Hofreiter wirft Großer Koalition "Zukunftsvergessenheit" vor Interview mit der Zeitung "Das Parlament"

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 23. Dezember 2013)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –

Der Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, hat eine „konstruktiv-kritische Opposition” seiner Partei gegenüber der neuen Bundesregierung angekündigt. Zugleich äußerte er in einem Interview der Wochenzeitung “Das Parlament” massive Kritik am schwarz-roten Koalitionsvertrag. Dieser bedeute “Stillstand und Zukunftsvergessenheit für das Land”. Beim Thema Energie sei eine Energiewende hin zu Kohlekraftwerken geplant “und nicht zu erneuerbaren Energien, nicht zum Schutz unserer Lebensgrundlagen und damit nicht zum Schutz zukünftiger Generationen”.

Ferner monierte der Grünen-Fraktionschef ein “Ungleichgewicht” der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Ausgaben: “Wir haben überhaupt nichts dagegen, dass die Rentner ein gutes Auskommen haben, aber zwölf Milliarden Euro im Jahr für das Rentenpaket, zulasten der Beitragszahler, 1,5 Milliarden im Jahr für Bildung und Kinderbetreuung und nichts für die Bekämpfung der Kinderarmut – das zeigt: Dieser Koalitionsvertrag ist rückwärtsgewandt, er trifft überhaupt keine Vorsorge für die Zukunft der Menschen.”

Dabei könne seine Fraktion auch anerkennen, “wenn die Regierung etwas richtig macht”, fügte Hofreiter hinzu. Die Grünen hätten schon bei der Bildung der Großen Koalition gesagt, dass sie nicht alles schlecht fänden. Dies gelte beispielsweise beim Thema Mindestlohn. Seine Fraktion hätte zwar gern einen flächendeckenden und zügig eingeführten Mindestlohn, aber die Koalition mache “immerhin einen Schritt in die richtige Richtung”. Das gleiche gelte für die Abschaffung des Optionszwangs im Staatsangehörigkeitsrecht: “Natürlich stehen wir für einen entspannten Umgang mit doppelter Staatsbürgerschaft auch für Nicht-EU-Bürger und hätten hier gerne mehr Bewegung, aber die Abschaffung des Optionszwangs geht trotzdem in die richtige Richtung”, sagte Hofreiter.

 Das Interview im Wortlaut:

Herr Hofreiter, noch nie hat die Bildung einer neuen Bundesregierung so lange gedauert wie in diesem Jahr. Was sagt das über die neue Große Koalition?
Hofreiter:
Es ist bezeichnend, dass diese Koalition, die ewig gebraucht hat, um sich zu bilden, einen Koalitionsvertrag  hervorgebracht hat, der Stillstand und Zukunftsvergessenheit für das Land bedeutet.

Die Idee der SPD, ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag entscheiden zu lassen – was auch zu einer Verzögerung führte –, die hätte auch gut zu den Grünen gepasst.
Hofreiter:
Das ist richtig – wir sind geübt in basisdemokratischen Entscheidungen. Der SPD-Mitgliederentscheid war aber nicht die Hauptursache für die Verzögerung; die Hauptursache war das ewige Rumgehampel der Verhandler.

Welches Rumgehampel?
Hofreiter:
Letztendlich diese Inszenierung: Eine Riesenrunde und nochmal eine Riesenrunde – es kann mir keiner erzählen, dass man mit 75 Leuten relevant über irgendetwas verhandeln kann, noch dazu über komplexe Details. Das ist einfach eine Quatschinszenierung gewesen.

Was stört Sie denn besonders am Koalitionsvertrag von Union und SPD?
Hofreiter:
Die Zukunftsvergessenheit. Konkret: Was beim Thema Energie geplant ist, ist letztendlich eine Energiewende hin zu Kohlekraftwerken und nicht zu erneuerbaren Energien, nicht zum Schutz unserer Lebensgrundlagen und damit nicht zum Schutz zukünftiger Generationen. Der nächste Punkt, der uns stört, ist das Ungleichgewicht der Ausgaben. Wir haben überhaupt nichts dagegen, dass die Rentner ein gutes Auskommen haben, aber zwölf Milliarden Euro im Jahr für das Rentenpaket, zulasten der Beitragszahler, 1,5 Milliarden im Jahr für Bildung und Kinderbetreuung und nichts für die Bekämpfung der Kinderarmut – das zeigt: Dieser Koalitionsvertrag ist rückwärtsgewandt, er trifft überhaupt keine Vorsorge für die Zukunft der Menschen.  

Sie hatten als ersten Kritikpunkt die Energiewende genannt. An der kann sich jetzt Herr Gabriel abarbeiten, nicht die Grünen. Wie weh tut das der Fraktion?
Hofreiter:
Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir eine echte Energiewende zügig durchsetzen. Aber genau wegen der mangelnden Kompromissbereitschaft bei Ökologie und Klimaschutz sind die Sondierungsgespräche mit der Union gescheitert. Wenn die Union wirklich mit uns hätte regieren wollen, war es keine sehr kluge Strategie, uns ausgerechnet beim Themenkomplex ökologische Modernisierung, zu dem die Energiewende gehört, de facto nichts anzubieten. Wer mit den Grünen regieren will, muss wissen: Bei ökologischer Modernisierung muss es echte Veränderungen geben und keine reine Kosmetik.

Als Staatssekretär hat sich Gabriel mit Rainer Baake einen der profiliertesten Energieexperten ihrer Partei geholt...
Das sehen wir mit einem gewissen Amusement, dass eine so große Koalition aus SPD und CDU/CSU bei einem so zentralen Thema nicht ausreichend eigene Fachleute hat. Aber wir sind gerne bereit, mitzuarbeiten, wenn die Regierung bereit ist, den verkorksten Koalitionsvertrag Koalitionsvertrag sein zu lassen und gemeinsam mit uns eine vernünftige Energiewende zu machen. Eine echte Energiewende ist eine der wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit, da bringen wir unsere Fachexpertise gerne ein.

Eine Energiepolitik weg von der Kohle, meinen Sie?
Hofreiter:
Eine Energiepolitik weg von Atom, eine Energiepolitik weg von der Kohle, hin zu erneuerbaren Energien. Die Energieversorgung der Zukunft ist zuverlässig, versorgungssicher, preisgünstig und CO2-arm.

Ließe sich eine solche Energiewende nicht eher mit der Union als mit der klassischen "Kohlepartei" SPD umsetzen?
Hofreiter:
Das hört man öfters. Aber die Erfahrungen aus den Sondierungsgesprächen und auch die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Union zeigen, dass die Union oft noch schlimmer ist als die SPD. Die SPD ist zwar die klassische Kohlepartei, aber die CDU ist die klassische Großkonzernpartei. Da geht es weniger um eine vernünftige Energiepolitik, sondern darum, die Interessen von E.ON, RWE und Co. zur Geltung zu bringen. Da ist die Union ganz vorne dabei.

In sechs Ländern regieren die Grünen mit der SPD, in Hessen wohl bald mit der CDU. Erschwert es die Oppositionsarbeit gegenüber Schwarz-Rot, wenn man in den Ländern sowohl mit der Union als auch mit der SPD koaliert?
Hofreiter:
Wir sind bekannt dafür, dass wir nicht einfach Pauschalkritik üben. Daher erschwert es die Arbeit nicht, sondern unterstützt uns, weil wir auch eine starke Fachkompetenz in den Ländern haben. Wir haben ja auch bei der Bildung der Großen Koalition gesagt, dass wir nicht alles schlecht finden. Das wäre auch grotesk. Zum Beispiel beim Thema Mindestlohn: Wir hätten zwar gern einen flächendeckenden Mindestlohn, der zügig eingeführt wird, aber die Koalition macht immerhin einen Schritt in die richtige Richtung. Das gleiche gilt für die Abschaffung des Optionszwangs: Natürlich stehen wir für einen entspannten Umgang mit doppelter Staatsbürgerschaft auch für Nicht-EU-Bürger und hätten hier gerne mehr Bewegung, aber die Abschaffung des Optionszwangs geht trotzdem in die richtige Richtung. Wenn man freilich sagt, die Regierung macht eh alles falsch, hat man natürlich ein Problem, wenn man etwa in den Ländern mitregiert. Aber wir werden eine – wie nennen wir das so schön – konstruktiv-kritische Opposition sein, die auch anerkennen kann, wenn die Regierung etwas richtig macht.

Wenn Schwarz-Grün in Hessen funktioniert, weckt das zwangsläufig entsprechende Erwartungen auf Bundesebene?
Hofreiter:
Nicht zwangsläufig. Aber nachdem es drei Mal – 2005, 2009 und bei der jetzigen Bundestagswahl – für Rot-Grün nicht gereicht hat, ist es klar, dass wir uns nach weiteren Gestaltungsoptionen umsehen. Dazu gehört Rot-Rot-Grün, was natürlich stark von der Entwicklung der Linkspartei abhängt. Dazu gehört auch Schwarz-Grün, was aber auch entscheidend vom künftigen Kurs der CDU abhängt. Sie muss sich klarmachen, dass es ohne eine echte ökologische Modernisierung Schwarz-Grün nicht gibt.

Jetzt sitzen Sie erst einmal mit der Linken in der Opposition, die insgesamt zu klein ist, um nach den bisherigen Regeln Minderheitenrechte wie zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen nutzen  zu können. Nach ihrem Willen sollen diese Rechte von zwei Fraktionen gemeinsam, unabhängig von der Größe, ausgeübt werden können. Wie hoffnungsvoll sind Sie, dass sich die Koalition darauf einlässt?
Hofreiter:
Das werden wir sehen. Da sind wir gerade in Verhandlungen. Aber da uns alle Staatsrechtler und Verfassungsrechtler, die wir konsultiert haben, gesagt haben, dass die Rechte der Opposition unabhängig sind von deren Größe, gibt es zwei Möglichkeiten: Sie geben es uns freiwillig oder wir klagen in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht.

Sie wollen die Neuregelung für die  Minderheitenrechte per Gesetz und Geschäftsordnung festschreiben. Wieso reicht es nicht, wenn der Bundestag wie im Koalitionsvertrag vorgesehen einen entsprechenden Beschluss zur Ausübung dieser Rechte fasst?
Hofreiter:
Weil es dann letztendlich wie ein Gnadenrecht wäre. Wir wollen diese Rechte aber unabhängig davon, ob die Große Koalition gerade gut oder schlecht gelaunt ist. Deswegen muss es formal in der Geschäftsordnung beziehungsweise  gesetzlich festgeschrieben werden.