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Professor Heinrich Oberreuter, Moderator der Diskussionsveranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, gab vorab im Interview mit dem Parlamentsfernsehen seine Einschätzung zum Thema "Plebiszite" preis.
Die zunehmende Popularität öffentlicher Petitionen, der Widerstand gegen das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 und der Erfolg Hamburger Eltern gegen eine ungeliebte Schulreform – alles Zeichen für den Wunsch nach mehr Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen. Doch Plebiszite sind in Deutschland auf Bundesebene nicht möglich. Objektive Gründe gebe es dafür aber nicht, sagt Prof. Heinrich Oberreuter, Politikwissenschaftler und Mitglied der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, im Interview mit dem Parlamentsfernsehen
Oberreuter sieht den "Vertrauensverlust" der Bürger in die repräsentative Demokratie als einen Grund der immer wiederkehrenden Forderungen nach Plebisziten. Doch Oberreuter warnt vor einer romantischen Verklärung: Sollten Plebiszite eines Tages auf Bundesebene möglich sein, dann müsse sich immer noch eine Mehrheit gegenüber einer Minderheit durchsetzen. "Plebiszite befrieden nicht, weil die einen gewinnen und die anderen verlieren", sagte Oberreuter."Im Ergebnis bringen sie mehr Beteiligung." Zu mehr Wahrheit oder Gerechtigkeit würden sie aber nicht zwangsläufig führen.
Dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Plebiszite auch auf Bundesebene Wirklichkeit werden, darüber war sich auch die Mehrheit der Diskutanten beim Forum der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen einig, das von Heinrich Oberreuter moderiert wurde. Thema der Veranstaltung am 1. Dezember 2010: "Was Plebiszite leisten, was der Parlamentarismus nicht leisten könnte?"
Für eine "Aktivbürgerschaft" und damit für Plebiszite auf Bundeseben trat Prof. Peter M. Huber ein, der kürzlich zum Verfassungsrichter ernannt worden war. Die Politik werde durch Europa und internationale Verpflichtungen immer undurchschaubarer. "Es entstehen Ohnmachtserfahrungen bei den Bürgern."
Hinzu käme, dass das Bildungsniveau in der Breite zugenommen habe. Immer mehr Menschen hätten Hochschulabschlüsse und würden deshalb von der Politik getroffene Entscheidungen nicht ohne Weiteres mehr akzeptieren. "Plebiszite könnten Akzeptanzprobleme reduzieren“, meinte Huber. Am Beispiel Bayern zählte er auf, dass in den vergangenen 63 Jahren lediglich rund 20 Volksbegehren angestrengt worden waren. "Bei über 17.000 Rechtsakten auf Bundesebene pro Jahr, bliebe das Plebiszit dann immer noch eine Ausnahme."
Das Plebiszite die parlamentarische Demokratie nicht schwächen, sonder stärken würden, glaubt auch Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD). Dass das Volk Demagogen verfallen könnte, befürchtete der Abgeordnete nicht. "Denn Gesetze aus Volksbegehren müssten sich auch durch das Verfassungsgericht messen lassen", sagte Wiefelspütz. Plebiszite könnten helfen zu schlichten, wo die Gesellschaft polarisiert sei.
"Wenn der Eindruck entsteht, die Parlamentarier sind in einer Frage nicht auf der Höhe des Problems, dann sollte das Volk solch eine Möglichkeit nutzen können." Doch Wiefelspütz stellte auch klar: "Ich bin zwar als Abgeordneten nicht klüger als das Volk, aber das Volk ist auch nicht klüger als das Parlament."
Deshalb sollte in der Demokratie nicht nur auf das Ziel geschaut werden, sondern auf den Weg. "Denn wenn das Parlament seine Sache gut macht, dann wird es auch keine Volksbegehren geben", sagte Wiefelspütz und lobte die derzeit praktizierte parlamentarische Praxis, die häufig zu unrecht diskreditiert werde. "Der Deutsche Bundestag hat eine starke Stellung und viele Gestaltungsmöglichkeiten." Es gebe keinen Grund vor plebiszitären Elementen Angst zu haben, weil die repräsentative Demokratie nicht in Frage stehe.
Kritisch sah der Staatsrechtler Prof. Josef Isensee die Offenheit gegenüber dem Plebiszit. "Das Plebiszit könnte ein neues Wirkungsfeld für die Opposition werden, das Regierungshandeln zu behindern", sagte der Professor. Eine weitere Gefahr sieht er darin, dass die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft im Plebiszit aufgehoben würde, denn jeder Bürger könnte für sich im Geheimen ein Kreuz machen und in der Öffentlichkeit von seiner Entscheidung abrücken oder sie sogar dementieren.
Den Eindruck, dass das Volk in der Bundesrepublik nichts zu sagen habe, teilte Isensee nicht. Das nächste Jahr werde zu einem klassischen Beispiel, wenn in einer Reihe von Bundesländern wieder die Bürger ihre Stimme abgeben und dabei auch immer den Blick auf die Bundespolitik werfen. "Die repräsentative Demokratie hat dem Volk Rede und Antwort zu stehen - immer unter dem Risiko der Wahlniederlage", unterstrich er.
Seiner Ansicht nach leben die Deutschen in einer "verdeckt plebiszitären Demokratie". Isensee stellte fest, dass viele richtungsweisende Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik gegen die demoskopische Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt wurden, von Adenauers Westpolitik über Brandts Ostpolitik, dem Nato-Doppelbeschluss bis zur Agenda 2010. "Wenn sie das Plebiszit in den Schicksalsfragen wollen, dann nehmen sie eine andere Republik in Kauf."
Auch Prof. Markus Freitag von der Universität Konstanz merkte an, dass wenn die Bürger gefragt werden, ob sie Plebiszite wollen, bis zu 80 Prozent zustimmen. "Andererseits, wenn sie aufgerufen werden zu wählen, geht keiner hin", spitze er zu. Dennoch schaute er in die Schweiz und versuchte Vorbehalte gegen das Plebiszit zu widerlegen. So könne eine Volksdemokratie innovativ sein, und nicht nur langsam, wie der Vorwurf häufig lautet. "Die Schweizer hatten den Umweltschutz schon in den 70er Jahren als Staatsziel festgeschrieben."
Die Gefahr, dass Interessengruppen sich auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen könnten, sieht Freitag nicht. "Denn jede Minderheit braucht eine Mehrheit, um ihre Ziele zu verwirklichen." Zentraler Vorteil sei dabei, dass die Interessengruppen transparent werden.
Ein anderer Aspekt sei, dass allein die Möglichkeit über das Plebiszit als Instrument zu verfügen, die Kompromissbereitschaft aller Beteiligten erhöht. Einen Defekt sieht der Wissenschaftler jedoch in der Minderheitenfrage. "Unzureichend integrierte Gruppen können durch eine Mehrheit unterdrückt werden", konstatierte er.
Dr. Walter Scheuerl, der als Initiator des Hamburger Volksbegehrens eine Schulreform des Hamburger Senates stoppte, glaubt, dass durch das Plebiszit die Bundesrepublik liebenswürdiger und die Menschen zufriedener werden würde. Das Volksbegehren in Hamburg habe einen erzieherischen Effekt auf die Parteienlandschaft gehabt, denn lange sei im Zuge der Schulreform niemand auf die Eltern zugegangen. "Die Eltern wurden einfach überrumpelt", sagte Scheuerl.
Den Parlamentarismus sieht der Rechtsanwalt nicht in Gefahr, wenn er die Voraussetzungen betrachte, derer es bedurfte, bis der Volksentscheid in Hamburg durchgeführt werden konnte. Etwa zweieinhalb Jahre hatte dieser Prozess gedauert. "In dieser Zeit wurde das Thema so lange diskutiert, bis alle wussten worüber sie entscheiden", entgegnete Scheuerl der Kritik, dass die Bürger in vielen politischen Fragen überfordert seien. (eis)