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Zur Erinnerung an die Todesopfer der innerdeutschen Grenze haben in Berlin und anderen Orten in Deutschland die Menschen am Samstag, 13. August 2011, um 12 Uhr innegehalten. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert nahm mit Bundespräsident Christian Wulff und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel an der Gedenkveranstaltung "50. Jahrestag des Mauerbaus 1961" auf dem Gelände der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße in Berlin teil. Die Bernauer Straße galt als Symbol der Teilung, weil die Häuser zum Osten gehörten und der Bürgersteig im Westen lag. Auch der Deutsche Bundestag beteiligte sich an der Schweigeminute. Besucher der Reichstagskuppel wurden durch Handzettel, Teilnehmer an Führungen durch die Besucherführer auf die Schweigeminute hingewiesen.
Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August hat die vom Deutschen Bundestag herausgegebene Wochenzeitung "Das Parlament" eine Themenausgabe mit dem Titel "50 Jahre Mauerbau" veröffentlicht (www.das-parlament.de). Die 13 Themenseiten enthalten unter anderem Gastbeiträge renommierter Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten. "Symbol des Todes und der Teilung" ist der Titel des folgenden Beitrags von Karl-Heinz Baum, der von 1977 bis 1990 für die "Frankfurter Rundschau" aus der DDR berichtet hat.
Im Januar 1961 ist Sigrid Paul glücklich. Ihr Sohn ist geboren. Doch etwas stimmt nicht mit ihm. Als die Ärzte im Ostsektor Berlins nach zehn Wochen immer noch rätseln, bringt die Mutter ihn in den Westteil der Stadt. Dort brauchen die Ärzte drei Tage, um den Zwerchfellriss festzustellen. Sie päppeln das Kind auf, geben es Anfang Juni zurück: Mit Medikamenten und Heilnahrung werde es sich normal entwickeln.
Nach dem Mauerbau bettelt Sigrid Paul bei Behörden, Arzneien und Nahrung im Westen holen zu dürfen. Vergebens. Dem Sohn geht es täglich schlechter. Ein Funktionär: "Wenn er so krank ist, lassen Sie ihn doch sterben." Nach 14 Tagen bringt sie ihn in die Charité. Der Stationsarzt sieht, er kann nicht helfen, fälscht in der Nacht die Papiere, macht das Kind zum Herzpatienten, der nach West-Berlin darf.
Es dauert drei Jahre, bis der Kleine gesund ist. So wird dieses Leben gerettet. Unterdessen wollen die Eltern mit drei Studenten flüchten, werden zu je vier Jahren Gefängnis verurteilt. Nach 18 Monaten kauft der Westen sie frei. "Mauer durchs Herz" nennt Sigrid Paul ihr Leben.
"Nicht teilgenommen": Eigenhändig schreibt der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke es auf die Einladung. Dabei bittet "Der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Genosse Walter Ulbricht" alle Minister zur "Zusammenkunft am Sonnabend, den 12. August 1961, 16.00 Uhr bei Kaffee und Tee, bei schönem Wetter auf der Terrasse, sonst im Kaminzimmer" ins Gästehaus des Ministerrats. Es wird ein Sommerfest, gegen 22 Uhr tritt der Ministerrat zusammen und beschließt, was Mielke bereits weiß: West-Berlins Abriegelung um Mitternacht.
Am 13. August beginnt die "Aktion Rose" mit Stacheldraht und Barrikaden auf 160 Kilometern, bald wird unter Waffengewalt gemauert. Mit Betonelementen und Hohlblocksteinen, gekrönt von Stacheldraht, wird die Stadt geteilt. In ihr leben zu diesem Zeitpunkt rund 3,3 Millionen Menschen: 2,2 Millionen im Westteil und 1,07 Millionen in Ost-Berlin; zwischen ihnen erstreckt sich die Grenze über eine Länge von 45 Kilometern. Rund um West-Berlin zerschneidet sie 193 Haupt- und Nebenstraßen, von denen 62 nach Ost-Berlin und 131 in die DDR führten. Beendet ist auch der Durchgangsverkehr von acht S-Bahn- und vier U-Bahn-Linien, ebenso wie der Verkehr der Fahrgastschiffe zwischen beiden Stadtteilen.
Schrittweise wird das Grenzregime in den folgenden Jahren immer weiter perfektioniert. Ab 1965 ersetzen etwa 3,5 Meter hohe, zwischen Stahlträgern eingelassene Betonplatten die gemauerten Teile; ab 1976 folgt dann die Aufstellung der "Grenzmauer 75", bestehend aus L-förmigen, fugenlosen Betonteilen von 15 Zentimeter Stärke mit einem 2,10 Meter tief in die Erde versenktem Fuß; auf Baustellen werden diese "Winkelelemente" vermisst.
Das Bauwerk hatte zwei Mauern, eine "feindwärts" (zum Westen), eine "freundwärts" (siehe Grafik unten). Diese sogenannte Hinterlandmauer ergänzte die erste ab 1962. Außerhalb Berlins gab es ein bis zu fünf Kilometer breites Grenzgebiet. Hier griffen Volkspolizisten, Stasi, Grenzsoldaten Fremde auf.
Zwischen den Mauern lag der "Todesstreifen", bis zu 150 Meter breit. Hinter der ersten Mauer alarmierten Drähte bei Berührung Wächter. Es folgten ein Hundelaufgraben, ein Kolonnenweg mit Wachtürmen, ein frisch geharkter Streifen (für Fußspuren) und ein mit Betonplatten verstärkter Graben, der Autos aufhalten soll. Die Mauer "feindwärts" war am Ende 3,60 Meter hoch, oben verhinderte ein Rohr festen Halt.
In der DDR gibt es von Anfang an Widerstand gegen den "antifaschistischen Schutzwall". Stasi-Berichte zeigen "größeren Unmut bei Jugendlichen". Es gibt Aufschriften wie "Wer Mauern baut, der hat es nötig". Allein in den drei Wochen danach werden 6.000 Menschen festgenommen. Forscher der Stasi-Aktenbehörde fanden 2004 heraus, dass die Stasi bei jeder zweiten der insgesamt 66.000 oppositionellen Handlungen seit 1961 den Wunsch nach Einheit als Motiv notierte.
28 Jahre und knapp drei Monate riegelt der Grenzstreifen West-Berlin ab. Neben vielen Menschenleben fordert das Grenzregime jedes Jahr Verletzte. Die Mauer bleibt die größte Hypothek der DDR bis zu ihrem Ende, Symbol des Todes und der Teilung. Mindestens 136 Tote allein in Berlin hat der Potsdamer Historiker Hans-Hermann Hertle gezählt. Hinzuzurechnen sind all die Opfer, die an der innerdeutschen Grenze oder bei Fluchtversuchen über die Ostsee ums Leben kamen.
Erste Tote ist Ida Siekmann, sie stirbt am 22. August in der Bernauer Straße im Alter von 58 Jahren beim Sprung aus dem dritten Stock eines Hauses, dessen Bürgersteig zum Westen gehört. Zwei Tage später wird an der Mauer erstmals ein Mensch erschossen: der Schneider Günter Litfin, 24 Jahre alt. Eine Kugel trifft ihn am Kopf, als er unweit des heutigen Berliner Hauptbahnhofs den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal durchschwimmt.
Um die Welt gehen die Bilder vom Sterben des 18-jährigen Maurers Peter Fechter, der ein Jahr nach dem Mauerbau am 17. August in der Zimmerstraße in Mitte flieht. Grenzposten schießen ihn an, direkt vor der Mauer liegend ruft er lange um Hilfe. Erst nach 50 Minuten bergen Ost-Berliner Grenzposten den tödlich Verletzten. Fechter wird zu einem Symbol der Unmenschlichkeit der DDR.
Der letzte an der Mauer erschossene Flüchtling ist der 20 Jahre alte Chris Gueffroy; er stirbt in der Nacht zum 6. Februar 1989 nach Schüssen zweier Postenpaare bei den Kleingärten "Harmonie" und "Sorgenfrei" in Berlin-Johannisthal. Er ist der erste Mauertote, über dessen Beerdigung westliche Journalisten berichten, die sich trotz Stasi-Kontrollen zum Friedhof hatten durchschlagen können. Die DDR dagegen bestreitet, dass die Schüsse am Britzer Zweigkanal ein Menschenleben kosteten.
Einen Monat danach, am 8. März 1989, versucht der 32-jährige Winfried Freudenberg mit einem selbstgebastelten Heißluftballon aus der DDR zu flüchten und stürzt über dem West-Berliner Bezirk Zehlendorf tödlich ab. Er ist das letzte Todesopfer der Berliner Mauer, deren Fall acht Monate später, am 9. November 1989, das Ende auch der Teilung Europas und des Kalten Krieges markieren sollte. Nach ihrer Öffnung von "Mauerspechten" bereits durchlöchert, beginnen DDR-Grenzsoldaten am 23. Januar 1990 mit ihrem Abriss. Heute stehen in Berlin nur noch an wenigen Stellen Reste der einstigen Grenzanlage.
Nach dem Mauerfall brachte Chris Gueffroys Mutter Karin mit ihrer Anzeige die Verfahren gegen Verantwortliche für die Tötungen ins Rollen. Das Landgericht Berlin arbeitete heraus: Grenzsoldaten wussten um ihr unrechtes Tun. Die der Ideologie vertrauenden Schützen hätten nachdenklich werden müssen: Wer sich weigerte zu schießen, kam in die Küche. Überstand er die Zeit ohne Schüsse, gaben ihm Kameraden weiße Handschuhe.
Besuchten Staatsgäste den "Arbeiter-und Bauern-Staat", war Schießen verboten. Das sind durchaus Belege für den Schießbefehl, den führende SED-Politiker in den Prozessen bestritten. Im Prozess gegen das SED-Politbüro nannte der Staatsanwalt den Auftrag an die Grenztruppen, die Unverletzlichkeit der Grenze zu sichern, einen "ideologischen Schießbefehl".
Erst die Prozesse zeigten den Umgang mit Opfern und Angehörigen: Auf Lkw-Pritschen kamen angeschossene Flüchtlinge ohne ärztliche Hilfe in festgelegte Krankenhäuser. Sie hätten einen Anschlag auf ein militärisches Objekt verübt, wurde Angehörigen gesagt. Die Stasi führte Regie: Die Leichen ließ sie verbrennen. Verwandte mussten lügen. Schützen wurden belobigt, erhielten Sonderurlaub.
Manchmal sagten Stasi-Leute, die Flucht sei gelungen. Auf den Einwand, der Angehörige melde sich nicht, entgegneten sie, er wolle von der Familie nichts wissen. Von sechs Mauertoten fehlt auch heute jede Spur. Das Schweigekartell aus Ärzten, Polizisten, Staatsanwälten und Friedhofsverwaltern wirkt noch immer.
Gerichte in Berlin und den neuen Ländern fällten Urteile wegen Totschlags. Für Mauerschützen gab es bis zu zwei Jahre Haft auf Bewährung. Anstifter bekamen Haftstrafen ohne Bewährung: Regimentskommandeure, Chefs der Grenzkommandos und der Grenztruppen sowie Politbüro-Mitglieder.
Ihre Strafen lagen bei zweieinhalb bis sechseinhalb Jahren. Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats, verantwortlich für den Schießbefehl, erhielten bis zu siebeneinhalb Jahre. Der Bundesgerichtshof bestätigte die Urteile: Töten unbewaffneter Flüchtlinge sei eine Menschenrechtsverletzung, hielten die Richter fest.
Einstimmig befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg über die Prozesse der für die Toten Verantwortlichen: "Deutschland hat die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzt." Verfassung und Gesetze der DDR erkannten Verhältnismäßigkeit der Mittel und Schutz menschlichen Lebens ausdrücklich an.
Das Gebot der DDR-Verfassung, menschliches Leben zu sichern, schränkte die Staatsraison ein, die Grenze um jeden Preis zu schützen. Das Recht auf Leben war zur Tatzeit höchstes Rechtsgut auf der Werteskala international anerkannter Menschenrechte, stellten die Richter 2001 fest: Niemand könne sich auf eine dazu im Widerspruch stehende Praxis berufen.