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Nach dem Bundespräsidenten ist er der höchste Repräsentant der deutschen Demokratie: Der Bundestagspräsident - protokollarisch der "zweite Mann im Staate". Mag seine politische Macht auch begrenzt sein, so genießt sein Amt doch höchstes Ansehen. Sein Wort hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die zehn Männer und zwei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. Philipp Jenninger, neunter Bundestagspräsident vom 5. November 1984 bis zum 11. November 1988.
Der Weggefährte und Vertraute Helmut Kohls (CDU) ist Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und Kanzleramtsminister, bevor er im November 1984 zum Bundestagspräsidenten gewählt wird: Dr. Philipp Jenninger (CDU). Er folgt Dr. Rainer Barzel (CDU) im Amt, als dieser wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit der "Flick-Affäre" zurücktritt.
Jenninger setzt sich für Reformen ein, die die Parlamentsarbeit lebendiger gestalten sollen. Große Anerkennung finden auch zwei Reisen, die er als Bundestagspräsident nach Israel unternimmt. Seine unglücklich vorgetragene Rede zum 50. Jahrestag der Reichpogromnacht löst allerdings 1988 einen Eklat aus. Jenningers Integrität steht zwar außer Frage, doch der Druck der Ereignisse zwingt ihn zur Aufgabe seines Amts.
Philipp Jenninger wird am 10. Juni 1932 im schwäbischen Rindelbach geboren. Das Elternhaus ist katholisch. Politisch steht Jenningers Vater, ein Buchdruckermeister, der Zentrumspartei nahe, weswegen er in der NS-Zeit auch immer wieder Schikanen ausgesetzt ist. Jenningers ältere Brüder Albert und Willi fallen als Soldaten im Zweiten Weltkrieg.
Er selbst beginnt nach seinem Abitur 1952 Rechtswissenschaften in Tübingen zu studieren.1955 legt er das erste Staatsexamen ab, zwei Jahre später promoviert er mit einer Arbeit über "Die Reformbedürftigkeit des Bundesverfassungsgerichts". 1959 folgt schließlich das zweite Staatsexamen.
Bereits 1960 gelingt Jenninger der Einstieg als Dezernent in die Wehrbereichsleitung V in Stuttgart. 1963 wechselt der junge Jurist ins Bundesverteidigungsministerium nach Bonn. Erste politische Erfahrungen kann er von 1964 bis 1966 als Referent und Pressereferent des Bundesministers für besondere Aufgaben, Heinrich Krone, sammeln.
Danach wird Jenninger Referent des damaligen Bundesfinanzministers Franz-Josef Strauß (CSU), der ihn fördert. 1969 zieht Jenninger selbst als Abgeordneter in den Bundestag ein. Er gewinnt - wie bei allen folgenden Bundestagswahlen bis zu seinem Rückzug aus der Politik - seinen Wahlkreis direkt (erst Crailsheim, dann Schwäbisch Hall).
1973 wird Jenninger einer der Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU - Fraktion. Der gebürtige Schwabe, sachkundig und entscheidungsfreudig, gilt als politisches Talent. Als im Januar 1975 der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Leo Wagner zurücktritt, wird Jenninger sein Nachfolger. Schnell erweist er sich als erfolgreicher Koordinator der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Er erwirbt sich aber nicht nur in der eigenen, sondern auch in anderen Fraktionen Ansehen: "So geschickt er die Geschäftsordnung und andere parlamentarische Instrumente zu nutzen wusste, kaum einer hat sich von ihm getäuscht oder überfahren gefühlt, auch wenn der Schwabe Jenninger durchaus robust zu argumentieren versteht und manchmal sogar von cholerischen Anflügen nicht frei war", so schreibt die "Zeit" 1982 über Jenninger.
Besonders Helmut Kohl schätzt seine Fähigkeiten. Als Jenninger 1976 das Amt des Parlamentarischen Geschäftsführers aufgeben will, ist es der damalige Unions-Fraktionsvorsitzende, der ihn zum Bleiben bewegt.
Jenninger wird zum engen Vertrauten des Oppositionsführers. Schwabe und Pfälzer stehen sich nach "Wesen und Lebensart so nahe - bis hin zur Wertschätzung der kulinarischen Genüsse der Welt", so die "Zeit". Selbst gefastet wird in späteren Jahren gemeinsam in Österreich.
Nach der politischen Wende im Oktober 1982 holt Kohl seinen loyalen Duzfreund ins Kanzleramt: Jenninger wird Staatsminister und ist von da an für die Deutschlandpolitik zuständig. Eine Aufgabe, der er sich mit großem Einsatz widmet.
Fingerspitzengefühl beweist er zudem bei den Verhandlungen um einen 950 Millionen-DM-Kredit für die DDR, der im Juli 1984 zustande kommt und mit dem Erleichterungen im Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Teilstaaten erreicht werden.
Als überraschend Ende Oktober 1984 Vorwürfe gegen Bundestagspräsident Dr. Rainer Barzel (CDU) im Zusammenhang mit der Flick-Parteispenden-Affäre erhoben werden, kommt Jenningers Stunde: Am 5. November 1984 wählt ihn der Bundestag mit großer Mehrheit zum neuen Mann an der Spitze des Parlaments.
In seiner Antrittsrede demonstriert er Bescheidenheit: "Der Erste in diesem Hause zu sein, bedeutet für mich nicht besondere Würde und Glanz, sondern vorbildliche Arbeit und Dienst für unser Volk." In diesem Sinne bemüht sich Jenninger um Parlamentsreformen. So führt der Bundestag unter seiner Ägide das Instrument der Regierungsbefragung ein.
Um die Debatten lebendiger zu gestalten, wird es den Abgeordneten zudem erlaubt, während einer Debatte nicht nur Zwischenfragen zu stellen, sie können nun auch mit Kurzinterventionen zu Wort zu kommen.
Beachtung findet Jenninger als Bundestagspräsident vor allem auch für seine Reisen nach Israel, zuletzt im Mai 1988. Es ist nicht ohne Tragik, dass Jenninger nur wenige Monate später ausgerechnet mit einer Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht einen Skandal auslöst, der ihn zum Rücktritt zwingt. In seiner 45-minütigen Ansprache bei einer Gedenkstunde im Bundestag am 10. November 1988 versucht er eine Erklärung der historischen Ereignisse.
Im gesprochenen Wort wird jedoch - anders als bei einer Lektüre des Redetextes - die Distanzierung gegenüber dem Geschilderten nicht ausreichend deutlich. - etwa wenn vom Nationalsozialismus als "Faszinosum" die Rede ist. Jenningers Integrität steht außer Frage, doch die heftigen Proteste in der Öffentlichkeit und im Kreis der Abgeordneten stellen seinen Verbleib im Amt des Bundestagspräsidenten infrage.
Mit dem Bedauern, Gefühle verletzt zu haben tritt Jenninger am 11. November 1988 zurück. 1995 nennt der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" Jenningers Rede "über weite Strecken hervorragend", aber "rhetorisch miserabel gehalten". Ein Rücktritt sei aber - "wenn es nach uns gegangen wäre" - nicht notwendig gewesen.
Jenninger bleibt bis zum Ende der Legislaturperiode Bundestagsabgeordneter. Doch die Enttäuschung über den mangelnden Rückhalt in seiner Partei veranlasst ihn schließlich, sich für die Bundestagswahl 1990 nicht mehr als Kandidat aufstellen zu lassen. Jenninger wechselt in die Diplomatie: 1991 geht er als deutscher Botschafter nach Wien, anschließend ist er von 1995 bis zu seiner Pensionierung 1997 deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom.
Im Auswärtigen Amt schätzt man ihn wegen seiner "unaufdringlichen Lernbereitschaft, Sachlichkeit und Arbeitskraft", wie die Berliner Zeitung 1995 schreibt. Nur einmal noch scheint Jenninger die Vergangenheit einzuholen: Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages gerät in die Kritik, als er 1997 für die Präsidentschaft des Instituts für Auslandsbeziehungen kandidiert.
Vorgeworfen wird ihm, dass er 1976, als er Parlamentarischer Geschäftsführer in Bonn war, bei einer Ausstellung zwei Plakate des Grafikers Klaus Staeck von der Wand gerissen hat. Eine Montage, die ein Foto politischer Gefangener in Chile mit den Auffassungen der CDU in Verbindung brachte, hatte Jenninger als Beleidigung empfunden. Dieser wehrt sich gegen die Vorwürfe, zieht aber schließlich die Kandidatur zurück.
Jenninger lebt heute zusammen mit seiner Frau Ina, mit der er seit 1964 verheiratet ist und einen Sohn hat, in Stuttgart.