Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2010 > Bewertung Afghanistan-Einsatz
Unter dem Eindruck der wachsenden Skepsis der Bevölkerung gegenüber dem Afghanistan-Einsatz und einer forciert geführten Abzugsdiskussion hat sich der Auswärtige Ausschuss unter Vorsitz von Ruprecht Polenz (CDU/CSU) am Dienstag, 23. November 2010, in einer öffentlichen Anhörung zum Thema "Kriterien zur Bewertung des Afghanistan-Einsatzes“ befasst. In den Stellungnahmen der Gutachter wurde die Ungewissheit über die weiteren Perspektiven bis zur Übergabe der Verantwortung an die afghanische Seite deutlich. Die Gutachter waren sich darin einig, dass die Mindestanforderungen, die an die Effizienz und die Legitimität der afghanischen Institutionen gestellt werden müssen, nur partiell von der Regierung in Kabul erfüllt werden.
Gäbe es Schulnoten für Präsident Karsais Bemühungen um eine "bessere Regierungsführung“, so Citha D. Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, würde er die Note sechs erhalten. Exemplarisch seien die enge Verflechtung mit der Drogen- und Schattenwirtschaft und die in großem Stil gefälschten Wahlen, mit deren Ergebnis sich der Westen abgefunden habe. Die Bindung an Karsai, über den man inzwischen die Kontrolle verloren habe, sei damit unabwendbar.
Da damit zu rechnen sei, dass der Übergabeprozess die Konsolidierung von informellen Patronagenetzwerken von Präsident Karsai und der von ihm kooptierten Machthaber begünstigen wird, könnten auch Reformen immer weniger von außen, also durch die internationalen Geber, eingefordert werden. Deshalb solle der Schwerpunkt auf die Stärkung von innerafghanischen Reformkräften gelegt werden, die in einem generationenlangen Prozess Veränderungen "von innen“, aus der afghanischen Gesellschaft heraus, einfordern.
Mangels einer formalen Rolle von politischen Parteien seien "Reformkräfte“ in einem breiten gesellschaftlichen Sinne zu definieren: junge Afghanen und Afghaninnen, wirtschaftlich überlebensfähige afghanische Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen, aufgeschlossene Parlamentarier und Parlamentarierinnen, aber auch traditionelle Autoritäten wie etwa reformorientierte Dorf- und Stammesälteste und Geistliche ("Reform-Mullahs“).
Babak Khalatbari von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Islamabad hielt gleichwohl eine Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Kräfte im Jahr 2011 schon in bis zu zehn Provinzen für möglich. Der Idee, einen Fonds für integrationswillige Militante aufzulegen, stehe er allerdings skeptisch gegenüber.
Schon jetzt mache sich unter afghanischen Soldaten und Polizisten ein gewisser Unmut bemerkbar. Es werde hinterfragt, warum reumütige Radikalislamisten mit finanziellen Anreizen bedacht werden, wenn gleichzeitig Staatsdiener täglich ihr Leben für ein Monatsgehalt von rund hundert Dollar riskierten. Ein mögliches Versagen der afghanischen Armee und der Polizeikräfte, die in Zukunft eine Schlüsselrolle in Afghanistan einnehmen sollen, könnte den Kollaps des Landes zur Folge haben, sagte der Sachverständige.
Entgegen Babak Khalatbari sahen Citha D. Maaß und Jan Koehler vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin den Zenit der Machtentfaltung der Taliban längst nicht überschritten. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei verwies auf das offenbar unerschöpfliche Reservoir der Taliban, deren Kämpfer immer jünger und immer radikaler seien und mit dem gesteigerten Operationstempo mithalten könnten.
Im nächsten Frühsommer, so Nachtwei, schlage die Stunde der Wahrheit, und es werde sich erweisen, ob sich die jüngsten Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft gelohnt haben.
Übereinstimmend wurde die jüngst erfolgte Strategie der "Decapitation“, der Tötung oder Gefangennahme von Taliban-Kommandeuren auf mittlerer Ebene durch Spezialkommandos als kontraproduktiv bewertet, da damit nicht nur eine Vielzahl neuer Kämpfer nachwachsen würde, sondern potenzielle Verhandlungspartner abhanden kämen.
Im übrigen stehe die Forderung an die Taliban, bei einer Machtbeteiligung eine gewisse "Rote Linie“ - Verfassung, Menschenrechte, Rechte der Frauen - nicht zu überschreiten, unverkennbar zur Disposition - wobei, so Jan Koehler, die Menschenrechte nicht nur von den Taliban, sondern von erheblichen Kräften in Karsais Regierung in Frage gestellt würden.
Das Projekt einer Evaluierung des politisch-militärisch-zivilen Afghanistan-Einsatzes sahen alle Sachverständigen als überfällig an, wiesen aber zugleich aber auf die erheblichen methodischen Probleme des von der Bundesregierung vorgelegten Kriterienkatalogs bei einer Bewertung der Wirksamkeit des deutschen und internationalen Engagements und damit des Sinns des Einsatzes hin. (rp)