Navigationspfad: Startseite > Presse > Aktuelle Meldungen (hib) > Juni 2012 > Experten: Intersexualität ist keine Krankheit
Die Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett von der Universität Bremen führte an, dass die unteilbaren Menschenrechte, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert worden seien, ab der Geburt Geltung hätten. Zu diesen Menschenrechte gehöre unzweifelhaft die körperliche Unversehrtheit. Ein fremdbestimmter körperlicher Eingriff diesen Ausmaßes sei deshalb nicht hinzunehmen. Lediglich wenn es um die Frage von Leben oder Tod gehe, sei dies statthaft. Erst wenn ein Kind sich in dieser Frage unzweifelhaft selbst äußern könne, dürfe eine Entscheidung gefällt werden. Und es müsse geprüft werden, dass die Entscheidung des Kindes für das eine oder andere Geschlecht ohne Beeinflussung von außen, etwa durch die Eltern, getroffen worden sei. Dies könne beispielsweise durch ein Familiengericht geschehen. Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen aus Neu-Wulmstorf, schloss sich diesem Plädoyer an: Weder Eltern, Ärzte, Psychologen noch ein Parlament hätten das Recht, das Geschlecht eines Menschen zwangsweise festlagen zu lassen. Jörg Woweries, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, führte an, dass es keinen medizinischen Beweis dafür gebe, dass eine Operation zur Geschlechtsfestlegung bei Kleinkindern ungefährlicher oder erfolgversprechender sei als bei einem Erwachsenen. In jedem Fall seien operative Eingriffe mit einem „hohen Risiko“ behaftet und stellten einen tiefen Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen dar. In jedem Fall müsse vor jeder Operation eine neutrale Beratung stattfinden.
Für deutlich verbesserte Beratungsangebote für die Eltern intersexueller Kinder sprach sich Julia Marie Kriegler von der Elterngruppe der XY-Frauen aus. Sie berichtete dem Ausschuss von ihren eigenen Erfahrungen mit einem nunmehr sechsjährigen intersexuellen Kind. Eltern seien nach der Geburt mit einer solchen Situation völlig überfordert. Vor allem dürften sie jedoch nicht von Ärzten und Behörden zu einer schnellen Entscheidung gedrängt werden. Die Gesellschaft müsse erst langsam lernen, dass es neben den beiden „klassischen“ Geschlechtern auch ein drittes Geschlecht gebe.
Einmütig stellten die Experten zudem fest, dass das deutsche Personenstandsrecht nicht den Bedürfnissen von intersexuellen Menschen Rechnung trägt. Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat sprach sich dafür aus, neben den Eintragungen „männlich“ und „weiblich“ auch die Eintragung „anderes“ zu ermöglichen. Woweries sprach sich dafür aus, auf eine Geschlechtsfestlegung im Personenstandsrecht bis zur Volljährigkeit ganz zu verzichten.
Der Rechtswissenschaftler Tobias Helms von der Universität Marburg wies jedoch darauf hin, dass Änderungen im deutschen Recht auch zu Problemen im internationalen Rechtsverkehr führen könnten. So müssten deutsche Behörden und Gerichte auf die in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit auch weiterhin das ausländische Recht anwenden, das Angaben zum Geschlecht vorsieht. Umgekehrt könnten deutsche Staatsangehörige in familienrechtlichen Angelegenheiten Probleme im Ausland bekommen, wenn ihre Geschlechtszugehörigkeit im Personenstandsregister nicht festgelegt sei. Diesem Einwand widersprach Konstanze Plett. Sie verwies darauf, dass Deutschland auch die eingetragenen Lebenspartnerschaften für Homosexuelle ermöglicht habe. In vielen ausländischen Staaten sei dies bis heute nicht vorgesehen.
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