Navigationspfad: Startseite > Der Bundestag > Präsidium > Reden des Präsidenten > 2012 > Rede zum "Tag der Deutschen Einheit" am 3. Oktober 2012 in München
Wir sind das Volk. Wir sind Deutschland. Wir sind Europa.
"Wir sind Europa": mit diesem Titel sorgte ein Manifest prominenter Persönlichkeiten im Frühjahr für Aufsehen. "Wir sind Europa". Das erinnert – sicher nicht zufällig – an den Ruf "Wir sind das Volk".
Aus diesem Selbstbewusstsein wuchs vor 23 Jahren, worauf wir heute am Nationalfeiertag mit Stolz und Dankbarkeit blicken: ein freies, vereintes, demokratisches Deutschland. Mutige Bürger rissen 1989 die Mauer nieder, stürzten eine Diktatur. Unterstützt und mitgetragen von Freunden und Partnern in Europa und darüber hinaus ebneten die damals politisch Verantwortlichen entschlossen und zugleich besonnen den Weg zur deutschen Einheit. Seit dem 3. Oktober 1990 gestalten wir sie gemeinsam, Menschen in Ost und West, Frauen und Männer, hier Geborene und Zugewanderte. Sicher, manches bleibt noch zu tun, aber die Erfolge und Errungenschaften der deutschen Einheit sind deutlich sichtbar. Sie werden von unseren Nachbarn und vielen Beobachtern in der ganzen Welt meist stärker wahrgenommen und gewürdigt als hierzulande.
In Europa müssen wir heute keine Mauern mehr zum Einsturz bringen, aber um Europa zu vereinigen, braucht es wiederum besonnene und weitsichtige Politik – und Bürgerinnen und Bürger, die sich für die gemeinsame Idee Europa engagieren.
"Wir sind das Volk", dichtete Ferdinand Freiligrath 1848 in den Tagen der deutschen Revolution. Wir sind ein Volk, heißt es seit dem 3. Oktober 1990. Dazwischen liegen anderthalb Jahrhunderte schwieriger deutscher Geschichte im Ringen um Einigkeit und Recht und Freiheit. Wir Deutsche hatten unsere Geschichte nie für uns allein. Von mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa umgeben, waren die Deutschen immer auch von den Entwicklungen in den Nachbarländern und diese von den Ereignissen in Deutschland direkt und indirekt betroffen. Das gilt nicht nur für das unvorstellbare Leid, das von unserem Land in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausging. Auch die glücklichsten Momente der deutschen Nachkriegsgeschichte, der Fall der Mauer und die deutsche Einheit, haben eine europäische Dimension. Ohne die Überwindung der Spaltung Europas wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit unseres Landes war umgekehrt Voraussetzung für das Zusammenwachsen Europas in einer Union west-, mittel- und osteuropäischer Staaten. Unser besonderer Dank gilt deshalb unseren Nachbarn, den ausländischen Freunden und Partnern, ohne die wir heute nicht den Geburtstag des wiedervereinigten Deutschlands begehen könnten.
"Wir sind Deutschland." Stärker vielleicht noch als andernorts wird uns in Bayern bewusst: Deutschland, das ist gelebte Vielfalt. Heimat ist überall, aber überall anders. Nur in München findet Jahr für Jahr rund um den Nationalfeiertag über ganze zwei Wochen das größte Volksfest der Republik statt. Anderswo wird schon morgen die Arbeit wieder aufgenommen – damit der Vorsprung der Bayern nicht zu groß wird. Bayern und Brandenburger, Franken und Friesen, Rheinländer und Westfalen, Thüringer und Pfälzer, Hessen und Württemberger: Jede Landsmannschaft hat ihre Geschichte, ihre eigene Identität, hat besondere Talente und beachtlichen Tatendrang. Manchmal muss man daran erinnern, was doch eigentlich alle ganz genau wissen: Zusammen sind sie stärker als jede für sich allein, erst zusammen bilden sie Deutschland. Vierzig Jahre einer Teilung, 28 Jahre einer menschenverachtenden Mauer, die das Land, Gemeinden, Familien trennte, konnten nicht das Gefühl außer Kraft setzen, zusammenzugehören. Am 3. Oktober 1990 war allen bewusst, was heute – zum Glück – als schiere Selbstverständlichkeit gilt: Gemeinsam können wir mehr aus unseren Möglichkeiten machen, frei und einig durch eine Verfassung, die das Recht garantiert, Parlamente und Regierungen zu wählen und abzuwählen und so das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben gezeigt, zu welch beispielloser gelebter Solidarität wir Deutsche fähig sind. Diese Erfolgsgeschichte des Zusammenwachsens und das zusammen Wachsen sind auch eine Botschaft für Europa.
Deutschland – Europa: Das sind schon lange keine Gegensätze mehr. Es sind zwei Betrachtungen des gleichen Sachverhaltes. Wir sind deutsche Europäer, der Zusammenführung Europas nicht weniger verpflichtet als der Einheit unseres Landes. Das eine erscheint uns heute – gut zwei Jahrzehnte nach den umwälzenden Ereignissen – noch selbstverständlicher als das andere. Der Zusammenhang ist aber nicht nur von historischem Interesse, sondern auch von aktueller politischer Bedeutung. Die Weiterentwicklung Europas, liegt im deutschen Interesse. Das ist im Allgemeinen kaum umstritten, im Alltag aber durchaus nicht immer präsent.
Wir sind Europa! Was aber ist das? Wim Wenders, ein deutscher Regisseur, der in Amerika arbeitet, dessen filmische Handschrift unverkennbar europäische Züge trägt, wurde kürzlich mit dem Satz zitiert: "Aus der europäischen Idee ist die Verwaltung geworden, und jetzt denken die Menschen, dass die Verwaltung die Idee ist."
Das ist klug beobachtet, die Schlussfolgerung liegt nahe. Wir dürfen die Mittel, mit denen wir die EU gestalten, nicht mit den Zielen verwechseln. Europa ist mehr als eine Verwaltung, mehr als die viel – und im Übrigen oft zu Unrecht – gescholtene Bürokratie, mehr als Richtlinien und mehr als Verträge. Und es ist auch mehr als der Euro. Sicher, wer heute Meldungen über Europa verfolgt, muss den Eindruck gewinnen: Es geht meist um Geld, scheinbar nur um Geld, jedenfalls immer wieder um immer mehr Geld, um Schulden und ihre Tilgung, um Schuldenschnitte und ihren Umfang. Und es geht um immer wieder neue, endlose Verhandlungen, die – kaum beendet – mit erhöhtem Einsatz wieder aufgenommen werden müssen.
Aber wurde nicht auch die Deutsche Einheit, nachdem sie mit Freudentränen zustande gekommen war, immer wieder und viel zu oft verkürzt auf ökonomische Fragen? Im Blick auf die Solidität der Finanzen darf die Solidarität nicht unter die Räder geraten. Und umgekehrt: Die Bereitschaft zur Solidarität bleibt ohne Wirkung, wenn sie nicht mit dem Willen zur soliden Nutzung unserer Möglichkeiten verbunden ist. An beiden Einsichten führt kein Weg vorbei.
Die D-Mark war die starke Währung eines vermeintlichen Wirtschaftswunderlandes, aber sie war nicht Deutschland – und der Euro, die europäische Währung, ist nicht Europa. Sie ist ein wesentliches, unverzichtbares Mittel auf dem Weg zu einer politisch wie ökonomisch integrierten Union. Aber sie ist nicht ihr Kern – und schon gar nicht kann sie diesen ersetzen: die gemeinsamen Werte und Überzeugungen, die gemeinsamen historischen Erfahrungen und den aus zwei Weltkriegen wirksam gewordenen Willen zu einer gemeinsamen Zukunft.
"Europa eine Seele geben", so hat Jacques Delors, der große französische Kommissionspräsident, die eigentliche Herausforderung der europäischen Staatengemeinschaft beschrieben.
Unser Verständnis Europas ist das Verständnis einer großen Idee, einer Vorstellung vom Menschen und seiner Würde und seiner Freiheit und seines Anspruchs auf Selbstbestimmung – eben von all dem, wofür vor über zwei Jahrzehnten Deutsche in einem Teil unseres Landes noch mutig aufbegehren mussten. Weil wir alle bei selbstkritischer Betrachtung unfreiwillig selber gelegentlich zu dem Eindruck beitragen, als ginge es in Europa um nichts anderes als die Lösung finanzieller Probleme, sollten wir gerade heute, an unserem Nationalfeiertag, als deutsche Europäer das Bewusstsein dafür stärken, was die Europäische Gemeinschaft in einer globalisierten Welt bedeutet: Sie ist der historisch einzigartige, beispiellose und zugleich beispielhafte Weg ihrer Mitgliedsstaaten, nationale Souveränitätsrechte zu übertragen - mit dem Ziel, ihre Souveränität zu wahren, die in Zeiten der Globalisierung nur gemeinsam mit Erfolg geltend gemacht werden kann. Dieser Prozess der Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an europäische Gremien war notwendig, und er war gewollt, im Übrigen von keinem anderen Land früher und konsequenter als von Deutschland. Und er ist getragen von der Einsicht, dass in der Welt von heute nationale Souveränität an den Realitäten scheitern muss. Mit anderen Worten: Wir tauschen zunehmend nationale Souveränität, die unter gründlich veränderten Kräfteverhältnissen politisch wie ökonomisch verlorengeht, gegen den Selbstbehauptungswillen einer Staatengemeinschaft, die gemeinsam die Kraft entfalten kann und entfalten soll, zu der die Nationalstaaten allein nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in der gewohnten und gewünschten Weise in der Lage sind. Gemeinsam sind wir stärker!
Bei allen aktuellen Schwierigkeiten, die es zweifellos gibt, kann und sollte uns ermutigen, was wir Deutsche seit dem 3. Oktober 1990 in unserem Land gemeinsam erreicht haben – nicht nur aus eigener Kraft, auch mit großen Förderhilfen der EU. Damals lagen – bei aller Freude über die Deutsche Einheit – gewaltige Aufgaben vor uns. Es gab keinen vorgegebenen Weg, dem wir einfach hätten folgen können.
Wir mussten ihn selbst suchen und finden und dabei manche Zweifel und viele Hindernisse überwinden. Auch heute kann niemand sicher wissen, welche Lösung in Europa die richtige ist. Aber es spricht weder gegen die Regierung noch gegen das Parlament, nicht gegen die Koalition und schon gar nicht gegen die Opposition, dass die schweren, schwierigen und oft unpopulären Entscheidungen solidarischer Unterstützung von Mitgliedstaaten im Euro-Krisenmanagement im Deutschen Bundestag regelmäßig mit breiter Mehrheit über die Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen worden sind.
Die Finanzkrise ist im übrigen nicht wie eine Naturkatastrophe über uns hereingebrochen. Zur Wahrheit gehört, woran nicht nur Verfassungsrichter in den letzten Monaten mehrmals erinnert haben: Hätten die Mitgliedsstaaten sich immer an das gemeinsame Recht gehalten, gäbe es diese europäische Krise nicht. Auch deshalb muss das Recht, die Einhaltung gesetzlicher und vertraglicher Verpflichtungen, wieder Vorrang vor ökonomischen Kalkülen haben. Es ist jedenfalls im Umgang mit den derzeitigen Herausforderungen allemal eher hinzunehmen, dass die Erwartungen der Märkte durch unsere Rechtsordnung und unsere demokratischen Verfahren enttäuscht werden, als dass umgekehrt die Erwartungen an unsere Rechtsordnung durch eine Verselbstständigung der Finanzmärkte leerlaufen. Für die Bürger muss nachvollziehbar und transparent bleiben, was und warum etwas geschieht. Auch deshalb, auch deshalb, ist es wichtig, dass die nationalen Parlamente bei der Bewältigung der Krise ihre verfassungsmäßigen Aufgaben wahrnehmen. Dass der Deutsche Bundestag in der rechtsverbindlichen Gestaltung europäischer Angelegenheiten in den vergangenen Monaten entgegen einer weitverbreiteten Vermutung nicht an Bedeutung verloren, sondern an gesetzlich fixierten Mitwirkungsrechten erheblich gewonnen hat, schwächt im Übrigen die Regierung nicht; es stärkt sie vielmehr in ihrer Verhandlungsposition. Vor allem fördert es die Akzeptanz in der Bevölkerung für das, was getan werden muss, und es stärkt die Zustimmung zu Europa.
Und für das Verhältnis eines in vollem Umfang politisch gleichberechtigten Europäischen Parlamentes zu den anderen europäischen Institutionen gilt dies in gleicher Weise.
Der Ruf "Wir sind ein Volk" leitete 1989/90 eine Entwicklung ein, die historisch gesehen scheinbar alternativlos auf das Ziel der deutschen Einheit zusteuerte, politisch aber zur Umsetzung des mutigen Engagements der Bürger und des Weitblicks der damals politisch Verantwortlichen bedurfte. Heute gibt es keine vernünftige Alternative zu Europa, aber durchaus Alternativen zu dem Europa, wie wir es kennen: In seinen gegenwärtigen Grenzen, seinen gegenwärtigen Zuständigkeiten, seinen Institutionen, Gremien, Richtlinien und Regelungen. Wir brauchen eine breite und gründliche Diskussion darüber, in welchem Europa wir in Zukunft leben wollen. Die Europäische Union ist kein Staat, sie ist eine Gemeinschaft von Staaten, die nach den vertraglichen Vereinbarungen ihrer Mitglieder immer mehr staatliche Aufgaben wahrnimmt. Dieses Modell gab es bisher nirgendwo. Wir bauen sozusagen den Prototyp. Erstaunlich ist nicht, dass es dabei Probleme gibt. Entscheidend ist, dass wir sie lösen können.
Die Europäische Union bleibt gewiss hinter manchen Ansprüchen zurück, die uns aus der Praxis demokratisch verfasster Nationalstaaten vertraut sind. Aber wahr ist auch, dass es keine andere Staatengemeinschaft oder internationale Organisation gibt, die eine vergleichbare oder gar höhere demokratische Legitimation ihrer Organe und deren Entscheidungen aufweist als die Europäische Union. Auch deshalb ist es politisch wie juristisch gerechtfertigt und geboten, dass unser Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland nicht nur für den europäischen Integrationsprozess öffnet, sondern sich dem Ziel verpflichtet, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen".
Dieses Bekenntnis des Grundgesetzes darf man nicht nur als Legitimation eines weiteren europäischen Integrationsprozesses werten, es muss als historisch begründete, politisch bewusste Selbstverpflichtung unseres Landes für eine gemeinsame Zukunft mit allen unseren Nachbarn und Partnern in Europa verstanden werden.
Wer nicht auf der Stelle treten will, hat zwei Alternativen: Vorwärts oder rückwärts. Dies gilt für Deutschland wie für Europa. Wenn der Integrationsprozess Europas nicht weiter vorankommt, weil uns der Mut verlässt, weil uns die falsche Einschätzung der eigenen Interessen und der Notwendigkeit, diese Interessen zu bündeln, um sie überhaupt wahrnehmen zu können, daran hindert, im 21. Jahrhundert weiter nach vorn zu marschieren, statt jeweils einzeln zurück ins 19. Jahrhundert, dann hätte Europa seine Zukunft hinter sich. Und jeder einzelne Staat ganz gewiss. Es wäre die mutlose und zugleich übermütige Wiederherstellung eines Zustandes, den dieser Kontinent mit dem Beginn des Baus der Gemeinschaft hinter sich lassen wollte: Die Rivalität von Nationalstaaten, deren Ehrgeiz größer war als ihre Möglichkeiten. Wir brauchen aber ein Europa, dessen Möglichkeiten über den Ehrgeiz seiner Mitgliedsstaaten hinausreicht, ein Europa selbstbewusster Bürger, ein Europa, das eindeutig und unerschütterlich für die eigenen Werte eintritt.
Am Tag der deutschen Einheit wird dieser Zusammenhang besonders deutlich: Nur in Europa, zusammen mit unseren Nachbarn und Partnern in der europäischen Gemeinschaft können und wollen wir sichern, was wir im Lied der Deutschen als unsere gemeinsamen Ziele proklamieren: Einigkeit und Recht und Freiheit.
Ich wünsche allen, die in diesem Lande leben, einen schönen und fröhlichen Nationalfeiertag: Dankbar für das, was wir gemeinsam erreicht haben, ermutigt für das, was wir in Zukunft gemeinsam bewältigen werden.