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Ägyptens Parlament sucht nach seiner künftigen politischen Rolle, die politische Zukunft des Landes entscheidet sich in diesen Wochen. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hätte den Zeitpunkt für seinen Kairo-Besuch vom 2. bis 4. April 2012 kaum besser wählen können. Die ägyptischen Bürger sollen Ende Mai ihren neuen Präsidenten bestimmen, die ersten freien Parlamentswahlen - nach dem Sturz von Diktator Mubarak vor einem Jahr - hatten der Muslimbrüderschaft und den Salafisten im Januar einen haushohen Sieg beschert.
Auch wenn der Gast aus Deutschland von seinen Gesprächspartnern in Kairo ausdrücklich um Ratschläge gebeten wurde, zögerte Lammert sichtlich. "Deutschlands erster Versuch mit der Demokratie ist so gründlich fehlgeschlagen, dass wir Deutsche vorsichtig sein sollten, als Lehrmeister aufzutreten", sagte er in Anspielung auf die Weimarer Republik, deren Verfassung in Deutschland den Zusammenbruch der Demokratie und die Hitlerdiktatur nicht verhindern konnte.
Ägypten müsse seinen Weg allein finden, ebenso wie Deutschland, das im zweiten Anlauf auch nicht einfach die politischen Verhältnisse Großbritanniens, Frankreichs oder der USA kopieren konnte.
Sowohl die Abgeordneten der Schura, des Oberhauses mit seinen eher repräsentativen Aufgaben, als auch die Parlamentarier in der deutlich einflussreicheren Volksversammlung lauschten mit gespitzten Ohren, was Lammert dennoch an Grundsätzlichem zur Demokratie und zum Selbstverständnis von Parlamenten ausführte. Das Prinzip der Demokratie bestünde darin, dass die Mehrheit entscheidet, die Substanz der Demokratie werde jedoch erst beim Schutz der Minderheiten sichtbar.
Und: Das Parlament habe die Regierung zu kontrollieren, funktioniere mitnichten als verlängerter Arm der Regierung. Es sei quasi die wichtigste Nichtregierungsorganisation. Womit er zur missliche Lage der Konrad-Adenauer-Stiftung überleitete. Das gegen sie begonnene Gerichtsverfahren schien Parlamentspräsident Katatny sichtlich unangenehm zu sein, umso mehr, als dass er deren nunmehr 30-jährige Tätigkeit in Ägypten schätzt. Er sicherte zu, im Menschenrechtsausschuss des Parlaments zügig ein Gesetz erarbeiten zu lassen, das die bislang fehlenden Arbeitsbedingungen für die politischen Stiftungen verlässlich regelt.
Die von Katatny geführte Parlamentsmehrheit steht vor einer Grundsatzentscheidung: das Verhältnis von Religion und Politik zu definieren, von dem zahlreiche weitere Fragen abhängen. Die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung zum Beispiel. Die ist derzeit strittig, weil sich liberale Parteien solange der Mitarbeit in dem Gremium verweigern, wie die Muslimbrüder und Salafisten auch dort mit übergroßer Mehrheit vertreten sein werden.
Dagegen wehren sich vor allem die Aktivisten der Revolution, junge Blogger, Frauen, Nachwuchspolitiker, für die der Glaube nicht an erster Stelle steht. Ob beim Gespräch im Goethe-Institut oder beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), mehrfach bekam Lammert den Frust der "Verlierer der Revolution" zu spüren. Was ihn wiederum an die ostdeutschen Bürgerrechtler erinnerte, die im März 1990 ähnlich enttäuscht auf die Resultate der ersten freien gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 schauten. "Heute ist einer von ihnen Präsident", versuchte er Mut zu machen. Kein wirklicher Trost.
Dass es bis zu den Präsidentschaftswahlen in Ägypten eine neue Verfassung gibt, ist wenig wahrscheinlich. Selbst wenn eine Einigung über die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung bald gelingen sollte, dürfte die bestehende Verfassung kaum durch eine komplett neue ersetzt werden. Voraussichtlich bleiben die ersten vier Kapitel bestehen. Das ergänzte fünfte soll definieren, ob Ägypten eine Präsidial- oder Parlamentsrepublik sein soll, wie die Befugnisse von Präsident, Parlament und Regierung aufgeteilt werden. Ägypten, so versichern es die Muslimbrüder, wird kein Gottesstaat, wobei sie wissen, dass ihren Worten keinesfalls vorbehaltlos Glauben geschenkt wird.
Vertrauen erwerben lautet Katatny zufolge das Gebot der Stunde. Er verstehe Parlamente als echte Repräsentanten der Gesellschaft, die "die Wünsche und Forderungen der Bürger aufnehmen und sie in den Gesetzesprozess beziehungsweise die Politik einfließen lassen". Diesen Anspruch formulierte er jüngst in seiner Rede beim Treffen der Internationalen Parlamentarischen Union im ugandischen Kampala, wohin auch Lammert unmittelbar vor seinem Ägyptenbesuch gereist war.
Der Generalsekretär der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und Sprecher der Volksversammlung zeigte sich an einem Austausch mit dem Bundestag sehr interessiert. Ende April reist die Deutsch-Ägyptische Parlamentariergruppe an den Nil, im Herbst können sich acht bis zehn ägyptische Abgeordnete in Berlin über Organisationsstrukturen des Bundestages informieren.
Von Arbeitsbedingungen wie in Deutschland ist man in Kairo weit entfernt. Es fehlt an Büroräumen, Mitarbeitern, nicht einmal Telefone stehen ihnen im Parlament zur Verfügung. (sad)