Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2010 > Stuttgart 21
Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen hat es der Bundestag am Freitag, 1. Oktober 2010, abgelehnt, eine Debatte über die Vorkommnisse bei der Demonstration gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" vom Vortag kurzfristig auf die Tagesordnung zu setzen. Die Oppositionsfraktionen hatten für den Geschäftsordnungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, für den allerdings eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen wäre, wie der amtierende Bundestagspräsident Dr. Hermann Otto Solms (FDP) in der Sitzung unterstrich.
Britta Haßelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, sprach von Hunderten Verletzen und von einer Eskalation der Auseinandersetzung um das umstrittene Bauvorhaben. Der Bundestag müsse sich mit dem Thema beschäftigen, der Verweis auf die Zuständigkeit der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg reiche nicht aus. Der Bund gebe Geld für das Projekt, die Deutsche Bahn AG sei in der Verantwortung für die Planungen.
Mit dem Polizeieinsatz und unmittelbarem Zwang sei dieses Projekt nicht durchzusetzen, sagte Haßelmann. Der Bundestag müsse deshalb debattieren, welchen Beitrag die Deutsche Bahn leisten müsse, um die eskalierte Situation in Stuttgart zu befrieden.
Peter Altmaier, Erster parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, sprach allen Verletzten - Demonstranten, Unbeteiligten, Polizistinnen und Polizisten - die Genesungswünsche aus. Im Übrigen verwies er darauf, dass Geschäftsordnungsanträge zur Änderung der Tagesordnung am Vortag bis 18 Uhr dem Präsidenten vorgelegt werden müssten, die Grünen hätten ihren Antrag aber erst um 20.44 Uhr präsentiert.
Auch sei es eine Frage des "demokratischen Respekts", dem Landtag von Baden-Württemberg Gelegenheit zu geben, die Dinge zu klären. Er wundere sich, sagte Altmaier, dass die Grünen aus einer Distanz von 700 Kilometern feststellen könnten, ob der Polizeieinsatz verhältnismäßig war oder nicht. Schließlich sei die Union nicht bereit, eine Debatte zu führen mit der Folge, dass dadurch nicht deeskaliert, sondern weiter eskaliert werde.
Unterstützung für den Antrag der Grünen signalisierte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Christian Lange. "Stuttgart 21 kann man nicht mit Gewalt durchknüppeln". Die Frage sie, wie man einer Spirale der Gewalt entkomme.
Die baden-württembergische SPD habe eine Volksabstimmung vorgeschlagen, Union und FDP im Landtag sollten den Weg dafür freimachen. Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech (CDU) solle zurücktreten, forderte Lange.
Für die FDP betonte der parlamentarische Geschäftsführer Jörg van Essen, unmittelbar nach den Ereignissen gebe es kein klares Lagebild. Auch sollte die parlamentarische Aufarbeitung dem Landtag überlassen bleiben: "Wir lassen nicht zu, dass der Föderalismus auf den Kopf gestellt wird."
In Hamburg würden demnächst 280 Bäume gefällt, weil die grüne Verkehrssenatorin dies so wolle - dazu gebe es keinen Geschäftsordnungsantrag im Bundestag. "Wir sorgen für die Zukunft der Bahn", sagte van Essen unter Hinweis auf das bevorstehende 175-jährige Jubiläum der Eisenbahn in Deutschland.
Dr. Dagmar Enkelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, forderte einen Baustopp bei "Stuttgart 21". Das Thema gehöre auf die heutige Tagesordnung, weil auch Bundespolizisten im Einsatz gewesen seien.
Der Linken sei das Thema so wichtig, dass sie auf die heutige Beratung ihres Antrags zur "Rente mit 67" verzichten würde.
Der Innenausschuss des Bundestages wird sich am Mittwoch, 6. Oktober, erneut mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen vom 30. September befassen, wie das Gremium in einer von der Linksfraktion beantragten Sondersitzung am Freitag, 1. Oktober, beschloss.
Die Koalitionsfraktionen betonten dabei ebenso wie die SPD, dass eine seriöse Erörterung der Vorgänge so kurz nach den Vorfällen nicht möglich sei.
Ein Vertreter des Bundesinnenministeriums nannte es "bedauerlich“, wenn es bei Polizisten und Demonstranten zu Verletzungen gekommen sei. Er mahnte zugleich, Gewalt nicht zu verharmlosen. Dies gelte für beide Seiten. Derzeit sei nicht zu beurteilen, welche konkreten Gewaltanwendungen es gegeben habe.
Nach seinen Angaben gibt es im Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei auf dem Stuttgarter Bahnhofsgelände "keine besondere Vorkommnisse“. Die Bundespolizei habe die Landespolizei im Rahmen der Amtshilfe mit etwa 200 Beamten unterstützt, die der Landespolizei unterstellt gewesen seien. Drei Beamte der Bundespolizei seien bei der Räumung durch Fremdverschulden verletzt worden. Sie hätten nach Fußtritten und Faustschlägen Prellungen erlitten.
Die Fraktion Die Linke äußerte deutliche Kritik am Vorgehen "gegen Schüler und Rentner“ in Stuttgart und sprach von einem "brutalen Polizeieingreifen“. Sie erkundigte sich danach, ob das Innenministerium den Einsatz verhältnismäßig finde. Auch wollte sie wissen, auf welcher Grundlage beschlossen worden sei, den besetzten Schlosspark räumen zu lassen.
Bündnis 90/Die Grünen kritisierten, in Stuttgart habe die Politik "den Bürgern den Fehdehandschuh“ hingeworfen. Auf Videoaufnahmen vom 30. September sei zu sehen, dass es sich um friedliche Demonstranten gehandelt habe. Es habe eine "neue Qualität“, dass gegen Schüler so vorgegangen werde wie gegen militante Autonome.
Die SPD-Fraktion betonte, man müsse sich auf einer „soliden Faktenlage“ mit dem Polizeieinsatz befassen. "Über Nacht“ sei dies aber nicht möglich. Am Mittwoch kommender Woche werde der Ausschuss vertieft über die Vorgänge diskutieren. Ähnlich äußerte sich die FDP. Es sei unmöglich, etwa zwölf Stunden nach den Vorfällen eine seriöse Bewertung vorzunehmen.
Die CDU/CSU-Fraktion nannte es „Polittheater“, dieses Thema zum jetzigen Zeitpunkt zu behandeln. Dies müsse seriös in der nächsten Ausschusssitzung erfolgen. (vom/sto)