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Hoch verschuldete Euro-Länder sollten mehr Zeit zum Abbau ihrer Defizite erhalten. Dies haben mehrere Sachverständige am Mittwoch, 9. Mai 2012, in einer öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses unter Vorsitz von Dr. Birgit Reinemund (FDP) auf Fragen der Abgeordneten zu den "volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Euro-Staatsschuldenkrise und neuen Instrumenten der Staatsfinanzierung" vorgeschlagen. Die bisherige Politik zur Bekämpfung der Krise sei nicht in der Lage, die eigentlichen Probleme im Euro-Raum zu lösen, stellte Prof. Dr. Sebastian Dullien (Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin) fest. Der Fiskalpakt schreibe ein dauerhaftes Budgetdefizit von nicht mehr als 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. Das dürfte in vielen Fällen "nicht ausreichend Raum für öffentliche Investitionen lassen". Neben Anleihekäufen durch die Europäische Zentralbank (EZB) und Eurobonds müsse es Nachverhandlungen über die EU-Stabilitätsprogramme geben und den Staaten müsse mehr Zeit zum Defizitabbau gegeben werden, empfahl Dullien.
Prof. Dr. Gustav Horn (Hans-Böckler-Stiftung) sprach sich für eine Reduzierung des Spartempos aus und meinte, eine "Vollbremsung auf glatter Fahrbahn" sei nicht das richtige Mittel, das Auto zum Stillstand zu bringen.
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wollte nicht ausschließen, dass es vielleicht besser sei, im Falle Spaniens das Defizitziel möglicherweise nach hinten zu verschieben. Die Finanzmärkte würden auf kurzfristiges Wachstum setzen. Bei Wachstumseinbrüchen komme es daher nicht zu Zinssenkungen. "Eine gewisse Streckung ist diskussionswürdig", hieß es vom IW. Aber die angestrebten strukturellen Ausgabenkürzungen müssten erfolgen.
Prof. Dr. Clemens Fuest (Oxford University) verlangte höhere öffentliche Investitionen und wies ebenfalls auf die Möglichkeit hin, den Krisenstaaten mehr Zeit beim Abbau der Budgetdefizite zu geben: "Ohnehin werden die Defizitziele in vielen Fällen verfehlt." Ob dadurch aber mehr als Strohfeuereffekte erreicht werden könnten, sei aber keineswegs sicher.
"Sofern die Glaubwürdigkeit der Konsolidierung darunter leidet, kann auch das Gegenteil eintreten", schrieb Fuest in seiner Stellungnahme, in der er dringend empfahl, Haftung und Kontrolle in der Wirtschafts- und Finanzpolitik möglichst eng zusammenzuhalten. Dieses Problem stelle sich zum Beispiel bei der Bankensanierung.
Wenn andere Staaten für spanische Banken Kapital bereitstellen sollten, müssten sie auch die Kontrolle darüber halten, was mit dem Geld geschehe. Wenn der spanische Bankensektor mit Rettungsfonds-Geldern rekapitalisiert werden sollte, "setzt das voraus, dass die spanische Regierung zumindest vorübergehend Souveränität im Bereich der Bankenregulierung abgibt", so Fuest.
Die Deutsche Bundesbank forderte dagegen, die zügige Konsolidierung der Staatsfinanzen nicht infrage zu stellen. Gerade die Umsetzung der vereinbarten Konsolidierung sei von entscheidender Bedeutung für die Glaubwürdigkeit des neuen fiskalischen Regelwerks.
Vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) hieß es, es müsse konsolidiert und für Wachstum gesorgt werden. Das qualitative Element des Wachstums sei bisher unterbewertet worden. Strikt gegen alle Vorstöße zur smarten Konsolidierung sprach sich Prof. Dr. Michael Eilfort (Stiftung Marktwirtschaft) aus: "In ruhigem Rahmen ist noch nie in den letzten Jahrzehnten konsolidiert worden." Es müsse Druck zur Konsolidierung geben.
Gegen fiskalische Transfers, also Zahlungen zum Beispiel aus deutschen Steuergeldern an andere Länder, sprach sich Prof. Dr. Claudia Buch (Universität Tübingen) aus. Solche Transfers würden die Gefahr bergen, dass nötige Strukturreformen aufgehalten werden. "Nicht zuletzt dürfte die politische Akzeptanz für eine Ausweitung von Transfers fehlen", so die Wissenschaftlerin.
Prof. Dr. Henrik Enderlein (Hertie School of Governance) vertrat die Ansicht, alle konkret diskutierten Maßnahmen würden nicht ausreichen, um die Probleme des Euro-Raums mittel- und langfristig in den Griff zu bekommen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verurteilte den radikalen Sparkurs. Dieser habe, gekoppelt mit dem Druck auf Löhne, Renten und Sozialsysteme, "zu einer sozialen Katastrophe in den betroffenen Krisenländern geführt". Zur Finanzierung eines Programms für Wachstum und Beschäftigung forderte der DGB eine "Europäische Zukunftsanleihe", die von den Reichen (ab 500.000 Euro Vermögen) finanziert werden soll. Die EZB müsse zum "Kreditgeber der letzten Instanz" ausgebaut werden.
Die vorgeschlagenen gemeinsamen europäischen Anleihen zur Staatsfinanzierung lehnte der Vertreter der Bundesbank strikt ab. "Eine umfassende Gemeinschaftshaftung ist nicht kompatibel mit fehlenden Eingriffsrechten auf der europäischen Ebene", hieß es in der Stellungnahme der Bundesbank. Die Lösung der Probleme in den von der Vertrauenskrise betroffenen Ländern habe primär "im nationalen Kontext" zu erfolgen.
Die staatliche KfW-Bankengruppe wies auf ein "Zeitloch" zwischen dem Beginn der rezessiven Wirkung der Konsolidierung und dem Beginn der Wirkung von Strukturreformen hin. Um die Probleme in dem Zeitloch nicht zu verschlimmern, seien die unkonventionellen Maßnahmen der EZB. Die EZB hatte Staatsanleihen aufgekauft und Banken mit Milliardenbeträgen zu günstigen Konditionen versorgt.
Eine längerfristige beziehungsweise nachhaltige Stabilisierung der Eurozone wird nach Ansicht von Prof. Dr. Paul Welfens (Universität Wuppertal) nicht ohne Euro-Politikunion möglich sein.
"Zu Pessimismus besteht in der Eurozone und besonders in Deutschland kein Anlass. Die Überwindung der Krise erfordert geduldige und gezielte Maßnahmen, wobei die Rolle der Europäischen Kommission mittelfristig deutlich gestärkt werden sollte", empfahl Welfens. (hle)