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Der Freitod des Fußballtorhüters Robert Ende, das Dopingurteil gegen die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein - sind die heutigen Leistungssportler überfordert? In der Veranstaltungsreihe "W-Forum“ der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages bezog am Freitag, 11. Dezember 2009, einer Stellung, der als ehemaliger Spitzenathlet Erfolg und Scheitern, Sieg und Niederlage aus eigenem Erleben kennt und nachempfinden kann: Eberhard Gienger, Welt- und Europameister am Reck, Dritter bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976, 36-facher Deutscher Meister, Sportler des Jahres 1974 und 1978. Der 58-Jährige vertritt seit 2002 als CDU-Abgeordneter den Wahlkreis Neckar-Zaber (Baden-Württemberg) im Bundestag und ist Mitglied des Sportausschusses.
Psychische Erkrankungen sind nichts Neues im Spitzensport: Gienger erinnerte an den italienischen Radsportler Marco Pantani, der 2004 an einer Überdosis Kokain starb, an die jüngsten Bekenntnisse des Tennisprofis Andre Agassi, an den Skispringer Sven Hannawald, der nach erfolgreicher Behandlung des Burn-out-Syndroms seine Karriere aufgegeben hatte, und an den früheren Fußball-Nationalspieler Sebastian Deisler, den er dafür lobte, mit seiner Erkrankung, der Depression, in die Öffentlichkeit gegangen zu sein.
Leistungssport, sagte Gienger, kann vieles bewirken: Man lernt erfolgreich zu sein und den Erfolg mit Disziplin zu unterlegen, man lernt sich so vorzubereiten, dass man genau dann fit ist, wenn es darauf ankommt, man lernt Teamfähigkeit und den Umgang mit Sieg und Niederlage. Nach Niederlagen komme es auf das Umfeld an. Daraus müsse man die Kraft schöpfen, um sich zu rehabilitieren und an vorherige Erfolge wieder anzuknüpfen.
Jedes Jahr gebe es in Deutschland 11.000 Selbsttötungen, zumeist als Folge von Depressionen, die schon als "Volkskrankheit“ bezeichnet würden. "Treffen kann es jeden“, betonte Gienger. Der Spitzensport stehe für einen Bereich, der durch Spitzenanforderungen charakterisiert sei. Der Profisportler laufe Gefahr, die Unterstützung durch seinen Verband und seine Sponsoren zu verlieren.
Ein geeignetes Mittel, um die Belastung in Grenzen zu halten, könne die "duale Karriere“ sein, also neben der sportlichen eine weitere Karriere zu verfolgen, die eine Existenz auch außerhalb des Leistungssports ermöglicht. "Spitzensportler zu sein, das ist vergleichbar mit einem Bundestagsabgeordneten, der alle drei Monate in einen Wahlkampf ziehen muss“, beschrieb Gienger den Leistungsdruck der Athleten. "Da kann es sehr leicht zu Überforderungen kommen.“
Empfohlen werde zum Beispiel, die "Angst vor dem Scheitern“ vom Sport auf andere Lebensbereiche zu verteilen. Zehntel-, Hundertstelsekunden entschieden heute über den Sieg. Die Medien erzeugten eine Erwartungshaltung, bei der nur der Gewinner Anerkennung erfahre: "Second place is first loser.“
Der Spitzensport ist nach den Worten Giengers zu einem Spiegel “unserer modernen Leistungsgesellschaft” geworden. Dass Leistung gefordert wird, sei ein „fundamentales Element unserer Gesellschaftsform“. Depressionen und vergleichbare psychische Leiden seien Krankheiten dieser Gesellschaftsform.
Gienger empfiehlt, die Position des Leistungssports zu nutzen, um eine Vorbildfunktion für einen humanen, solidarischen und sensiblen Umgang miteinander auszufüllen "und zu leben“, die bis tief in die Gesellschaft hineinwirkt.
60 Prozent aller an Depressionen Erkrankten trauten sich nicht zur Behandlung, weil sie eine Stigmatisierung durch die Gesellschaft fürchteten. Die Depression gelte als Krankheit der Schwachen und Unfähigen, die "in unserer Gesellschaft nicht richtig zu funktionieren in der Lage sind“. So habe der Torhüter Robert Enke Angst gehabt, seine Karriere und das Sorgerecht für seine Adoptivtochter aufs Spiel zu setzen.
In Deutschland gibt es Eberhard Gienger zufolge Missstände im Umgang mit dieser gravierenden Krankheit. Um Fehlentwicklungen vorzubeugen gebe es etwa die Forderung, sich nicht zu früh auf eine Sportart zu spezialisieren, sich vor der Pubertät mit vielen Sportarten auseinanderzusetzen.
"Wenn wir im Spitzensport einen offenen Ugang mit psychischen Erkrankungen schaffen, können wir ein Exempel setzen für den Rest der Gesellschaft“, betonte er. "Wir brauchen einen Umgang, der sich durch Solidarität, Sensibilität und gegenseitiges Verständnis auszeichnet.“
Für die Früherkennung nehme auch die hausärztliche Versorgung eine wichtige Position ein. An Bedeutung gewinnen werde ebenso das Patientengespräch, sagte der langjährige Hochleistungssportler.
An die Medien appellierte Gienger, verantwortungsbewusst mit diesem Thema umzugehen, durch Achtung der Privatsphäre und sachliche und respektvolle Behandlung. Hinzu komme, dass das Unterstützungsangebot für die Sportler ausgebaut werden müsse: Psychologische Beratung könne hilfreich sein, vor allem, wenn der Trainer einbezogen werde.
Gienger schloss seinen Vortrag mit den Worten: "Wenn es gelingt, im Freitod Enkes einen Sinn zu erkennen, eröffnet sich eine Perspektive der Chance im Sinne des Infragestellens des bisherigen Umgangs mit uns selbst.“