kann ich davor nur warnen. Gerold Reichenbach (SPD): Ich habe bei der Abstimmung mit Nein gestimmt. Es ist zwar völlig richtig, in der aktuellen Situation Griechenland zu helfen. Die von der Bundesregierung maßgeblich mit ausgehandelte, jetzt vorliegende Lösung gewährt Griechenland allerdings nur einen Zeitaufschub, ohne die Probleme grundlegend zu lösen. Im Gegenteil: Sie beinhaltet eine Fortsetzung einer reinen Austeritätspolitik zulasten der Mehrheit der griechischen Bevölkerung, die zu einem immer tieferen Einbruch der griechischen Wirtschaftsleistung und damit zu einer Erhöhung der Haushaltsdefizite statt zu deren Abbau geführt hat. Notwendig wäre im Gegenteil eine Politik, die neben Hilfen zur Schuldentilgung Wachstumsimpulse für die griechische Volkswirtschaft und Maßnahmen zur Erhöhung des griechischen Steueraufkommens beinhaltet. Diese Politik wird nicht ohne Belastung für die europäischen Partner zu haben sein. Aber auch hier ist die Bundesregierung aus wahltaktischen Gründen nicht bereit, den Bürgern die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil: Die Bundeskanzlerin hat durch ihre Schaukelpolitik zwischen strikter Ablehnung und anschließender beschränkter Zustimmung zu Rettungsmaßnahmen Griechenland immer tiefer in die Krise hineingleiten lassen, wobei die Kosten der zwangsläufigen Rettungsmaßnahmen immer weiter stiegen. Ein schnelles und entschlossenes Agieren zu Beginn der Krise und eine offene Kommunikation der Notwendigkeit der Rettungsmaßnahmen für Griechenland auch im deutschen Interesse sowie der dadurch entstehenden Kosten wären nicht nur von Anfang an notwendig gewesen, sondern hätten die Belastungen für den deutschen Steuerzahler in Grenzen halten können. Bei dem schrittweisen Zugeständnis von Maßnahmen, bei dieser Politik der Bundeskanzlerin des „zögerlich – zu wenig – zu spät“ steigen die Kosten der europäischen Finanzkrise unaufhörlich. Auch die jetzige Maßnahme dient lediglich dazu, weitere Entscheidungen und die Offenlegung der tatsächlichen Belastung für den Bundeshaushalt auf die Zeit nach der Bundestagswahl zu verschieben. Dies liegt weder im Interesse der deutschen noch im Interesse der griechischen Bevölkerung. Ich bin nicht bereit, die Politik der Bundeskanzlerin, die aus rein wahltaktischen Gründen die Kosten der Griechenland-Rettung immer weiter nach oben treibt, weiter zu unterstützen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Erstens. Für mich als überzeugten Europäer, Befürworter des Euro und Streiter für ein Europa der gemeinsamen Verantwortung ist in der konkret anstehenden Entscheidung über ein drittes Hilfspaket für Griechenland absolut unstrittig: Wer Europa, den Euro und aktuell Griechenland im Interesse der gemeinsamen nachhaltigen ökonomischen Wohlfahrt, der sozialen Gerechtigkeit und der Sicherung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit helfen und für die Zukunft stärken will, muss sich in Regierung, Parlament, Parteien und Öffentlichkeit endlich ehrlich machen. Die tiefgreifende Zerrüttung von Europa rund um das Bankensystem, die Überschuldung der Nationalstaaten und die massiven Einbrüche an Wirtschaftskraft, Wachstum und Lebensqualität in traditionsreichen Partnerländern der EU erfordern in Kürze den Einsatz von hohen öffentlichen Mitteln, um soziale Mindeststandards, Wachstumschancen und Zukunftsinvestitionen wie strukturelle Verbesserungen in Good Governance in den gefährdeten Mitgliedsländern der EU wie speziell aus aktuellem Anlass in Griechenland zu erreichen. Gerade von den reichen und starken Ländern wie Deutschland werden hier substanzielle Beiträge erwartet, die bei den Menschen allerdings mit Recht nur dann auf Zustimmung stoßen und Unterstützung finden werden, wenn ihre Regierung Ehrlichkeit, Transparenz, Vorausschau und Mut zur Wahrheit zu ihrem Prinzip erklärt. Die Bundesregierung Merkel/Schäuble hat dieses Prinzip in der Vergangenheit immer wieder missachtet. Auch das jetzt vorgelegte dritte Hilfspaket gründet nicht auf Ehrlichkeit, Transparenz, Vorausschau und Mut zur Wahrheit. Es ist ein Programm der kurzfristigen Nothilfe, begründet in wahltaktischen Interessen der Bundesregierung in Deutschland, ohne Nachhaltigkeit, ohne Perspektive, ohne Rücksicht auf die existenziellen -Lebenssorgen breiter Bevölkerungsschichten in Griechenland. Wer Vertrauen missbraucht, darf kein Vertrauen erwarten. Die Bundesregierung bekommt meine Zustimmung zu ihrer Vorlage nicht. Zweitens. Die Verbitterung breiter Bevölkerungsschichten in Griechenland über eine ungebremste Politik der Austerität gegen alle ökonomische Vernunft wird sich noch steigern, wenn sich die konservative Regierung Samaras im Bunde mit der konservativ-neoliberal dominierten Troika erkennbar darauf konzentriert, Staatssanierung und Konsolidierung ohne soziale Ausgewogenheit und soziale Gerechtigkeit zu betreiben. Im Gegenteil: Die Steuer- und Kapitalflucht einer kleinen Schicht reicher und superreicher Griechen wird hingenommen und nicht entschieden bekämpft, obwohl deren Patriotismus und Verantwortungsbewusstsein in dieser tiefgreifenden Krise von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft notwendiger denn je wäre. Dies gilt umso mehr, als steuerliche, solidarische Beiträge aus Ländern wie Deutschland, die unabweisbar notwendig sein werden und deren Ausmaß im Interesse von Europa, des Euro und auch von Griechenland noch gar nicht abzuschätzen sind, genau diesen solidarischen Beitrag voraussetzen und erzwingen. Wer sich aus politischem Kalkül und Korrumpiertheit der Pflicht zur Herstellung von Solidarität im eigenen Land verweigert, wird schwerlich die Solidarität von Menschen in anderen Ländern Europas erwarten dürfen und erfahren können. Genau hier liegt aber die wirkliche Gefährdung der Einheit Europas, der Sicherung des Euro und der Rettung von Staaten wie Griechenland, wenn durch das Fehlen von Patriotismus und Verantwortungsbewusstsein notwendiger Solidarität, die wir für die Zukunft erst recht dringend gebrauchen werden, die Legitimation verweigert wird. Europa, der Euro und auch Griechenland lassen sich aber nach meiner festen Überzeugung nur retten, wenn diese Legitimation gewonnen werden kann. Die Regierung Merkel/Schäuble macht einen sehr schweren Fehler, wenn sie aus ideologischer Borniertheit durch Passivität und Unterlassung die Herstellung dieser Legitimation hintertreibt oder jedenfalls unterlässt. Die vorgelegte Form des dritten Hilfspakets für Griechenland kann deshalb nicht meine Zustimmung bekommen. Anlage 9 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 903. Sitzung am 23. November 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung – Gesetz zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2013 (Beitragssatzgesetz 2013) – Zweites Gesetz zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetz zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetz zur Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister und zur Änderung anderer Gesetze Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschließung gefasst: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, Regelungen zu treffen, dass öffentliche Schulen oder staatlich anerkannte Schulen, die unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht stehen, keiner Zulassung gemäß § 176 SGB III bedürfen. Ebenso sollen Maßnahmen in Bildungsgängen, die durch Bundes- oder Landesrecht normiert sind, unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht stehen und zu einem beruflichen Abschluss führen, keiner Zulassung bedürfen. Begründung: Die Umsetzung des Rechtsanspruches für die ein- und zweijährigen Kinder zum 1. August 2013 stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Die Länder unternehmen derzeit alles ihnen mögliche, um die Kommunen bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Neben der finanziellen Beteiligung bei der Schaffung des bedarfsgerechten Betreuungsangebotes gehört hierzu auch die Unterstützung und Durchführung von Maßnahmen, um dem Fachkräftemehrbedarf zu begegnen. Dabei sind sich alle Beteiligten einig, dass unnötige bürokratische Hemmnisse vermieden und da, wo sie bestehen, abgebaut werden müssen. Genutzt werden können hierbei grundsätzlich auch Maßnahmen im Rahmen der Arbeitsförderung. Allerdings bestehen hier nach den bestehenden gesetzlichen Regelungen unnötige bürokratische Hemmnisse, die der Nutzung der Möglichkeiten entgegenstehen beziehungsweise die Durchführung der notwendigen Maßnahmen erheblich verzögern. So könnte der durch den Ausbau des Betreuungsangebotes erhöhte Bedarf an Betreuungspersonal unter anderem durch Umschulungsmaßnahmen gedeckt werden. Diese Maßnahmen werden jedoch von der Bundesanstalt für Arbeit nur dann gefördert, wenn die entsprechenden Bildungseinrichtungen „zertifiziert“ sind, dies gilt gleichermaßen auch für staatlich anerkannte Fachschulen. Diese bürokratischen Hemmnisse gilt es abzubauen. Denn: Nur der staatlichen Schulaufsicht kommt die Garantenstellung für Bildungsgänge zu, die zu einem staatlich anerkannten Abschluss führen. Insoweit unterscheiden sich hier die Rahmenbedingungen von denen staatlich ungeregelter Bildungsangebote. Die derzeitige Verpflichtung zur Zertifizierung auch der Bildungsgänge, die zu staatlich geregelten Abschlüssen führen, erhöht den bürokratischen Aufwand und führt zu höheren Kosten und höherem Zeitaufwand für die öffentliche Hand, ohne zu inhaltlichen Verbesserungen zu führen. Die Qualität der Schulen unter Aufsicht der Länder wird durch die Aufsicht der Länder gewährleistet. Bundes- und landesrechtlich geregelte Bildungsgänge an diesen Schulen unterliegen gleichfalls der Qualitätskontrolle durch die Länder und sollten deshalb ebenfalls von der Zertifizierungspflicht durch die Verordnung über die Voraussetzungen und das Verfahren zur Akkreditierung von fachkundigen Stellen und zur Zulassung von Trägern und Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem Dritten Buch Sozialgesetz (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung – AZAV) befreit werden. Damit ist im SGB III aufzunehmen, dass öffentliche oder staatlich anerkannte Schulen, die unter Aufsicht der staatlichen Schulverwaltung stehen, als Träger von Maßnahmen ohne weitere Prüfung zugelassen sind. Für durch Bundes- oder Landesrecht geregelte Bildungsgänge ist eine Zulassung nicht erforderlich. Die Regelung macht jedoch auch deutlich, dass eigene – nicht bundes- oder landesrechtlich geregelte – Bildungsangebote dieser Schulen selbstverständlich einer Zulassung bedürfen. – Siebtes Gesetz zur Änderung des Weingesetzes – Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung (EU) Nummer 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euro-Raums – Gesetz zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Verkehrsteueränderungsgesetz – VerkehrStÄndG) Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschließung gefasst: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, alle Fahrzeuge mit einem Ausstoß von weniger als 50 Gramm CO2/Kilometer von der Kfz-Steuer zu befreien. Begründung: Die Bundesregierung hat im Regierungsprogramm Elektromobilität vom Mai 2011 den Benchmark für Zukunftstechnologie mit 50 Gramm CO2 je Kilometer festgelegt. Das Ziel des Regierungsprogramms Elektromobilität, die Kraftfahrzeugsteuerbefreiung für reine Elektro-Personenkraftwagen von derzeit fünf auf zehn Jahre zu verlängern sowie auf andere reine Elektrofahrzeuge und Fahrzeuge mit besonders geringen kombinierten Prüfwerten von weniger als 50 Gramm Kohlendioxid-ausstoß je Kilometer zu erweitern, hat das BMVBS im Rahmen des Verkehrsteueränderungsgesetzes in Aussicht gestellt. Mit dem Verkehrsteueränderungsgesetz erfolgte die Umsetzung bezüglich der Steuerbefreiung von Fahrzeugen mit einem CO2-Wert von weniger als 50 g/km jedoch nicht. Der Bundesrat hatte dies bereits in seine Stellungnahme aufgenommen. Die technologieoffene Förderung von Fahrzeugen mit 50 g CO2 je km durch die Befreiung von der Kfz-Steuer ist ein wichtiger Beitrag, um Forschung und Entwicklung hocheffizienter Antriebe, wie auch die Innovationsdynamik bei herkömmlichen Antrieben und den Trend zu immer mehr Hybridfahrzeugen voranzubringen. – Gesetz zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht – Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes sowie zur Änderung des Luftverkehrsteuergesetzes Der Bundesrat hat ferner nachstehende Entschließungen gefasst: 1. Der Bundesrat vertritt die Ansicht, dass aus Gründen der Standortsicherheit der deutschen Wirtschaft Ausnahmeregeln bei der Energie- und Stromsteuer sowie weiteren energie- und klimapolitischen Instrumenten grundsätzlich gerechtfertigt sind. Diese sind jedoch nach Ansicht des Bundesrats ebenso grundsätzlich auf energieintensive Unternehmen zu beschränken, die im internationalen Wettbewerb stehen oder kostenrelevanter spezifischer Teil entsprechender Wertschöpfungsketten sind. Die Regularien müssen dabei so ausgestaltet werden, dass das energiepolitische Zieldreieck „sicher, bezahlbar, umweltverträglich“ durch Ausnahmetatbestände nicht gefährdet wird. Eine genaue Überprüfung der steuer- und sonstigen abgabenrechtlichen Ausnahmetatbestände ist aus Sicht des Bundesrates erforderlich, um Missbrauch auf Kosten für die Allgemeinheit zu verhindern. 2. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss konsequent weiterverfolgt werden. Ziel bleibt eine zuverlässige, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung. Dabei ist der Bundesrat sich bewusst, dass nur ein Teil der steigenden Stromkosten auf den Ausbau der erneuerbaren Energien zurückzuführen ist. Vor diesem Hintergrund und dem gesamtgesellschaftlichen Ziel, den Ausbau der erneuerbaren Energien konsequent weiter zu verfolgen, bittet der Bundesrat darum, die Strompreis treibenden Faktoren außerhalb des EEG zu identifizieren, zu untersuchen und entlastende Ausnahmeregelungen für besondere Unternehmenskreise im Lichte der oben genannten Kriterien zu überprüfen. 3. Der Bundesrat bedauert, dass der Deutsche Bundestag die Änderungen bei der Luftverkehrsteuer mit den Änderungen bei der Energie- und Stromsteuer verknüpft hat, die eine Fortführung der aus Wettbewerbsgründen unverzichtbaren Steuerbegünstigungen für das Produzierende Gewerbe über das Jahr 2012 hinaus sicherstellen sollen. Dadurch ist aus zeitlichen Gründen eine vertiefte Diskussion, welche gesetzgeberische Konsequenzen sich für die Luftverkehrsteuer aus dem Evaluierungsbericht ergeben sollten, den die Schweizer Beratungsgesellschaft INFRAS im Auftrag des Bundesfinanzministeriums erstellt hat, nicht möglich. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sich der Luftverkehr in Deutschland befindet, hält es der Bundesrat für erforderlich, die Branche von der Luftverkehrsteuer zu entlasten. Er fordert die Bundesregierung daher unabhängig von der Unterstützung des Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes sowie zur Änderung des Luftverkehrsteuergesetzes auf, noch in dieser Legislaturperiode ein Gesetz zur Abschaffung der Steuer vorzulegen. Auch wenn in der Fortschreibung des INFRAS-Gutachtens vom 9. Oktober 2012 für den Passagierluftverkehr auch im Jahr 2012 ein Wachstum von 2,7 Prozent prognostiziert wird, findet dieses jedoch ausschließlich auf internationalen Verbindungen statt. Die Passagierzahlen im Inlandsflugverkehr werden nach Einschätzung der Gutachter dagegen um 1,7 Prozent zurückgehen. Dass dies die Auslastung der kleineren internationalen Verkehrsflughäfen beeinträchtigt, die mangels Funktion als internationales Drehkreuz einen höheren Anteil an Inlandsverbindungen aufweisen, liegt auf der Hand. Diese Einschätzung bestätigen auch die Monatsstatistiken des Flughafenverbandes ADV, nach denen sich das Passagierwachstum im Wesentlichen auf die sechs größten internationalen Verkehrsflughäfen konzentriert. Mitverantwortlich für den Rückgang des innerdeutschen Passagierluftverkehrs ist vor allem auch das Low-Cost-Segment, in dem das Streckenangebot gegenüber dem Vorjahr nochmals deutlich reduziert wurde. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt sieht dies in seinem Low-Cost-Monitor 2/2012 als eine Folge der im Jahr 2011 eingeführten Luftverkehrsteuer, die bei Inlandsverbindungen auf den Hin- und Rückflug erhoben wird, so dass sie eine massive Zusatzbelastung darstellt. Gerade der Inlandsluftverkehr reagiert aufgrund niedriger Margen empfindlich auf zusätzliche Kostenfaktoren. Dass die Luftverkehrsteuer die Entwicklung des Luftverkehrs in Deutschland im Jahr 2011 beeinträchtigt hat, bestätigt auch das INFRAS-Gutachten – 2 Millionen weniger Passagiere ist die ernüchternde Bilanz des deutschen Alleinganges. Diese Wachstumsdelle wird absehbar auch im Jahr 2012 nicht aufgeholt werden können. Vielmehr findet ein nach Einschätzung der Gutachter reguläres Wachstum ausgehend von einem niedrigeren Niveau statt, so dass der Schaden für den Luftverkehrsstandort bleibt. Mittel- und langfristig führt die Luftverkehrsteuer zu einer nachhaltigen Schwächung der deutschen Luftverkehrswirtschaft, da deutsche Fluggesellschaften, bedingt durch den hohen Anteil an Abflügen von inländischen Flughäfen am gesamten Flugangebot, höher belastet werden als die ausländische Konkurrenz. Insoweit besteht ein größerer Druck zur Weitergabe dieser Zusatzkosten an die Passagiere. Ausländische Fluggesellschaften mit einem geringeren Anteil an Anflügen von inländischen Flughäfen können die luftverkehr-steuerinduzierten Zusatzkosten dagegen leichter abfangen, was ihnen einen Wettbewerbsvorteil verschafft. – Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften – Gesetz zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen (Wissenschaftsfreiheitsgesetz – WissFG) Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschließung gefasst: a) Der Bundesrat nimmt die Klarstellung der Bundesregierung in Bundestagsdrucksache 17/10123, wonach sich das WissFG ausschließlich auf haushaltsrechtliche Vorgaben des Bundes bezieht, die im Bereich der gemeinschaftlich auf der Grundlage von Artikel 91b des Grundgesetzes finanzierten Einrichtungen einer zwischen Bund und -Ländern einvernehmlichen Umsetzung in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz bedürfen, zustimmend zur Kenntnis und fordert darüber hinaus eine zwischen Bund und Ländern einvernehmliche Umsetzung des WissFG auch für die Mitglieds-einrichtungen der Hermann von Helmholtz--Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren im Ausschuss der Zuwendungsgeber und für die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung im Ausschuss Fraunhofer-Gesellschaft. b) Der Bundesrat teilt die Auffassung des Bundesrechnungshofes, dass das WissFG wesentliche Fragen des Bund-Länder-Verhältnisses berührt. Er sieht daher das Einvernehmen mit den Ländern auch in solchen Bereichen für unerlässlich an, in denen der Bund einen überwiegenden Finanzierungsbeitrag leistet. c) Der Bundesrat erklärt, dass die Länder für Gespräche über einvernehmliche Umsetzungen zur Verfügung stehen und den Vorschlägen des Bundes für erweiterte haushaltswirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten im Bereich von Artikel 91b des Grundgesetzes entgegensehen. Allerdings müssen größere Freiräume der Wissenschaftsorganisationen mit spezifischen Zielvereinbarungen und konkreter Erfolgskontrolle einhergehen. d) Unter dieser Prämisse nimmt der Bundesrat in Aussicht, dass die Länder im Rahmen der Abstimmungen in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, im Ausschuss der Zuwendungsgeber -sowie im Fraunhofer-Ausschuss Deckungsfähigkeiten und überjährige Verfügbarkeit öffentlicher Mittel in einem großzügigen, nicht unrealistischen und mit den haushaltsmäßigen Vorgaben der Länder übereinstimmenden Rahmen zulassen. e) Eine Besserstellung der Bediensteten von gemeinsam nach Artikel 91b des Grundgesetzes finanzierten Wissenschaftsorganisationen ist auch aus Mitteln, die weder unmittelbar noch mittelbar von der deutschen öffentlichen Hand finanziert werden, davon abhängig, dass eine kostensteigernde Auswirkung auf die Vergütungen im öffentlich geförderten Bereich ausgeschlossen und durch die Besserstellung eine messbare Leistungsverbesserung bewirkt wird. Dabei sind auch betragsmäßige Vergütungsobergrenzen festzulegen und erhöhte Verwaltungskosten zu vermeiden. – Gesetz für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandverwendung der Bundeswehr – Gesetz über die weitere Bereinigung von Übergangsrecht aus dem Einigungsvertrag – Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung – Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften – Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes – Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung und anderer Gesetze – Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2013 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2013) – Gesetz zur Einrichtung einer Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom und Gas – Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung (EU) Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten – Gesetz zu dem Abkommen vom 17. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen – Gesetz zu dem Freihandelsabkommen vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes Der Bundesrat hat in seiner 903. Sitzung am 23. November 2012 gemäß § 5 Absatz 1 des Bundesrechnungshofgesetzes Herrn Christian Ahrendt, MdB, zum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes gewählt. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Interparlamentarischen Union 126. Versammlung der Interparlamentarischen Union vom 31. März bis 5. April 2012 in Kampala, Uganda – Drucksachen 17/10722, 17/11097 Nr. 1.4 – – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer 6. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer vom 12. bis 14. März 2010 in Amman, Jordanien – Drucksachen 17/10927, 17/11428 Nr. 1.2 – – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum 7. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum vom 3. bis 4. März 2011 in Rom, Italien – Drucksachen 17/10928, 17/11428 Nr. 1.3 – – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum 8. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum vom 24. bis 25. März 2012 in Rabat, Marokko – Drucksachen 17/10929, 17/11428 Nr. 1.4 – Finanzausschuss – Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über die umsatzsteuerliche Behandlung der Leistungen von Kreditfabriken – Drucksachen 17/9283, 17/9616 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Steuerbegünstigung für Biokraftstoffe 2011 – Drucksachen 17/10617, 17/10879 Nr. 3 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft Dokumentennummer und Verbraucherschutz Drucksache 17/11439 Nr. A.9 Ratsdokument 14571/12 Drucksache 17/11439 Nr. A.10 Ratsdokument 14635/12 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 17/11108 Nr. A.18 Ratsdokument 13457/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.19 Ratsdokument 13715/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.20 Ratsdokument 13806/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.21 Ratsdokument 13908/12 Drucksache 17/11242 Nr. A.11 Ratsdokument 14333/12 Anlagen 1Anlagen 2 bis 8 2Ergebnis Seite 25591 C ______ ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung, Berlin, Freitag, den 30. November 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung, Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26051 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 38. Sitzung – 4. April 2003 4 26072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung, Berlin, Freitag, den 30. November 2012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung, Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26071