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„Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung...“. Routiniert beendet die Vizepräsidentin den öffentlich sichtbaren Teil einer namentlichen Abstimmung im Plenum des Deutschen Bundestages. Die dritte Lesung des Bundeshaushalts 2014 ist soeben über die Bühne gegangen. Die Abgeordneten entscheiden darüber, wie knapp 300 Milliarden Euro des gesamten Bundeshaushalts verteilt werden.
Das „Budgetrecht“ - das Wachen über die Staatsausgaben - ist zwar eines der ältesten und wichtigsten Rechte der Parlamentarier. Doch egal ob über Haushalt, Bundeswehrmandat oder Pflegereform namentlich abgestimmt wird: Das Prozedere ist immer dasselbe. Am Ende dieser „Namentlichen“ soll jeder Bürger wissen, wie sein Abgeordneter votiert hat. Ungefähr zwei- bis dreimal pro Sitzungswoche gibt es solche Abstimmungen. An diesem Tag ist es schon die siebte.
Nachdem die Vizepräsidentin gegen 15.30 Uhr das Schließen der sechs Urnen im Plenarsaal angeordnet hat, bittet sie „die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen“. Einige Abgeordnete mit dieser Sonderfunktion „Schriftführer“ treffen in dieser Minute in einem Raum an der Nordostecke des Reichstagsgebäudes ein. „Präsenzbibliothek“ steht an der Tür. Hohe Regale sind gefüllt mit Gesetzesbänden und Duplikaten aus der Bundestagsbibliothek.
An der Wand hängt ein Gemälde von Bernhard Heisig mit dem Titel „Zeit und Leben“.
Als ein „aufwühlendes Panorama deutscher Geschichte“ beschreibt Dr. Andreas Kaernbach, der Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, dieses Bild. Es werfe „die Frage nach der Möglichkeit der Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber staatlicher Gewalt und Bevormundung auf, nach seiner Chance, ein ethisch verantwortetes, selbstbestimmtes Leben zu führen“.
Der Künstler Heisig lebte lange in politischen Systemen, in denen es keine demokratischen Abstimmungen gab. Nun hängt sein Bild in diesem Raum, in dem ein wesentliches Stück Demokratie stattfindet: Jede Stimme der gewählten Volksvertreter muss korrekt gezählt und gewertet werden.
Für die schöne Balkonaussicht auf die Spree haben die auszählenden Bundestagsabgeordneten in diesem Moment keine Muße. Um Zeit zu sparen, müssen sie zur Abstimmung nicht unbedingt in den Plenarsaal gehen und sich mit über 600 Abgeordneten an den Urnen drängen. Auf einem Tisch steht eine Mini-Urne mit der Markierung „Schriftführer“. Hier können sie ihr Stimmkärtchen direkt einwerfen.
In Richtung der vier Tischenden liegen vier Auszählschienen. Da hinein passen jeweils zehnmal 20 der kreditkartengroßen Stimmkarten. Alle Plätze am Tisch sind besetzt, als die Plenarassistenten mit den Urnen aus dem Plenarsaal eintreffen. Zehn Schriftführerinnen und Schriftführer sitzen zum Auszählen in den Startlöchern. Mindestens vier, je zwei von Regierungsmehrheit und Opposition, sollen es sein.
In Windeseile werden blaue, rote und weiße Stimmkarten voneinander getrennt und in den Zählschienen geordnet. Es ist offensichtlich, dass alle Beteiligten darin Routine haben. Sortieren, nachzählen, kontrollieren – die Rollen sind verteilt und schon nach rund fünf Minuten steht das Ergebnis fest. In einem Protokoll wird alles notiert und unterschrieben. Der Obmann der Schriftführer trägt das Ergebnis zur Vizepräsidentin in den Plenarsaal.
„Mit Ja haben 447 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 102 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Es gab eine Stimmenthaltung. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen“, verkündet sie. Unterdessen wandert ein Koffer mit allen abgegebenen Stimmkarten in der Obhut zweier Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung eine Etage tiefer.
Im Erdgeschoss des Reichstagsgebäudes gibt es ein Büro der Unterabteilung „Parlamentsdienste“. Hier wird klar, warum die Stimmkarten nicht nur durch den Namen des Abgeordneten, die Fraktionszugehörigkeit und durch die Farbe (Blau: Ja, Rot: Nein, Weiß: Enthaltung) unterscheidbar sind, sondern warum sie auch einen Scan-Code tragen. Eine Mitarbeiterin der Verwaltung liest jede Karte elektronisch mit dem Scanner ein, bis daraus eine Liste mit allen abgegebenen Stimmen und den dazugehörigen Namen der Abgeordneten erstellt werden kann.
Dieses Verfahren hat zwei Vorteile: Erstens können die elektronisch verarbeiteten Ergebnisse schon kurze Zeit nach der Abstimmung im Internet veröffentlicht werden. Und zweitens werden die Ergebnisse mit einer Software so aufbereitet, dass bei etwaigen Unregelmäßigkeiten sofort Alarm geschlagen würde.
Während die Schriftführer im Auszählraum zunächst nur die reine Stimmenanzahl festgestellt haben, würde das System etwa erkennen, wenn es mehrere Stimmen eines Abgeordneten gegeben hätte. Noch eine Woche lang werden die Stimmkärtchen nach dem Urnengang aufbewahrt, damit sie auch nachträglich überprüft werden könnten. (tk/18.08.2014)