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Vom türkischen Sender ins Berliner Parlamentsbüro

Ein Chefredakteur kann nicht fünf Monate mit Abwesenheit glänzen. Das ist auch Noyan Er klar. Also kündigte er seinen Posten beim Sender „Radyo ODTÜ“ in Ankara, bevor sich der 26-jährige Türke nach Berlin aufmachte, um im Rahmen des Internationalen Parlamentsstipendiums (IPS), bei dem in diesem Jahr erstmals junge Leute aus der Türkei teilnehmen, im Abgeordnetenbüro von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert den Deutschen Bundestag näher kennenzulernen.

Große Wehmut kam bei Noyan Er ob der Kündigung nicht auf. ODTÜ sei ein Musiksender, wenn auch mit einem kleinen – von ihm selbst etablierten – Nachrichtenteam. „Ich würde künftig aber lieber in einem etwas politischeren Bereich journalistisch arbeiten“, sagt er. Die Deutsche Welle kann er sich als Arbeitgeber vorstellen oder auch als Korrespondent deutscher Radiosender in der Türkei zu arbeiten. „Dabei hilft mir das, was ich hier im Bundestag lerne“, ist er sich sicher.

Unsichere Rahmenbedingungen für Journalisten

Als Journalist in der Türkei zu arbeiten – nach allem was man so hört, ist das angesichts der eingeschränkten Pressefreiheit nicht so ganz einfach, oder? Ja, bestätigt Noyan Er, es sei schon ein „Riesenschock“ gewesen, als die ersten Journalisten aufgrund der Ausübung ihrer Tätigkeit festgenommen worden seien. „Das Problem ist“, erläutert der Radiojournalist, „dass die gesetzlichen Regelungen so unbestimmt sind, dass jeder darunter fallen kann – wie es den Behörden gerade beliebt.“

So dürfe man etwa die „türkischen Familienwerte“ nicht angreifen. Nirgendwo stehe aber geschrieben, was genau diese Werte sind. „Daher können die Staatsorgane ziemlich wahllos agieren“, sagt er. Vor allem als die Repressalien anfingen hätten sich er und seine Kollegen unter Druck gefühlt. „Inzwischen haben wir uns mit der Situation so gut es geht arrangiert, und versuchen es mit Humor zu nehmen.“

Die Presselandschaft in der Türkei ist ohnehin eine andere als in Deutschland. Noyan Er zeigt an einem Beispiel, wie Medienunternehmen in seiner Heimat oftmals entstehen. „Nehmen Sie beispielsweise einen Unternehmer in der Bergbau-Branche. Der gründet eine Mediengesellschaft, um seine Interessen besser durchsetzen zu können.“ Dem Unternehmer gehe es dabei nicht vordergründig darum, mit den Medienprodukten Geld zu verdienen, sondern eher darum, „seine Macht abzusichern und auszuweiten“.

Kompromisskultur des Grundgesetzes

An Aussagen wie diesen ist zu erkennen: Noyan Er ist ein kritischer Geist. Einer, der nicht nur der regierenden AKP-Partei und damit Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisch gegenüber steht, sondern dem ganzen politischen System in seiner Heimat. „Wir haben ein grundsätzliches Problem mit der türkischen Demokratie“, sagt er. Egal wer im politischen System welche Rolle bekleide: Statt zu schauen, was miteinander erreicht werden kann, würden Opposition und Regierung „blind gegeneinander ankämpfen“.

In Deutschland sei das anders, findet er. Gerade der Dialog zwischen Regierung und Opposition funktioniere, die Selbstkontrollmechanismen würden greifen. „Vieles funktioniert hier besser als in der Türkei“, schätzt Noyan Er ein und schiebt das zu einem Großteil auf das Grundgesetz, das eine „gut integrierbare Verfassung“ darstelle.

Dass sich der 26-jährige so gut mit Deutschland auskennt hat auch den Grund, dass er zur Hälfte Deutscher ist. „Meine Mutter ist Deutsche“, erzählt er. Kennengelernt hätten sich die Eltern in Deutschland. Dann ging die Familie in die Türkei, wo Noyan Er geboren und zweisprachig erzogen wurde. Mit dem Ergebnis, dass sein Deutsch ohne jeden Akzent ist.

Debatte im Bundestag aufmerksam verfolgt

Während seiner Zeit hier im Bundestag gab es auch einige politische Entscheidungen, die ganz direkt mit der Türkei zu tun hatten. Stichwort Völkermord an den Armeniern. Noyan Er hat die Diskussion aufmerksam verfolgt. „Wichtiger als die Frage, wie man das Geschehen von vor 100 Jahren bezeichnet, ist es meiner Meinung nach, den Betroffenen und auch deren Nachkommen eine Art von Gerechtigkeit zukommen zu lassen“, sagt er.

Noch in den 1940er-Jahren habe es beispielsweise Steuern gegeben, die nur nichtmuslimische Minderheiten – etwa Armenier oder Griechen - hätten zahlen müssen. Wenn die Türkei diejenigen, die über die Jahre und Jahrzehnte diskriminiert worden seien und denen man Geld und Land weggenommen habe, rehabilitiere, sei das wichtiger als die Anerkennung des Völkermordes, findet Noyan Er.

Und dann weist er noch auf einen Trugschluss hin, dem die Armenier seiner Ansicht nach zum Opfer fallen. „Zu denken, wenn die Türkei den Völkermord anerkennt, wird alles gut und die Grenzen gehen wieder auf, ist falsch“, sagt er. Die geschlossenen Grenzen seien vielmehr eine Folge des vor allem armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes um Berg-Karabach.

Wille zur Öffnung nach Europa erlahmt

Ob sich die Grenzen für die Türkei in Richtung Europa öffnen – soll heißen, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird – ist eine Frage, die in den letzten Jahren an Brisanz verloren hat. Das bestätigt auch Noyan Er. Es gebe Umfragen, die zeigten, dass die türkische Bevölkerung gar nicht so stark interessiert ist, Mitglied der EU zu werden, sagt er. Das könne sicherlich mit der Wirtschafts- und Währungskrise der EU zusammenhängen. Es sei aber auch zu verzeichnen, dass die türkische Außenpolitik – nicht nur mit Blick auf die EU – dysfunktionaler geworden sei.

Während die Regierungen zwischen 2002 und 2007 noch eine EU-orientierte Außenpolitik betrieben hätten, „die gut für unser Land war“, häuften sich jetzt die außenpolitischen Konflikte – zuletzt sogar mit Nordzypern. „Die Außenpolitik ist generell etwas aggressiver geworden, was nicht gut ist“, sagt er. Und sieht zugleich Licht am Horizont. „Es ist gut, dass das Volk bei den letzten Wahlen gezeigt hat, dass es damit nicht länger einverstanden ist“, freut sich Noyan Er. (hau/22.06.2105)