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Das Gemälde "Zeit und Leben" von Bernhard Heisig wird umgehängt. © DBT/Volke
Als im Jahre 1997 Bernhard Heisig einen Auftrag des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages erhielt, führte dies zur ersten großen Debatte über das Kunstprogramm für das Reichstagsgebäude. Sie fügte sich ein in die seit der Wiedervereinigung andauernde Auseinandersetzung um den künstlerischen und gesellschaftlichen Stellenwert der in der DDR entstandenen Kunstwerke. Sie war mithin Teil jenes "Bilderstreites", der zuvor schon um die Hängung der Bestände in der Neuen Nationalgalerie entbrannt war. In einem offenen Brief vom 31. Januar 1998, überwiegend von ostdeutschen Künstlern und Kunstkritikern unterschrieben, wurde der Kunstbeirat aufgefordert, die Einladung an Heisig zurückzunehmen – was wiederum einen offenen Brief, diesmal zugunsten Heisigs, ebenfalls mit den Unterschriften zahlreicher Künstler und Kunstkritiker provozierte.
Der Kunstbeirat prüfte und wog die Argumente beider Seiten und lehnte eine "Gesinnungsprüfung" ab. Das Gremium beschloss einstimmig, an seiner Entscheidung festzuhalten mit der Begründung, dass einzig das "formale und gehaltliche Niveau" von Heisigs Kunst ausschlaggebend für seine Beauftragung gewesen sei. Die Erwartung des Beirates, dass Heisig einen bedeutenden, sowohl generationenübergreifenden wie biografisch-selbstkritischen Diskussionsbeitrag zum Kunstkonzept für das Reichstagsgebäude leisten würde, sollte sich alsdann auch erfüllen: Sowohl der Titel "Zeit und Leben" als auch das Selbstporträt Heisigs in diesem Gemälde erhellen, dass der Maler seine Biografie bewusst mit jenen Epochen deutscher Geschichte verklammert, die er so lebhaft kritisch und zugleich in nachdenklich selbstkritischer Betrachtung im Gemälde darstellt.
Mit dem Gemälde "Zeit und Leben" hat Bernhard Heisig in seiner an die Tradition des deutschen Expressionismus anknüpfenden Malweise ein aufwühlendes Panorama deutscher Geschichte entworfen. Eine kaum überschaubare Fülle von Bildmotiven kreist um Themen aus der Geschichte Preußens, so um Friedrich den Großen, entlarvt das opportunistische Mitläufertum des "Pflichttäters" oder greift die für die Rezeption der Kunst in der DDR so bedeutende und bezeichnende Ikarus-Metapher auf. Eindrucksvoll verlebendigt Heisigs Gemälde – das seine Themen wie auf einem Fries entfaltet – Täter, Opfer und Mitläufer und wirft die Frage nach der Möglichkeit der Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber staatlicher Gewalt und Bevormundung auf, nach seiner Chance, ein ethisch verantwortetes, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Wie eine Abfolge von Filmschnitten sind die einzelnen Szenen aneinandergereiht, überlagern und überschneiden sich jedoch vielfach. Am linken Bildrand eröffnen die schwarz-rot-goldenen Farben der Revolution von 1848 das dramatische Geschehen. Hinter einem sterbenden Soldaten wird das Motiv des preußischen Wappenadlers sichtbar, oberhalb der steinernen Büste Bismarcks schlägt eine große, altmodische Pendeluhr die Stunde. Ein menschliches Skelett versucht Friedrich den Großen zu ergreifen und mit sich fortzuziehen, während der alte König den Totenschädel seines Jugendfreundes Katte in der Hand hält. An diese traumatische Erfahrung Friedrichs wird erneut durch die angrenzende Kerkertür erinnert, denn Friedrich wurde von seinem Vater gezwungen, aus dem Kerker heraus die Enthauptung seines Freundes anzuschauen. In ein Gitter ist die Rückenfigur eines osteuropäischen Juden im Kaftan eingezwängt, dessen ausgestreckte Arme zum Doppelporträt Hitlers mit Totenkopf und bekrönenden Propagandalautsprechern überleiten. Unterhalb dieser Szene zitiert Heisig das letzte Selbstporträt von Felix Nussbaum: "Selbstbildnis mit Judenpaß" aus dem Jahre 1943 vor Nussbaums Deportierung und Ermordung. Die zentrale Figur des Kriegsinvaliden, der als opportunistischer "Pflichttäter" entlarvt wird und über Seile mit dem Gestern und Heute verbunden ist, hebt rechthaberisch-belehrend den Zeigefinger, während neben ihm eine rot leuchtende monumentale Uhr "fünf vor zwölf" anzeigt.
Noch einmal gellen Schreie aus dem aufgerissenen Mund einer Fratze "du stirbst für dich" oder "deine Leistung wird dir gestrichen", dann klingt die Folge bedrängender traumatischer Bilder aus und leitet über vom großen historischen Weltgeschehen, von Revolution und Diktatur zum überschaubar ländlichen Mitteldeutschland, zu Bernhard Heisigs Gegenwart: Das grün gerahmte Storchenwappen vom Domstift St. Petri in Bautzen, ein Liebespaar, die Standfigur des Roland von Stendal mit dem brandenburgischen Adlerwappen, Sinnbild bürgerlicher Stadtfreiheit, unmittelbar über dem Kopfe des Selbstporträts des Malers führen zum unmittelbaren Umfeld von Heisigs Atelier in Strodehne: Nur wenige Kilometer entfernt unternahm Otto Lilienthal Flugversuche und verunglückte tödlich. Sein Fluggerät in der rechten oberen Ecke des Gemäldes erinnert noch einmal an den Ikarus-Mythos, der für viele Künstler und Bürger in der DDR zum Sinnbild einer gescheiterten Utopie und der Sehnsucht nach Freiheit wurde. Doch ist das Motiv nicht groß und bedrängend wie in vielen anderen Gemälden Heisigs. Es zeigt nicht den Abstürzenden oder Abgestürzten, sondern einen leichten, leuchtend ins Lichte Entschwebenden. Spielerisch klingt das Gemälde mit einem Bild der Hoffnung aus:
Ein kleiner Junge hält seinen rosaroten Flugdrachen auf grüner Wiese, Ausdruck der Hoffnung, dass die Irrungen und Wirrungen der jüngsten deutschen Geschichte nunmehr überwunden sein mögen.
Dem Spiel mit dem Flugdrachen steht, tragisch akzentuiert, der Ikarus-Mythos gegenüber, wie ihn Heisig über Jahrzehnte in zahlreichen Bildern seines Werkes umkreist hat – am eindringlichsten im politischen Pendant zum Gemälde im Reichstag, nämlich in dem Gemälde "Ikarus" aus dem Jahre 1975 für den "Palast der Republik".
geboren 1925 in Breslau, verstorben am 10. Juni 2011 in Strodehne, Brandenburg.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages