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7. November 2011

Den Wandel selbst gestalten

"Wenn wir nicht den digitalen Wandel gestalten, wird der Wandel uns gestalten" – dies war der gemeinsame Nenner des Expertengespräches der Projektgruppe Bildung und Forschung am 7. November 2011. Sechs Sachverständige aus den Bereichen IKT- Forschung, Medienwissenschaft und Bibliothekswesen waren auf Einladung der Projektgruppe in den Bundestag gekommen.

Zunächst stellten die Sachverständigen sich und ihre Forschungsschwerpunkte in kurzen Eingangsstatements vor. Auf diese Weise erhielten die Mitglieder der Projektgruppe bereits zu Beginn der Veranstaltung eine Reihe neuer Informationen und Denkimpulse.

Umdenken in der Wissenschaftsgemeinde

Die Themen und Meinungen während der rund vierstündigen Anhörung waren so vielfältig und breit, wie die Bereiche Bildung und Forschung es erwarten ließen. In einem Punkt aber waren sich alle sechs Sachverständigen einig: Die Digitalisierung in Bildung und Forschung ist keine Einbahnstraße. Es müsse künftig zum einen darum gehen, die notwendigen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass wissenschaftliches Arbeiten in modernen virtuellen Forschungsumgebungen zukunftsfähig wird. Zum anderen müsse sich aber auch in der Wissenschaft selbst ein Wandel vollziehen. Tradiertes Forschen und Publizieren sollte sich stärker als bislang – unter Wahrung der wissenschaftlichen Qualität – den neuen digitalen Möglichkeiten zuwenden. Das erfordere nicht zuletzt auch ein Umdenken in der Wissenschaftsgemeinde.

Zentrale Forschungseinrichtung Internet

Prof. Dr. Manfred Broy vom Institut für Informatik der Technischen Universität München sagte, dass alle grundlegenden Fragen der Digitalisierung nicht nur die Wirtschaft, Politik, Gesellschaft oder Kultur beträfen, sondern eben auch die Wissenschaften. Vor allem hier müsse die Suche nach Antworten künftig stärker interdisziplinär erfolgen. Defizite, so Broy, gebe es insbesondere im Bereich der Internetforschung, also der Wissenschaft, die sich mit dem Internet als Gegenstand beschäftige. Um hier weiter voran zu kommen, sollte es in Deutschland eine zentrale Forschungseinrichtung geben, die sich disziplinübergreifend mit den technischen und wirtschaftlichen, aber auch den politischen, rechtlichen und ethischen Aspekten der Digitalisierung beschäftige. Gegenwärtig existierten nur Einzelforschungseinrichtungen, die sich mit entsprechenden Ausschnitten des Themas auseinandersetzen. Eine Einrichtung aber, die alles unter einem Dach vereine, fehle bislang.

Digitalisierte Forschungsergebnisse: nachvollziehbarer und überprüfbarer

Dr. Johannes Fournier von der Deutschen Forschungsgemeinschaft e.V. sagte, dass sich das wissenschaftliche Arbeiten durch die Zunahme an digital verfügbaren Informationen enorm verändert habe. Zum einen seien dies nachträglich digitalisierte, physisch vorhandene Materialien. Zum anderen würden digitale Informationen aber auch zunehmend genuin produziert. All diese Informationen würden heute nicht nur gelesen, sondern mittels computergestützter Verfahren auch ausgewertet und weiter verarbeitet.

Auch die Formen der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen hätten sich mit der Digitalisierung deutlich verändert. So genannte Enriched oder Enhanced Publications, führte Fournier aus, kombinieren beispielsweise Forschungsergebnisse mit digitalen Elementen wie Animationen oder Softwareanwendungen. Dies führe dazu, dass Forschungsergebnisse immer besser nachvollziehbar und überprüfbar würden. Um diese Entwicklung zu unterstützen, müssten Publikationen und Daten aber offen bereitgestellt werden. Das allerdings könne nur im rechtlich gestatteten Rahmen geschehen – vor allem, was die Nutzung der Daten angehe.

Altes Konzept: Spielerisches Lernen

Prof. Dr. Peter A. Henning, Lehrstuhlinhaber für Informatik an der Hochschule Karlsruhe,  berichtete von mehreren Trends im Bereich der computergestützten Bildung. Das Lernen durch Spiele sei evolutionär betrachtet eine sehr alte Methode des Kompetenzerwerbs, weshalb auch das so genannte Game-based-Learning nun zunehmend wieder in das Blickfeld gerate. Einen weiteren Trend stellt nach Hennings Ansicht das mobile Lernen dar. Immer mehr Menschen können auf ihren Smartphones digitale Lerninhalte empfangen. Nicht unerheblich sei dabei die so genannte Augmented Reality. Hierbei würden Kameraaufnahmen mit zusätzlichen Informationen auf dem Smartphone unterlegt und Lerninhalte so präsentiert, dass sie auch auf einem kleinen Handybildschirm gut sichtbar seien. Ein dritter Trend in der digitalen Wissensvermittlung sei das Lernen durch Social Media. Hier könne leicht und erfolgversprechend in Communitys gelernt werden.

Diesem Trend widerspreche allerdings die Tatsache, dass sich an den Schulen noch nicht viel verändert habe. Lehrerinnen und Lehrer warteten oftmals noch immer darauf, dass ihnen pädagogische Modelle präsentiert würden, während sich die digitale Revolution unaufhaltsam vollziehe.

Tradierte Denkweisen an digitale Notwendigkeiten anpassen

Prof. Dr. Otfried Jarren, Prorektor Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Zürich, stellte die Frage nach der künftigen Organisation der Forschung. Technikinnovationen seien bisher immer durch entsprechende Forschung begleitet worden. Man untersuche nun die Wirkungen der Digitalisierung und frage nach kausalen Zusammenhängen. Dies sei Wirkungsforschung im Bereich der Technikfolgenabschätzung. Schwieriger handhabbar hingegen würden die Auswirkungs- und die Innovationsforschung. Jarren bezeichnete es deshalb als eine zentrale Herausforderung für die Wissenschaften, künftig gleichermaßen Wirkung, Auswirkung und Innovation in den Blick zu nehmen. Zwar setzten sich viele Fachbereiche mit den Phänomenen des digitalen Zeitalters auseinander, allerdings herrsche auch immer noch ein gewisser disziplinärer Konservatismus. Dies liege vor allem daran, dass jede Disziplin ihre spezifischen Methoden und ihren spezifischen Zugang habe. Oftmals sei es schwierig, bestimmte tradierte Denkweisen an digitale Notwendigkeiten anzupassen. Insofern gehe es vor allem um das Entwickeln entsprechend neuer Methoden und Sichtweisen.

Paradigmenwechsel

Dr. Frank Simon-Ritz, Direktor der Universitätsbibliothek Weimar, beschrieb die aktuelle Situation in seinem Wirkungsbereich. Er sagte, dass die Bibliotheken auf dem Feld der Digitalisierung in den vergangenen Jahren bereits viel geleistet hätten. Es seien dabei aber auch Defizite deutlich geworden. So konnten von den im 16. bis 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum erschienenen Drucken beispielsweise bis dato nur etwa zehn Prozent digitalisiert werden. Dies unter anderem deshalb, weil schlichtweg das Geld fehle. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sei in der öffentlichen Förderung bislang die nahezu einzige Geldgeberin. Ein weiteres Problem bestehe darin, so Simon-Ritz, dass bei vielen Werken der Urheber oder dessen Nachfahren nicht mehr ermittelt werden könnten. Dies seien die so genannten verwaisten Werke. Hier müsse eine rechtliche Lösung gefunden werden. Das aber sei Sache der Politik und des Urheberrechtes, nicht die der Bibliotheken.

Virtuelle Forschungsumgebung: wesentliche Komponente der Forschungsinfrastruktur

Dr. Heike Neuroth, federführendes Mitglied in der Arbeitsgruppe "Virtuelle Forschungsumgebungen" der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, thematisierte diesen neuen Forschungsbegriff. Hierbei, so Neuroth, handele es sich um „eine Arbeitsplattform, die eine kooperative Forschungstätigkeit durch mehrere Wissenschaftler an unterschiedlichen Standorten zur gleichen Zeit ohne Einschränkungen ermöglicht. Inhaltlich unterstützt sie potenziell den gesamten Forschungsprozess – von der Datenerhebung, der Diskussion und weiteren Bearbeitung der Daten bis zur Publikation der Ergebnisse". Virtuelle Forschungsumgebungen könnten insofern als wesentliche Komponenten einer modernen Forschungsinfrastruktur gelten.

Die Bedeutung des Internets für die Wissenschaft unterstrich Neuroth mit der Aussage, dass Forschung heute immer mehr vernetzt und globalisiert stattfinde. Das Bild des vor sich hinbrütenden Einzelwissenschaftlers verschwinde zusehends. Dies geschehe auch, weil sich Wissenschaftler inzwischen große und teure Instrumente wie beispielsweise den Teilchenbeschleuniger am Genfer CERN teilten. Vor diesem Hintergrund entstünden virtuelle Forschungsumgebungen, die die Forschungsinfrastruktur wie man sie bislang kannte, künftig grundlegende verändern werden. An dieser Stelle bliebe noch einiges zu tun, aber der erste wichtige Schritt sei gemacht, sagte Neuroth.

Nach knapp vier Stunden hatten die Mitglieder der Projektgruppe Bildung und Forschung so viele neue Informationen erhalten, dass sie beschlossen, diese in der nächsten regulären Projekgruppensitzung am 21. November 2011 gemeinsam auszuwerten. Die Ergebnisse der Anhörung sollen auf jeden Fall in den Zwischenbericht der Enquete-Kommission zum Thema Bildung und Forschung einfließen.


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Stand: 07.11.2011