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Über Nacht war die deutsche Einheit einen großen Schritt nähergerückt. Als Helmut Kohl am Morgen des 23. August 1990 vor das Rednerpult im Bonner Plenarsaal trat, schien er äußerst zufrieden. "Der 23. August 1990 ist ein Tag der Freude für alle Deutschen", betonte der Bundeskanzler feierlich. In einer Nachtsitzung hatte die DDR-Volkskammer kurz zuvor nach Wochen zäher Verhandlungen den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für den 3. Oktober 1990 erklärt. Eine breite Mehrheit, 294 der 363 anwesenden Abgeordneten, votierte in der nächtlichen Abstimmung mit Ja.
Geschlossene Ablehnung kam allein aus den Reihen der PDS-Fraktion. Eines ihrer Mitglieder trat nach Bekanntgabe des Ergebnisses zornig ans Rednerpult. "Das Parlament", hob Gregor Gysi an, "hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik beschlossen." Aus den Reihen der CDU und SPD brandete Applaus auf. "Ich bedaure", fuhr Gysi fort, "dass der Einigungsprozess zum Anschluss degradiert ist".
Der "Anschluss" indes war vielmehr ein Beitritt gemäß des damals geltenden Artikels 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik, über den schon das Saarland 1957 in den Kreis der Bundesländer getreten war. Dieser Weg schien, neben der Ausarbeitung einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung, der weniger langwierige und angesichts des Zeitdrucks, vor den sich der Vereinigungsprozess in jeder seiner Phasen gestellt sah, auch der einzig realistische.
Von der Richtigkeit dieses Weges überzeugt sahen sich auch alle übrigen im ostdeutschen Parlament vertretenen Parteien, die sich schon zur ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 für einen Betritt gemäß Artikel 23 ausgesprochen hatten und - dennoch oder gerade deshalb - gewählt worden waren.
Mit der Ausarbeitung eines Einigungsvertrags, der die Einzelheiten des Beitritts regeln sollte, hatte man bereits im Mai begonnen. Eine erste Skizze übergab Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der für die Bundesrepublik die Verhandlungen führte, Ende des Monats an seinen künftigen ostdeutschen Verhandlungspartner, den Parlamentarischen Staatssekretär und CDU-Fraktionsvorsitzenden Günther Krause.
Als die deutsch-deutschen Verhandlungen am 6. Juli offiziell begannen, war Deutschland zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht schon geeint und auch die D-Mark, die bis in den Sommer 1990 noch Zehntausende Ostdeutsche in die Bundesrepublik gelockt hatte, war schon offizielles Zahlungsmittel auch in der DDR.
Während so die gröbsten wirtschafts- und währungspolitischen Angelegenheiten geregelt waren, standen Antworten auf die Frage der politischen Einheit noch aus. An Streitpunkten sollte es dabei nicht mangeln: die Neuordnung der Finanzen zwischen Bund und Ländern gehörte ebenso dazu wie die künftige Stimmenverteilung im Bundesrat und nicht zuletzt die Hauptstadtfrage.
Dass Berlin der neue Sitz von Regierung und Parlament werden würde, war keineswegs unumstritten. Im Gegenteil: Während die DDR und die meisten der westdeutschen Bundesländer Berlin befürworteten, kam Widerstand aus Nordrhein-Westfalen, das Bonn als Sitz der Verfassungsorgane behalten wollte.
Das bevölkerungsreichste der Bundesländer konnte für sich schließlich zumindest einen Teilerfolg verbuchen: "Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung", hieß es später im Einigungsvertrag, "wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden". Erst ein Jahr später, am 20. Juni 1991, stimmte der Bundestag für Berlin.
Nach nur siebenwöchigen Verhandlungen war man Ziel. In den Mittagsstunden des 31. August 1990 trafen sich die Verhandlungsführer beider deutschen Staaten, Schäuble und Krause, im Ost-Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden, um ihre Unterschriften unter das Vertragswerk zu setzen.
Es sah unter anderem die Bildung der fünf neuen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern vor und erklärte den 3. Oktober 1990 zum gesetzlichen Feiertag, der den 7. Oktober in der DDR und den 17. Juni in der Bundesrepublik ablösen sollte.
Auch die Präambel des Grundgesetzes erhielt durch den Einigungsvertrag einen neuen Akzent: "Von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben." Dies aber war vor allem als Signal an das Ausland zu lesen. Man unterstrich damit die Kontinuität deutscher Außenpolitik. Niemals wieder sollte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen.
Mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit passierte der Einigungsvertrag am 20. September 1990 die DDR-Volkskammer, Bundestag und Bundesrat. Im ostdeutschen Parlament votierten 299 Abgeordnete mit Ja. Die 80 Nein-Stimmen kamen von der PDS und den Mitgliedern der neugegründeten Fraktion Bündnis90/Die Grünen.
Auch bei der Abstimmung im Bundestag sprachen sich die Grünen, gemeinsam mit 13 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, gegen den Vertrag in seiner vorgelegten Fassung aus. Dort lautete das Stimmverhältnis 440 zu 47 bei drei Enthaltungen. Das Votum des Bundesrates indessen war einstimmig.
Die Ablehnung des Einigungsvertrags durch seine Fraktion begründete der Bündnis 90-Politiker Konrad Weiß vor der Volkskammer mit dem Katalog ungenügend oder überhaupt nicht geregelter Punkte, "der zu lang ist, um ihn hier vorzutragen".
So sei - als einer unter vielen Mängeln - keine abschließende Regelung für die im Nationalsozialismus zwangsweise "arisierten" und nach 1945 vom SED-Staat übernommenen Grundstücke und Gebäude getroffen worden.
Geradezu beschämend und unmoralisch aber sei, dass viele, die in der Vergangenheit durch die SED und ihre Helfershelfer verfolgt wurden, keinen Anspruch auf Entschädigung hätten. "Anspruch auf die Rehabilitierung haben nur jene, die verurteilt worden sind. Was wird aus denen, die monatelang ohne Verurteilung in den Gefängnissen der Staatssicherheit zugebracht haben?" In dieser Frage habe der Krämergeist über die Gerechtigkeit gesiegt.
Der CDU-Politiker und Verhandlungsführer Günther Krause verteidigte das Vertragswerk im Gegenzug und betonte die in den Nachverhandlungen erzielten Ergänzungen. Zu diesen zählte vor allem das Gesetz über die Stasi-Akten, das den Bürgern das Recht auf Auskunft gewährte. Natürlich, so räumte Krause ein, sei die Frage strittig, "inwieweit in den Verhandlungen das Erreichbare erreicht worden ist". Doch klar sei auch, dass die DDR durch den Vertrag der Bundesrepublik "in einer geordneten Form" beitreten könne.
Damit stand von deutsch-deutscher Seite einem Betritt zum 3. Oktober 1990 nichts mehr im Wege. Allein, die letzte Entscheidung in dieser Angelegenheit fiel nicht in Bonn oder Ost-Berlin. Sie fiel in Washington, Moskau, Paris und London: das letzte Wort hatten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. (rad)