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Berlin: (hib/KOS) Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Union und FDP hat der Rechtsausschuss am Mittwoch gegen das Votum von SPD, Linken und Grünen die Abstimmung über Anträge zur Rehabilitierung und Entschädigung von Homosexuellen vertagt, die nach 1945 in der Bundesrepublik oder der DDR strafrechtlich belangt wurden. Eingebracht haben entsprechende Vorlagen die Linksfraktion (17/10841) und die Grünen (17/4042), in denen eine parlamentarische Annullierung der damaligen Gerichtsentscheidungen gefordert wird.
Der politische Streit dreht sich im Kern um ein Grundsatzproblem: Darf der Bundestag Verurteilungen von Homosexuellen aus den fünfziger und sechziger Jahren aufheben, die seinerzeit rechtmäßig waren und 1957 sogar vom Bundesverfassungsgericht legitimiert wurden, aus heutiger Perspektive aber als menschenrechtswidrig eingestuft werden? Umstritten ist bei diesem Konflikt auch die Frage, ob eine nachträglich beschlossene Aufhebung der betreffenden Urteile durch den Bundestag mit dem Prinzip der Gewaltenteilung vereinbar ist, wonach die Legislative nicht in die Belange der Justiz hineinregieren und so deren Unabhängigkeit gefährden darf.
In ihren Anträgen betonen Linke und Grüne, dass die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen in der Nachkriegszeit der Menschenrechtscharta des Europarats, den Entscheidungen des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs und den rechtlichen Standards der EU widerspreche. Die Bundesregierung solle dem Parlament einen Gesetzentwurf zur Annullierung der ehemaligen Urteile und zur Entschädigung der Betroffenen unterbreiten. Die Linke plädiert zudem für die Einrichtung einer Kommission, die sich mit der „Entrechtung, Verfolgung und Diskriminierung“ von Homosexuellen in beiden deutschen Staaten befassen soll.
Eine rückwirkende Aufhebung der einst gegen Homosexuelle gerichteten Urteile durch den Bundestag wird nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Befürworter einer Annullierung der alten Gerichtsentscheidungen argumentieren, dass eine Aufhebung dieser Urteile zwar in erster Linie eine Angelegenheit der Justiz sei, dass aber auch ein solches Vorgehen durch das Parlament nicht ausgeschlossen sei. In diesem Lager werden Parallelen gesehen zwischen der Strafverfolgung Homosexueller nach 1945 und den während der NS-Zeit gegen diesen Personenkreis verhängten Urteilen. Es sei rechtsstaatlich nicht akzeptabel, dass auch heute noch rund 50.000 Bürger wegen ihrer Homosexualität als strafrechtlich verurteilt gelten.
Kritiker hingegen halten eine pauschale Annullierung der einst gefällten Gerichtsentscheidungen für verfassungsrechtlich problematisch. Urteile, die ehedem von Karlsruhe als grundgesetzkonform klassifiziert worden seien, dürfe man nicht mit Verdikten der Willkürjustiz zur NS-Zeit gleichsetzen. Auch könne man, so ein Argument, dem 1957 amtierenden Bundesverfassungsgericht nicht vorwerfen, vom NS-Geist beeinflusst gewesen zu sein. Betont wird zudem, dass eine generelle Aufhebung der früheren Gerichtsentscheidungen durch den Bundestag unvereinbar sei mit der Gewaltenteilung. Die Unabhängigkeit der Justiz von den anderen Staatsgewalten sei schließlich zentral für einen Rechtsstaat. Als Alternative zu einer parlamentarischen Annullierung der alten Urteile gilt die Möglichkeit, dass in Einzelfällen Betroffene eine Wiederaufnahme der einst gegen sie gerichteten Prozesse anstrengen.
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