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Der Bundestag hat am Freitag, 4. Juli 2014, in erster Lesung über die von der Bundesregierung geplante Pflegereform beraten. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) kündigte für die laufende Wahlperiode umfassende Leistungsverbesserungen für alle Pflegebereiche an. In der kontroversen Debatte hielt die Opposition dem Minister und der schwarz-roten Koalition vor, die dringend nötige Pflegereform unnötig zu verzögern und grundsätzliche Probleme wie die Entlohnung und Ausbildung der Pflegekräfte gar nicht anzugehen. Auch der Vorsorgefonds für die sogenannte Babyboomer-Generation wird von der Opposition als völlig falsche Weichenstellung abgelehnt.
Das Pflegereformgesetz (18/1798) sieht für Anfang 2015 Leistungsverbesserungen für Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte vor. Zugleich steigt der Beitrag zur Pflegeversicherung von derzeit 2,05 Prozent des Bruttoeinkommens (Kinderlose 2,3 Prozent) steigt Anfang nächsten Jahres um 0,3 Punkte auf dann 2,35 Prozent (2,6 Prozent für Kinderlose).
Mit insgesamt zwei „Pflegestärkungsgesetzen“ sollen in dieser Wahlperiode die Beiträge in zwei Schritten um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Dadurch stehen dann rund sechs Milliarden Euro mehr pro Jahr für die Pflege zur Verfügung. Zu den Leistungsanpassungen gehört ein Inflationsausgleich in Höhe von vier Prozent (18/1600), der ab 2015 greift.
Noch in dieser Wahlperiode soll mit dem zweiten Gesetz ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden. Künftig wird es fünf statt drei Pflegestufen geben, um die Pflegebedürftigkeit genauer zuordnen zu können. Dabei wird nicht mehr zwischen körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigungen unterschieden.
Vielmehr soll der Grad der Selbstständigkeit im Alltag entscheidend sein. Das soll unter anderem den Demenzkranken nachhaltig zugute kommen. Derzeit wird der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Praxis noch erprobt, um eine Fehlsteuerung auszuschließen.
Gröhe betonte, es gehe darum, die Pflege nachhaltig zu stärken. Die stark steigende Zahl der Pflegebedürftigen zeige die gesellschaftliche Dimension. Es gehe aber nicht nur um Zahlen, sondern letztlich um Menschen. Gute Pflege sei Ausdruck der Humanität einer Gesellschaft. In der Pflege müssten sowohl Herzenswärme als auch Fachkompetenz zum Ausdruck kommen.
Pflege betreffe im Übrigen nicht nur alte Leute, auch junge Leute könnten nach einem Unfall oder einer Krankheit zum Pflegefall werden. Auch für diese Menschen müsse es eine angemessene Versorgung geben.
Mit dem Reformgesetz werde nun ein erster wichtiger Schritt zur Stärkung des Pflegesystems begangen. Insgesamt 2,4 Milliarden Euro pro Jahr flössen künftig zusätzlich in die ambulante und stationäre Pflege. Mehr Geld werde beispielsweise bereitgestellt für nötige Umbauten zu Hause.
Gröhe dankte neben den Pflegern auch den Angehörigen, die einen entscheidenden Teil zur Betreuung der Betroffenen beitrügen. Er wies darauf hin, dass auch Demenzkranke schon von der ersten Reformstufe profitierten. Das sei wichtig im Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff.
Die Bürokratie in der Pflege soll reduziert und die Pfleger besser bezahlt werden. Den heftig umstrittenen Vorsorgefonds verteidigte Gröhe als konkreten Beitrag zur Generationengerechtigkeit.
Gesundheitsexperten der Fraktionen von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gingen mit der Regierung harsch ins Gericht und hielten ihr vor, wesentliche Punkte in der Pflege gar nicht oder unzureichend anzugehen. Pia Zimmermann (Die Linke) rügte: "Sie täuschen Handlungsbereitschaft vor." Die Teilleistungsversicherung sei ohnehin falsch, weil sie Pflegeleistungen vom Geldbeutel der Bürger abhängig mache.
Die Linke verlangt in einem Antrag (18/1953) die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung, um damit alle Pflegerisiken abzudecken. Mit der jetzt geplanten Reform würden die Belastungen für Angehörige und Pfleger nicht geringer. Die erledigten ihre Arbeit ohnehin schon "im Dauerlauf " und würden auch noch schlecht bezahlt.
Die Grünen-Pflegeexpertin Elisabeth Scharfenberg monierte, mit der Reform bleibe die Regierung "weit hinter den berechtigen Erwartungen der Menschen zurück". So würden Milliarden von Euro in einem Fonds geparkt, der nicht funktionieren könne. Das sei "Unsinn".
Scharfenberg räumte ein, dass die Beitragsanhebung richtig sei, weil die Pflege mehr Geld brauche. Geld allein sei aber noch keine Reform. Die Koalition habe keine Vision für die Pflege und kein fortschrittliches Konzept. Die "zusammengewürfelten Leistungsverbesserungen" seien allenfalls Stückwerk. So werde nichts unternommen gegen den Fachkräftemangel und bei der Ausbildung der Pflegekräfte sei auch keine einheitliche Linie zu erkennen. Derweil seien die Pfleger "ausgepowert" und würden weiter alleingelassen. Dies sei alles "kraftlos".
Abgeordnete der Koalitionsfraktionen konterten, die Kritik der Opposition sei pauschal und ungerechtfertigt. Hilde Mattheis (SPD) sagte, Fundamentalkritik, wo es um Leistungsverbesserungen gehe, sei nicht dienlich.
Sie betonte: "Wir wollen mehr Anerkennung und Wertschätzung für Pflege." Geplant sei auch eine Ausbildungsreform. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff werde auf jeden Fall kommen, aber Sorgfalt gehe hier vor Schnelligkeit.
Auch der CSU-Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein monierte, es sei zu wenig, wenn die Opposition alles"pauschal "in Bausch und Bogen" verdamme. Die Reform müsse in ihrer Substanz gewürdigt werden. So werde konkret etwas für die Demenzkranken getan, ferner kämen 20.000 Betreuungskräfte hinzu.
Nüßlein warnte, wer das alles kleinrede, verunsichere die Bürger und verringere die Akzeptanz der Reform. Die vor fast 20 Jahren eingeführte gesetzliche Pflegeversicherung sei "ein Erfolgsmodell, um das uns Europa mittlerweile beneidet."
Der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach betonte in seiner Rede: "Die Reform ist teuer und wir sind stolz darauf. Sie muss teuer sein." Es gehe um rund sechs Milliarden Euro mehr oder 20 Prozent Leistungsvolumen. Dabei würden nicht nur die Leistungen um vier Prozent dynamisiert, sondern auch zusätzliche Leistungen erbracht.
Dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff erst später eingeführt werde, sei bei der großen Zahl der Pflegebedürftigen unausweichlich. Es müsse sichergestellt werden, dass niemand weniger bekomme, als ihm zustehe. Lauterbach betonte, es wäre unverantwortlich, das im Hauruck-Verfahren einzuführen. Das komplexe System müsse erst ausgetestet werden.
Jens Spahn (CDU/CSU) erinnerte daran, dass alte Menschen irgendwann nicht mehr in der Lage seien, die einfachsten Dinge im Alltag selbst zu schaffen: aufstehen, waschen, essen. Diese Situation sei für die Betroffenen wie auch die Angehörigen "physisch und psychisch ganz schwierig". Ihnen müsse daher die Unterstützung gelten mit mehr Zeit, mehr Pflege und mehr Betreuung.
Spahn fügte mit Blick auf die helfenden Angehörigen hinzu: "Familien sind der Pflegedienst der Nation." Die Kritik der Opposition nannte er "kleinkariert". Erwin Rüddel (CDU/CSU) sprach von der bedeutendste Reform seit Bestehen der Pflegeversicherung und fügte an: "Wir wollen den großen Wurf."
Der Gesetzentwurf und der Antrag der Linken wurden zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesen. (pk/04.07.2014)