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Als man im Sommer 1990 den "Tag der deutschen Einheit" am 17. Juni feierte, war nichts wie in den Jahren zuvor. Zum ersten Mal seit seiner Einführung im Jahr 1953 schien der Einheitsfeiertag nicht mehr Ausdruck eines Wunsches zu sein, der sich in ferner Zukunft einmal erfüllen würde, sondern kündete von einer deutschen Einheit, die zum Greifen nahe war.
Schon im August 1953, nur wenige Wochen nach dem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand in der DDR, hatte der Bundestag den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag in Westdeutschland erhoben. Die offizielle Lesart der DDR schwieg ihn tot, den Volksaufstand selbst verfemte sie als "faschistische Konterrevolution". In der jungen Bundesrepublik indessen nutzten Politiker den 17. Juni alljährlich zu einem feierlichen Bekenntnis zur deutschen Einheit.
Der 17. Juni 1990 war somit nicht nur ein Schlusspunkt unter einen 36 Jahre bestehenden Feiertag für eine Einheit, die zu verwirklichen noch ausstand. Er war vor allem auch ein Höhepunkt: zum ersten Mal überhaupt erinnerten Vertreter aus West und Ost gemeinsam an jene Welle von Streiks, Demonstrationen und Protesten, die sich am 17. Juni 1953 von Ost-Berlin aus wie ein Flächenbrand über die ganze DDR ausgebreitet hatte und den die Staatsmacht nur mithilfe ihrer sowjetischen Verbündeten ersticken konnte.
Geladen hatte die Präsidentin der DDR-Volkskammer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl, in das Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Abgeordnete des Deutschen Bundestages und der ersten freigewählten Volkskammer der DDR kamen zusammen.
Unter ihnen auch die damaligen Regierungschefs beider deutscher Staaten, Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und Ministerpräsident Lothar de Maizière. "Heute können wir uns diesem Tag zum ersten Mal in unserem Land in Freiheit und Wahrheit zuwenden", sprach Bergmann-Pohl zu den Gästen. "Was damals in Berlin und in anderen Städten vor sich ging, wissen nur noch die Älteren unter uns. Sie erlebten eine Staatsmacht, die nicht mehr die Interessen der Bürger, sondern nur sich selbst vertrat."
Ohne Zweifel seien die Auslöser des 17. Juni ökonomische und soziale Gründe gewesen, unter denen die Arbeiter besonders litten. "Doch von seinem Wesen her richtete sich der Aufstand gegen Widersprüche in einem Staat, in dem die Fremdherrschaft zur Realität, die Selbstbestimmung zur Lüge geworden war."
Doch sei der 17. Juni 1953, unterstrich die Parlamentspräsidentin klar, nicht nur ein deutsches, sondern auch ein europäisches Datum. "Ihm folgten viele andere: der ungarische Aufstand von 1956, der Prager Frühling von 1968, die polnische Solidarnosc-Bewegung von 1980". Gerade mit Blick auf diese europäische Dimension des 17. Juni betonte Bergmann-Pohl zum Ende ihrer Rede: "Unsere Einheit ist gegen niemanden gerichtet. Sie soll vielmehr auch Europa einen, sie soll helfen, die Spaltung von Ost und West endgültig zu überwinden".
Ähnlich betonte in ihrer anschließenden Rede auch die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Dr. Rita Süssmuth, die Bedeutung des 17. Juni für Europa: Der Tag der deutschen Einheit sei in diesem Jahr anders als in den 36 Jahren zuvor. "Bisher konnten nur wir in der Bundesrepublik Deutschland trauernd gedenken, Freiheit einfordern und auf Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas drängen."
Man erlebe heute, so Süssmuth, erstmals gemeinsam am 17. Juni zugleich einen Tag der Freude über den Sieg der Freiheit und Demokratie in der DDR und in Osteuropa. Gerade die Ereignisse des Jahres 1989 machten eindrucksvoll bewusst, dass die Opfer des niedergeschlagenen Aufstandes von 1953 nicht vergeblich waren. "Heute können wir sagen: Der Widerstand setzte sich fort, zunächst verborgen und in Nischen, dann immer offener vom ganzen Volk getragen."
Bei der Niederschlagung des Aufstands am 17. Juni 1953 waren mindestens 55 Menschen zu Tode gekommen, neben Demonstranten und Passanten auch fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane. Die meisten Todesopfer gab es in Halle an der Saale (16) und in Berlin (14). Darüber hinaus gibt es eine große Zahl ungeklärter Todesfälle im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953.
Dass sich mit der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 in der DDR auch von offizieller Seite ein Wandel im Umgang mit der SED-Vergangenheit vollzog, hatte sich bereits einige Wochen zuvor deutlich gezeigt. Als sich im Juni 1990 das Massaker auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" in Peking zum ersten Mal jährte, distanzieren sich die Fraktionen der DDR-Volkskammer in einer gemeinsamen Erklärung ausdrücklich wie einmütig von der Stellungnahme des SED-Regimes vom Vorjahr.
Dieses hatte den Militäreinsatz der kommunistischen Machthaber gegen Demonstranten gerechtfertigt. "Die erste frei gewählte Volkskammer der DDR", schrieben die Abgeordneten, "bedauert jene Erklärung. Die Mitglieder der Volkskammer gedenken in tiefer Trauer der Opfer".
Die Ereignisse vom Juni 1989 wurden nun auch gerade vor dem Hintergrund der eigenen, friedlich verlaufenen Revolution in der DDR gesehen.
"Im Bewusstsein", hieß es in der Erklärung, "dass das mutige Eintreten der Pekinger Demonstranten auch der jungen Demokratiebewegung in der DDR wesentliche Impulse verliehen hat, und in Kenntnis dessen, dass sie noch im Oktober 1989 in Gefahr ein ähnliches Schicksal zu erleiden, geben die Mitglieder der Volkskammer ihrer Hoffnung Ausdruck, dass auch in China eine demokratische Entwicklung möglich wird."
Der 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" war nicht nur Mahnung an einen Volksaufstand, sondern stets auch Hoffnung auf Überwindung der deutschen Teilung. Die faktische und völkerrechtliche Einheit brachte der 3. Oktober 1990, der sich - gegen den historisch belasteten 9. November und den 23. Mai, den Tag des Grundgesetzes - als neuer Einheitsfeiertag durchgesetzt hat.
Gleichwohl bleibt der 17. Juni ein nationaler Gedenktag. Von ihm spannt sich ein Bogen über den Fall der Mauer zum 3. Oktober 1990. Er ist damit auch ein Teil der Vorgeschichte der deutschen Wiedervereinigung. (rad)