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Berlin: (hib/KOS) Kann der Bundestag Verurteilungen von Homosexuellen aus den fünfziger und sechziger Jahren aufheben, die 1957 vom Bundesverfassungsgericht gebilligt wurden, nach heutigen politischen und juristischen Maßstäben aber als menschenrechtswidrig gelten? Oder steht einem solchen Schritt das Prinzip der Gewaltenteilung gegenüber, wonach die Legislative nicht in die Gerichtsbarkeit hineinregieren und so die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellen darf? Die kontroverse Debatte dieser Problematik prägte am Dienstagnachmittag eine Anhörung des Rechtsausschusses über Möglichkeiten zur Rehabilitierung jener Personen, die einst in der Bundesrepublik oder der DDR strafrechtlich verfolgt wurden. Dem Hearing mit sieben Sachverständigen lagen Gesetzentwürfe der Linksfraktion (17/10841) und der Grünen (17/4042) zugrunde, die eine Annullierung der Urteile aus jener Zeit durch das Parlament verlangen.
Manfred Bruns erklärte, eine Aufhebung richterlicher Entscheidungen obliege zwar in erster Linie der Justiz selbst, doch sei eine entsprechende Entscheidung der Legislative nicht ausgeschlossen. Aus Sicht des Ex-Bundesanwalts wird mit dem Argument, die Gewaltenteilung stehe einem solchen Votum des Bundestags entgegen, eine „Scheindebatte“ geführt. Auf diese Weise solle verborgen werden, dass hinter der Ablehnung einer parlamentarischen Aufhebung der alten Urteile in Wahrheit politische Motive stünden. Es gehe aber um die „Korrektur eines kollektiven Versagens“ der Justiz. Bruns kritisierte, dass in der Nachkriegszeit die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen mit dem gleichen Eifer betrieben worden sei wie zur NS-Zeit. Der einzige Unterschied sei gewesen, dass die Betroffenen nicht mehr ins KZ gekommen seien.
Auch Günter Grau bezeichnete es als „unverständlich“, dass die Justiz noch lange Zeit nach dem Krieg an der im Jahr 1935 eingeführten Rechtsprechung gegen Homosexuelle festgehalten habe. Der Berliner Historiker führte dies auch darauf zurück, dass im bundesdeutschen Gerichtswesen manch hochrangige Juristen aus der NS-Zeit noch über viel Einfluss verfügt hätten. Der Sachverständige kritisierte es als inakzeptabel, dass heute immer noch 50000 Bürger wegen ihrer Homosexualität als strafrechtlich verurteilt gelten.
Gegen eine pauschale Aufhebung der alten Urteile sprach sich Klaus Gärditz aus, dies wäre verfassungsrechtlich angreifbar. Gerichtsentscheidungen, die von Karlsruhe als verfassungskonform bestätigt worden seien, könne man nicht mit Willkürurteilen der NS-Justiz gleichsetzen, so der Rechtsprofessor an der Uni Bonn. Wenn man Urteile gegen eine bestimmte Gruppe wie die Homosexuellen aufhebe, stelle sich die Frage, warum man dies nicht auch bei anderen Gruppen mache.
Herbert Grziwotz unterstrich, dass die generelle Aufhebung der gegen Homosexuelle gefällten Urteile unvereinbar mit der Gewaltenteilung sei. Die Unabhängigkeit der Justiz von den anderen Staatsgewalten sei jedoch für einen Rechtsstaat zentral, erklärte der Historiker und Honorarprofessor an der Uni Regensburg. „Kein Verständnis“ habe er für den Vorwurf, die Gerichtsentscheidungen aus der Nachkriegszeit seien den in der NS-Zeit verkündeten Urteilen ähnlich. In den fünfziger und sechziger Jahren hätten sich viele Richter bemüht, milde Entscheidungen zu treffen, nicht selten sei nur die Mindeststrafe von drei Mark verhängt worden. Auch könne man dem Verfassungsgericht von 1957 nicht vorhalten, vom NS-Geist beeinflusst gewesen zu sein. Für Grziwotz ist als Alternative zu einer parlamentarischen Aufhebung aller Urteile eine Wiederaufnahme von Prozessen in Einzelfällen denkbar. Er bezeichnete es allerdings als „sehr fraglich“, ob dies im Interesse der Betroffenen liege. Aus Sicht des Sachverständigen ist, wie es in seiner schriftlichen Stellungnahme heißt, eine „vollständige Rehabilitierung“ der verurteilten Homosexuellen „längst überfällig“. Helfen könne dabei ein parteiübergreifend gefasster Beschluss des Bundestags.
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