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Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen, hat eine deutsche Beteiligung an Luftschlägen der USA gegen die radikale Miliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und im Nordirak ausgeschlossen. „Unser Ziel sollte es sein, die demokratischen Kräfte in der Region in die Lage zu versetzen, diesen Kampf zu gewinnen“, sagt er in einem am Montag, 15. September 2014, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Diese bräuchten dafür eine möglichst breite politische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Das Interview im Wortlaut:
Herr Annen, US-Präsident Obama hat kürzlich gesagt: „Wenn man die Abendnachrichten sieht, fühlt es sich an, als falle die Welt auseinander.“ Geht es Ihnen ähnlich angesichts der Meldungen aus der Ukraine und dem Nahen Osten?
Mir ist dieser Gedanke auch schon gekommen. Und dass etwas in der Welt aus den Fugen geraten ist, merke ich vor allem an den Reaktionen der Bürger. Im Bundestagswahlkampf vor einem Jahr ging es den meisten vor allem um Rentenpolitik, Mindestlöhne, Bildung. Das hat sich verändert. Zum ersten Mal werde ich mit Blick auf die Beziehungen zu Russland direkt gefragt: „Kehrt der Krieg nach Europa zurück?“
Und was antworten Sie?
Ich bin nach wie vor optimistisch, dass wir einen Krieg in der Ukraine vermeiden können. Aber die deutsche Außenpolitik hat im Moment alle Hände voll zu tun, eine solche Option abzuwenden. Ohne Ängste schüren zu wollen, aber das ist eine dramatische Entwicklung. Die aktuellen Konflikte finden in unserer unmittelbaren Nachbarschaft statt. Sie bedrohen uns direkt.
Was macht den Ukraine-Konflikt, aber auch den Vormarsch der radikalen Miliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und dem Irak, so gefährlich für uns?
In der Rhetorik von Russlands Präsident Wladimir Putin deutet einiges darauf hin, dass es sich bei der Annexion der Krim und der Auseinandersetzung um die Ostukraine nicht um einen Sonderfall handelt, sondern dass die einseitige Verschiebung von Grenzen zur Realität in Europa werden könnte. Wer das tut, spielt mit dem Feuer, wie wir aus unserer eigenen Geschichte wissen. Und IS will im Nahen Osten einen Terrorstaat erschaffen – und auf dem Weg zum Kalifat hat die Miliz große Geländegewinne erzielt. Wir gehen davon aus, dass mehr als 300 Deutsche für IS kämpfen oder gekämpft haben. Die bringen ihre Erfahrungen und ihre Radikalisierung irgendwann wieder mit nach Deutschland. Die Gefahr von Anschlägen steigt auch hierzulande.
Deutschland hat nun Waffen an die kurdischen Peschmerga im Nordirak geliefert, um sie im Kampf gegen IS zu unterstützen. Lehrt nicht die Erfahrung, dass solche Waffen am Ende viel zu häufig in die falschen Hände geraten?
Ja, wir sind in Sorge, dass die Waffen, die wir liefern, möglicherweise für einen zukünftigen Unabhängigkeitskrieg genutzt werden könnten. Aber auch Nichtstun hat Konsequenzen. Wir mussten sehr schnell eine schwierige Entscheidung treffen: Die IS-Truppen standen nur 40 Kilometer vor der Stadt Erbil. Wir mussten verhindern, dass die Miliz die kurdische Region überrennt. Dort sind ja auch eine halbe Million Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien untergekommen, die im Rahmen der sehr begrenzten Möglichkeiten der irakisch-kurdischen Region versorgt werden.
Es wird berichtet, dass es nicht die Peschmerga, sondern Kämpfer der in Europa verbotenen Kurdenorganisation PKK waren, die die Jesiden vor dem Vorrücken der IS gerettet haben. Gehen die deutschen Waffen an die falsche Adresse?
Nein. Irakisch-Kurdistan ist die einzige Region im Irak, die vernünftig regiert wird. Wenn sie zusammenbricht, dann wäre die IS-Miliz ihrem Ziel, die Nachkriegsordnung des Nahen Ostens zu zerstören, ein großes Stück nähergekommen. Richtig ist, dass die kurdische YPG, die im Grunde genommen ein Ableger der PKK ist, im Norden Syriens ebenfalls 100.000 Flüchtlinge versorgt. Das verdient unsere Unterstützung. Wir müssen in dieser Situation bereit sein, mit allen zu reden, auch mit YPG und PKK.
Auch mit Syriens Präsident Assad?
IS konnte nur wegen der verbrecherischen Politik vom Assad überhaupt so erfolgreich werden. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass er eine Rolle spielen kann. Die einzige Rolle, die er spielen sollte, ist die vor einem Kriegsverbrechertribunal.
Über die Waffenlieferungen hat der Bundestag in einer Sondersitzung debattiert und symbolisch abgestimmt. Jetzt werden Forderungen nach einer Ausweitung des Parlamentsvorbehalts laut. Sollte das Parlament in Zukunft zustimmen müssen, bevor Deutschland Ausstattungshilfe leistet?
Es ist legitim, über eine Ausweitung des Parlamentsvorbehalts nachzudenken. An der Debatte beteilige ich mich auch gerne. Bisher gilt der Vorbehalt ja nur, wenn bewaffnete Streitkräfte in Auslandseinsätze entsendet werden sollen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich wirklich über jede einzelne Waffenlieferung im Bundestag abstimmen möchte. Diese Entscheidungen sollten Sache der Regierung bleiben.
Die USA wollen IS jetzt mit Luftschlägen auch in Syrien bekämpfen. Wird sich Deutschland daran beteiligen? Einige Außenpolitiker der Union befürworten dies.
Das ist ausgeschlossen. Unser Ziel sollte es sein, die demokratischen Kräfte in der Region in die Lage zu versetzen, diesen Kampf zu gewinnen. Dafür brauchen sie eine möglichst breite politische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Meine Hoffnung ist, dass es einen neuen Anlauf der Vereinten Nationen für einen Waffenstillstand in Syrien gibt und die neue irakische Einheitsregierung unter Führung von Haider al-Abadi eine politische Stabilisierung des Landes in Gang setzen kann. Diesen Prozess wollen wir tatkräftig unterstützen.
Sie haben die vielen Flüchtlinge in der Region erwähnt. Die Bundesregierung betont immer wieder, dass deshalb nun vor allem humanitäre Hilfe geleistet werden muss. Wie ist dann zu erklären, dass die Mittel hierfür im kommenden Jahr um 38 Prozent gekürzt werden sollen?
Das ist nicht zu erklären. Ich bin mir sicher, dass am Ende der Haushaltsberatungen ein signifikant höherer Betrag für humanitäre Hilfe bereitgestellt werden wird. Die Ressourcen der deutschen Außenpolitik müssen dauerhaft gestärkt werden.
Sprechen wir noch mal über die Ukraine. Die Nato zeigt mehr Präsenz in Osteuropa, die Sanktionen werden weiter verschärft. Sind wir nicht längst mittendrin in der Logik eines neuen Kalten Krieges?
Gegen diesen Eindruck wehre ich mich vehement. Der Konflikt hat einen ganz anderen Charakter, wenngleich dieser nicht weniger besorgniserregend ist. Putin hat kürzlich auf einer Tagung vor Jugendverbandsvertretern öffentlich daran erinnert, dass er über Atomwaffen verfügt. Dies ist eine Verschärfung der Rhetorik, wie wir sie seit Chruschtschow nicht mehr erlebt haben.
Wie kann eine weitere Eskalation verhindert werden?
Viele glauben, dass man jetzt auf Abschreckung und Militär, etwa auf eine Aufrüstung der Nato, setzen muss. Polens Präsident Bronisław Komorowski hat am Mittwoch, 10. September, im Bundestag genau diese Botschaft an uns gerichtet. Ich nehme das ernst, habe aber meine Zweifel. Wir müssen jetzt erst recht miteinander im Gespräch bleiben. Wenn man weiß, dass man keine militärischen Möglichkeiten hat, sollte man auch nicht so tun, als wären sie eine Option. Russland ist eine Nuklearmacht!
Aber die Sorgen, insbesondere der Polen und Balten, können die anderen Europäer doch nicht einfach ignorieren.
Nein, und genau hier liegt für mich die neue Verantwortung der deutschen Außenpolitik. Wir müssen eine Politik formulieren, die gegenüber Russland klar ist, die aber gleichzeitig die Ängste unserer europäischen Partner berücksichtigt. Europa zusammenhalten – das hat jetzt oberste Priorität. Deshalb ist Außenminister Steinmeier ins Baltikum gereist, deshalb war Bundeskanzlerin Merkel in Polen, deshalb halten wir permanenten Kontakt auch auf parlamentarischer Ebene.
(joh/15.09.2014)