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Der Staat soll die Wirtschaft nicht im Detail steuern, doch "wir vertrauen nicht allein dem Markt, wenn wir eine ökologische, soziale und demokratische Nachhaltigkeit anstreben": Aus Sicht von Edelgard Bulmahn (SPD) ist eine "kluge, langfristig angelegte und flexible Rahmensetzung" mit einem "Instrumenten-Mix" nötig, zu dem etwa ordnungsrechtliche Maßnahmen und fiskalische Anreize gehören. Im Sinne einer besseren Ressourceneffizienz und höheren Wiederverwertung etwa in der Chemie müsse man zwar im Einzelfall auch Produktverbote verhängen und über schärfere Grenzwerte reden. Fortschritte seien indes in erster Linie über technische Normen und Standards zu erzielen, so die frühere Forschungsministerin im Interview. Bulmahn leitet in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" die Projektgruppe 4, die eine "nachhaltig gestaltende Ordnungspolitik" entwerfen soll. Das Interview im Wortlaut:
Frau Bulmahn, wie beurteilen Sie die bisherige Arbeit der Enquete-Kommission? Kommt man dem Ziel näher, Strategien für ein nachhaltiges Wirtschaften zu entwerfen?
Wir werden in einem Jahr Vorschläge präsentieren, die eine solche Politik wesentlich voranbringen. Meine bisherige Bilanz ist gemischt. Über mehrere wichtige Aspekte herrscht Übereinstimmung. Ökologisch gibt es Belastungsgrenzen für die Erde. Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wir streben einen sozialökologischen Wandel an, der das Prinzip quantitativer Zuwächse durch die Richtschnur der Nachhaltigkeit ersetzt. Wir sind uns einig, dass das, was unter Lebensqualität und Wohlstand zu verstehen ist, durch ein Messsystem besser abgebildet werden soll, das sich nicht auf das Bruttoinlandsprodukt beschränkt. Indes existieren erhebliche Differenzen etwa zwischen SPD und FDP über den Begriff der sozialen Marktwirtschaft und zur Frage, ob über Wachstum allein alle Probleme gelöst werden können.
Eine bessere Beschreibung von Wohlergehen ist das eine, die Veränderung der Wirklichkeit aber etwas anderes. Was nutzt ein neues Messsystem?
Ein neues Messsystem für Lebensqualität drückt auch eine neue Werteorientierung aus, die Denken und Handeln in der Gesellschaft wie in der Politik beeinflusst. Unser Indikatorensystem wird sich auf die öffentliche Debatte auswirken und die demokratische Kultur stärken. Es wird mehr Transparenz herrschen. Und es wird sich eine Pflicht zur Rechenschaftslegung herausbilden: Mehr als bisher wird man in der Politik begründen müssen, ob und wie eine Entscheidung mit Nachhaltigkeit in Einklang steht.
Was soll Ihre Projektgruppe leisten? Was ist unter einer nachhaltig gestaltenden Ordnungspolitik zu verstehen? Bislang heißt Ordnungspolitik, dass der Staat für eine strikt marktwirtschaftliche Ökonomie sorgt.
Unser Konzept soll über dieses Modell hinausweisen. Wir vertrauen nicht allein dem Markt, wenn wir eine ökologische, soziale und demokratische Nachhaltigkeit anstreben. Der Staat soll den Wirtschaftsprozess nicht im Detail steuern. Nötig ist vielmehr eine kluge, langfristig angelegte und flexible Rahmensetzung, welche die nationale, europäische und internationale Ebene verbindet. Dazu ist ein Instrumenten-Mix erforderlich, zu dem etwa ordnungsrechtliche Maßnahmen und fiskalische Anreize gehören. Gestärkt werden müssen besonders Forschung und Bildung. Nötig sind auch bessere Informationsangebote, um der Wirtschaft und der Bevölkerung Wege zu nachhaltiger Produktion wie nachhaltiger Lebensweise aufzuzeigen.
Was bedeutet dieses Konzept beispielsweise für die Chemiebranche?
Gefragt sind bessere Analysen der Stoffkreisläufe, um eine konsequente Energie- und Ressourceneffizienz oder eine höhere Wiederverwertungsquote bei bestimmten Stoffen zu ermöglichen, da hat etwa die Bauwirtschaft Nachholbedarf. Im Chemiesektor wird man im Einzelfall auch Produktverbote verhängen oder über die Verschärfung mancher Grenzwerte reden müssen. Aus meiner Sicht sind Fortschritte aber in erster Linie über technische Normen, Standards und kontinuierlich steigende Mindestanforderungen an die Energieeffizienz zu erzielen, um so eine dynamische Entwicklung in Gang zu setzen.
Ihr Team diskutiert auch über eine nachhaltige Finanzpolitik. Warum eigentlich? Die Schuldenbremse steht doch bereits im Grundgesetz.
Die Schuldenbremse sagt nichts darüber aus, wie ein ausgeglichener Etat zu erreichen ist. Soll das über Kürzungen beispielsweise im Bildungsbereich oder über Steueranhebungen geschehen? Zudem wollen wir eine höhere Stabilität der Finanzmärkte erreichen. Deshalb erörtern wir etwa Vorschläge für höhere Eigenkapitalquoten der Banken oder für wirkungsvollere Haftungsregeln bei Kreditinstituten. Wir geben Empfehlungen, damit Schattenbanken nicht mehr ganze Volkswirtschaften destabilisieren können oder damit Spekulationen gegen einzelne Währungen eingedämmt werden können. Eine nachhaltige Finanzpolitik hat viele Aspekte.
Bei einer Plenardebatte haben Sie kritisiert, dass Erzieherinnen weniger verdienen als Bankangestellte. Nun entscheiden Gewerkschaften und Arbeitgeber über die Löhne. Streben Sie eine Ordnungspolitik an, die auf staatliche Eingriffe in die Tarifautonomie zielt?
Wir wollen nicht in die Tarifautonomie hineinregieren. In der Enquete-Kommission ist jedoch zum Beispiel unstrittig, dass frühkindlicher Bildung eine große Bedeutung zukommt. Da stellt sich doch die Frage, warum die Arbeit von Erzieherinnen schlechter bezahlt wird als die von Bankangestellten, obwohl gerade die Tätigkeit dieser Frauen höchst komplex und anspruchsvoll ist. Dieser Debatte über die Bewertung von Arbeit dürfen sich die Tarifparteien nicht entziehen. Ich bin überzeugt, dass bei einer Umfrage eine Mehrheit eine höhere Besoldung von Erzieherinnen befürworten würde.
(kos)