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Berlin: (hib/AHE) Experten ziehen eine gemischte Bilanz der Umwälzungen im Zuge des „Arabischen Frühlings“. In einer Anhörung des Auswärtigen Ausschusses am Mittwochvormittag, die sich der Entwicklung des Politischen Islams in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas widmete, stand vor allem die Frage im Mittelpunkt, ob und auf welche Weise die islamisch geprägten Staaten der Region demokratische Verhältnisse und Rechtsstaatlichkeit anstreben und welche Rolle dabei islamistische Akteure einnehmen. In einem Punkt bestand Einigkeit unter den fünf Sachverständigen. Islamistischen Kräfte wie die Muslimbrüder waren nicht die treibenden Kraft hinter dem „Arabischen Frühling“ – aber in vielen Ländern wie in Tunesien und Ägypten sind sie in demokratischen Wahlen zum entscheidenden Akteur, zum „Gewinner“ der Umwälzungen geworden.
Der Sachverständige Thomas Birringer (Konrad-Adenauer-Stiftung) unterstrich, dass das Erstarken des Politischen Islams keine neue Entwicklung, sondern durch die Umbrüche in der arabischen Welt erst richtig sichtbar geworden sei. Kräfte wie die Muslimbrüder wurden unterschätzt und zwar nicht nur im Westen sondern auch von den säkularen Eliten in den Ländern selbst, sagte Birringer. Zu beobachten sei im Augenblick, dass sie nach den Wahlerfolgen in Ländern wie Ägypten und Tunesien zunächst nicht eine islamistische Agenda verfolgten, sondern die Sicherung ihrer Macht.
Michael Bröning von der Friedrich-Ebert-Stiftung nannte mehrere Faktoren, die den Erfolg der Muslimbrüder ausmachten: Sie könnten sich glaubwürdig von den alten Regimen abgrenzen und böten für weite Teile der Bevölkerung eine überzeugendes gesellschaftspolitisches Alternativmodell. Zudem hätten sie durch ihr teils jahrzehntelanges soziales Engagement breite Akzeptanz sowie einen höheren Organisationsgrad als die Parteien der politischen Konkurrenz. Bröning machte deutlich, dass Islamisten weiterhin eine wichtige Rolle spielen würden, sich aber zugleich durch ihre Beteiligung an der Macht der Richtungsstreit im islamistischen Lager verschärfen werde – etwa zwischen Muslimbrüdern und Salafisten. Kernfrage sei, ob die „Staaten des Arabischen Frühlings islamistisch, oder ob die Islamisten staatstragend werden“, sagte Bröning.
Der Islamwissenschaftler Mathieu Guidère (Universität Toulouse) betonte, dass Islamisten erstmals ein „muslimische Demokratie“, ein förmlich demokratisches System auf Basis des Islams, anstrebten. Dabei gebe es allerdings immer wieder Reibungspunkte, die aus unterschiedlichen Wertvorstellungen resultieren: So stoße man bei islamistischen Wahlsiegern häufig auf Unverständnis mit dem Argument, dass Demokratie nicht nur die Macht der Mehrheit bedeute, sondern auch die Achtung der Minderheitenrechte. Guidère warb zudem für deine differenzierte Betrachtung der Scharia, die seit dem 13. Jahrhundert Anwendung finde: Er warnte davor, das islamische Rechtssystem auf drakonische Strafen wie das Abhacken von Händen zu reduzieren. Zur Scharia gehörten neben dem Strafrecht vor allem Kodizes zum Zivil- und Familienrecht und zum Wirtschaftsrecht. „Die Scharia gab es immer“ und sie sei auch heute in einem Drittel der islamischen Welt Grundlage des Rechts, sagte Guidère. Entscheidend sei die Form ihrer Auslegung und Anwendung.
Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer (Freie Universität Berlin) sagte, dass die Anerkennung eines rechtsstaatlichen und demokratischen Systems unter Islamisten zwar durchaus wachse, ohne dass sich dies allerdings in der bisherigen politischen Praxis niederschlage. Muslimbrüder und Salafisten würde vieles verbinden, etwa die gemeinsame Vorstellung eines Staates auf Basis des Islam. Beide würden einen „Tugendstaat“ anstreben – mit seinen Möglichkeiten, aber eben auch mit seinen repressiven Gefahren, sagte Krämer. Während Muslimbrüder jedoch ein Bewusstsein dafür hätten, dass die Vorstellungen eines Kalifats und Rechtsnormen des 7. Jahrhunderts nicht einfach auf die heutige Zeit übertragbar seien, würden Salafisten einer genau solchen „politischen Utopie“ anhängen. Krämer verwies zudem auf die „erstaunlich wenig angesprochenen“ wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Islamisten: Sowohl Salafisten als auch moderate Muslimbrüder strebten auf diesem Feld eine kapitalistische Ordnung „mit sozialem Gewissen“ an.
Dem widersprach die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah (Freie Universität Berlin) am Beispiel Ägyptens: Zwar sei der politische Islam eine „wertkonservative Ideologie“, aber wirtschaftspolitisch verfolge etwa die „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ von Ägyptens Präsident Mursi eine „neoliberale Politik“. Dies zeige sich zum Beispiel darin, dass in der neuen ägyptischen Verfassung Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaftsgründungen kein Platz eingeräumt worden sei. Salah machte zudem auf wachsende Spaltungen im islamistischen Lager in Ägypten aufmerksam: „Die salafistische Strömung innerhalb er Muslimbrüder hat jetzt die Macht“. Zwar verlören die Muslimbrüder an Rückhalt, dennoch würden sie auf absehbare Zeit die Regierung stellen, nicht zuletzt, weil sie mit der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ die am besten organisierte politische Kraft sei. „Die Stärke der Islamisten liegt auch an der Schwäche der Opposition“, sagte Salah.
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