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Vor 25 Jahren, am 28. November 1989, stellte Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages um den Etat des Bundeskanzleramtes völlig überraschend für das In- und Ausland ein „Zehn-Punkte-Programm“ zur schrittweisen Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands vor. Seit dem Mauerfall am 9. November hatte sich die Bundesregierung nur zurückhaltend zur Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit geäußert. Jetzt setzte der Bundeskanzler die deutsche Einheit auf die Tagesordnung.
Nicht nur für die Oppositionsvertreter des Parlaments, SPD und Grüne, auch für den Koalitionspartner FDP war das eine sensationelle Neuigkeit. Selbst die Unionskollegen hatte der CDU-Vorsitzende, bis auf wenige Eingeweihte, erst kurz vor der Debatte und lediglich ganz allgemein über die Idee eines Stufenplans zur deutschen Einheit in Kenntnis gesetzt.
Auch im Ausland nimmt man den Plan mit Erstaunen zur Kenntnis. Von den Westmächten hatte Kohl im Vorfeld lediglich US-Präsident George H. W. Bush über den Inhalt informiert.
„Der Weg zur deutschen Einheit, das wissen wir alle, ist nicht vom grünen Tisch oder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen. Abstrakte Modelle kann man vielleicht polemisch verwenden, aber sie helfen nicht weiter. Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jene Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen“, begann der Bundeskanzler die Erläuterung seines Programms.
Dieses sieht für die DDR Sofortmaßnahmen, die Fortführung der ökonomischen, technologischen und kulturellen Zusammenarbeit und eine umfassende Ausweitung der bundesdeutschen Hilfen vor. Voraussetzung dafür sei aber, dass ein Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems unumkehrbar in Gang gesetzt werde, betonte der Bundeskanzler.
„Unumkehrbar, meine Damen und Herren, heißt für uns und vor allem auch für mich, dass sich die DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung und auf ein neues Wahlgesetz verständigt“, verdeutlichte er seine Forderung.
Nach freien Wahlen könnten dann verschiedene gesamtdeutsche Institutionen gebildet werden, einschließlich eines gemeinsamen Regierungsausschusses zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung, gemeinsamer Fachausschüsse und eines gemeinsamen parlamentarischen Gremiums. Wenn diese Politik erfolgreich sei, könne das deutsche Volk schließlich in einem freien Europa in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen, war sich Kohl sicher.
Ziel sollte es sein zunächst über die Errichtung der von Hans Modrow vorgeschlagenen Vertragsgemeinschaft und die Entwicklung konföderativer Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland den Weg zu einer bundesstaatlichen Ordnung und damit zur deutschen Einheit zu ebnen. Ein solches Zusammenwachsen läge in der Kontinuität der deutschen Geschichte, sagte der Bundeskanzler.
„Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“ Eine unabdingbare Voraussetzung dafür sei eine „legitime demokratische Regierung“ in der DDR.
Um Bedenken des Auslands zu zerstreuen stellt er klar: „Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozess, das heißt immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder erlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“
Die Reaktion auf diese Vorschläge war bei allen Parteien des Bundestages mit Ausnahme der Grünen grundsätzlich positiv. Schon während der Rede hatten die SPD und ihr Fraktionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel ihre Zustimmung bekundet. Vor allem, da viele Punkte mit ihren eigenen Ideen zur Deutschlandpolitik übereinstimmen.
Der sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitiker Karsten Voigt bekannte: „Herr Bundeskanzler, sie sind mit den zehn Punkten, die sie hier vorgetragen haben, in vielen Begriffen, Politik der kleinen Schritte, KSZE, auf uns zugegangen, in einer solchen Situation, vor solchen Herausforderungen werden wir Sozialdemokraten auch nicht davor zurückscheuen, auf sie zuzugehen. Deshalb stimmen wir ihnen in allen zehn Punkten zu. Und bei allem Streit, der im Einzelnen bei der Umsetzung dieser Punkte bleiben wird oder bei der Interpretation des einen oder anderen Punktes, bieten wir ihnen unsere Zusammenarbeit bei der Verwirklichung dieses Konzepts, das auch unser Konzept ist, an.“
Trotz Verstimmung, da er von Helmut Kohls neuem Kurs und den zehn Punkten genauso überrascht worden war wie die Opposition, sicherte der in Halle geborene Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher dem Bundeskanzler die Unterstützung des liberalen Koalitionspartners für die in den zehn Punkten formulierte Politik zu: „Sie liegt in der Kontinuität unserer Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik, die wir im Parlament, in der Öffentlichkeit und in der Regierungsverantwortung vertreten.“
Und weiter fügte er hinzu: „Die grundsätzliche Zustimmung, die der Herr Kollege Voigt für die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei zu diesen zehn Punkten zum Ausdruck gebracht hat, lässt hoffen, dass die Chance für einen erneuerten Grundkonsens nicht ungenutzt bleibt.“
Im Ausland waren die Reaktionen auf das Programm und die Perspektive einer Wiedervereinigung geteilt. Kohls Alleingang sorgte für Empörung bei den Westmächten. Außerdem vermissten sie einen förmlichen Verzicht auf die einstigen deutschen Ostgebiete.
Die USA begrüßten allerdings eine mögliche Wiedervereinigung unter der Voraussetzung, dass sich der Einigungsprozess innerhalb der Nato und der Europäischen Gemeinschaft vollziehe und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Alliierten berücksichtigt würden.
Mit Ablehnung reagierten die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Die britische und die französische Regierung befürchteten ein zu starkes und mächtiges Deutschland in der Mitte Europas, das die Ordnung und den Frieden in Europa gefährden könnte.
Die polnische Regierung forderte als Nachbar ein Mitspracherecht bei allen weiteren Entwicklungen in Deutschland. Für die Sowjetunion nahm die DDR eine sicherheitspolitische Schlüsselrolle ein, auf die sie nicht so einfach verzichten wollte.
Nicht nur die Regierung der DDR mit dem neu gewählten Ministerpräsidenten Hans Modrow, auch Oppositionsgruppen lehnten eine Wiedervereinigung ab. Viele Ostdeutsche hingegen sahen das längst anders. Bereits zu den Montagsdemonstrationen am 13. November 1989 riefen die Demonstrierenden nicht mehr nur „Wir sind das Volk“, sondern auch „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland, einig Vaterland“.
Kohls Zehn-Punkte-Programm wurde schnell von der Wirklichkeit überholt. Die wirtschaftliche und politische Lage in der DDR wurde zunehmend instabil. Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 gewann die „Allianz für Deutschland“. In der Folge unterzeichneten die Bundesrepublik und die DDR die Staatsverträge, die die innenpolitische Wiedervereinigung regelten: den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und den Einigungsvertrag.
Die außenpolitischen Bedingungen für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten regelt der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“. Mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 trat die deutsche Wiedervereinigung in Kraft. (klz/21.11.2014)