Plenarprotokoll 18/95 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 95. Sitzung Berlin, Freitag, den 20. März 2015 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Erhöhung der Sicherheit informa-tionstechnischer Systeme (IT-Sicherheitsgesetz) Drucksache 18/4096 9037 A Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI 9037 B Jan Korte (DIE LINKE) 9038 D Gerold Reichenbach (SPD) 9040 C Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9042 C Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) 9044 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9045 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) 9047 A Christina Kampmann (SPD) 9048 A Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9050 A Clemens Binninger (CDU/CSU) 9051 B Lars Klingbeil (SPD) 9053 B Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) 9054 C Hansjörg Durz (CDU/CSU) 9056 A Tagesordnungspunkt 18: a) Erste Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Gesund-heitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) Drucksache 18/4282 9057 C b) Antrag der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesundheitsförderung und Prävention konsequent auf die Verminderung so-zial bedingter gesundheitlicher Un-gleichheit ausrichten Drucksache 18/4322 9057 C c) Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheit für alle ermög-lichen – Gerechtigkeit und Teilhabe durch ein modernes Gesundheitsförde-rungsgesetz Drucksache 18/4327 9057 D Hermann Gröhe, Bundesminister BMG 9058 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 9059 D Helga Kühn-Mengel (SPD) 9061 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 9061 B Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9063 A Rudolf Henke (CDU/CSU) 9064 D Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9066 B Birgit Wöllert (DIE LINKE) 9067 A Dr. Edgar Franke (SPD) 9068 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9069 D Reiner Meier (CDU/CSU) 9070 D Marina Kermer (SPD) 9072 A Heiko Schmelzle (CDU/CSU) 9073 B Martina Stamm-Fibich (SPD) 9074 C Dietrich Monstadt (CDU/CSU) 9076 A Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Lisa Paus, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Cannabiskontrollgesetzes (CannKG) Drucksache 18/4204 9077 C Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9077 D Marlene Mortler (CDU/CSU) 9079 B Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9081 B Marlene Mortler (CDU/CSU) 9082 A Frank Tempel (DIE LINKE) 9082 C Burkhard Blienert (SPD) 9083 D Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) 9085 A Rudolf Henke (CDU/CSU) 9086 A Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9087 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9087 C Frank Tempel (DIE LINKE) 9088 D Bettina Müller (SPD) 9089 D Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Cornelia Möh-ring, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit für Frauen und Männer durchsetzen Drucksache 18/4321 9091 A Cornelia Möhring (DIE LINKE) 9091 B Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU) 9092 C Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 9093 D Petra Crone (SPD) 9094 D Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) 9096 A Gabriele Hiller-Ohm (SPD) 9097 C Matthäus Strebl (CDU/CSU) 9098 D Nächste Sitzung 9099 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 9101 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 9102 A Inhaltsverzeichnis 95. Sitzung Berlin, Freitag, den 20. März 2015 Beginn: 9.00 Uhr Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstech-nischer Systeme (IT-Sicherheitsgesetz) Drucksache 18/4096 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesre-gierung erhält als erster Redner das Wort Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Der kluge Mann und die kluge Frau bauen vor. Das gilt schon seit Menschengedenken. Wir errichten Deiche, um uns bestmöglich vor den Gefahren eines Hoch-wassers zu schützen, in den Bergen befestigen wir Abhänge, damit sie nicht auf Straßen rut-schen, wir legen Vorräte an und legen einen Not-groschen für den Ernstfall zurück. Kurz: Es liegt in der Natur des Menschen, Vorsorge zu treffen. In der digitalen Welt sollte es nicht anders sein. Digi-tale Infrastrukturen und IT-Systeme sind das Rückgrat unserer modernen Gesellschaft. Durch sie entstehen in nahezu allen Lebensbereichen neue Potenziale, Freiräume und Synergien. Gleichzeitig wächst aber die Abhängigkeit von diesen Systemen und damit auch die Bedeutung der Verfügbarkeit und Sicherheit der Systeme. Der technische Fortschritt hat uns also ein Stück weit verwundbar oder verwundbarer gemacht, auch durch die digitale Welt. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informati-onstechnik geht davon aus, dass allein in Deutschland mehr als 1 Million Internetrechner Teil eines sogenannten Botnetzes ist. Das bedeu-tet, dass sie jederzeit für IT--Angriffe missbrauch-bar sind, ohne dass das der Betreiber bemerkt. Mehr als 250 Millionen Varianten von Schadpro-grammen sollen heute schon in Umlauf sein, und täglich kommen über 300 000 neue Varianten hin-zu. Erfolgreiche technische Dienste und zuverläs-sige Anwendungen im Internet brauchen Vertrau-en in die Sicherheit der IT-Systeme. Wir beraten heute in erster Lesung über einen Gesetzentwurf, der diesem Ziel dient und zwei wichtige Bestandteile enthält. Erstens. Wir ergrei-fen Maßnahmen zum Schutz unserer kritischen Infrastrukturen. Das sind die Teile unserer Netze, die für unser Leben von zentraler Bedeutung sind, wie die Energieversorgung, die Wasserversor-gung, die Geldversorgung, der Verkehr, die -Gesundheitsversorgung und viele andere Berei-che. Sicherheit bedeutet hier, dass die Netze ver-fügbar sind, dass sie schlicht funktionieren, dass sie ohne Störungen betrieben werden können. Deshalb werden wir die Betreiber solcher kriti-schen Infrastrukturen mit dem Gesetz verpflich-ten, Mindeststandards an IT-Sicherheit einzuhal-ten und erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle an das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech-nik zu melden. Diese Informationen werden aus-gewertet und anschließend anderen, ähnlichen Be-treibern kritischer Infrastrukturen zur Verfügung gestellt, damit diese sich wappnen oder eingetre-tene Schäden beseitigen können. Sie können dann ihrerseits zielgerichtete Maßnahmen zum Schutz der Infrastruktur ergreifen, noch bevor sie selbst zum Opfer eines entsprechenden Angriffs werden, oder, wenn sie es bereits geworden sind, gemein-sam mit anderen den Schaden beheben. Der zweite wichtige Baustein betrifft Maßnah-men, die auch andere in Deutschland betriebene IT-Systeme sicherer machen. Ich will drei dieser Maßnahmen nennen: Erstens. Wir verpflichten die Betreiber von Webseiten, zum Beispiel von Onlineshops, ihre IT-Systeme durch wirksame und zeitgemäße Vor-kehrungen vor dem unerlaubten Zugriff zu schüt-zen. Damit wollen wir verhindern, dass über unzu-reichend geschützte Webserver Viren, Trojaner und andere Schadprogramme verbreitet werden. Zweitens. Wir werden Telekommunikationsun-ternehmen verpflichten, ihre Kunden zu warnen, wenn sie bemerken, dass der Anschluss des Kun-den für Angriffe missbraucht wird. Gleichzeitig sollen sie ihre Kunden auf mögliche Wege zu de-ren Abwehr hinweisen. Viele Telekommunikati-onsunternehmen machen das schon heute, aber eben nicht alle. Drittens. Wir wollen dem Bundesamt für Si-cherheit in der Informationstechnik die Erlaubnis geben, bestimmte IT-Produkte auf ihre IT-Sicherheit zu überprüfen und die Ergebnisse bei Bedarf auch zu veröffentlichen. Das wird die Transparenz der Sicherheit von IT-Produkten er-höhen und zu mehr Akzeptanz der IT-Sicherheit als eigenständigem Wert eines IT-Produktes füh-ren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Meine Damen und Herren, was wir mit diesen Maßnahmen machen, ist nichts anderes, als dass wir etablierte und bewährte Maßnahmen aus der sogenannten analogen Welt in die sogenannte di-gitale Welt übertragen. Wir stellen in der analogen Welt Mindestanforderungen für Lebensmittel und Haushaltsgeräte auf. Wir machen das genauso bei Banken und Finanzdienstleistern im Bereich des Risikomanagements. Wir verlangen sogar von Lebensmittelbetrieben, dass sie bei Gefahren für die Gesundheit die Bevölkerung gegebenen-falls öffentlich warnen und ihre Lebensmittel aus den Regalen zurückziehen. Im Flugverkehr schreiben wir Meldungen über sicherheitsrelevan-te Vorfälle an das Luftfahrt-Bundesamt vor. Seit langer Zeit verpflichten wir Grundstückseigentü-mer, im Winter auf ihren Gehwegen zu streuen, um Unfälle von Personen zu vermeiden. Nichts anderes machen wir jetzt im Bereich der IT. Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Einhaltung und Durchsetzung von Recht und Ord-nung in der digitalen Welt unerreichbar seien. Die Digitalisierung sei zu dynamisch, der Cyberraum zu global, die Amerikaner seien zu stark; da könne man halt nichts machen. Ich sehe das anders. Auch wenn man im Internet in einer Millisekunde scheinbar jeden Ort der Welt erreichen kann: Es gibt ein physisches Netz in Deutschland, es gibt IT-Systeme, die hier in Deutschland betrieben und angeboten werden. Sie unterliegen dem deutschen Recht, und damit können wir auch Regeln für die-se Systeme aufstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gleichzeitig handeln wir auch international. In Europa arbeiten wir parallel zu dem Gesetzent-wurf, den wir ab jetzt beraten, an dem Zustande-kommen einer Richtlinie für die Netzwerk- und In-formationssicherheit in der Europäischen Union, an der sogenannten NIS-Richtlinie. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist mal eine Taktik, ja!) Auch hier sollen unter anderem EU-weite Min-destanforderungen für Betreiber kritischer Infra-strukturen aufgestellt werden. Auch hier sind Mel-deverfahren hinsichtlich kritischer Sicherheitsvor-fälle vorgesehen. Was wir in diesem Fall also machen, ist nicht, zu warten, dass Europa uns eine Vorgabe macht, und diese dann irgendwie zögerlich und auf Druck der EU mit Fristversäumung usw. umzusetzen. Diese Zeit haben wir in der schnellen Welt des In-ternets nicht. Was wir heute machen, ist, wenn Sie so wollen, eine vorweggenommene Umset-zung einer künftigen Richtlinie. Damit das klappt, sind wir in engstem Kontakt mit der EU-Kommission und natürlich mit dem Rat, damit das Ganze so kompatibel ist, dass es nachher auch zusammenpasst. Trotzdem geht das alles nur gemeinsam – in Europa und in Deutschland. Der Gesetzentwurf sieht ein Wechselspiel zwischen Unternehmen und Behörden vor: Melden und Warnen, Standards und Sicherungsmaßnahmen entwickeln. Das alles funktioniert nämlich nur, wenn man zusammenar-beitet. Auch das ist ein Prinzip, das hinter den hier vorgelegten Regelungen steckt. Wir wollen auch bei der IT-Sicherheit eine neue Form der Koopera-tion mit der Wirtschaft; denn wir als Aufsichtsbe-hörde wollen nicht nur Vorschriften machen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ein letzter Gedanke. Die Sicherheit unserer IT-Systeme soll auch ökonomisch dem Standort Deutschland und dem Standort Europa dienen. Das haben wir zum Beispiel von Standards in der Umweltpolitik gelernt. IT-Sicherheit made in Ger-many soll nicht nur unsere Netze sicherer, son-dern auch unsere Wirtschaft erfolgreicher ma-chen. Meine Damen und Herren, wir wollen die deut-schen IT-Systeme zu den sichersten in der Welt machen. Der vorgelegte Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes, den wir ab heute beraten, ist dazu ein erster und wichtiger Schritt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jan Korte von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Jan Korte (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Eine Bemerkung vorweg, weil alle bedeuten-den Innenpolitiker des Bundestages hier versam-melt sind: Ich freue mich darüber, dass heute die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen das V-Leute-Unwesen abgeschaltet hat. (Beifall bei der LINKEN) Das ist ein guter Tag für den Rechtsstaat, die Demokratie und die öffentliche Sicherheit. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein schlechter Tag für Thüringen, Herr Korte!) – Ich wollte die Freude mit Ihnen teilen. Geteilte Freude ist doppelte Freude. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Aber nun zum Thema. Das IT-Sicherheitsgesetz wird auch von der Fraktion Die Linke als grundsätzlich sinnvoll erachtet, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Damit können Sie Ihre Rede beenden! Das Wichtigste ist gesagt!) um die kritischen Infrastrukturen in den Bereichen Energie, Wasser, Verkehr und in anderen Berei-chen zu schützen. Das wird von uns durchaus an-erkannt. Allerdings kommen jetzt die Probleme, und deswegen will ich an Ihrer Vorlage Folgendes engagiert kritisieren: Erstens. Wir bräuchten, bevor wir in diese Be-ratung einsteigen, eigentlich eine detaillierte Be-standsaufnahme: (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das!) Welche digitalen Infrastrukturen sind eigentlich gegebenenfalls wann betroffen? Denn man muss es sich kaskadenartig vorstellen – nehmen Sie ein Energieversorgungsunternehmen, das angegriffen wird –: Was hat das im Detail dann für Folgen für die untergeordneten Bereiche? Das wäre eine ers-te Frage, die wir angehen müssen. Das Grundproblem bei Ihrer Vorlage und bei Ih-rem Denken insgesamt im Bereich von IT-Sicherheit und anderem ist aber, dass das Ganze zu sehr aus der Perspektive des staatlichen Si-cherheitsapparates gesehen wird; das ist der Kern auch Ihres Gesetzentwurfs. Ein Grundproblem bei Ihrer Vorlage ist, dass dort die Frage von Daten-schutz und anderem zu untergeordnet ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Bei einem Gesetzentwurf und all dem, was daraus folgt, ist die entscheidende Fra-ge, die zu betrachten ist, natürlich die Personal-frage. Was in diesem -Gesetzentwurf zum Perso-nal vorgesehen wird, ist nun wirklich der Kracher. Bei Ihrem IT-Sicherheitsgesetz profitieren, was den Aufwuchs an Stellen angeht, insbesondere diejenigen, die seit Snowden beim Datenschutz und bei der IT-Sicherheit grandios versagt haben bzw. grandios versagen wollten. Ausgerechnet die profitieren davon. Ich will es konkret machen. Beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI – ich komme darauf später noch zu sprechen –, soll es einen Aufwuchs von 115 bis 216 Stellen geben. Beim Bundeskriminalamt soll es einen Aufwuchs von 48 bis 78 Stellen geben. Jetzt wird es selbst für Ihre Verhältnisse wirklich sehr schräg: Beim Bundesamt für Verfassungsschutz soll es einen Aufwuchs von 26 bis 48 Stellen geben, und – genauso gut – beim BND sollen bis zu 30 Stellen entstehen. Ausgerechnet bei den Geheimdiensten, die in Teilen eher für IT-Unsicherheit und nicht für IT-Sicherheit stehen, gibt es massive Aufwüchse. Das kann doch nicht wahr sein, wenn wir über so etwas reden. (Beifall bei der LINKEN – Clemens Bin-ninger [CDU/CSU]: Mannomann!) Ich fand diese Argumente schon überzeugend. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Da wa-ren Sie der Einzige!) – Ganz ruhig bleiben! – Es gibt noch überzeugen-dere. Es wird noch viel obskurer. Das werden Sie feststellen, wenn Sie sich jetzt einmal anschauen, was demgegenüber eigentlich bei der Bundesbe-auftragten für den Datenschutz an Stellenauf-wuchs vorgesehen ist. Das sind gerade mal lä-cherliche zwei bis sieben Stellen. Das ist zunächst einmal eine Frechheit gegenüber der Bundesbe-auftragten für den Datenschutz, Ihrer Exkollegin Andrea Voßhoff, und das ist in der Tat ein materi-elles Symbol dafür, dass Sie die Zeichen der Zeit schlicht nicht erkannt haben. So einfach ist das. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man muss mir wirklich einmal erklären, welche Schutzfunktion für die informationelle Selbstbe-stimmung eigentlich die Geheimdienste haben – spätestens in den letzten zwei Jahren, nach Snowden. Das müsste mir einmal jemand erklä-ren, am besten der Bundesinnenminister. Wenn wir das zusammenfassen – zwei bis sie-ben Stellen für den Datenschutz bei der Daten-schutzbehörde gegenüber Dutzenden von Stellen bei den Sicherheitsbehörden –, dann ist das das ganze Sinnbild für Ihre verfehlte Politik. An dem Stellenplan kann man erkennen: Die Wahrheit ist immer konkret. Deswegen ist Ihr Entwurf nicht sinnvoll. (Beifall bei der LINKEN) Nach diesen eigentlich schon bemerkenswert einleuchtenden Argumenten noch ein drittes Ar-gument. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Vielleicht mal ein überzeugendes!) Schauen wir uns das BSI an, das zu einer Zentralstelle weiterentwickelt werden soll. Richtig wäre doch, hier zunächst einmal eine grundsätzli-che Debatte über die Frage zu führen: Was ist denn eigentlich die Rolle des BSI, und was sind seine Aufgaben? Darüber müssten wir doch hier erst einmal ganz grundsätzlich diskutieren. Einen Hinweis will ich dann doch geben: Dan-kenswerterweise hat netzpolitik.org gerade veröf-fentlicht, dass das BSI angeblich – es wird wohl so sein – an der Entwicklung des Staatstrojaners beteiligt war. Das ist natürlich ein ganz dolles Ding und führt nicht dazu, dass es bei den Bürge-rinnen und Bürgern auch nur ansatzweise Ver-trauen in das BSI geben kann; denn – da muss man historisch einen Schritt zurückgehen – das BSI ist bekanntermaßen eine Ausgründung aus dem BND gewesen. Deswegen sagt die Linke: Wir brauchen hier eine Generalüberprüfung der Rolle des BSI, wir brauchen vor allem eine Offen-legung des Tätigkeitsberichts – der sollte nicht eingestuft sein –, und wir brauchen hier eine grundsätzliche Debatte darüber, was wir mit dem BSI eigentlich anfangen wollen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang will ich – durchaus im Sinne des BSI, wie ich glaube – etwas anmer-ken. Das BSI ist dem Bundesinnenministerium un-tergeordnet, was zu Recht immer kritisiert wird, aber natürlich eine bestimmte Linie in der inneren Sicherheit hat. Insofern wäre es doch, glaube ich, im Zuge der Beratung über das IT-Sicherheitsgesetz eine hervorragende Idee, dar-über nachzudenken, wie wir zunächst einmal die Unabhängigkeit des BSI herstellen können. Wir haben das gerade erst vor kurzem bei der Bun-desbeauftragten für den Datenschutz gelöst, in-dem wir das BfDI zu einer obersten Bundesbehör-de gemacht haben. Es wäre doch wirklich ein Fortschritt, das BSI dem Zugriff des Innenministe-riums zu entziehen, was grundsätzlich sinnvoll ist, und es zu einer obersten Bundesbehörde zu ma-chen, um eine wirkliche Unabhängigkeit herzustel-len. Das wäre etwas, was wirklich sinnvoll wäre. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich fasse zusammen: Ein IT-Sicherheitsgesetz ist eine grundsätzlich gute Idee; das ist anzuer-kennen. Die Ausführung, so wie Sie sie angehen, ist leider mangelhaft. Wenn Sie allerdings jetzt im Zuge der Beratung auf die Hinweise der Oppositi-on hören würden und könnten, dann könnte es ein fortschrittliches IT-Sicherheitsgesetz geben, und wir hätten im Bereich der Innenpolitik einmal et-was Richtiges im Falschen erreicht. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LIN-KEN) Solange aber die Bundesregierung bei der staatlichen Ausspähung und Kompromittierung von IT-Systemen mitmacht oder sie zumindest hinnimmt, ohne etwas dagegen zu tun, so lange befindet sie sich auf der Seite der Gefährder von IT-Sicherheit. Wenn Ihnen IT-Sicherheit also so doll am Herzen liegt, wie Sie es gerade engagiert vorgetragen haben, dann fordere ich Sie auf, die Seiten zu wechseln und unsere Vorschläge aufzu-nehmen. Dann würden wir ein ganzes Stück wei-terkommen. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht Ge-rold Reichenbach von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Gerold Reichenbach (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Dass die Digitalisierung und die digitale Ver-netzung immer weitere Lebensbereiche durchdrin-gen, ist inzwischen ein Allgemeinplatz geworden; aber das ist keine Banalität. Während der heutigen Debatte werden wir erleben, dass es dunkel wird. Das hat eine natürliche Ursache, nämlich die Son-nenfinsternis, die im Laufe des Vormittags eintritt. Es könnte aber auch andere Gründe haben. Im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema „Vernet-zung und IT-Sicherheit“ erzählte neulich ein Pro-fessor, dass man sich unter Kollegen darüber un-terhielt, wie man von Wien aus die Jalousien beim Deutschen Bundestag herauf- und herunterfährt. Das hört sich zunächst sehr lustig an, Herr Korte, (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich habe nicht gelacht!) aber das ist eine neue Qualität, mit der wir es zu tun haben: dass unsere Systeme nämlich vom Ausland aus angreifbar sind, weil immer mehr un-serer Lebenssysteme von Rechneranlagen digital gesteuert werden und international vernetzt sind. Das erklärt dann vielleicht auch für Sie, warum wir auch die präventive Seite gegenüber solchen An-griffen stärken müssen. Damit haben Sie die Er-klärung, warum wir auch die Dienste in diesem Bereich und hinsichtlich dieser Fähigkeiten stär-ken müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Unsere Kraftwerksbetreiber bereiten sich seit Monaten darauf vor, einen Blackout zu verhindern, der aufgrund der Stromschwankungen, induziert durch die Sonnenfinsternis, bei den Solaranlagen auftreten könnte. Aber was wäre, wenn solche Schwankungen nicht durch ein vorhersehbares Ereignis, sondern durch eine Cyberattacke ausge-löst würden? Ein Blackout wäre vermutlich nicht mehr zu vermeiden, und es drohten für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland drastische Fol-gen, wie wir sie gemeinsam im Grünbuch über die „Risiken und Herausforderungen für die Öffentli-che Sicherheit in Deutschland“ beschrieben haben und wie es auch in der TAB-Studie im Auftrag des Deutschen Bundestages dargelegt wurde. Wir sind zunehmend von Datenverarbeitung und funktionierenden, sicheren Infrastrukturen und Kommunikationsinfrastrukturen abhängig. Ob Le-bensmittelversorgung, Wasser-, Strom- und Energieversorgung, Logistik und Entsorgung, Ge-sundheitswesen oder öffentliche Sicherheit, aber auch Behörden und Verwaltung: Alle sind sie heu-te von funktionierenden IT-Strukturen und Kom-munikationssystemen abhängig. Und diese sind in Bezug auf kriminelle oder staatliche Angriffe von außen in hohem Maße gefährdet. Gleiches gilt übrigens für die Unternehmen und selbst für private Haushalte. Wir bewegen uns auch privat immer mehr in einer digital vernetzten Welt. Zukünftig werden immer mehr Funktionen davon abhängig sein: unser Auto, unsere Heizung, unsere Geld- und Warengeschäfte, nicht zuletzt unsere Brandsicherheit, wenn Toaster und Herd über IT-Kommunikation gesteuert werden. Darum müssen wir uns verstärkt der IT-Sicherheit widmen, und dazu gehören mehr Kapa-zitäten zur Bekämpfung von Cyberkriminalität, ein besserer Schutz kritischer Infrastrukturen, ein-schließlich – das sage ich ausdrücklich – staatli-cher Einrichtungen, (Jan Korte [DIE LINKE]: Genau!) und mehr Investitionen in IT-Sicherheit sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt deshalb hat die Koalition vereinbart – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –, „ein IT-Sicherheitsgesetz mit verbindlichen Mindestanfor-derungen an die IT-Sicherheit für die kritischen Infrastrukturen und der Verpflichtung zur Meldung erheblicher IT-Sicherheitsvorfälle“ zu schaffen. Wir haben geliefert. Ein entsprechender Gesetz-entwurf liegt nun vor. Wir wollen mit dem Gesetz für mehr Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Netz sorgen. Deswe-gen werden wir die Ermittlungszuständigkeiten und Ermittlungsfähigkeiten des Bundeskriminal-amtes im Bereich Cybercrime stärken und aus-bauen; denn Gelegenheit macht Diebe. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deswegen werden wir das BSI stärken und ausbauen und ihm die Möglichkeit bieten, Markt-produkte zu analysieren und auf ihre Sicherheit zu überprüfen. Diese verstärkten Befugnisse binden wir ausdrücklich und klar an den Zweck, den Bür-gerinnen und Bürgern sowie Unternehmen und Behörden Hilfestellungen sowie Hinweise für ihre IT-Sicherheit zu geben. Wir tun das nicht, wie Sie gerade unterstellt haben, um Lücken auszufor-schen und diese zu nutzen. Wir wollen mit dem Gesetz den Schutz der In-formationstechnik des Bundes weiter vorantreiben und für das Funktionieren einer zunehmend digita-lisierten öffentlichen Verwaltung Sicherheitsstan-dards setzen. Damit einhergehend – last, but not least – wol-len wir die IT-Sicherheit bei Unternehmen und vor allem bei kritischen Infrastrukturen stärken. Kriti-sche Infrastrukturen sind im Wandel. Im 19. Jahr-hundert waren Postkutschenstationen kritische Infrastrukturen. Heute sind es Flughäfen, die man damals nicht kannte und vermutlich nicht einmal erahnte. Während sich dieser Wandel in der Ver-gangenheit in längeren Zeiträumen vollzog, sind es heute nur noch wenige Jahre. Gleichzeitig schreitet die Vernetzung rasant voran. Bleiben wir beim Beispiel der Verkehrs- und Logistikbranche. Der Flughafen Frankfurt ist mit einem Cargoaufkommen von 2,2 Millionen Tonnen der führende Cargoflughafen in Europa. In Frank-furt werden fast 50 Prozent des gesamten Luft-frachtvolumens abgewickelt. Frankfurt verfügt aber auch über hochspezialisierte Einrichtungen für das Handling von Pharma. Zahlreiche Spedi-teure verfügen am und um den Flughafen über ei-gene Pharmabereiche. Ein Ausfall dieser kriti-schen Infrastruktur hätte kaum absehbare Folgen, nicht nur für den Güter- und Personenverkehr, sondern auch für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Logistikketten sind nämlich über ITK-Systeme und intelligente Steuerung längst eng miteinander verknüpft. Auch wenn die Spediteure, die die Produkte zu den Flug- und Seehäfen brin-gen, nach wie vor überwiegend kleine und mittlere Unternehmen sind und damit selbst wohl keine kri-tische Infrastruktur sind: Die dahinter stehenden vernetzten ITK-Systeme sind es sehr wohl. Wenn die IT-Steuerung der Seehäfen durch eine Cybe-rattacke lahmgelegt würde, dann litte Deutschland ganz schnell im wahrsten Sinne des Wortes unter Speiseröhrenverengung und Darmverschluss. Da-rum ist der Gesetzentwurf gerade in Bezug auf die kritischen Infrastrukturen bewusst so gestaltet, dass er mit der rasanten technischen Entwicklung Schritt halten kann. Im Gesetzesvorschlag werden die kritischen Infrastrukturen in ihrer Sektorenzugehörigkeit und Funktionalität für die öffentliche Sicherheit und die Versorgung sowie die Funktionsfähigkeit des Ge-meinwesens definiert. Herr Korte, ich kenne kein Gesetz – von der Seveso-Richtlinie bis zu anderen Gesetzen –, bei dem der Gesetzgeber vorher bis zum kleinsten Unternehmen gewusst hätte, wer letztendlich davon betroffen sein würde. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber so ein biss-chen würde es helfen! – Jan Korte [DIE LINKE]: Eine Ahnung könnte man ja ha-ben!) – Die haben wir ja. Ich habe es gerade eben be-schrieben. Die Definition dessen, was nach dem gegen-wärtigen Entwicklungsstand – das ist die ent-scheidende Frage; wir als Gesetzgeber haben uns nicht nur nach dem gegenwärtigen Entwicklungs-stand zu richten – im Einzelnen unter kritischer Infrastruktur zu verstehen ist, wollen wir bewusst dem Instrument der Rechtsverordnung überlas-sen, um die nötige Flexibilität zu haben, auf die schnellen technologischen Entwicklungen reagie-ren zu können. Dazu werden wir einen Identifikati-onsprozess aufsetzen, in den wir die Betreiber und Branchen mit einbeziehen werden. Ein wesentliches Element des Gesetzes sind die Meldepflichten. Meldungen können anonym er-folgen, wenn es um ein Lagebild über die Cybersi-cherheitslage geht. Bei bestimmten Vorfällen ma-chen anonyme Meldungen allerdings keinen Sinn mehr. Man stelle sich vor, beim Kraftfahrzeugbun-desamt ginge die anonyme Meldung ein, dass es Fahrzeuge mit nicht funktionierenden Bremsen gebe, aber es würde nicht gesagt, welche Fahr-zeuge und welche Hersteller es sind. Genauso wie im Automobilverkehr und bei der Sicherheit im Straßenverkehr können von der Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen Menschenleben abhän-gen. Diese sind höherrangig zu bewerten als die Interessen der Wirtschaft. Darum dürfen Meldun-gen nicht mehr anonym erfolgen, wenn es zu Aus-fällen oder Beeinträchtigungen der Funktionsfä-higkeit kritischer Infrastruktur kommt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich finde, wir sollten den jetzt aufgesetzten Me-chanismus auch auf seine Wirksamkeit hin über-prüfen und für das Gesetz eine Evaluierung nach einem angemessenen Zeitraum vorsehen. IT-Sicherheit und Schutz von kritischen Infra-strukturen ist nicht nur eine Frage der Sicherheit der Bürger heute, sie wird immer mehr zur ent-scheidenden Frage für die Wachstumsmöglichkei-ten und die Chancen der Digitalisierung selbst. Denn die Menschen würden es nicht akzeptieren, in immer mehr wichtigen Lebensbereichen von unsicheren IT-Infrastrukturen abhängig zu sein. Als Staat und Gesellschaft können wir es nicht einfach hinnehmen, für Angriffe und Bedrohungen von außen immer anfälliger zu werden. Vertrauen und Sicherheit werden die entscheidenden Fakto-ren für die weitere digitale Entwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft sein. Natürlich ist zu-vörderst die Wirtschaft in der Pflicht, in die Si-cherheit von IT-Strukturen zu investieren. Dort aber, wo die Schadenswirkung über das eigene Unternehmen oder die eigene Branche hinaus-geht, wo Sicherheitslücken auch Dritte in erhebli-chem Umfang schädigen oder gefährden können, ist der Gesetzgeber in der Pflicht, die notwendigen Sicherheitsrahmenbedingungen vorzugeben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) So haben wir es übrigens – der Minister hat es erwähnt – in der alten industriellen Welt völlig selbstverständlich immer wieder getan und tun es auch heute noch. Dies gilt es auch für die digitale und vernetzte Welt zu gestalten. IT-Sicherheit und Vertrauen in kritische Infra-strukturen werden zu immer wesentlicheren Standortfaktoren. Ich habe viele Gespräche mit Betreibern kritischer Infrastrukturen geführt, mit Vertretern der Wirtschaft und auch mit Vertretern von ausländischen Unternehmen, die dies bestä-tigten. Gerade auch Vertreter aus dem Ausland sahen – aus ihrer Sicht manchmal etwas neidisch – die Chance, dass dieses weltweit eines der ers-ten IT-Sicherheitsgesetze zu einem echten Stand-ortvorteil für die Bundesrepublik Deutschland wer-den kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz wird die Koalition nicht nur für mehr Si-cherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen. Mit diesem Gesetz wird der Standort Deutschland fit für die digitale Zukunft. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Kon-stantin von Notz das Wort. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das zentrale Thema der CeBIT in diesem Jahr ist die massive Gefährdung unserer digitalen Infra-struktur durch Massenausspähung und IT-Angriffe. Ohne Edward Snowden hätten wir heute nicht ansatzweise den Überblick über die tatsäch-liche Bedrohungslage. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) IT-Sicherheit war immer wichtig. Aber spätestens seit Stuxnet, Regin, dem Heartbleed Bug und dem überwachten Handy der Kanzlerin ist völlig klar: Im Bereich der IT-Sicherheit brennt in Deutsch-land die Hütte lichterloh. Ein zentrales Risikosze-nario für Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, für Kommunikation und Privatheit ist nicht nur die or-ganisierte Kriminalität, es sind auch die sich ver-selbstständigenden Geheimdienste und ihnen ge-fällig zuarbeitende Unternehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das ist die Ausgangslage auch nach zehn Jahren Bundesinnenministerium unter CDU/CSU-Führung, meine Damen und Herren. Jeder weiß: Wir brauchen einen verbesserten Grundrechtsschutz der Menschen und eine Erhö-hung der IT-Sicherheit für Unternehmen und Be-hörden. Das sind zwei Themen, die man heute nicht mehr trennen kann. Und sosehr Ihr Ministe-rium, Herr de Maizière, in den letzten Jahren für die grundrechtsfeindliche Vorratsdatenspeiche-rung gekämpft hat, so wenig Substanzielles haben Sie im letzten Jahrzehnt für den Bereich der IT-Sicherheit vorzuweisen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zur CeBIT 2015 legen Sie jetzt Ihren übereilten, unreifen Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes vor, der völlig zu Recht von allen Seiten kritisiert wird. Weder bringt er mehr IT-Sicherheit für Deutschland, noch schafft er das notwendige Ver-trauen in die Nutzung der Kommunikationsinfra-struktur unserer Zeit, das Internet. Wer IT-Strukturen schützen will, braucht zunächst eine differenzierte Einschätzung der Gefährdungslage; Kollege Korte hat es angesprochen. Diese haben Sie bis heute nicht vorgenommen. (Gerold Reichenbach [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!) Es ist deshalb vielleicht konsequent, aber eben inhaltlich falsch, hier lediglich mit weitgehend un-bestimmten Verfahrensregelungen um die Ecke zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie denken IT-Sicherheit eben nicht ganzheitlich, sondern stellen hier nur auf den Bereich kritischer Infrastrukturen ab. Selbst bei diesen Regelungen springen Sie zu kurz: Vor der eigenen behördli-chen Haustüre wird nicht gekehrt, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nur Unternehmen müssen nach Ihrem Gesetzent-wurf Meldungen machen, Behörden aber nicht. Wie soll denn auf diese Weise das gewünschte Gesamtlagebild der IT Angriffe entstehen und analysiert werden? Das ist schlicht unschlüssig, meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es gibt weitere massive Unklarheiten und Wi-dersprüche: Niemand weiß derzeit, welche Unternehmen wegen kritischer Infrastruktur meldepflichtig wer-den und welche eben nicht. Sie wollen das später festlegen. Zu Recht will die Wirtschaft aber jetzt wissen, was auf sie zukommt. Niemand weiß, was mit den beim BSI anlan-denden Daten geschehen soll, also was das BSI mit den Daten anfängt und wem es diese Daten eventuell übermittelt. Schon alleine die Rechtssi-cherheit der Unternehmen erfordert hier eine klare gesetzliche Regelung, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Gerold Reichenbach [SPD]: Mit der Be-gründung können Sie jedes Umweltge-setz wegschießen!) Und auch die Gelegenheit zur Harmonisierung, Herr Reichenbach, mit der auf EU-Ebene parallel in Verhandlung befindlichen Richtlinie genau zu diesem Thema warten Sie nicht ab, sondern Sie schaffen einen nicht abgestimmten deutschen Sonderweg. Der Minister lobt sich hier auch noch für dieses Vorgehen. Das ist aber angesichts der Internationalität des Internets und der grenzüber-schreitenden Vernetzung von IT-Systemen ein schlicht abwegiger Ansatz, meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er hat doch gesagt, es wird europaweit ab-gestimmt! Sie haben nicht zugehört!) Schließlich schaffen Sie mit Ihrem rein reakti-ven Gesetz überhaupt keine wirksamen proaktiven Anreize, um die Wirtschaft mitzunehmen. Weder gibt es positive Anreize, wie beispielsweise Privi-legierungen für diejenigen, die aufgrund prakti-scher IT-Schutzmaßnahmen tatsächlich etwas vorzeigen können, noch wagen Sie es, den umge-kehrten Weg zu gehen und beispielsweise durch steuernde Maßnahmen wie Haftungsregelungen mehr Sicherheit zu fördern. Der Entwurf zeigt hier leider ein halbgares Weder-noch, und er wird sein Ziel verfehlen. Das ist für das Jahr 2015, für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland und für einen sensiblen Bereich wie den der kritischen Inf-rastrukturen einfach skandalös wenig, meine Da-men und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Netzwirtschaft und IT-Kommunikation brauchen vor allem Vertrauen in die Sicherheit der Infra-struktur. Diese Erkenntnis ist richtig. Doch statt endlich dafür zu sorgen, geht seit Jahren in Ihrer Verantwortung Vertrauen weiter verloren. Das liegt auch daran, dass Sie hier im Entwurf das dem Innenministerium unterworfene BSI ins Zent-rum des Meldesystems stellen; dies hat der Kol-lege Korte ja angesprochen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informati-onstechnik ist eben nicht unabhängig, sondern abhängig von einem Innenministerium, das die Vorratsdatenspeicherung fordert, den Ankauf von Sicherheitslücken billigt, eine zumindest unklare Haltung zum Thema Verschlüsselung hat und ihm, also dem BSI, aufgibt, Bundestrojanersoftware zu basteln. Das kann so nicht weitergehen. Das BSI muss endlich in zentralen Aufgabenbereichen un-abhängig werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Und diese Bundesregierung muss sich endlich effektiven inhaltlichen Maßnahmen für mehr IT-Sicherheit zuwenden. Die Vorschläge dafür liegen längst auf dem Tisch, und namhafte deutsche Staatsrechtler haben Ihnen die verfassungsrecht-liche Verpflichtung des Gesetzgebers zum umfas-senden Schutz unserer digitalen Infrastrukturen in einer denkwürdigen Anhörung im Ausschuss ins Stammbuch geschrieben: Wir brauchen eine Ab-kehr von der globalen Massenüberwachung und von weltweiten IT-Eingriffen durch Geheimdienste, auch durch deutsche. Sie wollten doch Deutschland zum Verschlüs-selungsland Nummer eins machen. Ja, dann sor-gen Sie dafür, dass durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen endlich Standard werden! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Fördern Sie konsequent Open-Source-Technologien, und sorgen Sie dafür, dass zentrale Softwarekomponenten eine grundlegende Prüfung der Quellcodes durchlaufen, Herr de Maizière! Statt Blackboxsystemen brauchen wir inhaltlich geprüfte Sicherheit wenigstens in den zentralen Komponenten der Webinfrastruktur. Und: Der Staat darf eben nicht, wie von Ihnen geplant, zum Hehler von Sicherheitslücken wer-den. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dieser Markt gehört international geächtet und nicht durch Staatsknete gefördert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Schließlich: Hören Sie endlich auf, die EU-Datenschutzrechtsreform weiter zu behindern und zu verwässern! Sie ist ein elementarer Baustein für die IT-Sicherheit. Sie haben aus Ihrem Gesetzentwurf die Rege-lung zur „Vorratsdatenspeicherung durch die Hin-tertür“ nach massiver Kritik wieder herausge-nommen. Aber wer bürgerrechtliche Einsicht die-ser Großen Koalition erwartet hat, wird wieder einmal enttäuscht; denn Sie von Union und SPD haben gemeinsam und unbelehrbar die Vorratsda-tenspeicherung durch die Vordertür des Bundes-tages nun wieder hereingetragen. Sigmar Gabriel hat sich in den letzten Tagen nicht nur als irrlich-tender Vizekanzler gegen Bürgerrechte einen Na-men gemacht – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kom-men. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, er hat nicht nur die Glaubwürdigkeit seines eige-nen Ministerkollegen beschädigt, er hat als Wirt-schaftsminister offenbar auch nicht verstanden, welchen fundamentalen Stellenwert Vertrauen in die digitale Welt heute hat – Vertrauen, das Ihr ungenügender Gesetzentwurf leider nicht wieder-herzustellen vermag. Das ist ungenügend. Ganz herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christina Kampmann [SPD]) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Erlauben Sie mir, bevor ich auf das IT-Sicherheitsgesetz ein-gehe, eine kurze Antwort an den Kollegen Korte, (Jan Korte [DIE LINKE]: Na endlich!) der ja eben darauf hingewiesen hat, heute wäre ein guter Tag für Deutschland, (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, genau!) weil die rot-rot-grüne Landesregierung in Thürin-gen die V-Leute abgeschaltet habe. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Eine Schande, Herr Korte!) Heute ist ein schlechter Tag für Thüringen, um es klar zu sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Und ich sage Ihnen auch, warum, und das ohne jeglichen Zynismus und ohne Sarkasmus. Ich hof-fe wirklich, dass diese heutige prekäre Entschei-dung, die die Landesregierung vorgenommen hat, sich im Nachhinein nicht negativ auf die Sicher-heitslage in Thüringen auswirkt (Jan Korte [DIE LINKE]: Umgekehrt!) und dass es nicht aufgrund dieser Entscheidung und möglicher Folgeentscheidungen, die jetzt die anderen Bundesländer im Verfassungsverbund vornehmen, zu einer Verschlechterung der Si-cherheitslage und einer höheren Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger in Thüringen kommt. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das war ja maß-geblich Ihr Verfassungsschutz in Thürin-gen! Also eine Topbehörde! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Aber die gefähr-deten doch die Bürgerinnen und Bürger in Thüringen! – Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich halte die Entscheidung, die heute vorgenom-men wird, für hochbedenklich, (Beifall bei der CDU/CSU) und es bleibt abzuwarten, wie die anderen Lan-desverfassungsschutzämter darauf reagieren. Nun komme ich zum Thema des heutigen Vor-mittags; das hat durchaus auch etwas mit dem Thema Sicherheit zu tun. Es geht bei dem Schutz kritischer Infrastrukturen und unserer IT-Kommunikation natürlich darum, dass wir einen kooperativen Ansatz wählen, genauso wie im Ver-fassungsschutzverbund. Man meint vielleicht, wenn wir über Sicherheit unserer Informations-technik sprechen, auf den ersten Blick, rein tech-nisch betrachtet, dass es nur um den Schutz elektronisch gespeicherter Informationen sowie um deren Systeme geht. Es geht aber, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen – das haben auch die Diskussionen über Überwachungs- und Spionagemaßnahmen anderer Staaten oder ande-rer Unternehmen eindrucksvoll gezeigt –, auch um die Grundwerte unseres Staates. Es geht um wichtige Grundrechte unserer Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirtschaft. Was oft mit den Schlagworten „Schutz der Ver-traulichkeit“, „Integrität“ und „Verfügbarkeit“ unse-rer IT-Systeme umschrieben wird, meint im Grun-de auch den Schutz der Privatheit und von all dem, was die Menschen dem Netz anvertrauen. Es geht um unsere vertrauliche Kommunikation, um unsere Einkäufe im Netz, um Gesundheitsda-ten, um unsere Urlaubserinnerungen und um vie-les mehr. Für Unternehmen geht es um ihre Funktionsfä-higkeit und den Schutz ihres Know-hows, ihres geistigen Eigentums. Es geht um die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle entwickeln zu können, oh-ne einer Ausspähung ausgesetzt zu sein oder Op-fer einer kriminellen Machenschaft zu werden. Für unsere Gesellschaft, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, geht es insgesamt da-rum, dass IT Sicherheit mittlerweile das Gerüst ist, ohne das das öffentliche Leben und unsere Wirtschaft und letztendlich wohl auch unser Ge-meinwesen insgesamt nur schwerlich existieren könnten. Wie sehr die Sicherheit unserer IT-Systeme tagtäglich bedroht wird, belegen eindrucksvoll die Zahlen aus dem letzten Lagebericht des Bundes-amtes für Sicherheit in der Informationstechnik aus dem Jahr 2014 – der Innenminister hat schon darauf hingewiesen –: Es gibt derzeit weltweit über 250 Millionen verschiedene Varianten von Schadprogrammen, tagtäglich kommen etwa 300 000 neue hinzu. Das BSI geht davon aus, dass allein in Deutschland bereits heute mehr als 1 Million Internetrechner Teil eines Botnetzes sind, das heißt, ohne das Wissen des Besitzers des Internetrechners Teil eines kriminellen Netz-werkes sind, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Seit zehn Jahren regieren Sie!) und von der Tendenz her nimmt das bedauerli-cherweise stark zu. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Das Bundesamt für Sicherheit in der Informati-onstechnik hat festgestellt, dass im Vergleich von 2013 zu 2014 die Zahl der Spam-E-Mails um 80 Prozent zugenommen hat, (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, während Sie an Staatstrojanern arbeiten!) dass die Zahl der E-Mails, die Schadsoftware aufweisen, innerhalb nur eines Jahres um 36 Prozent zugenommen hat. Wir alle kennen Stuxnet, aber auch viele weitere spektakuläre IT-Sicherheitsvorfälle aus den letzten Jahren, die diese Gefährdungssituation weltweit, aber auch in Deutschland, belegen. Das BSI hat im Frühjahr letzten Jahres zwei Sicherheitsvorfälle offenkun-dig gemacht, bei denen insgesamt etwa 34 Millionen digitale Identitäten, E-Mail-Konten oder Passwörter, gestohlen wurden. Dennoch glaube ich – und das ist das Bemer-kenswerte –, dass immer noch viele Firmen, aber auch private Nutzer den Ernst der Lage häufig deutlich unterschätzen. So müssen wir immer noch feststellen, dass in der Praxis häufig nur ge-ringe Schutzmaßnahmen getroffen werden. Einfa-che, aber notwendige Schutzmaßnahmen unter-bleiben, sei es aus Kostengründen, sei es schlicht aus Bequemlichkeit oder auch aus Ahnungslosig-keit. Aus diesem Grunde können wir auf staatliche Mindestvorgaben in bestimmten Bereichen letzt-lich nicht verzichten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Das alles zeigt, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die große Bedeutung, die die IT-Sicherheit mittlerweile für uns und unser gesam-tes Leben hat, aber auch den großen Handlungs-bedarf, vor dem wir stehen. Mit dem nun vorliegenden Entwurf eines IT-Sicherheitsgesetzes bringen wir eines der ersten größeren Vorhaben der Digitalen Agenda in dieser Legislaturperiode auf den Weg. Mit diesem IT-Sicherheitsgesetz wird die Cybersicherheitsstra-tegie der Bundesregierung aus dem Jahr 2011 konsequent fortgesetzt und erweitert. Herr Kollege von Notz, ich möchte Ihnen klar erwidern, (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte!) weil Sie insinuiert haben, dass das Bundesinnen-ministerium eine unklare Haltung zur Verschlüsse-lungstechnik habe: (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Jan Korte [DIE LINKE]: Ja!) Der Bundesinnenminister und auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben eine eindeutige und kla-re Haltung zur Verschlüsselungstechnik. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es noch einmal!) Wir machen uns, mit Verlaub, auch nicht zu Heh-lern von Sicherheitslücken. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich! Der BND will die ankaufen!) Das ist eine infame Unterstellung, die Sie hier vorgenommen haben, die so einfach nicht zutrifft. Dem möchte ich in aller Deutlichkeit entgegnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Eine Sicherheitslücke in der IT ist natürlich um-so gravierender für das Allgemeinwohl, je stärker sogenannte kritische Infrastrukturen betroffen sind. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Mayer, lassen Sie eine Zwischen-frage des Kollegen von Notz zu? Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Selbstverständlich. Sehr gerne. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Der Stehler ist kein Hehler!) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, der Stehler ist kein Hehler. – Tut mir leid, dass ich Sie jetzt direkt unterbreche, und danke, dass Sie die Frage zugelassen haben. Ich will kurz auf die Vorwürfe antworten. Sagen Sie, Herr Mayer, für das Innenministeri-um – vielleicht kann der Minister kurz nicken –, dass der BND von seinen Plänen, in Zukunft Si-cherheitslücken anzukaufen, Abstand nimmt? Wenn das nicht der Fall ist, wie würden Sie das denn nennen, wenn jemand illegale Si-cherheitslücken ankauft, und zwar nicht, um sie zu schließen, sondern um sie zu nutzen? Also entwe-der distanzieren Sie sich davon, oder Sie können diesen Vorwurf leider nicht entkräften, Herr Ma-yer. (Gerold Reichenbach [SPD]: Konstantin von Notz, das ist Grundkurswissen: Für den BND ist das Kanzleramt zuständig, nicht der Innenminister!) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, ich dis-tanziere mich von der Behauptung, die Sie vorge-nommen haben, weil sie einfach nicht zutrifft. Es stimmt nicht, dass das Bundesinnenministerium Sicherheitslücken ankauft. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, es tole-riert!) Es stimmt auch nicht, dass der Bundesinnenmi-nister hier irgendwelchen Sicherheitslücken oder Backdoors das Wort geredet hat. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt!) Es gibt eine klare Position des Bundesinnenminis-ters, und diese wird zu 100 Prozent von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geteilt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Von der SPD auch!) Die Vertraulichkeit und die Integrität der Kom-munikation sind für uns außerordentlich wichtige Grundwerte. Gerade die von Ihnen genannte Ver-schlüsselungstechnik wird derzeit von der Bun-desregierung und auch vom BSI finanziell unter-stützt und vorangetrieben. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht ins Gesetz geschrieben!) Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist für uns ein ganz wichtiges und essenzielles Sicherungs-instrument. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Dabei bleibt es auch. Die Behauptung wird auch nicht wahrer, wenn Sie sie häufiger wiederholen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Sicherheitslücke in der IT ist natürlich umso gra-vierender, je stärker die kritischen Infrastrukturen betroffen sind. Wir alle kennen Horrorszenarien und auch entsprechende Science-Fiction-Filme; aber die Gefahr ist real. Die Gefahr, dass es auch in Deutschland zu einer massiven Beeinträchti-gung der öffentlichen Ordnung kommt, droht durchaus, beispielsweise wenn sich ein länger andauernder Stromausfall ereignet, wenn die Le-bensmittelversorgung ausfällt, wenn die Wasser-versorgung ausfällt oder wenn es zeitweise zum Zusammenbruch des Telekommunikationsnetzes kommt. Das IT-Sicherheitsgesetz, das wir heute in der ersten Lesung debattieren, regelt daher konse-quenterweise die Bereiche, in denen wir uns als moderne Gesellschaft Ausfälle der IT weder leis-ten können noch wollen. Bei unseren kritischen Infrastrukturen muss daher künftig ein Mindest-standard an IT-Sicherheit vorgehalten werden. Die Betreiber der kritischen Infrastrukturen werden gehalten, erhebliche IT-Sicherheitsvorfälle zu melden. Ich empfinde es schon als erheblichen Fortschritt, dass es in Zukunft möglich sein wird, diese Meldungen bis zu einer gewissen Erheblich-keitsschwelle anonym zu machen. Also erst wenn eine erhebliche Beeinträchtigung oder wenn ein Ausfall der kritischen Infrastruktur droht, muss diese Meldung mit Klarnamen vollzogen werden. Bis diese Erheblichkeitsschwelle erreicht wird, ist die Meldung auch anonym möglich. Ich glaube, dass dies ein erheblicher Fortschritt ist, um aus-zuschließen, dass es zu der von der Wirtschaft befürchteten Prangerwirkung kommt. Mir ist auch sehr wichtig, dass wir mit diesem IT-Sicherheitsgesetz einen kooperativen Ansatz verfolgen. Die Befürchtungen und die Zweifel, die teilweise in der IT-Wirtschaft vorhanden sind, dass es letzten Endes eine Einbahnstraße ist, dass also nur die Betreiber kritischer Infrastruktu-ren an die neue zentrale Meldestelle des BSI mel-den und es keine Rückkopplung gibt, werden dadurch ausgehebelt und ausgeräumt, dass es sehr wohl der Ansatz dieses Gesetzes ist, dass die Betreiber kritischer Infrastrukturen natürlich gleichermaßen durch das BSI informiert werden und möglicherweise im Vorfeld, noch vor dem Ein-tritt von Schadensereignissen, vor dem Eintritt von Cyberangriffen, entsprechend alarmiert wer-den und sich so besser vorbereiten und rüsten können. (Beifall der Abg. Nadine Schön [St. Wen-del] [CDU/CSU]) Dieser kooperative Ansatz, der mit diesem Ge-setzentwurf verfolgt wird, ist aus meiner Sicht ein erheblicher Fortschritt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Wir werden parallel zu dem Schutz kritischer Infrastrukturen die Kompetenzen des BSI aus-bauen. Die Warnbefugnisse des BSI werden ge-stärkt. Ferner wird die Möglichkeit geschaffen, dass die Öffentlichkeit genauso wie auch die deutsche Wirtschaft stärker beraten wird. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir gehen jetzt in das parlamentarische Verfahren. Wir werden am 20. April eine Anhörung zu diesem Thema durchführen. Ich sage hier für die Unions-fraktion ganz klar: Wir sind offen für Hinweise, für Verbesserungsvorschläge von allen Seiten. Ich habe schon den Eindruck – auch nach den ersten Rückmeldungen aus der Wirtschaft –: Der Grund-ansatz dieses Gesetzes wird vollumfänglich ge-teilt. Im Detail kann man mit Sicherheit noch über das eine oder andere sprechen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es uns mit diesem IT-Sicherheitsgesetz gelingt – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kom-men. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): – ich komme sehr gerne zum Ende –, Schritt-macher innerhalb der Europäischen Union zu sein und die Verhandlungen bezüglich der NIS-Richtlinie auf europäischer Ebene voranzutreiben. Das IT-Sicherheitsgesetz – davon bin ich fest überzeugt – wird für die kommende NIS-Richtlinie Vorbild sein. Insoweit ist das kein rein nationaler Ansatz, – Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, ich muss Sie noch einmal bitten, zum Schluss zu kommen! Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): – sondern ein Vorbild für die europäische Ebe-ne. Mit einem entsprechend konstruktiven Ansatz, denke ich, sollten wir auch die parlamentarischen Verhandlungen führen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Was wir grundsätzlich vom IT-Sicherheitsgesetz halten, hat mein Kollege Jan Korte schon gesagt. Prinzipiell ist das Anliegen komplett richtig. Aber es hilft nicht, etwas richtig zu meinen, man muss es auch richtig machen. (Beifall bei der LINKEN) Ich werde jetzt versuchen, ein wenig in die De-tails zu gehen. Ich fange damit an, dass das Bun-desamt für Verfassungsschutz bis zu 50 Stellen bekommen soll. Das macht 3,3 Millionen Euro aus. Jetzt ist die Frage: Wofür eigentlich? Ganz am Ende des Gesetzentwurfs schreibt der Nor-menkontrollrat: Der Stellenaufwuchs resultiert aus der Auswertung der vom BSI – dem Bundesamt für Sicherheit in der Informati-onstechnik – zur Verfügung gestellten Informationen und sich daraus … ergebenden Handlungserfor-dernissen. Abgesehen davon, dass ich es politisch falsch finde, dass das BSI offensichtlich Daten an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergibt, stellt sich jetzt die spannende Frage: Auf welcher Rechtsgrundlage passiert das überhaupt? (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das! – Britta Haßelmann [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie jetzt gut zu, Herr Mayer!) Sie verweisen in Ihrem Gesetzentwurf auf den § 8 b des BSI-Gesetzes. Da werden aber nur Un-terrichtungspflichten geregelt, kein Recht zur Da-tenübermittlung. Das Landeszentrum für Daten-schutz Schleswig-Holstein hat richtig festgestellt: Auch im Bundesverfassungsschutzgesetz findet sich keine Regelung bezüglich einer Pflicht des BSI, Daten an das BfV zu übermitteln. Das BSI-Gesetz regelt in § 3 Nummer 13 b Folgendes: Es besteht eine Unterstützungspflicht des BSI … bei der Auswertung und Bewertung von In-formationen, die … im Rahmen der gesetzli-chen Befugnisse nach den Verfassungs-schutzgesetzen des Bundes und der Länder anfallen … Auch dort steht nichts davon, dass das BSI Infor-mationen an das Bundesamt für Verfassungs-schutz weitergeben darf. (Gerold Reichenbach [SPD]: Soll es ja auch nicht!) Sie begründen also einen Stellenaufwuchs beim Bundesamt für Verfassungsschutz mit einer Da-tenweitergabe durch das BSI an das Bundesamt für Verfassungsschutz, für die es keine Rechts-grundlage gibt. Sie merken doch selbst, dass das irgendwie nicht geht, oder? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da ich viele wertvolle Stunden meines Lebens in der Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ verbracht habe, ärgert mich noch etwas. Offen-sichtlich werden nämlich die Berichte dieser En-quete bei der Erstellung von Gesetzentwürfen ein-fach nicht berücksichtigt. Da muss man sich die Frage stellen: Wozu machen wir eine solche En-quete dann überhaupt? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge-ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Skandalös ist das!) Die Projektgruppe „Zugang, Struktur und Si-cherheit im Netz“ hat beispielsweise kritische Inf-rastrukturen definiert. Ihr Gesetzentwurf nennt Sektoren kritischer In-frastrukturen. Aber die Sek-toren „Staat und Verwaltung“ sowie „Medien und Kultur“ tauchen im Gesetzentwurf nicht auf. Wenn Sie mir jetzt mit Länderhoheit kommen, dann sage ich: Nehmen Sie wenigstens die Bundesverwal-tung mit hinein, und reden Sie mit den Ländern, damit auch diese zwei Sektoren noch aufgenom-men werden! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch vom sogenannten Kerckhoff-Prinzip ist bei Ihnen nichts zu lesen, obwohl die Enquete empfohlen hat, auf dieses Prinzip zu setzen. Das Prinzip besagt, dass kritische Infrastrukturen Sys-teme benötigen, deren Funktionsweise prinzipiell vollständig offengelegt werden kann. Die Enquete urteilte – ich zitiere –: Der Open-Source-Weg, also das Kerckhoff-Prinzip, ist daher für Kritische Infrastrukturen ein geeigneter Weg. Auch davon steht nichts in Ihrem Gesetzentwurf, obwohl das in der Enquete einstimmig so gesehen worden ist. Sie hätten den Gesetzentwurf auch nutzen kön-nen – das ist der letzte Punkt –, um Regelungen zu schaffen, die Sicherheitsforscher und Entde-cker von Sicherheits-lücken vor straf- und zivil-rechtlicher Verfolgung schützen, wenn sie damit verantwortlich umgehen. Das hatten Linke, Grüne und SPD in einem Sondervotum in der -Enquete gefordert. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein sehr gu-tes Sondervotum!) Kurz und gut: Sie machen mit dem Gesetzent-wurf ein wichtiges Anliegen durch einen komplett falschen Ansatz kaputt. Ich kann nur hoffen, dass wir in der weiteren Debatte dem eigentlich sinnvol-len Anliegen noch sinnvoll Rechnung tragen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christina Kampmann von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD) Christina Kampmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt ein paar Dinge, ohne die diese Digitalisierung, von der jetzt alle sprechen, nicht funktionieren kann: Sicherheit zum Beispiel. Ohne Sicherheit kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Nutzung, ohne Nutzung keine Angebote. Aber welche Verantwortung hat eigentlich der Staat, wenn es um die Sicherheit im Netz geht? Schauen wir uns dazu ein Zitat von Günther Oet-tinger, seines Zeichens Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft in der Europäischen Union, an. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje!) – Nein, ich meine nicht das aktuellste, Herr von Notz, in dem er die Verfechter der Netzneutralität als talibanartig bezeichnet. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade ei-gentlich!) Das habe ich weder verstanden noch konnte ich talibanartige Züge bei mir oder bei Ihnen feststel-len. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Ich meine das Zitat, mit dem Günther Oettinger quasi seine Bewerbungsrede vor dem Europäi-schen Parlament gehalten hat. Nach dem Skandal um Nacktfotos aus gehackten Apple-Benutzerkonten gefragt, antwortete Oettinger: Wenn jemand so blöd ist und als Promi ein Nacktfoto von sich selbst macht und ins Netz stellt, hat er doch nicht von uns zu erwarten, dass wir ihn schützen. Hat er das wirklich nicht? Und was ist mit den-jenigen, die so blöd sind und über das Internet so-gar Informationen verschicken oder einkaufen? Sind sie Opfer oder Täter? Haben sie eine Schuld, oder haben sie eine Mitschuld? Wer ist eigentlich zuständig für Sicherheit im Netz? Und wie gehen wir damit um, wenn es dabei nicht um Fotos, son-dern um Infrastrukturen wie Verkehr, Gesundheit, Wasser oder Energie geht, also solche kritischen Infrastrukturen, die maßgeblich für das Funktio-nieren unseres Gemeinwesens, die öffentliche Si-cherheit und Ordnung sind? Das IT-Sicherheitsgesetz, über das wir heute diskutieren, gibt Antworten und formuliert eine staatliche Ver-antwortung, von der ich zutiefst überzeugt bin, lie-be Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ste-phan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]) Aber brauchen wir denn überhaupt ein IT-Sicherheitsgesetz? Ich sage eindeutig Ja. Denn die Gefahr, Opfer eines Cyberangriffs zu werden, ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Cy-bercrime ist heute die fünftteuerste Verbrechens-art der Welt. Angriffe sind von nahezu jedem Ort der Welt zu jeder Zeit und auf die unterschied-lichsten Ziele möglich. Gleichzeitig sind immer mehr technische Systeme mit dem Internet ver-bunden und auch untereinander vernetzt. Es ist eine Sache, ob sich Rihanna und Co. mit plötzlich auftauchenden Nacktfotos im Netz rum-schlagen müssen. Eine andere Sache ist es, ob es einen gezielten Angriff auf eine kritische Infra-struktur gibt; denn dieser kann eine Bedrohung für unsere ganze Gesellschaft sein. Hier hat der Staat eine klare Verantwortung. Die Frage, die wir uns heute stellen, ist: Kann er dieser Verantwortung mit dem IT-Sicherheitsgesetz gerecht werden? Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: Ja, das IT-Sicherheitsgesetz findet Antworten auf die we-sentlichen Herausforderungen, denen wir politisch begegnen müssen. Herrn von Notz sage ich: Das ist kein deutscher Sonderweg, wie Sie das nen-nen, sondern das ist ein gutes Beispiel, mit dem wir international vorangehen und auch internatio-nal Standards setzen werden, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dou-ble Standards!) nicht für alle und nicht immer so umfassend, wie ich mir das gewünscht hätte – dazu sage ich gleich noch etwas –; aber es bildet sehr wohl eine Grundlage, auf der man aufbauen kann und die in einer funktionierenden Sicherheitsarchitektur eine zuverlässige Basis bilden wird. Aber schauen wir uns einmal die Inhalte an: Worum geht es in diesem Gesetz eigentlich, und welche Ziele können damit tatsächlich erreicht werden? Ich möchte vor allem auf zwei Punkte eingehen, die in der öffentlichen Diskussion be-sonders im Fokus standen. Zum ersten Mal gibt es für Betreiber kritischer In-frastrukturen eine gesetzliche Verpflichtung, ei-nen Mindeststandard an IT-Sicherheit zu schaffen und einzu-halten. Das ist den einen zu wenig, weil die Branchenverbände selbst Vorschläge für Si-cherheitsstandards machen können; den anderen ist der bürokratische Aufwand zu hoch, insbeson-dere was die Meldepflicht an das BSI angeht. Was sie damit verkennen, ist die Tatsache, das IT-Sicherheit zwar teuer ist, aber ein Mangel an Si-cherheit um so vieles teurer ist, dass sich heute niemand mehr der Illusion hingeben darf, man könne darauf wirklich ernsthaft verzichten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich bin davon über-zeugt, dass wir mit der Möglichkeit zur grundsätz-lich anonymen Meldung einen guten Kompromiss für alle Akteure gefunden haben, der die Arbeit des BSI in wesentlichen Punkten erleichtern wird und gleichzeitig die Widerstandsfähigkeit der Net-ze im Bereich kritischer Infrastrukturen erhöht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zweitens auch noch ein paar Punkte zum Thema BSI sagen. Ich finde es richtig und wich-tig, dass das BSI im Rahmen des IT-Sicherheitsgesetzes gestärkt wird. Die Zuständig-keit des BSI geht inzwischen weit über die Abwehr von Gefahren für die IT des Bundes hinaus: Es dient zunehmend auch Unternehmen, Verwaltun-gen und der Politik als Ansprechpartner in Fragen von Cyber-sicherheit. Herr Korte, es für diese Aufgabe mit zusätzlichen Stellen zu stärken, ist die richtige Entscheidung. Dazu gibt es keine Alternative. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Wir können mal darüber diskutie-ren! – Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, die Unab-hängigkeit des BSI!) – Das haben auch Sie in diesem Kontext erwähnt. Ich habe bei Ihrer Rede sehr genau zugehört; da-von können Sie ausgehen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt im-mer Alternativen!) Was aber nicht geht – das sage ich in aller Deutlichkeit auch im Hinblick auf die Berichter-stattung der vergangenen Tage –, ist eine Doppel-funktion des BSI, die zwei Dinge in sich vereint, die quasi genauso unvereinbar sind wie die recht-liche Gleichstellung von Mann und Frau und die faktische Entgeltungleichheit im 21. Jahrhundert von immer noch 22 Prozent. Das BSI hat eine klare Rolle in der Cybersi-cherheitsarchitektur des Bundes und eine eindeu-tige Zuständigkeit für die defensive Sicherheit in unserem Land. Eine Doppelfunktion, mit der auf der einen Seite die Bürger und die Unternehmen geschützt werden sollen, auf der anderen Seite aber aktiv dazu beigetragen würde, Sicherheitslü-cken erst zu ermöglichen, würde nicht nur der Glaubwürdigkeit des BSI, sondern auch der Politik insgesamt schaden. Deshalb wollen wir IT-Sicherheit für und nicht gegen die Menschen in unserem Land schaffen. Um diesen Konflikt grundsätzlich zu vermeiden, setzt sich die SPD auch weiterhin für eine größere Unabhängigkeit des BSI ein. (Beifall bei der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, tat-sächlich gibt es weitere Punkte, auf die wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben, die aber in die-sem Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes noch nicht auftauchen, obwohl ich sagen würde: Sie passen da eigentlich ziemlich gut hinein. Ich denke zum Beispiel an die Aussage, dass Deutschland Verschlüsselungsstandort Nummer eins werden soll. In meinen Ohren klingt das jedes Mal richtig gut. Fakt ist aber: Verschlüsselung geschieht nur selten von selbst. So etwas wie ei-ne marktgetriebene Verschlüsselung ist zwar zu finden, sie kommt aber ungefähr genauso häufig vor wie eine Niederlage von Arminia Bielefeld im DFB-Pokal, nämlich quasi nie. (Beifall bei der SPD – Burkhard Lischka [SPD]: Das ist schon mal gut!) Warum sollte man also nicht eine Verpflichtung zur Transportverschlüsselung für Telekommuni-kationsunternehmen aufnehmen? (Burkhard Lischka [SPD]: Sehr richtig!) Dass IT-Hersteller und -Diensteanbieter für Da-tenschutz- und Sicherheitsmängel ihrer Produkte haften sollen, steht ebenfalls im Koalitionsvertrag, und auch diese Regelung hätte ihren Platz in die-sem Gesetzentwurf, weil damit ein deutlicher Ge-winn an IT-Sicherheit erreicht werden könnte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, IT-Sicherheit ist die unverzichtbare Bedingung für die Digitalisierung. Ich glaube, das ist heute mehr als deutlich geworden. Ohne Sicherheit im Netz, ohne ein Maximum dessen, was wir tun können, um un-sere Systeme zu schützen, ist all das, was uns in Zukunft ausmachen wird, hinfällig. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie einen besseren Gesetzentwurf vor!) Industrie 4.0 ist ohne IT-Sicherheit null und nichtig, und die Cloud-Technologie wäre ohne Cy-bersicherheit komplett sinnlos. Weitere Beispiele sind E-Government, Smart Meter, autonomes Fahren, intelligentes Wohnen und digitales Arbei-ten. Selbst das Spielen wird in Zukunft zur sicher-heitstechnologischen Herausforderung werden, wenn die just angekündigte WLAN-Barbie in deut-schen Kinderzimmern ihr Unwesen treibt; denn ab Herbst soll es ein Modell geben, das Gespräche der Kleinsten in unseren Kinderzimmern aufzeich-nen wird. Es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn die erste Barbie gehackt wird. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Stoppt die WLAN-Barbie!) – Genau, darin sind wir uns einig. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann so viele Beispiele aufzählen, die zeigen: Vieles von dem, was heute bereits Realität ist und in Zukunft noch viel stärker auf uns zukommt, wird schlicht-weg nicht möglich sein, wenn wir nicht ein Maxi-mum an Cybersicherheit gewährleisten. Deshalb ist es gut, dass wir mit dem Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes einen Anfang gemacht ha-ben, der für entscheidende Bereiche des öffentli-chen Lebens die Schaffung und Einhaltung von Mindeststandards vorschreibt. Klar ist aber: Das kann tatsächlich nur ein An-fang sein. Denn die Gefährdungslage wird eher zu- als abnehmen, und nicht nur die technischen, sondern auch die politischen Herausforderungen werden mit der weiteren digitalen Durchdringung aller Lebenswelten zunehmend größer. Lasst uns deshalb nicht auf dem ausruhen, was wir erreicht haben, sondern die Digitalisierung politisch so ge-stalten, dass sie zu dem wird, was sie verdient hat: zu einem positiven Zukunftsversprechen. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kol-lege Dieter Janecek von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Kampmann, der Vergleich mit Arminia Bielefelds Rolle im DFB--Pokal reizt mich nun schon ein bisschen. Sie wollen die IT-Sicherheit international voranbringen, wie das auch Kollege Mayer gesagt hat. Aber Champions League ist das noch lange nicht. (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das, was Sie hier vorlegen, ist im Gegenteil eher Kreisklasse. (Heiterkeit und Beifall beim BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Kommen wir zum Schutz unserer digitalen Inf-rastruktur. Die SPD ist bei diesem Thema noch nicht so lange dabei, aber die Union beschäftigt sich damit schon seit zehn Jahren. Sie sind mit diesem Thema in der Tat überfor-dert. Es hat zwei Jahre vom ersten Referenten-entwurf – damals noch unter Innenminister Fried-rich – bis heute gedauert. Wie bei der digitalen Agenda insgesamt, kann man auch hier feststel-len: Es ist wahrlich kein großer Wurf. Es ist eine konsequente Fortsetzung Ihres Klein-Kleins der digitalen Agenda. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Gesetzent-wurf zur Simulation von IT-Sicherheit. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Das, was wir aber brauchen, ist ein wirkungsvol-les Regelwerk, ja sogar ein dynamisches Regel-werk, auf dem Sie aufbauen und die IT-Sicherheit tatsächlich verbessern können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ihr Ziel ist es doch, die kritische Infrastruktur zu schützen. Sie nehmen die Wirtschaft in die Pflicht – dabei unterstützen wir Sie –, stellen aber an die eigene kritische Infrastruktur des Bundes nur sehr geringe Anforderungen. Da kann ich die Kritik aus der Wirtschaft schon verstehen, die da lautet: Das, was ihr von uns verlangt, würden wir gerne auch bei euch sehen. – Das aber liefern Sie nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bei 50 Milliarden Euro liegt nach Schätzungen der Schaden der deutschen Volkswirtschaft durch Cyberattacken. Der Bundeswirtschaftsminister stellt zu Recht fest, dass gerade in Kleinbetrieben Bedenken bei der Datensicherheit die Digitalisie-rung hemmen. Jetzt frage ich Sie allerdings: Wel-chen Beitrag also leistet Ihr vorgelegter Gesetz-entwurf? Wird mit diesem Gesetzentwurf der Wirt-schaft geholfen, mit der Gefahr von Cyberangrif-fen besser umzugehen? Die Antwort ist eindeutig Nein. Enthält der Gesetzentwurf wirksame Instru-mente, die die Unternehmen zur Verbesserung der IT-Sicherheit benötigen? Auch das ist nicht der Fall. Hilft der Gesetzentwurf insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen bei der Digita-lisierung? Auch das ist noch weniger der Fall. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie verlieren sich in Ihrem Gesetzentwurf in Unklarheiten. Das geplante IT-Sicherheitsgesetz wird in dieser Form keinen Beitrag zur Steigerung der IT-Sicherheit in Deutschland leisten. Ich sage Ihnen auch, warum. Ihr Gesetzentwurf schreibt zwar eine Meldepflicht bei IT-Sicherheitsvorfällen vor. Es bleibt aber völlig unklar, was mit diesen Meldungen passiert. Das Bundesamt für Sicher-heit in der Informationstechnik kann sich durch die Dokumentationspflicht ein Lagebild über die IT-Sicherheit verschaffen. Das ist vorgesehen. Die Frage ist allerdings: Was passiert mit diesen Da-ten? Die Frage ist auch: Welche Planungs- und Rechtssicherheit geben Sie den Unternehmen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Schauen wir uns einmal die Begrifflichkeiten an: Der „Stand der Technik“ solle berücksichtigt wer-den, heißt es in § 8 a Absatz 1 Ihres Gesetzent-wurfes. „Erhebliche Störungen“ sollen gemeldet werden, so § 8 b Absatz 4. Von „kritischer Infra-struktur“ ist in § 1 die Rede. All diese Begriffe sind unklar definiert. An diesem Gesetzentwurf lässt sich überhaupt nicht erkennen, welche Unterneh-men von der Meldepflicht überhaupt betroffen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alles in allem – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen –: So viel Unklarheit hilft Unternehmen bei der IT-Sicherheit nicht weiter. Dass Unter-nehmen und ihre Verbände Meldepflichten kritisie-ren, ist natürlich wenig überraschend. Dennoch stellt sich hier schon die Sinnfrage: Wo ist denn hier der direkte Beitrag zur Verbesserung der IT-Sicherheit? Tragen die vorgesehenen verschärf-ten Berichtspflichten tatsächlich dazu bei, das IT-Sicherheitsniveau von Unternehmen zu verbes-sern? Der Schwerpunkt Ihres Gesetzentwurfes müsste doch vielmehr auf der Behebung von und dem vertrauensvollen Austausch über IT-Sicherheitslücken und -Schwachstellen liegen. Das tut er eben nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie bieten auch keinen Anreiz, Angriffe möglichst früh zu identifizieren und dadurch Schaden abzu-wenden. Im Gegenteil: Sie schaffen eine Meldebü-rokratie, deren Verwertung, Analyse und Bereit-stellung unklar bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuelle Bundesregierung und die Vorgängerregierung wa-ren beim Thema IT-Sicherheit jahrelang im Däm-mermodus. Jetzt sind Sie endlich aufgewacht. Das ist gut so; da stimme ich auch Herrn Korte zu, da gehen wir in eine Richtung. Die Herausforderungen sind komplex; das ist keine Frage. Der vorgelegte Gesetzentwurf über-zeugt aber nicht, weder inhaltlich noch konzeptio-nell; denn er hilft nicht, die Herausforderungen in der IT-Sicherheit zu bewältigen. Der Schutz klei-ner und mittelständischer Unternehmen und der Privatuser vor Cyberangriffen bleibt dabei außen vor. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Deshalb: Wenn Sie Champions League sein wollen, dann machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben. Auf unse-re konstruktive Begleitung dabei können Sie sich verlassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Cle-mens Binninger von der CDU/CSU das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Clemens Binninger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Industrie 4.0, Internet der Dinge, Cloud Computing und Smart Meter sind nur einige weni-ge Begriffe, die zeigen, wie sehr sich auch unsere Wirtschaft verändert und dass immer mehr vom Austausch von Informationen und Daten abhängt. Darüber sollten wir uns klar sein, Herr Kollege von Notz. Denn Sie erwecken immer wieder den Ein-druck, man könnte mit staatlicher Regulierung al-les lösen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Klar!) Das wird nicht gehen. Die Entwicklungen, mit denen wir es zu tun ha-ben, sind meiner Ansicht nach von drei Punkten bestimmt: von Innovationen – auf sie haben wir nicht immer direkt Einfluss –, von Geschäftsmo-dellen – dabei geht es um die Frage, womit man Geld verdienen kann; das ist einer der größten Treiber –, und vom Verhalten der Kunden, egal ob es Unternehmen sind, die immer mehr auf Tech-nik setzen müssen, oder ob es der Privatnutzer ist, der sich dazu entschließt, künftig alles online und mithilfe von Apps und Ähnlichem zu machen. Das sind die drei entscheidenden Punkte. Sie haben eine so starke Dynamik, dass es keine Re-gierung und keine Partei geben wird, die sagt: Wir können alle Gefahren sofort erkennen und schaf-fen vorneweg entsprechende Regelungen. – Das ist schlicht und einfach nicht möglich. Der Ge-setzgeber muss diese Entwicklungen im Blick be-halten und dann – er wird aber immer einen Schritt hinterher sein – richtig reagieren und eine gesetz-liche Regelung schaffen. Das tun wir heute. Wir reden heute über ein sehr spezielles Seg-ment. Es geht um kritische Infrastrukturen. Ich verstehe nicht, warum kaum ein Debattenbeitrag ohne die üblichen Warnungen vor dem Verfas-sungsschutz und der Vorratsdatenspeicherung auskommt. Das geht am Thema vorbei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich würde gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wir kritische Infrastrukturen schützen können. Aber dann müssen wir uns von solchen Aussagen lösen und bereit sein, in der Sache zu diskutieren. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hängt schon zusammen!) Dazu war bislang eher wenig zu hören. Es mag parteipolitisch nett klingen, wenn Sie sagen – darauf haben Sie ein paarmal abgehoben –, wir seien aufgewacht, würden aber immer noch zu wenig machen. Das sind doch die üblichen rhe-torischen Floskeln, mit denen man in der politi-schen Debatte, finde ich, eher für Langeweile als für einen konstruktiven Dialog sorgt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit zehn Jahren sind Sie in der Verantwortung!) – Ja, wir regieren seit zehn Jahren. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist das Problem!) Das ist gut für dieses Land, wie ich finde. (Beifall bei der CDU/CSU – Gerold Rei-chenbach [SPD]: Mit der SPD haben Sie das auch gemacht!) – Es ist natürlich ganz toll, wenn die SPD mit da-bei ist. Das habe ich vergessen. Aber es stimmt schon. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nächste Mal Grün wählen! Dann wird es besser!) Übrigens hat die Netzpartei Die Grünen in die-ser Zeit keinen Gesetzentwurf vorgelegt. Auch in den Ländern haben Sie sich nicht mit Maßnahmen zur IT-Sicherheit hervorgetan. Wir haben in dieser Zeit das BSI gestärkt. Wir haben eine Anti-Botnet-Initiative und die Allianz für Cyber-Sicherheit auf den Weg gebracht. Was das Thema De-Mail an-geht, ist zu sagen, dass eine Komplettverschlüs-selung vorgesehen ist. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gratuliere! Hättet ihr das mal früher gemacht!) Sie mögen alles als zu langsam und zu wenig kri-tisieren. Aber wir haben mehr gemacht als Sie al-le, Grüne und Linke in der Opposition, in den gan-zen Jahren zusammen. Sie haben das Thema auch nicht entdeckt, und Sie haben bislang auch keine konstruktiven Vorschläge vorgelegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen Ihnen konkrete Vorschläge, Herr Binninger! Sehr konkrete Vorschläge!) Trotzdem – deswegen habe ich meine Ausfüh-rungen so eingeleitet – kann man beim Thema IT-Sicherheit nie den Punkt definieren, an dem man feststellen kann: Nun haben wir alles gemacht; es bleibt nichts mehr zu tun. – Das wird nicht möglich sein, weil die starke Dynamik bleibt und von uns verlangt, dass wir immer wieder etwas tun müs-sen. Zu den Herausforderungen bei den kritischen Infrastrukturen haben Sie kaum ein Wort verloren, obwohl die Linken und die Grünen sonst immer sagen, der Staat tue zu wenig bei der Spionage-abwehr. Aber wenn die Behörde, die für Spionage-abwehr zuständig ist, der Verfassungsschutz, mehr Stellen bekommt, dann ist das auch wieder nicht recht. Das ist unglaubwürdig und überzeugt in keinem einzigen Punkt. So widersprüchlich kann nur die Linke argumentieren. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Vor welchen Herausforderungen stehen wir ei-gentlich? Herr Kollege von Notz, Sie haben vorhin ein sehr dramatisches Bild gewählt: In Deutsch-land brennt die Hütte, was die IT-Sicherheit an-geht. – Das könnten Sie sicherlich weiter ausdeh-nen, aber ich würde es nicht so dramatisch formu-lieren. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bei seiner Rede gab es die Sonnenfins-ternis!) – Jetzt wird es gleich dunkel, aber erst nach mei-ner Rede. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil die SPD kommt, oder was?) Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht, Herr Kol-lege von Notz. Ich gebe Ihnen recht, dass wir überhaupt nicht wissen, wo kritische Infrastruktu-ren heute angegriffen werden, weil die Betreiber, privatwirtschaftliche Unternehmen, kein Interesse daran haben, das öffentlich zu machen, aus Angst vor Rufschädigung oder was auch immer. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Durch Ihr Gesetz auch nicht!) Wir haben überhaupt kein Lagebild, aus dem hervorgeht, woher Angriffe kommen, wie sie aussehen und welche Sektoren – Energieversor-gung, Finanzwirtschaft, Gesundheitsversorgung oder Logistik – hauptsächlich angegriffen werden. Wir wissen schlicht und einfach zu wenig. Es ist unsere Herausforderung, das zu ändern und zu lö-sen. Deshalb machen wir dieses Gesetz. Das Gesetz beinhaltet eine Reihe von Kompo-nenten. Wir stärken die Rolle des BSI. Man kann sicherlich darüber diskutieren, wie groß die Unab-hängigkeit des BSI sein sollte. Aber dass wir eine Stelle brauchen, die die Kompetenzen bündelt und der Wirtschaft als Ansprechpartner zur Verfügung steht, kann niemand bestreiten. Wie gesagt, wir stärken das BSI, wenn es um Produktuntersu-chungen, die Warnfunktion und die Rolle als An-sprechpartner für die Wirtschaft geht. Das ist ein guter und wichtiger Schritt für die Cybersicherheit in diesem Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Des Weiteren geht es um eine Regelung der Meldepflicht. Unternehmen und Verbände wie BITKOM hatten am Anfang Sorge: Was wird da von uns verlangt? Können wir uns den damit ver-bundenen bürokratischen Aufwand überhaupt leis-ten? Ist es geschäftsschädigend, wenn ein großes Unternehmen aus der Finanzwirtschaft melden muss, dass sein Rechenzentrum gehackt wurde? – Mittlerweile bekommen wir überwiegend positive Rückmeldungen. Die Unternehmen sagen: So wie es gesetzlich geregelt ist, ist es gut. Bis zu einem bestimmten Grad wird die Anonymität gewahrt. Kleine Unternehmen können eine gemeinsame Meldestelle bei ihrem Verband einrichten, die sich dann an das BSI wendet. Wir garantieren die Ano-nymität. Alle Unternehmen aus dieser Branche profitieren davon, weil sie gewarnt werden: Bank XY oder Logistiker XY wurde mit diesem oder je-nem Modus Operandi oder diesem oder jenem Trojaner angegriffen. Achtung! Wappnet euch, und setzt entsprechende Maßnahmen um! – Die-ser Schritt geht mehr als nur in die richtige Rich-tung. Er schafft die Grundlage dafür, dass wir un-sere kritischen Infrastrukturen für die Bevölkerung und die Versorgung sicherer machen. Hier gehen wir einen wichtigen Schritt nach vorne. Nun zum Punkt, den Sie ein paarmal kritisiert haben. Sie haben gesagt, im Gesetz sei zu wenig geregelt und es enthalte zu viele unbestimmte Rechtsbegriffe. Auch darüber haben wir uns Ge-danken gemacht. Aber ich garantiere Ihnen: Wer sich mit diesem Thema seriös auseinandersetzt, wird erkennen, dass sich in einem statischen Ge-setz nie alle denkbaren Begrifflichkeiten für alle Zeiten regeln lassen: Was ist ein Cyberzwischen-fall? Wann ist er meldepflichtig? Welche Unter-nehmen und welche Branchen sind einzubezie-hen? Es handelt sich vielmehr um einen dynami-schen Prozess, wie Sie selber gesagt haben, Herr Kollege von Notz. Deshalb wählen wir den Verord-nungsweg, um es Exekutive, Parlament und Wirt-schaft zu ermöglichen, diese Fragen gemeinsam zu beantworten. Wer gehört zu den Betreibern kritischer Infra-strukturen? Dazu gehört sicherlich nicht jedes Stadtwerk. Vielleicht gehören aber Stadtwerke ab einer bestimmten Größe dazu. Wir gehen von et-wa maximal 2 000 Betreibern kritischer Infrastruk-turen aus, die am Ende unter die Meldepflicht fal-len können. Auf jeden Fall werden wir auch in Zu-kunft immer wieder überprüfen müssen, ob wir alle Betreiber kritischer Infrastrukturen erfasst haben oder ob es neue Sektoren gibt, die es aufgrund bestimmter Geschäftsmodelle zu berücksichtigen gilt. Diese Dynamik lässt sich nicht im Gesetzge-bungsverfahren auflösen. Dazu braucht man den Verordnungsweg. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, es tut mir leid, aber ich muss Sie in Ihrer Dynamik unterbrechen. Sie müssen zum Schluss kommen. Clemens Binninger (CDU/CSU): Ich überziehe selten, aber noch habe ich Licht. Einen Punkt möchte ich noch ankündigen. Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sind durchaus offen für konstruktive Vorschläge. Wir selber haben einige Ideen, wie wir nachjustieren können. Das gilt insbesondere für die Standards in der Verwaltung. Wir werden in jedem Fall über die Frage der Evaluierung reden müssen. Die Unter-nehmen bekommen zwei Jahre Zeit für die Umset-zung. Wir müssen dann nach einer bestimmten Zeit erneut prüfen. Dieses Gesetz schafft auf einem wichtigen Feld eine gute Grundlage, um die IT-Sicherheit in un-serem Land zu verbessern. Ich kann Sie nur dazu einladen, daran konstruktiv mitzuwirken. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Lars Klingbeil (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich bin dem Kollegen Binninger für die Ton-lage, die er in diese Diskussion hineingebracht hat, sehr dankbar. Ich finde, diese Tonlage ist der Diskussion, die wir heute führen, angemessen. (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) Ich erinnere mich noch daran, dass ich gegen Ende der letzten Legislatur als Sprecher der SPD in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ beim damaligen Innenminister Fried-rich eingeladen war; Konstantin von Notz war auch dabei. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren noch Zeiten!) Wir haben über wegweisende Empfehlungen der Enquete-Kommission geredet. Eine der Hauptbotschaften des damaligen In-nenministers war: Wir müssen im Bereich des IT-Sicherheitsgesetzes endlich vorankommen. – Diese Botschaft hat sich, glaube ich, vor allem an den damaligen Koalitionspartner gerichtet. Es zeigt aber auch, wie lange wir die notwendige Diskussion hier im Parlament führen. Wenn heute der Vorwurf im Raum steht, dass wir zu lange ge-braucht haben, kann ich für diese Koalition nur sagen: Ich finde es gar nicht schlecht, dass wir nach einem Jahr ein solch wichtiges, ein solch wegweisendes Gesetz hier auf den Weg bringen. Ich halte es für dringend notwendig, dass wir im Bereich der IT-Sicherheit endlich vorankommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Ich glaube, dass wir heute einen Paradigmen-wechsel einleiten, den wir nicht zu kleinreden soll-ten. Wir definieren die Rolle des Staates im Be-reich der IT-Sicherheit heute anders. Wir machen heute mit diesem Gesetz deutlich, dass der Staat eine Aufgabe im Bereich der Kontrolle, des Lage-bildes und auch der Informationseinholung hat und dass er dort ganz andere Rechte hat. Wir alle wissen doch, wie notwendig es ist, dass der Staat eine andere Rolle bekommt. Das erkennen wir, wenn wir uns die Verletzlichkeit einer modernen Gesellschaft anschauen, wenn wir sehen, wie ver-letzlich öffentliche Daseinsvorsorge, der Energie-bereich, der Verkehrsbereich, der Gesundheitsbe-reich sind. Wir erkennen, der Staat muss eine an-dere Rolle bekommen, und die bekommt er mit diesem Gesetz. Ich warne aber auch davor – der Kollege von Notz hat das vorhin angesprochen –, dass wir hier den Eindruck erwecken, das IT-Sicherheitsgesetz sei die Antwort auf Snowden und alle Bedrohun-gen, die sonst irgendwie im Raum stehen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Snowden ist keine Bedrohung!) – Konstantin, darum geht es gar nicht, sondern es geht darum, dass wir heute einen Teil definieren. Viele andere Aufgaben liegen politisch noch vor uns, wenn es darum geht, Vertrauen in die IT-Infrastruktur, Vertrauen in Kommunikation, Ver-trauen auch in Geheimdienste wiederherzustellen. Da müssen wir noch eine ganze Palette von Auf-gaben erledigen. Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein kleiner Teil. Andere Punkte sind genannt worden. Da geht es um IT-Sicherheitsforschung. Da geht es um die Herstellung von digitaler Souveränität. Da geht es um Verschlüsselungs- und Krypto-technologien. All das ist auch im Koalitionsvertrag angelegt. Auch wir Sozialdemokraten werden Druck machen, dass hier in den nächsten Jahren etwas passiert, wenn es darum geht, Vertrauen in Kommunikation wiederherzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU]) Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns im parlamentarischen Verfahren sehr wichtig sein werden, und dem Kollegen Janecek ausdrücklich anbieten: Wenn es Ideen gibt, wie man in die Champions League aufsteigen kann, dann werden wir sie uns im parlamentarischen Verfahren genau anschauen. Ein Punkt, den wir sicherlich diskutieren werden – einiges ist angesprochen worden –, ist die Fra-ge: Hat der Staat für das Lagebild eigentlich auch die Angriffe abzuliefern, die auf ihn ausgeübt wer-den? Da gab es gestern noch die Kritik, dass das Gesetz, was diesen Punkt angeht, verfassungs-widrig sei. Ich glaube nicht, dass es verfas-sungswidrig ist. Aber wir bieten schon an, dass wir uns das noch einmal anschauen. Es ist auch in unserem Interesse, dass klar ist, was der Staat melden muss. Ein Weiteres hat die Kollegin Kampmann ange-sprochen: die Rolle des BSI. Wir halten es für richtig, dass das BSI aufwächst, dass es eine neue Verantwortung bekommt. Aber wir wollen auch noch einmal über die Unabhängigkeit des BSI und über die Frage, wie sie gestärkt werden kann, reden. Die Kritik aus der Wirtschaft, das BSI sei Diener zweier Herren, müssen wir im par-lamentarischen Verfahren sehr ernst nehmen. Was die Meldepflicht angeht, kann ich den Vorwurf der Rechts- und Planungsunsicherheit nicht verstehen. Wir alle wissen, dass es eine entsprechende Verordnung geben wird. Wir alle wissen auch, wie schwierig und wie sensibel die Definition von „kritische Infrastruktur“ ist. Es geht um die Frage: Welche Angriffe sind es eigentlich, die anonym oder namentlich gemeldet werden müssen? Wenn wir diesen Paradigmenwechsel vollziehen wollen, dann muss dem eine sensible Debatte vorausgehen. Diese Debatte muss die Politik auch mit der Wirtschaft sehr sensibel füh-ren. Da hat sich der Innenminister auf den Weg gemacht; da hat sich die Bundesregierung auf den Weg gemacht. Ich halte das für richtig. Man kann von der Politik nicht immer sofort hundertprozenti-ge Antworten erwarten. Deswegen ist der Weg über eine Rechtsverordnung hier genau richtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will für uns noch einmal ausdrücklich sagen: Das ist heute die erste Lesung. Wir gehen jetzt in ein parlamentari-sches Verfahren mit Anhörungen, in denen wir uns viele Punkte sicherlich noch einmal genau an-schauen werden. Aber das, was hier grundsätzlich passiert – dass der Staat eine andere Verantwor-tung im Bereich der IT-Sicherheit bekommt –, das ist der richtige Weg. Es wurde Zeit, dass hier end-lich etwas passiert. Wir sind froh, dass es uns nach einem Jahr Große Koalition gelungen ist, das IT-Sicherheitsgesetz auf den Weg zu bringen. Ich würde mich freuen, wenn sich die Opposition konstruktiv in die Debatte einbrächte, vielleicht nicht ganz so krawallig, wie es heute an der einen oder anderen Stelle der Fall war. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Big Data, Internet der Dinge, Industrie 4.0, Smart Grids, Smart Meter – das sind die Schlag-worte, die in dieser Woche die Diskussionen um die Digitalisierung bestimmen; denn diese Woche ist CeBIT-Woche. Darum geht es bei der größten IT-Messe der Welt und nicht, lieber Kollege Kon-stantin von Notz, um die Snowden-Enthüllungen. Ich habe auf der CeBIT vor allem erlebt, dass man sich damit beschäftigt, wie sich die Welt verän-dert, wenn sie zunehmend vernetzt ist, wenn alles intelligenter, vernetzter und auch smarter wird. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles wird intelli-genter? Schön wär’s!) Wir wissen um die Potenziale dieser Vernet-zung für die Wirtschaft und die Gesellschaft. Wenn man sich nur den Bereich Landwirtschaft anschaut: Es gibt heute schon Möglichkeiten, mit-tels Knopfdruck zu sehen, wie weit die Pflanzen in ihrer Entwicklung sind, ob Regen kommt und man das Feld nicht bewässern muss. Maschinen kor-respondieren untereinander, setzen sich selbst in Gang. Das ist Landwirtschaft 4.0. Hier sieht man, wie vernetzt das alles ist. Das Gleiche gilt auch bei der Energieversor-gung. Windräder, PV-Kollektoren werden anhand von IT-Strukturen gesteuert. Man kann sehen, wie das Wetter sich entwickelt, wann man viel Strom braucht. Er wird intelligent gesteuert ins Netz ein-gespeist. Da wird in den nächsten Jahren viel passieren. Es gibt viele Szenarien, die uns guter Hoffnung sein lassen, dass wir die Chancen der Digitalisie-rung in Deutschland nutzen können und alle davon einen Mehrwert haben im Hinblick auf Wirtschaft-lichkeit, auf Effizienz und auf Ressourcenspar-samkeit. Dies sind gute Szenarien, aber es gibt auch die Horrorszenarien. Horrorszenarien kann man sich vorstellen, wenn man einmal darüber nachdenkt, was denn passiert, wenn genau diese Netze, die-se Infrastrukturen nicht mehr funktionieren oder – schlimmer noch – wenn sie von außen manipuliert werden. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass die Infrastrukturen, die die Versorgung der Men-schen in unserem Land sicherstellen, auch funkti-onieren. Diese müssen wir besonders schützen. Deshalb legen wir heute das IT-Sicherheitsgesetz vor, das zum einen darauf ab-zielt, vor allem die kritischen Infrastrukturen wir-kungsvoll zu schützen: mit Mindeststandards, mit Meldepflichten; der Minister hat das im Einzelnen ausgeführt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Die zweite Zielrichtung des Gesetzes ist, das Sicherheitsniveau der informationstechnischen Systeme in Deutschland insgesamt zu heben; denn wir beobachten immer noch eine gewisse Sorglosigkeit bei Unternehmen, bei kleinen und mittleren Unternehmen, auch bei der Bevölkerung. Wir haben die Diskussion etwa um Snowden, um Hackerangriffe, um Datendiebstahl in großem Um-fang, aber das spiegelt sich nicht unbedingt im Nutzerverhalten wider. Noch heute werden die an-gemessenen Sicherheitsmaßnahmen, die man er-greifen könnte, nicht ergriffen. Deshalb ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass die User informiert werden, wenn etwa An-griffe von außen auf das Netz erfolgen. Deswegen werden wir die Provider dazu verpflichten, das an die Nutzer zu melden. Das war uns schon bei den Koalitionsverhandlungen ein ganz wichtiges An-liegen; deshalb haben wir es aufgenommen. Wir werden dafür sorgen, dass die Grundsicherheit sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Pri-vatpersonen erhöht wird. Das IT-Sicherheitsgesetz ist ein Maßnahmen-paket. Der Minister hat die einzelnen Punkte aus-führlich dargestellt. Wir werden in den nächsten Wochen ausführlich über die einzelnen Punkte sprechen und überlegen, wie effizient oder effektiv die einzelnen Maßnahmen sind, welche Wechsel-wirkungen es aber auch gibt, um dann möglichst viel Sicherheit für die Menschen in unserem Land zu gewährleisten. Ich will der Diskussion nicht vorgreifen, aber zu zwei, drei Punkten, die schon kritisch angemerkt wurden, etwas sagen. Das Erste ist: europäische Lösung. Natürlich haben wir in Europa einen großen Binnenmarkt, aber derzeit noch mit 28 fragmentierten digitalen Märkten. Das kann so nicht bleiben. Deshalb be-grüßen wir auch sehr, dass Günther Oettinger die Digitalunion ausgerufen hat. Wir brauchen natür-lich einheitliche Standards in ganz Europa. Was Deutschland jetzt macht, ist, wie die Kanzlerin ge-sagt hat, die Blaupause für diese Diskussionen auf europäischer Ebene. Wir bringen das, was wir hier ins Gesetz schreiben, natürlich auch auf der europäischen Ebene ein. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden sich bedanken!) Man erwartet von Deutschland als dem Land, das im Bereich IT-Security unbestritten Vorreiter in Europa ist, dass wir vorangehen, dass wir unsere Vorschläge einbringen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Man spricht wie-der deutsch in der digitalen Welt!) Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir zum einen mit unserem Gesetz eine Vorreiterrolle ein-nehmen und uns zum anderen parallel dazu bei den Diskussionen auf europäischer Ebene ein-bringen. Wir können jetzt nicht warten, bis das in Europa ausdiskutiert ist, bis es eine Richtlinie gibt, bis diese umgesetzt wird. Wir brauchen das Gesetz jetzt; denn wir brauchen jetzt mehr Sicher-heit. Deshalb machen wir das zweigleisig, und das ist genau der richtige Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Der zweite Punkt ist die Diskussion über die unbestimmten Rechtsbegriffe. Natürlich muss man als Unternehmen wissen, ob man von einem Gesetz betroffen ist oder nicht. Insofern muss man sich die Begriffe „kritische Infrastruktur“, „bedeutende Störungen“, „Stand der Technik“ alle noch einmal anschauen. Aber Digitalisierung ist eben schnelllebig. Deshalb muss das Gesetz so gestaltet sein, dass wir nicht bei jeder techni-schen Neuerung im Bundestag ein neues Gesetz-gebungsverfahren in Gang setzen müssen, um auf diese Neuerung zu reagieren. Wir brauchen ein Gesetz, das flexibel ist, mit dem wir flexibel auf Neuerungen, auf Entwicklungen eingehen können. Wir müssen es so offen gestalten, dass das möglich ist. Wir müssen Rechtssicherheit auf der einen Seite, aber eben auch die Schnelllebig-keit auf der anderen Seite im Auge behalten. Das werden wir uns jetzt bei den Beratungen noch einmal genau anschauen. Das ist unser Ziel, und das sind die Kriterien, an denen wir unser Gesetz ausrichten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Der dritte Punkt betrifft folgende Fragen: Was passiert mit den Daten? Wie viele Daten werden überhaupt erhoben? Was hat die Wirtschaft denn selbst davon? Das sind sehr wichtige Fragestel-lungen, die Sie auch heute zu Recht angespro-chen haben. Es ist eben so, dass es für die Un-ternehmen sensible Daten sind; denn es geht um Geschäftsprozesse. Deshalb ist es wichtig, dass gewährleistet ist, dass die Daten sicher und ver-traulich behandelt werden. Es ist wichtig, dass das nicht ein Einfallstor für Wirtschaftsspionage wird. Aber das werden wir sicherstellen. Das ist elementar für den Wirtschaftsstandort Deutsch-land. Deshalb werden wir den Schutz der Daten, die hier erhoben werden, sicherstellen. Es werden natürlich auch nur die Daten erhoben, die elemen-tar sind, um beurteilen zu können, ob ein Angriff stattfindet, um die Angriffsmuster zu erkennen. Natürlich werden auch die Unternehmen etwas davon haben. Uns geht es doch nicht nur darum, zu sehen, was in Deutschland zurzeit an Angriffen da ist. Das Gesetz hat zum Ziel, mit den Unter-nehmen zu korrespondieren, zu warnen und auf diese Angriffe reagieren zu können, sonst würde das Ganze ja gar keinen Sinn machen. Insofern sind so manche Vorwürfe, die heute hier in den Raum gestellt wurden, wirklich abstrus. Natürlich wird das Gesetz so ausgestaltet, dass die Unter-nehmen etwas davon haben. IT-Sicherheit ist et-was, was uns als Staat angeht, was aber auch die Unternehmen selbst angeht; denn IT-Sicherheit ist auch ein Wirtschaftsfaktor für die Unternehmen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kollegin, auch Sie müssen zum Schluss kommen. Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Deshalb werden wir darauf großes Augenmerk legen. Liebe Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, IT-Sicherheit ist maßgeblich für den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Deshalb werden wir das Gesetz schnell und zügig beraten, zusammen mit den Unternehmen, die es betrifft. Ich freue mich schon sehr auf die Bera-tungen. Die AG Digitale Agenda wird sich hier ge-nauso einbringen wie die Innenpolitiker. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Hansjörg Durz das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Hansjörg Durz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vernetzung, insbesondere die Vernetzung der Wirtschaft, ist das zentrale Thema der heute zu Ende gehenden CeBIT in Hannover; Nadine Schön hat bereits -darauf hingewiesen. In der vernetzten Wirtschaft kommuniziert – was sich viele nicht vorstellen können, aber heute schon sehr real ist – alles mit allem. Das in die-sem Zusammenhang in jüngster Zeit am häufigs-ten genannte Schlagwort lautet Industrie 4.0. Neben dem industriellen Bereich ist eine weite-re praktische Anwendung in dieser vernetzten Welt, die besonders im Fokus der Öffentlichkeit steht, das vernetzte, auch autonom genannte Fah-ren. Kaum eine Vision beflügelt die Fantasie der Menschen so wie die Vorstellung selbstfahrender Autos – im Positiven, aber auch im Negativen. Diese Ambivalenz dem selbstfahrenden Auto ge-genüber lässt sich auf die Digitalisierung insge-samt übertragen. In der Erfassung und Analyse riesiger Daten-mengen liegen enorme Potenziale für die Wissen-schaft, für die Wirtschaft, für die Verbrauer, für die Gesellschaft insgesamt. Bei aller Euphorie dürfen wir aber nicht vergessen: Zunehmende Vernet-zung macht Systeme insgesamt auch anfälliger. Wenn auf immer mehr Systeme über das Internet zugegriffen werden kann, bedeutet dies auch im-mer mehr potenzielle Einfallstore. Deshalb ist Vernetzung ohne Cybersicherheit nicht denkbar. Vernetzung und Sicherheit sind zwei Seiten der-selben Medaille. Die Informationsgesellschaft ist verwundbar – wie sehr, darauf haben meine Vorredner heute be-reits mehrfach hingewiesen. Auch ich möchte noch einmal die Zahl nennen, dass etwa 40 Prozent der deutschen Firmen in den vergan-genen zwei Jahren das Ziel von Computerkrimina-lität waren. Die Schadenssumme beläuft sich auf geschätzte 54 Milliarden Euro. Diese Zahlen zei-gen, dass die Bedrohung nicht abstrakt, sondern real ist. Anzahl und Qualität der Angriffe auf IT-Systeme nehmen zu. Dennoch klingen diese Zahlen immer sehr weit entfernt. Um es ein Stück konkreter und fassbarer zu machen, möchte ich ein praktisches Beispiel heranziehen, das Mitte vergangenen Jahres durch die Medien ging und zeigt, wie ein solcher Angriff aussehen kann und mit welchen Folgen zu rech-nen ist. Ein Krimineller auf der Flucht ist möglicher-weise auf freie Straßen angewiesen. Wie er das erreichen kann, haben Wissenschaftler in Michi-gan demonstriert. Mit der Erlaubnis der örtlichen Straßenverkehrsbehörde haben IT-Spezialisten fast 100 drahtlos miteinander vernetzte Ampeln übernommen und konnten in der Folge die Rotphasen der jeweiligen Ampeln nach Belieben steuern. Wie konnte das passieren? Die Angreifer haben sich simpler, aber gleichzeitig signifikanter Sicherheitslücken bedient. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Im Siemens-Steuerungssystem!) Die Drahtlosverbindung war unverschlüsselt, und die Zugangsdaten waren noch auf die Stan-dardeinstellung programmiert. Dabei war es den Forschern möglich, lediglich mit einem Laptop und einem Funksender auf das gesamte System zu-zugreifen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber genau die müssen das nicht melden! Das ist näm-lich eine öffentliche Behörde!) Als Ergebnis des Feldversuchs hielten die For-scher ein systemimmanentes Fehlen von Sicher-heitsbewusstsein fest. Es fehlen also nicht die notwendigen IT-Systeme, sondern es fehlt am Si-cherheitsbewusstsein. Genau hier setzt das IT-Sicherheitsgesetz an. (Dr. Konstantin von Notz [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!) Der zentrale Punkt, auf den Politik reagieren muss und auf den wir mit dem heutigen Gesetzesvor-schlag reagieren, ist, Bewusstsein zu schaffen. Ein Leben ohne digitale Vernetzung können und wollen wir uns in der heutigen Gesellschaft nicht mehr vorstellen. Wir leben in einer vernetzten Welt. Wir erleben diese Vernetzung tagtäglich: in der Kommunikation untereinander, im Büro, beim Onlineeinkauf, bei der Kommunikation mit Behör-den, Unternehmen und Banken. Experten gehen davon aus, dass im Jahr 2020 weltweit 50 Milliar-den Geräte miteinander vernetzt sein werden, von der Industrieanlage bis zur Uhr, von der PV-Anlage auf dem Dach bis zur Heizung im Keller. Daraus ergeben sich enorme Chancen. Wir müssen aber auch ein Bewusstsein für die Gefahren schaffen, die durch Vernetzung entste-hen. Dies gilt umso mehr, wenn mit dem Einsatz von IT Risiken für andere geschaffen werden. Das gilt also zuallererst für den Bereich der kritischen Infrastrukturen, sprich: für jene Zweige, die für das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Ge-sellschaft essenziell sind: Energie, Wasser, Transport, Verkehr und Gesundheit. Angriffe auf kritische Infrastrukturen stellen eine besondere Bedrohung dar, da ein Ausfall weitreichende Fol-gen für das Gemeinwohl hätte. Sie gehören daher verstärkt unter Schutz gestellt. Der vom Bundesminister vorgelegte Entwurf ei-nes IT-Sicherheitsgesetzes begegnet diesen Her-ausforderungen, die sich durch die zunehmende Vernetzung stellen. Denn erstens schafft er ein Bewusstsein für die Gefahren und Risiken, die mit der Digitalisierung einhergehen. Es werden jene Bereiche adressiert, deren Infrastrukturen als kri-tisch anzusehen sind, und diesen Bereichen wird ein gewisses Maß an IT-Sicherheit verbindlich vorgeschrieben. Zweitens ist im Gesetzentwurf die Zusammen-arbeit der staatlichen Institutionen mit der Wirt-schaft, mit den betroffenen Branchen angelegt. Dies gilt sowohl für die Festlegung der Ein-zelsegmente der betroffenen Branchen als auch für die Definition der branchenweiten Standards. Damit werden die Erfahrung und das Wissen aus der Wirtschaft genutzt. Der Staat alleine kann und wird diese Herausforderung nicht in den Griff be-kommen. Der Weg führt nur über die Zusammen-arbeit von Staat und Wirtschaft. Dieser Denkan-satz liegt diesem Gesetzentwurf zugrunde und ist vollkommen richtig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) Drittens bleibt der Gesetzentwurf nicht bei der Definition eines bestimmten Status quo stehen, sondern nimmt die Dynamik der Digitalisierung auf. Er etabliert einen fortlaufenden Informations-austausch zwischen Wirtschaft und Behörden und sorgt damit dafür, dass Erfahrungen und Erkennt-nisse weitergegeben werden. Dies ist dringend geboten; denn sobald Verwundbarkeiten von IT-Strukturen bekannt sind, können diese branchen-übergreifend genutzt werden. Im weltweiten Netz sind -Lücken in kürzester Zeit gescannt. Umso wichtiger ist die Kommunikation und Zusammen-arbeit untereinander. Dabei ist es für die Wirt-schaft absolut sinnvoll, dass die Meldungen in al-ler Regel anonym erfolgen können. Ich denke, dass damit ein vernünftiger Ausgleich zwischen privatwirtschaftlichem Interesse und Schutzbe-dürftigkeit der Allgemeinheit erreicht werden konn-te. Dieser Ausgleich, dieses Augenmaß ist auch im weiteren Verfahren notwendig, wenn definiert wird, welche Unternehmen von dem Gesetz konk-ret betroffen sind. Es gilt aber auch, den administ-rativen und organisatorischen Aufwand insgesamt möglichst gering zu halten, indem zum Beispiel das Gesetz mit bereits existierenden Anforderun-gen bestimmter Branchen synchronisiert wird. Vernetzung und Sicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Chancen, die sich aus der Digitalisierung gerade für die deutsche Wirtschaft bieten, sind überragend. Die Potenziale werden aber nur dann zu heben sein, wenn bei der Vernet-zung auch den Risiken begegnet wird. Bundesmi-nister de Maizière hat einen Gesetzentwurf vorge-legt, der einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird. Er schafft Bewusstsein und geht die Herausforde-rungen in einem kooperativen Ansatz zwischen Staat und Wirtschaft an. Der Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes ist ein erster und ein sehr gu-ter Schritt der Digitalen Agenda der Bundesregie-rung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetz-entwurfs auf Drucksache 18/4096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) Drucksache 18/4282 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Sportausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gesundheitsförderung und Prävention kon-sequent auf die Verminderung sozial be-dingter gesundheitlicher Ungleichheit aus-richten Drucksache 18/4322 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kor-dula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundheit für alle ermöglichen – Gerech-tigkeit und Teilhabe durch ein modernes Gesundheitsförderungsgesetz Drucksache 18/4327 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen. – Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, können wir mit der Debatte beginnen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort in der Debatte hat für die Bundesregierung der Bundes-minister Gröhe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesund-heit: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einigen Schlagzeilen dieser Woche beginnen. Der Spiegel eröffnet die Woche mit dem Demografietitel „Deutschland, deine Zukunft 2030“. Vorgestern veröffentlicht die DAK eine Stu-die über Stress und Doping am Arbeitsplatz. Und wir stellen fest, dass in Deutschland seit dieser Woche 1 000 Menschen an Masern erkrankt sind. Das alles sind Schlagzeilen dieser Woche, alles Themen, die damit zu tun haben, was wir jetzt be-raten, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prä-vention, kurz: den Entwurf eines Präventionsge-setzes. Ich bin froh, dass wir nach einer Reihe von Anläufen in der Vergangenheit jetzt darüber reden. Deshalb stehen wir jetzt an der Wegmarke, um ein solches Gesetz gemeinsam zu erarbeiten und auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in einer Ge-sellschaft des längeren Lebens, die zugleich durch einen Wandel der Lebensstile und der Ar-beitswelt gekennzeichnet ist, sind gezielte Ge-sundheitsförderung und Prävention von entschei-dender Bedeutung. Sie tragen dazu bei, dass Krankheiten erst gar nicht entstehen oder der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden kann, dass Menschen gesund älter werden und die Le-bensqualität steigt. Wir haben dank guter Lebens- und Arbeitsbedingungen, dank einer sehr guten gesundheitlichen Versorgung in diesem Land und dank des medizinisch-technischen Fortschritts heute gute Chancen, ein höheres Lebensalter zu erreichen als die Generationen vor uns. 81 Jahre ist aktuell die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland, mit der guten Tendenz: weiter steigend. Jeder von uns wünscht sich auch im hohen Lebensalter gute Gesundheit. Die erfreuliche Nachricht ist: Wir selbst können dazu beitragen, dass aus der Hoffnung auf ein gesun-des Leben auch Wirklichkeit werden kann. Damit bin ich bei den Vorteilen einer umfassen-den Gesundheitsförderung. Drei Punkte möchte ich benennen: Prävention unterstützt die Gesund-heit, steigert die Lebensqualität und spart Ge-sundheitskosten. Es ist also eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Nun kann man gesundheitsbewusste Lebenssti-le nicht einfach anordnen, wie man vielleicht Alko-holgrenzen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr anordnen kann. Wir können aber einen Rahmen schaffen, der es den Men-schen erleichtert, sich dieses Themas anzuneh-men, der sie motiviert, etwas für die eigene Ge-sundheit zu tun. Genau diesen Weg schlagen wir mit dem Präventionsgesetz ein. Prävention ist keine Frage des Alters. Sie be-ginnt im wahrsten Sinne des Wortes in den Kin-derschuhen und sollte auf dem ganzen Lebensweg ernst genommen und als Anliegen betrachtet wer-den. Ich erwähnte bereits eingangs den aktuellen Masernausbruch. Von Windpocken und Grippe-welle will ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen. Allein dieser Masernausbruch muss für uns ein Aufbruchsignal sein, die Impfquoten in Deutschland wieder zu erhöhen, meine Damen, meine Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Deshalb werden wir die Überprüfung und Beratung im Hinblick auf den Impfstatus, den eigenen und den der Kinder, zu einer wesentlichen Maßnahme dieses Gesetzes machen. Denn Schutzimpfungen gehören zu den wirksamsten präventiven Maß-nahmen gegen Infektionskrankheiten. Es besteht außerdem Handlungsbedarf im Be-reich der Kleinkinderimpfungen, die eben, anders als vom Robert-Koch-Institut empfohlen, häufig nicht bis zur Voll-endung des zweiten Lebensjah-res erfolgen. Vor der erstmaligen Aufnahme in ei-ne Kita sollen Sorgeberechtigte deshalb in Zukunft umfassend über den Impfstatus beraten werden. Dies stärkt Kinder und Eltern im Sinne einer guten Gesundheitsvorsorge. Ich sage sehr deutlich: Ich bin dazu bereit, auch im Rahmen des anstehenden parlamentarischen Verfahrens über die Frage zu diskutieren, ob die hier vorgesehenen Schritte ausreichen oder wir weitere Schritte zur Durch-impfung unserer Bevölkerung gehen müssen. Wir sind es unserer Bevölkerung, die wir schützen wollen, schuldig, dies sachlich und vorbehaltlos zu diskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Prävention und Gesundheitsförderung tragen dazu bei, Wohlbefinden, Mobilität und Lebensqua-lität für Menschen jeden Alters und aller sozialen Schichten zu erhalten und zu verbessern. Sie dür-fen sich also nicht nur an diejenigen richten, die bereits fit sind; alle müssen mitgenommen wer-den. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Kühn-Mengel [SPD]) Ich möchte das Thema Gesundheitsvorsorge wahrlich nicht primär unter wirtschaftlichen Ge-sichtspunkten betrachten. Aber in einer großen Volkswirtschaft wie der unsrigen, die zudem unter einem wachsenden Fachkräftemangel leidet und in der länger und flexibler gearbeitet wird, ist auch unter ökonomischen Gesichtspunkten eine Ver-stärkung der Anstrengungen zur Gesunderhaltung der Erwerbstätigen bis zum Erreichen des Ren-tenalters gefragt. Die in dieser Woche präsentierte Studie der DAK hat noch einmal unterstrichen, wie wichtig Gesundheit am Arbeitsplatz ist. Es ist weder im Interesse der Arbeitnehmer noch im Interesse der Arbeitgeber noch im Interesse des Gesundheits-wesens, dass sich die Belegschaft bis zum Äu-ßersten dopt, um durchzuhalten oder neue Höchstleistungen am Arbeitsplatz zu erbringen. Dies hat nur Verlierer zur Folge. Dem wollen wir entgegenwirken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Prävention ist gerade in einer alternden Gesell-schaft mit vielen Mehrfacherkrankungen oder chronischen Erkrankungen von besonderer Be-deutung; denn viele der in diesem Zusammenhang zu nennenden Krankheiten – Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Erkran-kungen des Bewegungsapparats – hängen eben auch mit Fragen des Lebensstils, einer ausrei-chenden Bewegung, einer angemessenen, gesun-den Ernährung zusammen. Deswegen ist es wich-tig, hier die Weichen dafür zu stellen, dass Men-schen ihnen rechtzeitig entgegenwirken. Wir wissen aus Erhebungen der Berliner Al-tersstudie, dass deutschlandweit ungefähr 46 Pro-zent der Menschen über 70 unter Bluthochdruck leiden. Wir wissen zugleich, dass eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung dem ent-gegenwirken können. Was bedeuten dieses klare Bekenntnis und der Aufruf zu wirksamer Prävention, der sich an alle richtet, nun für unseren Gesetzentwurf? Mit dem Gesetzentwurf sollen die Gesundheitsförderung und Prävention insbesondere in Lebenswelten wie Kita, Schule, Arbeitsplatz oder Pflegeheim ge-stärkt und durch gemeinsame Anstrengungen al-ler Beteiligten gefördert werden. Da, wo Men-schen leben, lernen, arbeiten, sollen sie erreicht werden. Deswegen werden wir die Angebote in den Lebenswelten stärken, indem das entspre-chende finanzielle En-gagement der Krankenkas-sen deutlich erhöht wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Zudem erhalten erstmals die Pflegekassen ei-nen ausdrücklichen spezifischen Präventionsauf-trag für die Bereiche der stationären Altenpflege, die aber beispielsweise auch Tagespflegeeinrich-tungen umfassen. Über 500 Millionen Euro werden damit zukünftig aus den Krankenversicherungen und den Pflegekassen zur Verfügung stehen. Wir wollen, dass diese Aktivitäten besser koordiniert werden, auch mit dem, was andere, beispielswei-se die Kommunen, in diesen Bereichen tun, und wir wollen diese Maßnahmen weiter qualifizieren. Deshalb soll die Bundeszentrale für gesundheitli-che Aufklärung die Krankenkassen mit der Ent-wicklung von kassenübergreifenden Konzepten, gerade im Hinblick auf Chancengleichheit, Verfah-ren zur Qualitätssicherung sowie zur Evaluation, unterstützen. Wir werden bei den Jugenduntersuchungen wie bei den Vorsorgeuntersuchungen insgesamt den Präventions-aspekt verstärken, indem diese nicht allein krankheitsbezogen ausgerichtet sind, son-dern auch risikobezogen und daher rechtzeitig auf die Gefahren etwa durch Über-gewicht, Bewe-gungsmangel, übermäßigen Alkoholkonsum, zu starken Stress und anderes eingegangen wird. Ein besonderes Anliegen ist es mir, in der be-trieblichen Gesundheitsförderung deutlich voran-zukommen und dabei auch die kleinen und mittel-ständischen Betriebe mitzunehmen. Wir wissen aus einer Fülle von Beispielen auch von dem be-triebswirtschaftlichen Nutzen kluger Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung, die den Ar-beitsalltag, gerade auch in größeren Betrieben, prägen. Wir wollen es den kleinen und mittleren Betrie-ben durch die Bündelung von Beratungstätigkeit, aber auch durch die Zusammenarbeit mit Hand-werks- sowie Industrie- und Handelskammern er-leichtern, dass betriebliche Gesundheitsförderung auch in kleinen und mittelständischen Betrieben zu einem wichtigen Merkmal der Arbeitsplatzgestal-tung wird. Dies dient dem Vermeiden von Fehlzei-ten und schafft attraktive Arbeitsplätze in Zeiten von Fachkräftemangel. Deshalb soll dies weiter gefördert werden. Dabei führen wir nicht nur das zusammen, was die gesetzlichen Krankenversicherungen in die-sem Bereich tun, sondern auch die Träger der ge-setzlichen Rentenversicherung sowie der gesetz-lichen Unfallversicherung werden einbezogen. Ebenso ist es uns wichtig, in der Umsetzung der nationalen Präventionsstrategie in eine Landes-rahmenvereinbarung – Kernstück ist die Ermitt-lung regionaler Präventionsbedarfe und eine an-gemessene Beantwortung – auch alle weiteren Akteure einzubeziehen: Land, kommunale Spit-zenverbände usw. Dem guten Beispiel der UPD folgend, wollen wir in diesem Zusammenhang ein-laden, und ich erwarte eine entsprechende Bereit-schaft zur Mitwirkung – auch der privaten Kran-ken- und Pflegeversicherung. Mit dem Ihnen heute vorliegenden Präventions-gesetz mit seinen vielfältigen Maßnahmen schaf-fen wir einen wichtigen Baustein, wenn es darum geht, die Gesundheitschancen für alle Menschen in diesem Land zu erhöhen. Deshalb freue ich mich auf die vor uns liegenden parlamentarischen Beratungen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Sabine Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Jeder von Ihnen hier möchte, denke ich, gesund durchs Leben kommen. Für uns alle mag das vielleicht weniger ein Problem sein; denn wir haben Einfluss auf unsere Lebens-umstände und sind gesundheitlich gut versorgt. Aber das gilt für viele Menschen in diesem Land nicht. Dabei denke ich an meinen Kollegen aus Zwickau, der Leiharbeitnehmer ist, drei Kinder hat, alleinerziehend ist und drei Jobs braucht, um überleben zu können: Er arbeitet erstens im Schichtsystem bei einem Automobilzulieferer, dort fährt er Stapler. Zweitens hat er einen Minijob in einem Einkaufszentrum, und drittens arbeitet er am Wochenende zusätzlich bei einem Fußballklub im Securitybereich mit. Er hat deutlich schlechtere Lebensbedingungen als alle hier in diesem Haus. Menschen, die wenig verdienen, haben in jedem Lebensalter – von der Kindheit bis zum Tod – ein doppelt so hohes Risiko, ernsthaft krank oder zum Pflegefall zu werden oder vorzeitig zu sterben, wie die Menschen, die gut verdienen. Die Linke sagt: Das ist ein Unding in so einem reichen Land. (Beifall bei der LINKEN – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir auch!) Es kann doch nicht sein, dass sich arme Men-schen einige Untersuchungen beim Arzt nicht leis-ten können, weil ihnen das Geld fehlt. Schwere Erkrankungen zeigen sich in der Gruppe der Gut-verdiener rund vier Jahre später. Wer arm ist, stirbt früher, und schon zu Lebzeiten wirkt sich Armut negativ auf Gesundheit und Lebensqualität aus. Die Schere zwischen Arm und Reich ist nach zehn Jahren Hartz IV und Sozialstaatsabbau deut-lich ausei-nandergegangen. Dass Sie dabei zuse-hen und das noch gutheißen können, liebe Genos-sinnen und Genossen der SPD, ist unerträglich. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben keine Antworten auf dieses sozialpoliti-sche Problem. Mich wundert schon, wie man die Augen so vor der Realität verschließen kann. Der Entwurf der Bundesregierung zum Präven-tionsgesetz bleibt weit hinter den internationalen Standards zurück. Der UN-Sozialpakt von 1973, den die Bundesrepublik ratifiziert hat, schreibt das Recht eines jeden Menschen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit fest. Gesundheit meint dabei das vollständige geistige, soziale und kör-perliche Wohlergehen der Menschen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die wirksame Verringe-rung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleich-heit in den Mittelpunkt gerückt werden. (Beifall bei der LINKEN) Schon Heinrich Zille hat gesagt: Man kann einen Menschen mit einer Axt er-schlagen, man kann ihn aber auch mit einer Wohnung erschlagen. Soll heißen: Wohnbedingungen, das gesell-schaftliche Umfeld, aber auch die Arbeitsbedin-gungen bestimmen entscheidend, ob Menschen gesund bleiben oder nicht. Was heißt das nun? Ich sage, dass Menschen nur gesund leben kön-nen, wenn bestehende sozial , geschlechts , be-hinderungs- und migrationsbedingte Unterschiede abgebaut werden. (Beifall bei der LINKEN) Die Linke ist fest davon überzeugt, dass Ge-sundheitsversorgung und Prävention als gesamt-gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden müssen. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Geht es mal konkret zur Abwechslung?) Daher helfen zum Beispiel Ihre Kampagnen zum individuellen Gesundheitsverhalten, Herr Spahn, überhaupt nicht. Gesunde Lebensbedingungen müssen in allen Bereichen – Betrieb, Stadtteil, Schule, Wohnen oder wo auch immer – geschaf-fen werden. (Beifall der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Es braucht für alle Menschen Rahmenbedingun-gen, und diese Rahmenbedingungen müssen allen Menschen gleichermaßen ein gesundes Leben ermöglichen. (Beifall bei der LINKEN) Fakt ist: Die Menschen mit dem größten Risiko, zu erkranken, behindert zu sein oder vorzeitig zu sterben, sind zugleich die mit dem geringsten Einkommen, dem geringsten Bildungsstand, der schwächsten sozialen Unterstützung und mit dem geringsten politischen Einfluss. Hier muss die Po-litik ansetzen: Arbeitslosigkeit bekämpfen, Rah-menbedingungen für gute Arbeit schaffen, Bil-dungschancen eröffnen und Ausgrenzungen be-enden. (Beifall bei der LINKEN) Aber Ihre bisherige Politik setzt den unsozialen Weg der Vorgängerregierungen weiter fort, und der ist für viele Menschen in unserem Land eine Sackgasse und führt aufs gesellschaftliche Ab-stellgleis. Aber was ist auch anderes von einer Regierung zu erwarten, in der der kleinere Part-ner, die SPD, die Agenda-2010-Politik und die Hartz-Reformen als Grundstein für ein vermeintli-ches Jobwunder feiert und der größere Partner, die Union, -Europa seit Jahren mit Spardiktaten malträtiert. In Griechenland erleben wir, was Ihre Sparpoli-tik angerichtet hat. Sehr viele Menschen haben keine Krankenversicherung mehr, damit keinen Zugang zur Krankenversorgung, Operationen gibt es nur mit Vorkasse, Frauen finden keinen Platz mehr für eine sichere Geburt, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen zur Sache!) weil sie die Kosten der Entbindung selbst tragen müssen, die Zahl der Totgeburten ist um ein Vier-tel angestiegen, und es gibt keine Versorgung mehr mit wichtigen Krebsmedikamenten. Was können wir da wohl anderes erwarten? Spätestens bei diesen drastischen Beispielen, meine Damen und Herren der Regierungsfraktio-nen, müssten Sie eigentlich vor Scham rot anlau-fen. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Lächerlich!) Es gibt eine Lösung, und die heißt: Die Schere zwischen Arm und Reich muss endlich geschlos-sen werden. (Beifall bei der LINKEN) Die Umverteilung von oben nach unten – Herr Lauterbach, das sagen Sie auch – muss ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Nur so können wir etwas in Deutschland verändern. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl Lauter-bach [SPD]: Genau! Mindestlohn! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Es lebe der Sozialis-mus! – Matthias W. Birkwald [DIE LIN-KE]: Mindestlohn ist ein Anfang, aber nicht die Lösung!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Helga Kühn-Mengel (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Frau Kollegin Zimmermann, Sie hätten erwähnen müssen, dass die Senkung der Arbeitslosigkeit und der Mindestlohn, der den Status von wenigs-tens 3,7 Millionen Menschen verbessert hat, ganz wesentliche Beiträge zur Gesundheitsförderung und zur Prävention sind, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) nicht nur wegen der verbesserten Einnahmesitua-tion der Menschen, sondern auch, weil Arbeit Teilhabe ist. Das ist nämlich auch ein gesund-heitsfördernder Aspekt. Mit Blick auf die Gruppen, die Sie angespro-chen haben, ist viel getan worden, nicht nur durch erhebliche Anstrengungen im Bildungsbereich, durch die Verstetigung der Frühen Hilfen und de-ren Ausbau, sondern auch in der Arbeitsmarktpoli-tik; den Mindestlohn habe ich bereits erwähnt. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Kühn-Mengel, lassen Sie eine Zwischen-frage von Frau Zimmermann zu? Helga Kühn-Mengel (SPD): Bitte, Frau Zimmermann. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die hat doch gerade geredet! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da-rum geht es doch nicht! – Weiterer Ge-genruf des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie hat trotzdem das parlamenta-rische Recht!) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Vielen Dank, liebe Kollegin Kühn-Mengel, dass Sie die Frage zulassen. – Sind Sie meiner Mei-nung, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro nicht aus der Bedürftigkeit herausführt, dass wir 10,36 Euro bräuchten? (Jens Spahn [CDU/CSU]: 12! 12!) – Eigentlich 12 Euro, richtig; es kommt darauf an, welches statistische Amt Sie befragen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: 15! 15!) Auf jeden Fall liegt die Niedriglohnschwelle bei 10,36 Euro. Das heißt, Sie müssten Ihr Leben lang 10,36 Euro pro Stunde verdienen, damit Sie später nicht in Altersarmut kommen. Meine zweite Frage ist: Sind Sie auch meiner Meinung, dass die Arbeit anders verteilt worden ist, dass wir Millionen von Minijobs haben, dass wir Millionen Menschen in Teilzeit haben, dass wir Millionen Menschen im Niedriglohnbereich haben, die nicht von den Arbeitsmarktreformen, die Sie immer so hochhalten, profitieren? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Helga Kühn-Mengel (SPD): Frau Kollegin, ich bin der Meinung, dass der Mindestlohn ein Einstieg in eine Verbesserung der Lebenssituation von Menschen ist. Ich bin der Meinung, dass knapp 4 Millionen Menschen fast eine Verdoppelung des Einkommens erleben. Ich bin der Meinung, dass wir auf diesem Felde wei-terarbeiten müssen. Aber es hat größere Erfolge gegeben – die man auch benennen muss –, die die Lebenssituation der Menschen deutlich ver-bessern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Es ist richtig: Prävention und Gesundheitsför-derung – der Herr Minister hat es bereits gesagt – sind eine Antwort auf den demografischen Wan-del, auf längere Lebensarbeitszeiten, auf verän-derte Arbeitsbedingungen, auf die Zunahme chro-nischer Erkrankungen und auf ungleiche Gesund-heitschancen. Umgekehrt können wir sagen: Wirkungsvolle Prävention und Gesundheitsförderung sind geeig-net, Lebensqualität zu erhöhen, die Lebenserwar-tung zu steigern, die Zahl der gesunden Jahre zu vermehren und auch volkswirtschaftlichen Scha-den zu verringern. Denken Sie allein an die große Zahl der Menschen, die durch psychische Erkran-kungen erwerbsunfähig werden. Um zu sehen, wo wir stehen, ist es manchmal wichtig, auch einen Blick zurück zu werfen. Seit 1989 gibt es den Präventionsparagrafen im SGB V. Der Gesetzgeber hat damals die Krankenkas-sen mit der Möglichkeit ausgestattet, Angebote für die primäre Prävention zu machen, im Übrigen ohne nähere Begründungen und Aufträge und auch ohne Deckelung. Einige große Krankenkas-sen, zum Beispiel die AOK Nordrhein, die AOK Niedersachsen und einige Betriebskrankenkas-sen, haben damals begonnen, betriebliche Ge-sundheitsförderung zu etablieren, und damit ge-zeigt, dass auch große Tanker, die oft als schwer-fällig eingestuft werden, innovativ sein können. Das alles hatte mit einer Enquete-Kommission, die es damals zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung gab, zu tun. In diese Kom-mission hatte übrigens Minister Blüm einen in sei-nen Augen hoffnungsvollen Menschen geschickt, der Horst Seehofer hieß und der 1996 als Ge-sundheitsminister nichts Besseres zu tun hatte, als diese Möglichkeiten der Primärprävention wie-der abzuschaffen. Rot-Grün hat das 1999 dann korrigiert und die Prävention mit einem wichtigen Zusatzauftrag versehen, dass sie nämlich ungleiche Gesund-heitschancen verringern soll. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war genau richtig!) Danach gab es noch eine Reihe von Anläufen zu einem Präventionsgesetz, und zwar 2005, 2007 und 2011. Jetzt haben wir einen Gesetzentwurf, der es schaffen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Warum kommen wir immer auf die ungleichen Gesundheitschancen zu sprechen? In den reichen Ländern ergeben sich etwa drei Viertel der Krank-heitslast aus einer bestimmten Gruppe von Er-krankungen. Das sind – sie sind bereits genannt worden – die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die muskuloskelettalen Erkrankungen, der Krebs und – mit der größten Steigerung – die psychischen Erkrankungen. Aber diese Erkrankungen – das haben die Sachverständigen immer gesagt, da-mals auch der Sachverständige Lauterbach – sind einer primären Prävention besonders zugänglich. Von daher ist es ganz wichtig, dass wir auf die-sem Gebiet große Anstrengungen unternehmen. Hinzu kommt: Die unteren sozialen Schichten sind hier überrepräsentiert. Diese erreichen wir nicht mit Broschüren, Flyern und Vorträgen, sondern nur da – das gilt für die Erwachsenen und für die Kin-der –, wo sie leben, arbeiten, gemeinsam ler-nen und spielen: im Setting, in der Lebenswelt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Genau da setzt das Gesetz an. Die Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krank-heitsrisiken und die Förderung der gesundheitli-chen Kompetenz werden zu Pflichtleistungen der Krankenkassen. Die Lebenswelten werden ge-stärkt. Ab 2016 stehen für jeden Versicherten 7 Euro zur Verfügung, mindestens 2 Euro für die be-triebliche Gesundheitsförderung, mindestens 2 Euro für die anderen Lebenswelten. Insofern kann dort, wo die Menschen leben, ein Angebot ge-macht und verstetigt werden. Die Kommune ist der Ort des Präventionsge-schehens. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dazu gehört auch das Quartier. Das müssen wir im Gesetzentwurf, Herr Minister, unbedingt noch nachtragen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! – Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird im Bundesrat dann aber leider zustim-mungspflichtig werden!) Das Quartier umfasst Kindergärten, Schulen, Be-triebe, Wohnheime, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Seniorenzentren, die ambulante und die stationäre Pflege, das Ehrenamt, die Selbsthilfe und einen hoffentlich starken öffentlichen Gesundheitsdienst, den wir in diesen Zeiten ganz besonders brau-chen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Warum gibt es im Setting, in der Lebenswelt, nicht endlich auch betriebliche Gesundheitsförde-rung in Werkstätten für Menschen mit Behinde-rung? Das vermissen wir. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Warum keine Präventionsangebote für Ältere in der Pflege? Wir wissen, dass es auch hier Poten-ziale gibt, die – im wahrsten und im übertragenen Sinne des Wortes – zu mobilisieren sind. Warum greifen wir nicht ein gutes Beispiel, das es in Ber-lin gibt, auf, dass nämlich ein Sozialarbeiter der Kommune in die kinder- und jugendärztlichen Pra-xen kommt – der Kinderarzt hat ja demnächst die besondere Aufgabe, auch Präventionsangebote und Empfehlungen auszusprechen – und dann die Angebote, die es in der Region gibt, aufgreift, vermittelt und dabei mit für den Zugang sorgt? Idealerweise könnte, so meinen wir, ein kom-munaler Präventionsrat der Frage nachgehen: Welche Bedarfe gibt es in der Region und im Quartier? (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, die Gesundheitskonferen-zen zum Beispiel!) Alle Betroffenen, alle Akteure sollten mitmachen und mitgestalten. Ich sage es noch einmal: Teil-habe und Partizipation – das gilt gerade für be-nachteiligte Gruppen – haben per se einen ge-sundheitsfördernden Effekt. Insofern ist die Einbe-ziehung der Menschen ganz wichtig. Wir fangen ja nicht bei null an. Es gibt schon gute Arbeitsansätze. Wir haben eine gemeinsam erarbeitete Arbeitsschutzstrategie. Wir haben eine betriebliche Gesundheitsförderung, die über gute Daten verfügt, die auch deutlich machen, dass sich gesundheitsfördernde Angebote rechnen. Nacharbeiten müssen wir bei den kleinen und mitt-leren Unternehmen; das ist ganz klar. Und wir haben die Angebote der gesetzlichen Krankenversicherung im Setting schon seit einer Reihe von Jahren, qualitätsgestützte Angebote für Kinder in Kindertagestätten und Schulen – es geht um Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung –, also vieles, worauf wir aufsetzen können. Übrigens: In den Kindergärten werden dann auch die privat versicherten Kinder mit durchge-zogen; die PKV engagiert sich ja an dieser Stelle nicht, vielleicht noch nicht. Das ist ein Angebot für alle Kinder, da wird nicht gefragt: Wie bist du ver-sichert? Was wir uns wünschen, ist Prävention und Ge-sundheitsförderung, die auch mit Qualität verse-hen sind. Da sieht das Gesetz Modellprojekte vor. Das ist auch ganz wichtig. Wir haben natürlich un-ter Freunden auch die Kritik gehört, dass es falsch ist, die wichtige und gute Arbeit der BZgA aus Beitragsgeldern zu finanzieren. Hier müssen zur Finanzierung auch Steuermittel herangezogen werden; das halten wir für wichtig. (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) Wir würden den Betrag anheben, der jetzt in die Lebenswelten geht, aber das abhängig machen von den Ergebnissen des Präventionsberichtes. Wir wünschen uns auch eine Verbindung zu den großen Programmen, die es noch gibt, etwa „So-ziale Stadt“ im Kernbereich der Menschen; auch das muss Erwähnung finden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum steht es nicht drin im Gesetz?) Schließlich wünschen wir uns eine Förderung der Selbsthilfe; die ist im Präventionsgeschehen ganz wichtig. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lie-be Bürgerinnen und Bürger! Liebe Frau Kühn-Mengel, ich möchte Ihnen an dieser Stelle bereits sagen, dass Sie für viele der Vorschläge, die Sie hier gerade gemacht haben, auf unsere volle Un-terstützung zählen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Das ist genau der Ansatz von Gesundheitsförde-rung und Prävention, den wir für längst überfällig halten. Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Ich möchte meine Rede damit beginnen, dass ich eine Schü-lerin einer Förderschule zitiere. Sie hat gesagt: Wir haben keine Chance, und wir kriegen auch keine. – Meine Damen und Herren, das ist die Re-alität: 10 bis 15 Prozent der Kinder und Jugendli-chen in Deutschland befinden sich, wie die Lang-zeitstudie des renommierten Robert-Koch-Instituts darstellt, in keinem guten gesundheitlichen Zu-stand. In dieser Woche wurde eine Studie der Ber-telsmann Stiftung zum Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern vorgestellt. Da konnten Sie zur Kenntnis nehmen, dass in Deutschland je-des sechste Kind in Armut lebt, davon die Hälfte dauerhaft, also nicht nur für kurze Zeit. Arme Kin-der wachsen in der Regel ohne Vater oder mit El-tern auf, die nur geringe schulische und berufliche Abschlüsse haben. Diese Kinder – das zeigt die Bertelsmann-Studie – haben bei allen schulrele-vanten Entwicklungsmerkmalen Defizite, und das meistens schon im zweiten oder dritten Lebens-jahr, also wenn sie noch sehr klein sind. Sie ha-ben Probleme bei der Motorik, sie haben Probleme beim Gleichgewicht, bei der Konzentration, beim Sprechen und beim Verstehen. Und, meine Damen und Herren, auch das stellt die -Bertelsmann-Studie fest: Diese Kinder werden von fast allen existierenden Präventionsangeboten nicht er-reicht. Sie werden nicht erreicht durch eine gute Betreuung in der Kita. Sie werden nicht erreicht von Vorsorgeuntersuchungen. Sie werden zum Beispiel auch im Bereich der Kariesprophylaxe nicht erreicht. Es sind immer die gleichen Kinder, die von diesen Präventionsmaßnahmen nicht er-reicht werden. Der bedenkliche Anstieg der Zahl derer, die von zum Teil extremem Übergewicht und Diabeteser-krankungen im Kindesalter betroffen sind, ist ein Zeichen von unzureichendem Zugang zu gesunder Ernährung. Hinzu kommen schlechte Wohnver-hältnisse, Umweltbelastungen wie Lärm und Luft-verschmutzung. Die Freizeitangebote sind gering, wenn man sich nicht einmal die Mitgliedschaft in einem Verein leisten kann. So zieht sich ein direk-ter Zusammenhang von Armut und Krankheit durch das ganze Leben hindurch bis zum Tod. In Deutschland sterben ärmere Männer fast elf Jahre früher als wohlhabende, und bei den Frauen beträgt der Unterschied fast achteinhalb Jahre. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da muss die CDU mal zuhören! Die hat das im Plenum noch kürzlich geleugnet!) Auch in Deutschland gilt: Wer weniger hat, stirbt früher. Darf das in Deutschland, einem der reichs-ten Länder der Welt, im 21. Jahrhundert sein? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) Meine Damen und Herren von der Großen Koa-lition, daher finde ich die Frage berechtigt, ob Ihr Entwurf eines Präventionsgesetzes, den Sie hier vorlegen, ein großer Wurf ist. Ich sage: Nein. Denn Sozialprosa allein reicht nicht aus. Wir müs-sen auch an die Umsetzung gehen. Hier bleiben Sie leider bei dem schwarz-gelben Vorgängermo-dell. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Unsere Umwelt, unser Alltag – das ist unserer Gesundheit Schmied. Dies hat diese Bundesregie-rung noch nicht verstanden. Wenn wir die Ge-sundheit aller dauerhaft fördern wollen, müssen wir in langfristige Maßnahmen an den Orten in-vestieren, an denen die Menschen ihr Leben, ihren Alltag verbringen: in der Kindertagesstätte, in der Schule, im Betrieb, in Krankenhäusern, in Heimen und vor allem auch im Stadtteil, wo sie wohnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das sind die Orte, an denen Gesundheitsförde-rung erlernt, gemeinsam organisiert und vor allem auch tatsächlich gelebt werden kann. Ziel muss es sein, jede Einzelne und jeden Einzelnen zu stärken, Gesundheitsrisiken zu reduzieren und damit am Ende auch Krankheiten zu vermeiden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir müssen endlich umdenken! Die Aufklärung über gesunde Ernährung und gesundes Leben führt häufig nicht zu einer Verbesserung. Oft scheitert es an der Umsetzung, an der Realität: an Billigpamps, an zu hohen Kosten für gesundes Essen in der Kita, in der Schule und im Betrieb, an mangelnden Sportmöglichkeiten oder an einer miesen Arbeitskultur in Unternehmen mit hoher psychischer Belastung. Bei älteren Menschen führen Einsamkeit und das Wohnen in einem Umfeld voller Barrieren zu Pflegebedürftigkeit. Lassen Sie mich dies sagen: Nicht erst im Pflegeheim müssen wir mit Gesund-heitsförderung und Prävention beginnen, sondern schon im Stadtteil, wo die Menschen leben; denn hier kann man ansetzen und Pflegebedürftigkeit tatsächlich vermeiden. Deswegen ist die Arbeit im Stadtteil von besonderer Bedeutung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, wir müssen umden-ken! Wir setzen bei der Gesundheitsförderung auf Chancengerechtigkeit, auf einen konkreten Bezug zu den Alltagswelten der Menschen, auf die Betei-ligung aller, auf Langfristigkeit statt der heute vorherrschenden Projektitis (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Ganz wichtig!) und auf die Einbeziehung wesentlicher Akteure und vor allem auch der Bürgerinnen und Bürger vor Ort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen das in den Kitas, wir wollen das in den Schulen, wir wollen das in den Betrieben – nicht nur in den großen, wofür es schon gute Beispiele gibt, sondern auch in den kleinen –, und wir wollen das besonders im Stadtteil. Wir wollen kein natur-wissenschaftlich-medizinisches Konzept, sondern wir brauchen ein breites sozialpolitisches Projekt für mehr Gerechtigkeit und mehr Gesundheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dafür setzen wir auf eine breite Finanzierung, an der sich alle Sozialversicherungsträger, natür-lich die gesetzlichen und die privaten Kranken- und Pflegeversicherungen, zu beteiligen haben, aber auch die Rentenversicherung, die Unfallver-sicherung und die Berufsgenossenschaften. Alle haben ein Interesse daran, dass ihre Mitglieder nicht erkranken, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch die Arbeitsagentu-ren!) und natürlich gehören auch der Bund, die Länder und die Kommunen dazu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Kühn-Mengel hat die Bedeutung der Kommunen zu Recht hervorgehoben; denn die Kommunen und die Kreise sind der Dreh- und An-gelpunkt gelingender Gesundheitsförderung. Kei-ne Ärztin, kein Arzt, keine Krankenkasse, auch keine Politikerin und kein Politiker weiß, wie in ei-ner Kita, in einer Schule, in einem Betrieb und in einem Stadtteil Gesundheitsförderung am besten gestaltet und gelebt werden kann. Das wissen die Menschen vor Ort am besten; denn sie sind die Experten ihres Stadtteils und ihres Alltags. Des-halb ist uns die Beteiligung aller an diesem Pro-zess so wichtig. In den Kommunen laufen diese Fäden zusam-men, und die Konzepte werden dort gemeinsam mit den Menschen entwickelt. Auch das fehlt im Gesetzentwurf der Großen Koalition bisher leider völlig. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das ist ein wesentliches Merkmal!) Individuelle, zeitlich begrenzte Kursangebote führen nicht zu besserer Gesundheit; das ist be-wiesen. Auf diese wird in Ihrem Gesetzentwurf aber weiter geschworen. Nicht das Werben der Krankenkassen um Versicherte aus der Mittel-schicht kann das Leitbild von Prävention sein, sondern das Wissen und die Kompetenz für alle, gesund zu leben, und vor allem die Möglichkeit, das auch zu tun, wenn man möchte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das gilt auch für die Schülerin, die ich eingangs zitiert habe. Wir sind davon leider in Deutschland noch sehr weit entfernt. Daran ändert auch der vorgelegte Entwurf eines Präventionsgesetzes der Bundesregierung bisher leider nichts. Der Bun-desrat hingegen – das möchte ich ausdrücklich loben – hat eine ganze Reihe wichtiger Hinweise gegeben und hätte sicher auch noch mehr zu sa-gen, vor allem wenn es um die Beteiligung der Kommunen geht. Von daher bin ich auch nach der Rede von Frau Kühn-Mengel auf die weiteren Be-ratungen dieses Gesetzentwurfs gespannt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Rudolf Henke (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wenn man über Prävention spricht, muss man das nicht mit einer Leichenbittermiene tun (Beifall bei der CDU/CSU) und darf dabei nicht den Eindruck erwecken, als sei das eine traurige Angelegenheit. Vielmehr soll-te man zunächst einmal sagen, dass man sich richtig darüber freuen kann, welche großen Mög-lichkeiten die Medizin, die Sozialwissenschaften und der Wandel hin zu einer auf Beteiligung ge-richteten Demokratie mit viel Freiheit und mit vie-len Einflussmöglichkeiten geschaffen haben. Auf dem Gebiet der früheren DDR hat sich durch die friedliche Revolution und ihre Folgen die Lebenserwartung um acht Jahre erhöht. Das war durch Politik bewirkte Prävention. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich haben sich auch dadurch, dass es ge-lungen ist, Menschen aus der Arbeitslosigkeit und aus der beklagten und bei viel zu vielen immer noch anzutreffenden Armut herauszuholen, die gesundheitlichen Chancen verbessert. Eine er-folgreiche Wirtschaftspolitik bedeutet, dass sich als Nebeneffekt auch die gesundheitliche Situation der Menschen verbessert. Darüber darf man sich auch mal freuen, finde ich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Sie alle haben schon recht, wenn Sie sagen: „Vorbeugen ist besser als heilen!“ Dieses Zitat stammt von dem Arzt, der Goethe, Schiller und Herder behandelt hat, Christoph Wilhelm Hufel-and. (Helga Kühn-Mengel [SPD]: Die sind alle tot! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) – Ja, sie sind alle tot, Frau Kühn-Mengel. Am En-de sind auch wir alle tot. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir wollen alle in den Himmel, nur nicht sofort!) Das ist auch eines der Probleme: Wir sollten nicht der Illusion unterliegen, als könnten wir mit Prä-vention der Sterblichkeit entgehen. Wir haben lei-der – Frau Kühn-Mengel, das ist wichtig – ein Verständnis von Gesundheit, das gewissermaßen mit der Assoziation des ewigen Lebens verbunden ist. Wir müssen bei der Prävention achtgeben, so glaube ich jedenfalls, dass wir nicht diejenigen diskriminieren, die unter einer Behinderung leiden, krank werden oder Leistungseinschränkungen durch das Alter erleben. Wir müssen achtgeben, dass unser Bemühen um Prävention nicht in eine Art von Gesundheitswahn umschlägt, weil die Sterblichkeit uns Menschen weiterhin miteinander verbinden wird. Wir werden auch bei einer erfolg-reichen Prävention Sterbliche bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einmal als Beispiel für soziale Intervention Rudolf Virchow nennen. Rudolf Virchow hat hier in Berlin gewirkt. Von ihm stammt der Satz: Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen. Dieser Rudolf Virchow, der an der Charité über Jahrzehnte hinweg einen Lehrstuhl für Pathologie gehabt hat, hat hier in Berlin die Kanalisation ein-geführt. Er hat hier in Berlin Schlachthöfe einge-führt. (Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Er hat zum Schutz armer Menschen die Infekti-onskrankheiten bekämpft. Deswegen stimmt es: Es ist nicht eine Leistung allein der Medizin, wenn Prävention gelingt oder misslingt, sondern es ist eine Frage aller Felder der Politik. Ich habe hier schon gesagt, dass wahrschein-lich auch die Vermeidung einer inadäquaten Ener-gieproduktion und die Vermeidung von Risiken durch Atomstrom Prävention ist. Das ist das größ-te gesundheitliche Präventionsprojekt, (Beifall bei der LINKEN) das wir jemals gestemmt haben und in dessen Umsetzung wir uns befinden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt gibt es die Frage: Reichen die in diesem Gesetzentwurf vor-gesehenen Mittel? (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Inhaltsvermei-dungsrede!) Man kann lange darüber philosophieren, ob die Mittel reichen. Wir verdoppeln die Mittel. Wir ver-pflichten die Krankenkassen, in Zukunft mehr aus-zugeben. Wir verpflichten die Pflegekassen zum ersten Mal überhaupt, eigene Mittel einzusetzen, um bei den von ihnen Versicherten Prävention zu fördern. Das ist alles gut. Wahr ist aber auch – das muss man ehrlicher-weise sagen –: Der Gesamtbetrag von etwas mehr als 500 Millionen Euro, der dadurch zustan-de kommt, entspricht ungefähr den Ausgaben, die an einem einzigen Tag in Deutschland für Behand-lungen anfallen. An jedem Tag, den Gott geschaf-fen hat, geben die Krankenkassen 500 Millionen Euro für Behandlungen aus. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie jetzt mal recht!) Insofern ist das nur ein Schritt auf einem Weg. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie jetzt zehn Jahre gebraucht!) Er ist aber bei weitem nicht der einzige Schritt. Ich nenne nur das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz. Wir haben auch in früheren Zeiten im Bereich Prävention Schritte unternommen, die sehr wirksam sind. Egal wie man über einzelne Aspekte diskutiert: Wir haben bei der Darmkrebsprophylaxe Riesen-erfolge erzielt. Wir haben einen Riesenerfolg mit dem Hörscreening bei den ganz kleinen Kindern. Früher musste man bis zum zweiten Lebensjahr warten, bis man Hörstörungen feststellen konnte. Heute sind schon in den ersten drei Monaten In-terventionen möglich. Wir haben einen Riesenerfolg beim Screening von Schwangeren auf Diabetes. Heute tritt der Schwangerschaftsdiabetes nicht mehr als plötzli-ches Unglück auf, sondern man kann ihn früh er-kennen und etwas dagegen tun. Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen dafür, dass auch ärztliche Primärberatung beispielswei-se zu Nikotin und Alkohol schon in kurzer Zeit Wirkungen erzielt und dass durch Bewegungsak-tivierung viel erreicht wird. Aber es ist auch rich-tig, dass weder die Individualmedizin noch eine über Kurse der Krankenkassen vermittelte Medizin alleine reichen. Vielmehr besteht die Herausforde-rung für uns darin, die Gestaltung der Gesell-schaft als Ganzes im Blick zu behalten. Deswegen ist es richtig, von dem eingesetzten Geld 2 Euro pro Tag in die betriebliche Gesund-heitsförderung zu investieren, weil wir damit ein Gesamtkonzept schaffen, mit dem wir die Men-schen in den Betrieben, an ihren Arbeitsplätzen, ansprechen können. Das ist enorm wichtig, weil wir damit die Leistungen von Betriebsärzten, ar-beitsmedizinischen Diensten, verantwortlichen Un-ternehmen, den dort tätigen betrieblichen Interes-senvertretungen und den Gewerkschaften zu-sammenbringen können. Mit der Arbeitsschutz-konzeption, dem Tätigwerden der arbeitsmedizini-schen Dienste in den Betrieben und der Beratung der Versicherten in den Betrieben können wir ein Gesamtgefüge erreichen, das dazu beiträgt, dass der Betrieb ein Ort wird, in dem Gesundheitsförde-rung vorangebracht wird. Ich glaube, darauf hat die Arbeitnehmerschaft in Deutschland lange gewartet. Dass das jetzt end-lich in diesem Umfang in Gang kommt, ist ein großer Schritt nach vorne. Das ist sehr zu begrü-ßen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Herr Abgeordneter, die Kollegin Schulz-Asche hat den Wunsch zu einer Zwischenfrage. Wollen Sie sie zulassen? Rudolf Henke (CDU/CSU): Ja. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zu-lassen. – Sie haben gerade zu Recht von den po-sitiven Erfahrungen mit dem betrieblichen Ge-sundheitsmanagement gesprochen. Es gibt in großen Unternehmen schon sehr viele gute Bei-spiele. Die Frage ist eher, wie man die 90 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen erreichen kann. Welche Vorstellungen haben Sie, um gera-de die kleinen Unternehmen, zum Beispiel eine Kraftfahrzeugwerkstatt oder einen kleinen Laden, zu erreichen? Rudolf Henke (CDU/CSU): Ich glaube, dass es klug ist, wenn man die Handwerkskammern und die Industrie- und Han-delskammern daran beteiligt. Dabei geht es bei-spielsweise darum, den Unternehmen deutlich zu machen, dass es schon jetzt Steuervorteile in er-heblicher Höhe gibt. Für jeden Arbeitnehmer kön-nen bis zu 500 Euro pro Jahr eingesetzt werden, ohne als geldwerter Vorteil versteuert werden zu müssen. Wenn wir es schaffen, die betriebliche Gesundheitsförderung, die in den großen Betrie-ben schon stattfindet – sie sind in diesem Bereich sehr weit –, mithilfe der Gewerkschaften, der Un-ternehmensverbände und auch der Politik in ande-re Betriebe zu transportieren, dorthin, wo ebenfalls ein Interesse daran besteht, dass die Fachkräfte, auf die man angewiesen ist, möglichst lange ge-sund bleiben, dann haben wir dort eine exzellente Chance. Die Bedingungen dafür, dass das gelingt, werden durch das Präventionsgesetz erheblich verbessert. Das ist nicht der einzige Schritt. Es muss ein Bewusstsein für die verschiedenen Mög-lichkeiten geschaffen werden. Ich glaube, damit habe ich Ihre Frage zutreffend und gut beantwor-tet. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte gerne auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Es wurde kritisiert, dass der ärztlichen Präventionsempfehlung zu viel Bedeu-tung beigemessen wird. Es gibt Kritiker, die fra-gen: Welche Rolle spielen die Medizin und insbe-sondere der ärztliche Beruf im Zusammenhang mit der Prävention? Nehmen wir als Beispiel die För-derung unseres Bewegungsverhaltens. Es gibt Metaanalysen, die zeigen, dass sich bereits bei einer moderaten, regelmäßigen Bewegung eine Senkung der Sterblichkeit um 20 bis 34 Prozent erreichen lässt. Selbst bei leichter Aktivität von 15 Minuten am Tag lässt sich das Sterberisiko um etwa 14 Prozent reduzieren. Wir wissen aus Stu-dien, dass eine ärztliche Beratung, selbst wenn sie nur kurze Zeit dauert, sowohl beim Ernäh-rungsverhalten als auch beim Genussmittelkon-sum – ob nun Nikotin oder Alkohol – und auch beim Bewegungsverhalten nachhaltige Verände-rungen auslösen kann. Wir können Menschen – genauso wie 90 bis 95 Prozent der gesamten Bevölkerung –, die keine Präventionskurse besuchen und keinen Zugang zur betrieblichen Gesundheitsförderung haben, weil sie arbeitslos sind, zumindest in der ärztli-chen Praxis erreichen und auf diese Weise durch Gesundheitsförderung und Prävention eine Wir-kung zu erzeugen, für deren Existenz es wissen-schaftliche Belege gibt. Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er Maßnahmen der ärztlich empfohlenen Prävention in Anspruch nimmt. Mir ist lieber, dass die ärztliche Präven-tionsempfehlung Realität wird, als dass wir uns darüber streiten, wer Mitglied der Nationalen Prä-ventionskonferenz sein soll. Sicherlich ist es dis-kussionswürdig, ob hier die professionelle Kompe-tenz noch mehr gestärkt werden soll. Aber das ist eine andere Frage. Der heutige Tag hat uns zu Beginn unserer De-batte eine Abnahme der Helligkeit beschert. Nun bringt er uns wieder die Helligkeit der vollen Son-neneinstrahlung. Das erinnert an bestimmte festli-che Tage. In Pennsylvania gibt es eine Stadt na-mens Punxsutawney. Dort wird am 2. Februar der Groundhog Day gefeiert. An diesem Tag grüßt das Murmeltier. Ein bisschen verhält es sich mit dem Gesetzgebungsprozess zum Präventionsge-setz wie mit dem Film Und täglich grüßt das Mur-meltier. Es fängt immer wieder von vorne an. Ir-gendwann kommt ein zeitlicher Schnitt, und dann wird man wieder an den Anfang der Geschichte zurückversetzt. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass nun der Punkt gekommen ist, an dem der Start des neuen Tages bedeutet, dass er im Hap-py End eines gelungenen und verabschiedeten Präventionsgesetzes enden wird. Lassen Sie uns gut diskutieren und vielleicht noch Verbesserun-gen an dem Gesetzentwurf vornehmen, wo es möglich ist. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Wir gehen mit Optimismus in die nun anstehenden Be-ratungen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Birgit Wöllert, Fraktion Die Linke. Birgit Wöllert (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne! Herr Henke, Sie haben darauf verwiesen, wie lange schon der Anlauf zu diesem Präventionsgesetz währt. Es handelt sich nun um den vierten Anlauf. Ich beginne meine Re-de genauso wie der Minister mit einer Schlagzeile. Nach dem Kabinettsbeschluss im Dezember titelte die Stuttgarter Zeitung: „Nur Gröhe findet seinen Entwurf richtig gut“. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Gähn!) Auch der vierte Anlauf wird wahrscheinlich etwas schwierig. Damit bin ich wieder bei Ihnen, Herr Henke. Offenbar sind wir uns darüber einig, dass noch viele Punkte des Präventionsgesetzes ver-besserungswürdig sind. Was wurde vor allem kritisiert? Erstens: Nicht geeignet ist dieser Entwurf für die Reduzierung sozialer Ungleichheiten. Zweitens: Nicht alle Sozi-alversicherungsträger wurden beteiligt. Drittens: die vorrangige Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Viertens: ein überholtes Verständnis von Prävention. Dass die Reduzierung sozialer Ungleichheit nicht genügend im Blick ist, hat meine Kollegin Zimmermann schon gesagt. Frau Schulz-Asche wies darauf hin, und auch bei Frau Kühn-Mengel kamen einige dieser Punkte zur Sprache. Allerdings sind auch andere Kritikpunkte nach wie vor aktuell. Ich war 33 Jahre Lehrerin, bevor ich in die Politik ging. Ich bleibe dabei: Ich fange beim Positiven in diesem Gesetzentwurf an. Dazu findet sich tatsächlich auch einiges. Ich be-schränke mich hier auf vier Punkte: Erstens: eine größere Hinwendung zum Ansatz der Gesund-heitsförderung in Lebenswelten. Zweitens: deutli-che Erhöhung der Finanzierungsmittel. Drittens: Einbeziehung der Pflege in die Prävention. Vier-tens: Ausweitung der Leistungen für Hebammen. Trotz dieser positiven Ansätze gibt es grund-sätzliche Kritik von meiner Fraktion, Die Linke, an diesem Gesetzentwurf. Deshalb haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt. Dieser folgt mehr ei-nem modernen, internationalen Ansatz von Ge-sundheitsförderung. (Beifall bei der LINKEN) Für uns ist Gesundheit Menschen- und Grund-recht an sich im Sinne der UNO und der WHO, ein Höchstmaß – das kann man, glaube ich, nicht oft genug wiederho-len – an körperlichem, geistigem und sozialem Wohlbefinden. (Beifall bei der LINKEN) Das ist mehr als die Sicherung von Beschäfti-gungsfähigkeit und die Senkung der Krankheits-kosten, die im vorgelegten Gesetzentwurf immer noch im Vordergrund stehen. Es braucht also noch viele Nachbesserungen, damit ein künftiges Präventionsgesetz internationalen Standards ge-nügt. Einige Vorschläge dazu wurden vom Bun-desrat schon eingebracht, und die sollten wir sehr ernst nehmen. Was bedeutet Gesundheitsförderung? Es ist ein Prozess, in dem die Menschen lernen, mehr Kon-trolle über ihr eigenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden zu erlangen und es selbst in die Hand zu nehmen, die Bedingungen dafür, also die Verhältnisse, in denen sie leben, zu ihren Gunsten zu ändern und zu verbessern. Das jedoch bedeutet, die Menschen als Expertinnen und Ex-perten in eigener Sache zu akzeptieren und auch einzubeziehen. Beteiligung der Menschen ist der Schlüssel für erfolgreiche Gesundheitsförderung. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser wirkliche Paradigmenwechsel – dass Ge-sundheit eben mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit – ist auch mit diesem Gesetzentwurf nicht gelungen. Professor Rosenbrock, Präsident der Bundes-arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, weist in einem Interview im Februar dieses Jahres darauf hin, dass die steigende Lebenserwartung zu zwei Dritteln durch freundlichere Lebensver-hältnisse, bessere Bildung und, daraus resultie-rend, auch weniger belastendes Gesundheitsver-halten begründet ist. Maximal ein Drittel der Stei-gerungen geht auf verbesserte medizinische Ge-sundheitsversorgung zurück. Dennoch glaubten Politiker und die Bevölkerung, so Rosenbrock, die Gesundheit komme vom Arzt. Wo aber können wir körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden positiv beeinflussen? Wir müssen die tatsächlichen Lebensverhältnisse in den Blick nehmen. Das können in den Lebenswel-ten zum Beispiel sein: Baumindeststandards für Kitas und Schulen, die das natürliche Bewe-gungsbedürfnis von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Altersgruppen berücksichti-gen. Das kann sich aber auch in Schulwegsiche-rung und Verkürzung langer Schulwege für Kinder manifestieren. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das soll die GKV finanzieren, stimmt’s?) – Warten Sie. Zur GKV komme ich in diesem Zu-sammenhang gleich. – Nicht zu vergessen ist, dass auch die Gestaltung des Tagesablaufs und das pädagogische Klima in Kita und Schule das Wohlbefinden der dort Lernenden, aber auch der dort Arbeitenden positiv oder negativ beeinflussen können. Erst vergangene Woche war ich in meinem Wohnort Spremberg in einer Kita. Ein altes Ge-bäude ist abge-rissen worden, und am gleichen Standort ist ein neues Gebäude errichtet worden. Zwischenzeitlich waren die Kinder in einer ehema-ligen, viel größeren Kita untergebracht. Sie hatten da viel Platz zum Toben. Die Leiterin erzählte, wie genussvoll die Kinder sich dort auf den großen Fluren und freien Flächen – ohne zusätzlichen Sportunterricht – bewegt haben. Die neue Kita ist nun barrierefrei, auf die Be-dürfnisse der Kinder ausgerichtet, hat an diesem Standort das höchstmögliche Maß an Bewegungs-räumen innen und außen, eine Kinderküche, die gute Ernährung erlebbar und erfahrbar macht. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: -Genau!) Die Türen sind klemmsicher. Der Wickeltisch ist mit ausziehbarer Treppe. Die Stühle für Erziehe-rinnen und Erzieher sind verstellbar. Selbstver-ständlich hat jedes Kind im Waschraum seinen ei-genen Zahnputzbecher und seine eigene Zahn-bürste. – Da hat die GKV, die gesetzliche Kran-kenversicherung, keinen Cent reingesteckt. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Warum auch?) – Das ist der Mangel Ihres Gesetzes. Zuhören hilft. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ach so, wir sol-len jetzt die Kindergärten finanzie-ren!) Das leistet der Gesetzentwurf in keiner Weise. Deshalb sagen wir: Gesamtgesellschaftliche An-liegen müssen auch gesamtgesellschaftlich finan-ziert werden und nicht nur durch die gesetzliche Krankenversicherung. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer bezahlt denn die Kita? So was Dämliches habe ich schon lange nicht mehr gehört!) Vizepräsident Peter Hintze: Frau Kollegin. Birgit Wöllert (DIE LINKE): Ich komme sofort zum Schluss. – Deshalb schlagen wir einen Fonds vor, in den alle Sozial-versicherungsträger, die Länder und der Bund einzahlen. Von den Gesamtmitteln des Fonds sol-len 75 Prozent von den Kommunen abgerufen werden können. Ihnen sollen keine zusätzlichen Kosten entstehen. So findet Gesundheitsförderung dort statt, wo die Menschen leben und ihre Leben-sumwelt selbst mitgestalten können. Danke. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Edgar Franke, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gesundheitspolitik ist immer auch Gesellschafts-politik. Das wussten Sozialdemokraten, Frau Zimmermann, schon immer. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ei-nige andere Demokraten auch!) Wir wissen: Soziale Faktoren wie niedriges Ein-kommen, geringer Bildungsstand und Arbeitslo-sigkeit haben Auswirkungen auf Gesundheits-chancen. Natürlich hängt auch die Lebenserwar-tung davon ab. Sozialer Status und Gesundheit hängen zusammen. Wir haben 1999 in § 20 SGB V hineingeschrie-ben – gerade Sozialdemokraten waren das –: Prä-vention muss sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen vermindern. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Christdemokra-ten auch!) Das ist so etwas wie ein sozialdemokratischer Programmsatz, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Wir müssen mit Präventionsmaßnahmen die gesamte Gesellschaft erreichen. Aber es ist in der Praxis oftmals so, dass Präventionsmaßnahmen als Marketingaktionen der Krankenkassen miss-braucht werden, dass vor allen Dingen junge, ge-sunde Menschen geworben werden sollen, dass Angebote gemacht werden für Menschen, die oh-nehin auf ihre Gesundheit achten. Das ist ein fak-tisches Problem. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Prävention muss mehr sein als Aufklärung und Sportkurse. Es kann nicht darum gehen, dass wir gesunden und fitten Menschen zusätzlich Gymnastik-, Yoga-, Qigong-Kurse oder was auch immer anbieten. Wir müssen diejenigen Menschen erreichen, die aufgrund ihrer Lebensumstände Gesundheit und Vorsorge nicht in den Mittelpunkt stellen. Natürlich wissen wir alle: Das geht nur in den Lebenswelten. Wir müssen bei den Kitas, in den Schulen, in den Betrieben, eben in der Lebensge-staltung anfangen. Frau Schulz-Asche, als Kom-munalpolitikerin, als Kommunalpolitiker – ich bin ehemaliger Bürgermeister – weiß man, wo gesell-schaftliche Veränderungen sich vollziehen: in der Kommune, in den Quartieren, natürlich in den So-zialräumen. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aber Familie ist auch wichtig. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt in eurem Gesetz auch nicht vor!) Die Menschen müssen wir dort erreichen. Meine hochgeschätzte Kollegin Helga Kühn-Mengel hat viele Themen angesprochen. Ich möchte ein paar Schwerpunkte nennen, die für mich wichtig sind: Erstens. Wir brauchen vor allen Dingen, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine zielge-richtete und bessere Zusammenarbeit aller Prä-ventionsakteure. Das ist ganz wichtig. Das sind nicht nur Krankenkassen, Schulen, Bildungsträger und Kommunen. Ich habe früher bei der Berufsge-nossenschaft gearbeitet. Da hatte man eine Dop-pelstruktur, einen staatlichen Arbeitsschutz und einen der Berufsgenossenschaften, die in der Selbstverwaltung organisiert sind. Das sind The-men, die wir wirklich praktisch, handwerklich an-gehen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Wir brauchen eine nationale Präven-tionskonferenz, um Ansätze in der Prävention und in der Gesundheitsförderung zu bündeln. Drittens. Wir brauchen Arbeitsschutz und ge-sundheitliche Prävention in den Betrieben – mit den Sozialpartnern. Auch das ist ein The-ma, das wir uns wirklich im Detail anschauen müssen. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tut ihr aber nicht! Das ist das Problem!) Wir müssen viertens den Zugang zu Präventi-onsangeboten für Personen mit besonderen beruf-lichen und -familiären Belastungen erleichtern. Ich denke an Alleinerziehende, Schichtarbeiter oder pflegende Familienangehörige. Auch das ist ein Thema, wie wir alle wissen. Ich war früher einmal Chef einer kommunalen Krankenpflegestation. Da hatten fast alle, die dort gearbeitet haben, Rückenprobleme. Aber das bedeutet natürlich auch, dass wir, gerade wenn wir Gesundheitspoli-tik machen, so etwas erkennen müssen. Wir müssen fünftens Früherkennungsuntersu-chungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiterentwickeln. Es gibt noch viele Details, die man nennen könnte. Der Herr Minister hat beispielsweise den Impfschutz bzw. die verpflichtende Impfberatung vor Aufnahme in der Kita angesprochen. Das sind, sagen wir einmal, hilfreiche Beispiele, die man nennen kann. Das ist, Frau Schulz-Asche, mehr als Sozialprosa. Das hat wirklich materielle Sub-stanz. Im Übrigen darf ich Ihnen auch noch sagen: Alleine dass wir 2016 die Leistungen auf bis zu 7 Euro pro Versichertem und Jahr verdoppeln, wie es in diesem Gesetz steht, ist eine große Leis-tung, und das können Sie ruhig anerkennen, liebe Frau Schulz-Asche. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun wir auch!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir besonders am Herzen liegt. Das ist der Diabetes, mit dem ich mich in letzter Zeit auch als Ausschussvorsitzen-der in der einen oder anderen Veranstaltung be-schäftigt habe. Sie wissen, mit über 6 Millionen erkrankten Menschen ist der Diabetes, wenn man so will, die häufigste nichtübertragbare Krankheit in Deutschland. Sie betrifft nicht nur ältere Men-schen, sondern immer häufiger auch Kinder. Wir wissen, dass Diabetes erhebliche Kosten in zwei-stelliger Milliardenhöhe verursacht, dass er die Volkswirtschaft belastet, und wir wissen auch, dass falsche Ernährung, extremes Übergewicht und zu wenig Bewegung Risikofaktoren sind. Mit diesen Risikofaktoren haben natürlich auch wir als Abgeordnete zu kämpfen. Wir müssen und wollen aber das Erkrankungs-risiko senken. Damit beugen wir nicht nur Krank-heiten vor, sondern entlasten letztlich auch das Gemeinwesen von erheblichen Kosten. Man sagt immer: Krankheit verhüten ist besser als Krank-heiten vergüten. – Dieser Programmsatz ist im Grunde genommen wichtig. Es wird ja eine natio-nale Diabetesstrategie diskutiert. Auf Bundesrats-ebene ist ein Diabetesplan in die Diskussion ge-bracht worden. Aus meiner Sicht ist, glaube ich, wichtig, dass wir auch und gerade im Rahmen der Diskussion des Präventionsgesetzes diese Prob-leme in die Beratung einbeziehen; denn hier geht es um Lebenswelten. Beim Diabetes steht das Gesundheitsziel „Erkrankungsrisiko senken, Er-krankte früh erkennen und behandeln“ ausdrück-lich so im Gesetz. Diese Themen haben eine be-sondere Bedeutung und müssen ressortübergrei-fend beraten werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Prä-ventionsgesetz sorgen wir dafür, dass Arbeit nicht krank macht. Wir sorgen dafür, dass gesundes Aufwachsen und Gesundheitschancen von Men-schen nicht länger von ihrem Lebensumfeld ab-hängen. Der vorliegende Entwurf bietet alle Chan-cen, dass diese Ziele im Rahmen des Gesetzge-bungsverfahrens umgesetzt, gegebenenfalls auch noch präzisiert werden und dass, lieber Herr Hen-ke, das Murmeltier der Präventionsgesetzgebung uns nicht jedes Jahr aufs Neue grüßt. Das wäre mein politischer Wunsch. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehr-ter Herr Präsident! Ich glaube, an dieser Stelle zu Recht sagen zu können: Mit diesem Gesetzent-wurf dokumentiert der Bundestag, dass er kein Erkenntnisproblem hat, auch kein Bekenntnisprob-lem. Alle führen das Wort einer Stärkung der Ge-sundheitsförderung und der Prävention im Munde. Aber wir müssen uns doch fragen: Werden wir diesem Anspruch, diesem Bekenntnis und diesen Erkenntnissen mit diesem Gesetzentwurf eigent-lich gerecht? Ich sage, wir sagen ganz deutlich: Das genau geschieht an dieser Stelle noch nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Der erste große Fehler: Es fehlt so etwas wie eine Gesamtstrategie zur Gesundheitsförderung. Gesundheitsförderung heißt nämlich mehr als Verhindern von Erkrankungen. Gesundheitsförde-rung heißt, dass wir gesellschaftlich in allen Le-bensbereichen Strukturen schaffen, die es ermög-lichen, gesund zu leben und die eigenen Lebens-verhältnisse gesund zu gestalten. Davon sind wir an ganz vielen Stellen weit entfernt. – Das ist der erste Punkt. Zweitens lassen Sie in diesem Gesetzentwurf jegliche Strategie, jegliche Initiative vermissen, alle anderen Politikfelder in eine Gesamtstrategie einzubeziehen, die diesem Anspruch gerecht wer-den könnte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE]) Das haben Sie sogar selber in einigen Reden deutlich gemacht. Natürlich muss es um den ge-samten Bereich der Kinder und Jugendlichen, der Familien gehen. Es muss um den gesamten Be-reich des Wohnens gehen und um den Bereich des Sports. Es muss um gesunde Arbeitsbedin-gungen gehen, um die Reinhaltung von Luft und um Umweltbedingungen insgesamt. Das sind die Faktoren, die gemeinsam berücksichtigt werden müssen. Dazu gehören nicht zuletzt viele Maß-nahmen, die eine gesunde Ernährung ermögli-chen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit Blick auf eine Gesamtstrategie fehlt all das bei der Herangehensweise in diesem Gesetzentwurf. Es ist nicht so, dass wir sagen, das könne al-lein die Krankenversicherung stemmen; natürlich nicht. Vielmehr geht es darum, daraus eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe zu machen, die je-den Bereich in die Pflicht nimmt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist das Erste, und wir drängen darauf, dass Sie da nachsteuern. Das Zweite ist: Sie haben zu Recht in vielen Reden hervorgehoben, welche Rolle die soziale Benachteiligung auch in Bezug auf die gesund-heitlichen Risiken spielt. Wenn wir da wirklich tä-tig werden wollen, wie kann es dann sein, dass Sie ausgerechnet den Bereich der Arbeitslosen-versicherung, das SGB II, außen vor lassen bei den wesentlichen Akteuren, die zusammenwirken müssen und vor Ort vernünftige Maßnahmen in Angriff nehmen müssen? Da müssen Sie dringend nachbessern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE]) Zu Recht ist auch gesagt worden, es muss um Maßnahmen vor Ort gehen. Es muss um die All-tagswelten gehen; denn nur so können wir viele Menschen erreichen, die nicht ohnehin schon ge-sundheitsbewusst leben. Wenn das so ist, dann müssen wir doch schauen: Wie machen wir das vor Ort? Wie schaffen wir es, vor Ort – statt im-mer nur ein Projektchen nach dem anderen einzu-richten, eine Maßnahme, die nur ein halbes Jahr läuft und dann wieder ausläuft; drei Jahre später kommt dann eine andere Krankenkasse mit einer anderen Maßnahme – konzertierte, stetige Maß-nahmen zu installieren, bei denen sich alle Akteu-re verbindlich mit gemeinsamen Zielen zusam-mentun? Auch da lassen Sie bisher jegliche Ant-wort vermissen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sozusagen als reisende Agentur für örtliche Ver-netzung durch die Gegend ziehen soll, um zu schauen, wie verbindliche Arbeitsstrukturen, Ver-netzungsstrukturen für Gesundheitsförderung vor Ort geschaffen werden können. Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, dass das der wesentliche Ansatz ist. Da müssen Sie nachsteu-ern. Da brauchen wir etwas anderes. Wir brau-chen Möglichkeiten, die Mittel von Krankenkassen regional zu bündeln, gemeinsam über Gesund-heitskonferenzen oder andere Steuerungsmecha-nismen, und es muss vor Ort verabredet werden können, wie diese Mittel eingesetzt werden. So herum muss es gehen. Darum müssen Sie dringend umsteuern. Dieser Gesetzentwurf hat noch sehr viel Potenzial. Wenn Sie dahin kommen wollen, dass wir Gesundheits-förderung und Prävention erstmalig wirklich ernst nehmen, dann muss noch viel passieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Reiner Meier, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Reiner Meier (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Gleich getan ist viel erspart.“ Dieser Satz bringt auf den Punkt, was Prävention im Gesundheitsbe-reich meint: nicht warten, bis der Körper und die Gesundheit Schaden nehmen, sondern versuchen, es möglichst gar nicht so weit kommen zu lassen. Wenn wir heute in erster Lesung den Entwurf des Präventionsgesetzes beraten, dann sollten wir uns Folgendes klarmachen: Weltweit leiden immer mehr Menschen an Zivilisationskrankheiten. Deutschland ist da leider keine Ausnahme. Etwa 350 000 Bundesbürger sterben jedes Jahr an den Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das entspricht etwa 40 Prozent aller Todesfälle in Deutschland. Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahr hatten wir bundesweit 3 368 Opfer im Stra-ßenverkehr zu beklagen. Angesichts dieser Fak-ten fragt man sich: Warum tun wir uns so schwer, hier und da weniger zu essen, gesünder zu leben, uns besser zu bewegen, mehr Sport zu betreiben oder die Vorsorgeuntersuchungen nicht zu ver-nachlässigen? (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch eine gute Frage!) Die Antwort ist einfach: Der Mensch ist nun ein-mal ein Gewohnheitstier und ändert nur dann sei-ne ungesunden Gewohnheiten, wenn er gute An-reize dafür hat und wenn man es ihm möglichst leicht macht, gesünder zu leben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bei der Umsetzung der Ziele stellt das Präven-tionsgesetz auf den Lebensweltenansatz ab. Das heißt, wir holen die Menschen dort ab und bieten die Leistungen dort an, wo sie einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen. Besonders für jene, die bislang weniger auf Präventionsangebote zu-rückgegriffen haben, sind einfach erreichbare An-gebote ein guter Weg, um ihre Gesundheitschan-cen deutlich zu verbessern. Wenn wir auf Dauer etwas bewegen wollen, müssen wir aber auch zulassen, dass jeder von sich aus die freie Entscheidung trifft, Präventions-angebote anzunehmen. Da ist es weniger erfolg-reich, mit Bevormundung oder mit Verboten anzu-kommen. Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen erinnern sich sicherlich noch an den Veg-gie-Day und daran, welche Diskussionen das her-vorgerufen hat. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war ja kein Verbot!) Übrigens ist er eine Erfindung der katholischen Kirche und nicht Ihrer Partei, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sehe Impfen als Prävention ersten Ranges an. (Beifall bei der CDU/CSU) Schutzimpfungen sind die wirksamsten Präven-tionsin-strumente der Medizin, die uns heute zur Verfügung stehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Jedes Jahr sterben 1,5 Millionen Kinder an Krank-heiten, für die es eigentlich wirksame Impfungen gäbe. Auch in Deutschland bestehen erhebliche Impflücken, gerade bei Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen, die gar keine bewusste Ent-scheidung gegen Impfungen treffen, sondern es spielen schlichtweg Vergesslichkeit, Bequemlich-keit oder Gleichgültigkeit eine Rolle. Unbestritten ist aber die Erforderlichkeit einer hohen Durchimp-fungsrate. Das Präventionsgesetz enthält drei wichtige Maßnahmen zur Steigerung dieser Impfquoten: Erstens. Im Rahmen der nationalen Präventions-strategie fließen die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission in die Zielvereinbarung ein. Wir schaffen dadurch einen verlässlichen Rechtsrah-men für eine trägerübergreifende Umsetzung die-ses wichtigen Ziels. Zweitens. Die verpflichtende Prüfung des Impfstatus bei Früherkennungsunter-suchungen, besonders bei Kindern und Jugendli-chen, halte ich für dringend geboten. Drittens. Die Pflicht zur ärztlichen Impfberatung bei Erstauf-nahme in Kindertageseinrichtungen ist sehr zu begrüßen. Die aktuelle Masernsituation – der Minister hat es angesprochen – in Deutschland zeigt: Wir ver-zeichnen 2015 bundesweit bereits über 1 000 Ma-sernfälle, davon rund 800 allein in Berlin – mit steigender Tendenz. Allein in Berlin sind es mehr Fälle, als in manchen Jahren bundesweit festge-stellt wurden. Eine Schule musste wegen Masern zeitweise geschlossen werden oder sogar Schüler ohne Impfstatus vom Unterricht ausgeschlossen werden, obwohl sie kurz vor der Abiturprüfung standen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Ereignisse zeigen, die Entscheidung, sich impfen zu lassen, kann erhebliche Konsequenzen haben, weil sie auch andere betrifft. Dabei scheinen mir drei Aspekte besonders wichtig. Erstens. Unsere Verfassung schützt das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Un-versehrtheit. Beides wird durch Impfungen be-rührt. Ohne gesetzliche Grundlage darf hier nicht eingegriffen werden. Andererseits ist der Staat aber verpflichtet, die körperliche Unversehrtheit nicht nur des Einzelnen, sondern die Unversehrt-heit aller Bürger dieses Staates zu gewährleisten. Zweitens. Unsere Rechtsordnung schützt das elterliche Sorgerecht als tragenden Pfeiler der Familie. Eltern bestimmen über die Impfung ihrer Kinder. Sie tragen aber auch die Verantwortung für ihr Wohlergehen und ihre Ge-sundheit. Eltern brauchen deshalb ein Angebot qualifizierter, seriöser Beratungen zu den Impfun-gen, damit sie sich nicht auf Gerüchte vom Hö-rensagen verlassen müssen. Ich denke dabei ins-besondere an die Behauptung, dass eine Masern-impfung Autismus auslöst – eine Behauptung, die nachweislich falsch ist und sich dennoch hartnä-ckig hält. (Beifall bei der CDU/CSU) Drittens. Wenn man nun den Nutzen der emp-fohlenen Impfungen mit den potenziellen Neben-wirkungen vergleicht, überwiegt ganz klar der Nutzen. Moderne Impfstoffe sind allgemein gut verträglich. Zudem erspart jede nicht ausgebro-chene Krankheit den Menschen eine akute Be-handlung mit Medikamenten, die deutlich stärkere Nebenwirkungen haben als die Impfung selbst. Wir wissen heute mehr über Infektionskrankhei-ten als je zuvor, und wir haben die Mittel, um ge-fährliche Krankheiten endgültig auszurotten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen deshalb nichts unversucht lassen, um die Bevölkerung endgültig von diesen Krankheiten zu befreien. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält gute Ansätze zur Verbesserung der Impfquoten. Wir werden im parlamentarischen Verfahren eingehend erörtern und diskutieren, welche Wege wir hier gehen. Lassen Sie mich abschließend klar sagen: Sollten unsere Anstrengungen – – Vizepräsident Peter Hintze: Wenn der Abschluss kurz ist, ja. Reiner Meier (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Sollten alle Anstrengungen, mit Anreizsystemen zum Ziel zu kommen, in der Praxis fruchtlos blei-ben, werden wir in einem zweiten Schritt auch verbindliche Maßnahmen prüfen müssen. Meine Damen und Herren, in diesem Sinne wünsche ich uns allen eine konstruktive Beratung zu diesem wichtigen Gesetz. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Ich habe eine Bitte an alle Redner. Wir haben es jetzt ein paarmal erlebt, dass der zentrale Ge-danke immer nach Ablauf der Redezeit kommt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es wäre an und für sich schön, wenn man ihn an den Anfang stellte und dann die Redezeit einhielte. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie bei Presseerklärungen, jawohl, Herr Prä-sident!) – Das war eine überparteiliche Bemerkung; es be-traf alle Redner, die eben gesprochen haben. Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Marina Kermer, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Marina Kermer (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Präven-tion heißt Vorbeugung, meint aber auch Vorsorge. Ich finde, wir müssen genauso an Fürsorge den-ken, weil Erkrankungen manchmal Abwärtsspira-len in Gang setzen, die nur noch von Außenste-henden zu stoppen sind, weil der oder die Be-troffene sich selbst nicht mehr helfen kann. Das trifft vor allem auf psychische Erkrankun-gen zu. Immer häufiger treten sie als Folgen be-ruflicher Belastungen auf. Ja, unsere komplexe Arbeitswelt bietet vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Chancen zur Selbstverwirklichung; man kann persönliche Anerkennung und materiel-len Wohlstand gewinnen, wenn man gut aufge-stellt ist. Wenn man nicht so gut aufgestellt ist, weil man gesundheitliche Einschränkungen hat, dann erlebt man die komplexe Arbeitswelt oft als Überforderung und Dauerüberlastung. In der Folge treten somatische und psychoso-matische Erkrankungen auf, also Erkrankungen des Körpers und der Seele, ausgelöst durch – ers-tens – die Arbeit selbst, die krank machen kann. Es ist immer weniger die körperlich harte Arbeit, die zu Erkrankungen führt, zum Beispiel zu Er-krankungen des Skeletts wie Rückenschmerzen oder Knieverschleiß. Die steigenden Zahlen psy-chischer Erkrankungen sind alarmierend: Burn-out-Syndrom, Depressionen und Suchterkrankun-gen führen immer häufiger in die Frühverrentung. Laut GKV-Spitzenverband hat die Zahl der Krank-heitstage aufgrund psychischer Erkrankungen zwischen 2002 und 2012 um nahezu 67 Prozent zugenommen. Zweitens kann ein Arbeitsplatzverlust, oft un-verschuldet, den Beginn einer Erkrankung auslö-sen. Denn wer auf Dauer ohne tägliche Aufgabe und Anerkennung lebt, der verliert seine Tages-struktur. Am Ende verharrt man im schlimmsten Fall in hilfloser Resignation. Auch darunter leidet langfristig die körperliche und seelische Verfas-sung. Wer durch Arbeitslosigkeit krank wird und aufgrund der Krankheit nicht vermittelt werden kann, der sitzt in einem Teufelskreis. Deshalb sollten die Krankenkassen gemeinsam mit den kommunalen Trägern der Grundsicherung und der Bundesagentur für Arbeit daran arbeiten, gesund-heitliche Vermittlungshemmnisse zu beseitigen; (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen wir das nur mal veran-kern!) denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, für das Er-werbspersonenpotenzial muss der Zugang zum Arbeitsmarkt mit geeigneten Maßnahmen wieder ermöglicht werden. Das Arbeitsleben ist dominant im Alltag, des-halb ist es so wichtig und richtig, die betriebliche Gesundheitsvorsorge zu stärken. Für die Beschäf-tigten in den Betrieben sind die Betriebsärzte erste Ansprechpartner. Deshalb ist die Stärkung ihrer Aufgabe richtig; denn den Medizinerinnen und Me-dizinern sollte es als Erstes auffallen, wenn in ei-nem Betrieb bestimmte Erkrankungen gehäuft auf-treten. Dabei nehmen wir die Bedenken der Gewerk-schaften ernst. Die Betriebsärzte stehen in einem sensiblen Vertrauensverhältnis. Das darf zu kei-nem Zeitpunkt infrage gestellt werden, ganz be-sonders nicht, wenn es um seelische Erkrankun-gen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geht. Richtig ist auch die Feststellung des DGB, dass grundsätzlich der Arbeitgeber für das Ar-beitsumfeld verantwortlich ist und niemand sonst. Man nennt es Fürsorgepflicht. Viele große Unter-nehmen haben bereits gute und zeitgemäße Prä-ventionskonzepte. Einige große Konzerne halten eigene Gesundheitsangebote vor und sorgen im Vorfeld durch Arbeitsplatzgestaltung und Arbeits-organisation für gute Bedingungen. Natürlich können kleine und mittelständische Unternehmen nicht mit Großkonzernen mithalten. Deshalb wollen wir die Kooperation vor Ort stär-ken. Zum Teil geht fehlende Prävention auf man-gelnde Kenntnisse von Präventionsangeboten zu-rück. Aus diesem Grund werden die Krankenkas-sen den Unternehmen Beratungsmöglichkeiten anbieten. Ja, es werden insgesamt 7 Euro pro Versichertem für Prävention zur Verfügung ge-stellt, davon werden 2 Euro für die betriebliche Prävention eingesetzt. Mit diesen zusätzlichen Mitteln wird es vor Ort besser gelingen, passge-naue Prävention im Betrieb anzubieten. An dieser Stelle möchte ich auf die besondere Situation der Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eingehen. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Genau!) Denn dort haben wir besonders häufig körperlich und seelisch belastende Arbeitsbedingungen bei knappen Personaldecken. Es ist absurd, dass ausgerechnet in den Ge-sundheitsberufen zu wenig Wert auf die Gesund-heit der Beschäftigten gelegt wird. Deshalb wer-den wir mit dem Pflegestellenförderprogramm im Rahmen der Krankenhausreform -einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Personal-situation gehen. Auch das ist Prävention für Pflegekräfte und für Patientinnen und Patienten. Insofern kann ich zu dem Antrag der Kollegin-nen und Kollegen von der Linken sagen: Wir ent-lassen die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwor-tung, stärken aber die Hilfe für die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Denn was für die Gesellschaft nur Verlust an Ar-beitskraft ist, bedeutet für den Einzelnen Verlust an Lebensqualität. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das kann ja nur der Anfang sein!) Deshalb ist uns Prävention so wichtig. Es geht uns um die Menschen. Weil das so ist, geben wir mehr Mittel für Prävention aus. Ich finde, das sind gut angelegte Mittel. Natürlich kann man leicht immer noch mehr Geld fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Zimmermann. Aber „Mehr, mehr!“ rief auch der kleine Häwelmann in Theodor Storms Märchen, und wohin hat es ihn gebracht? Er ist am Ende ins Wasser gefallen. Das wollen wir nicht. Besser wä-re, wir bringen das Präventionsgesetz gemeinsam in trockene Tücher. Danke. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeord-neten Heiko Schmelzle, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) Heiko Schmelzle (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Dass die Menschen in Deutschland ein immer höheres Lebensalter errei-chen, liegt sicherlich auch daran, dass unser Ge-sundheitssystem im weltweiten Vergleich ein sehr, sehr gutes ist. Das heute eingebrachte Präventionsgesetz ist ein weiterer Baustein der Bundesregierung bei der Umsetzung ihres Versprechens, unser Gesund-heitssystem zukunftsfest zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Durch den Dreiklang aus Präventionsgesetz, Ver-sorgungsstärkungsgesetz und Pflegestärkungs-gesetz greifen wir drei grundlegende Bereiche auf. Das Versorgungsstärkungsgesetz soll hochwerti-ge medizinische Versorgung, unabhängig vom Wohnort, sichern. Das erste Pflegestärkungsge-setz hat Leistungen für Pflegebedürftige und Ent-lastungsangebote für pflegende Angehörige aus-geweitet. Das Präventionsgesetz soll gesund-heitsfördernde Maßnahmen stärken, um Krankhei-ten zu vermeiden. CDU und CSU wollen dabei nicht bevormunden. Wir wollen die Menschen stattdessen davon über-zeugen, dass ihr Handeln die Lebensqualität erhö-hen und das Leben selbst verlängern kann. Denn nur wenn die Lebenswirklichkeit der Menschen in Kita oder Schule, am Arbeitsplatz oder im Pflege-heim im Sinne eines gesünderen -Lebens verbes-sert wird, kann die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig verbessert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Weil Prävention auf längere Frist die Kosten für nicht mehr notwendige Krankenbehandlungen er-spart, sind -finanzielle Mittel hier gut investiert. Die von den Krankenkassen in diesem Bereich einsetzbaren Mittel werden wir darum auf 490 Millionen Euro mehr als verdoppeln. Diesmal sind auch die Pflegekassen mit dabei. (Beifall bei der CDU/CSU) Zwei Themen liegen mir besonders am Herzen: die betriebliche Gesundheitsvorsorge und das Impfen. Die berufliche Tätigkeit dominiert einen Großteil unseres Lebens. In Zeiten eines zunehmenden Fachkräftemangels hat die Erhaltung der Gesund-heit der Arbeitnehmer für die CDU/CSU aller-höchste Priorität. Ein gesünderes Arbeitsumfeld stärkt die Arbeitsplatzzufriedenheit und damit die Identifikation und Verbundenheit der Arbeitnehmer mit ihrem Unternehmen. Gerade kleinere Betriebe sind aufgrund der geringen Mitarbeiterzahl häufig nicht in der Lage, in Eigenregie sinnvolle Maß-nahmen zur Vermeidung arbeitsbedingter Ge-sundheitsrisiken zu ergreifen. Wir stellen für die-sen Bereich 140 Millionen Euro bereit, um gerade den Mittelstand bei der wichtigen Aufgabe der be-trieblichen Gesundheitsvorsorge zu unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD – Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, son-dern auch eine Frage der Maßnahmen!) Das Impfen ist für mich eine weitere wesentli-che Säule der Prävention. Impfen ist die effektivs-te medizinische Präventionsmaßnahme. Impfen schützt weltweit Millionen von Menschen vor Krankheiten, Behinderung und Tod, und vor allem: Impfen liefert im Bereich der Prävention messbare Ergebnisse. Die Debatte um das Impfen ist allzu häufig ideo-logisch geprägt und wird leider von den wenigen Impfgegnern bestimmt. Wir müssen der Bevölke-rung immer wieder die Erfolge des Impfens bei der Bekämpfung und Ausrottung von Krankheiten ins Bewusstsein rufen. -Pocken, Tollwut, Pest, Diphtherie, Tuberkulose, Wundstarrkrampf, Gelb-fieber, Kinderlähmung, Masern, Mumps, Röteln: Das Impfen ist eine einzige Erfolgsgeschichte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Kühn-Mengel [SPD]) Wir leben in einer mobilen Welt, in der wir binnen weniger Stunden auf andere Kontinente reisen können. Güter werden weltweit transportiert. Krankheiten und Epidemien können uns jedoch genauso schnell erreichen. Hier gilt es, auch für unsere Bevölkerung die Impfquote zu erhöhen, um dadurch vorzusorgen. In der Mehrzahl der Fälle ist die Ursache für fehlende Impfungen nicht die offene Ablehnung des Impfens, sondern ist der Unwissenheit, der Nachlässigkeit und einem mangelnden Problem-bewusstsein geschuldet. Gerade junge Menschen gehen selten zum Arzt, und wenn sie einen Medi-ziner aufsuchen, haben sie in den seltensten Fäl-len ihren Impfpass dabei. Eine Impfberatung er-folgt dann höchstens, wenn eine Fernreise an-steht. Für die Erhöhung der Impfquoten benötigen wir daher ein strukturiertes, bundeseinheitliches Impfkonzept für alle Lebensphasen, welches die Menschen im wiederkehrenden Rhythmus auf das Impfen hinweist. Wichtig ist der einfache und niedrigschwellige -Zugang zu den notwendigen Impfungen. Reine In-formationsangebote reichen hier nicht aus. Dabei muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei Impfungen um eine gesamtge-sellschaftliche Aufgabe handelt. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jetzt auf einmal!) Ich appelliere an alle, die gesellschaftliche Ver-antwortung gegenüber jenen, die nicht geimpft werden können, ernst zu nehmen; denn für einen wirksamen „Herdenschutz“ benötigen wir eine Impfquote von circa 95 Prozent. Genau hier set-zen die vorgesehenen Maßnahmen an, die meine Vorredner schon genannt haben. Ich möchte aber noch ergänzen, dass die Krankenkassen künftig mit Fachärzten für Arbeitsmedizin oder mit Be-triebsmedizinern Verträge zur Durchführung von Schutzimpfungen schließen können. Erlauben Sie mir einen persönlichen Hinweis zum Gesetzentwurf. Gemeinsam mit mei-nen CSU-Kollegen Reiner Meier und Erich Irlstor-fer aus dem Gesundheitsausschuss habe ich im Herbst 2014 ein Konzept zur Verbesserung der Impfsituation in Deutschland vorgelegt. Viele Er-wägungen finden sich bereits heute im Regie-rungsentwurf wieder. Dennoch halten wir einen weiteren Punkt für absolut bedenkenswert. Derzeit wird von den 17 Kassenärztlichen Vereinigungen das Modellprojekt KV-Impfsurveillance durchge-führt. Dieses Projekt dokumentiert Impfquoten, die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Vorsorgeun-tersuchungen und Erkrankungszahlen repräsenta-tiv für alle Bundesländer und ermöglicht die Auf-schlüsselung dieser Zahlen bis auf Kreisebene für die verschiedenen Altersgruppen. Genau dies for-dern Sachverständige doch seit langem, zuletzt Professor Dr. Gerd Antes vom Deutschen Cochrane Zentrum bei seinem Besuch im Ge-sundheitsausschuss. Nur mit solch belastbaren Daten können wissenschaftlich fundiert Impflü-cken geschlossen und drohende Epidemien ziel-genau bekämpft werden. Wir können uns vorstellen, aus diesem Modell-projekt ab 2016 eine regelhafte, bundeseinheitli-che und anonymisierte Impfdatenerhebung beim Robert-Koch-Institut zu entwickeln, die dann ver-bindliche Grundlage der Arbeit der Ständigen Impfkommission wird. Die Ergebnisse und die hie-raus resultierenden Vorschläge sollten jährlich im Rahmen eines Impfberichts des BMG veröffent-licht werden. Lassen Sie mich mit Blick auf den Frühlingsan-fang mit einer lyrischen Note schließen. Die Her-ausforderung ist die Knospe des Handelns. Las-sen Sie uns im parlamentarischen Verfahren ge-meinsam daran arbeiten, dass die Knospe zur Blü-te wird und dann Frucht trägt. Denn die Stärkung der Gesundheit beginnt mit der Prävention. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Martina Stamm-Fibich, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Martina Stamm-Fibich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Gröhe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Es ist schon viel gesagt worden; das macht es gegen Ende der Debatte immer ein bisschen schwierig. Ich versuche es jetzt mit ein bisschen Handfestem. Wie bei der Bildung – das haben wir heute schon oft gehört – hängen auch die Gesundheits-chancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland von ihrer sozialen Herkunft ab. Zu-letzt – auch das wurde heute schon mehrfach er-wähnt – hat dies die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts bestätigt. Die KiGGS-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass bei Kindern aus sozial be-nachteiligten Familien Risikofaktoren wie Bewe-gungsmangel oder Übergewicht stärker verbreitet sind und dass ein Drittel der Kinder aus diesen Familien von Verhaltensproblemen, Hyperaktivität oder Problemen mit Gleichaltrigen betroffen sind. Kinder aus armen Familien hinken in ihrer Ent-wicklung hinterher. Schon vor dem Schuleintritt sind sie massiv benachteiligt. Das geht aus einer weiteren Studie, die uns diese Woche vorgelegt wurde, einer Studie der Bertelsmann Stiftung, her-vor. Die Studien zeigen: Zusätzlich zum Präventi-onsgesetz sind langfristig weitere Investitionen in Bildung notwendig, aber auch in benachteiligte Quartiere und in Institutionen. Nur so können wir die Gesundheitschancen für unsere Kinder ver-bessern. Mögliche Ansätze sehe ich hier bei dem Programm „Soziale Stadt“ oder bei der Förderung von Kitas. Für mich ist klar, dass Ressourcen nicht nach dem sogenannten Gießkannenprinzip verteilt werden dürfen. Kitas und andere Einrich-tungen brauchen mehr Geld, mehr Personal und andere Förderangebote. Dem muss das Präventi-onsgesetz Rechnung tragen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Die Basis für eine gesundheitsbewusste Le-bensweise im Erwachsenenalter wird in der frühen Kindheit gelegt. Daher hat die Umsetzung primär-präventiver und früher sekundärpräventiver Ele-mente im Kindesalter große Effekte. Beim Thema Kinder- und Jugendgesundheit verfolgt die SPD-Bundestagsfraktion ein klares Ziel: Wir wollen gleiche Gesundheitschancen für alle Kinder errei-chen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Das ist eine weitreichende Forderung, die viele Einzelschritte erfordert. Einen ersten Schritt haben wir mit dem Entwurf eines Präventionsgesetzes getan. Wer kleine Kinder hat, kennt dieses gelbe Heft. (Die Rednerin hält das Kinder-Untersuchungsheft hoch) Es hilft Eltern, den Überblick über die vielen Vor-sorgetermine zwischen Geburt und Einschulung, also über die sogenannten Us, zu behalten. Bisher allerdings enden die Us – und damit auch das be-rühmte gelbe Vorsorgeheft – mit dem Moment, in dem es richtig schwierig werden kann, wenn näm-lich aus dem Kindergartenkind ein Schulkind wird, wenn Entwicklungsstörungen, Essprobleme oder Ängste auftauchen können. Ich begrüße deshalb den Änderungsvorschlag zu § 26 SGB V. Ich freue mich über die Anhebung der Altersgrenze für die Us. Ich freue mich vor allem über die Änderungen, die auf eine qualitative Verbesserung der beste-henden Früherkennungsuntersuchungen hoffen lassen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich begrüße vor allem die Erweiterung der Früherkennung um die psychosoziale Entwicklung sowie die präventionsorientierte Beratung mit Überprüfung des Impfstatus. Auch dass Informati-onen zu regionalen Unterstützungsangeboten für Eltern und Kind Teil dieser Beratung sein sollen, findet meine ausgesprochene Anerkennung. Die letzte Entscheidung – die über das Wie – soll, wie so oft, der Gemeinsame Bundesausschuss fällen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn alle drei Unter-suchungen, die U10, die U11 und auch die J2, zu Regelleistungen werden würden. Von der Geburt bis zum fünften Lebensjahr sind Kinder in Deutschland auch jetzt schon gut be-treut. Seit inzwischen sieben Jahren bieten die Kinderärzte zudem drei weitere Untersuchungen an, die U10 und die U11 für Grundschüler und die J2 für 17-Jährige. Hier gibt es für vorsorgewillige Eltern allerdings einen Haken: Nicht alle Kranken-kassen übernehmen die Kosten von rund 50 Euro pro Untersuchung, weil die drei Vorsorgetermine nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Kas-sen verankert sind. Eltern müssen also selbst in die Tasche greifen oder auf diese Vorsorge ver-zichten. Durch die flächendeckende Einführung einer zusätzlichen U- oder J-Untersuchung ent-stehen für die Krankenkassen jährlich voraus-sichtlich Mehraufwendungen im niedrigen einstel-ligen Millionenbereich. Dem gegenüber steht aber ein enormes Einsparpotenzial (Beifall bei Abgeordneten der SPD) durch die Vermeidung oder frühzeitige Erkennung von Störungen der gesundheitlichen Entwicklung. Kurzum – wir haben es schon oft gehört –: Vor-beugen ist besser als Heilen. Durch diese Stärkung des Untersuchungspro-gramms hoffe ich auch auf eine Verbesserung der Impfquoten von Kindern im Schulalter. Ich bin überzeugt davon, dass Impfungen, wenn sie mit Vorsorgeuntersuchungen zusammenfallen, auch durchgeführt werden. Deshalb begrüße ich auch die in Artikel 8 des Gesetzentwurfes geplante Än-derung des Infektionsschutzgesetzes. Schutzimp-fungen gehören zu den wichtigsten Maßnahmen im Rahmen der primären Prävention von Infekti-onskrankheiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Der Gesetzentwurf legt fest, dass die Überprü-fung des Impfstatus und eine Impfberatung zum Bestandteil der Gesundheitsuntersuchung bei Er-wachsenen und bei Kindern und Jugendlichen werden. Der Gesetzentwurf setzt – sehr zu Recht – bei den Kleinsten an. Die Eltern von Kindern, die in eine Kindertagesstätte aufgenommen werden sollen, müssen künftig nachweisen, dass eine ärztliche Impfschutzberatung erfolgt ist. Damit soll eine höhere Beteiligung an den Schutzimpfungen, die die Ständige Impfkommission empfiehlt, er-reicht werden. Wie wichtig Impfungen sind – wir haben auch das schon einige Male gehört –, ha-ben wir beim dramatischen Ausbruch der Masern gemerkt. Vizepräsident Peter Hintze: Frau Kollegin, wenn Sie auf Sachen hinweisen, die schon mehrfach gesagt worden sind, ist das in Ordnung. Aber wenn die Redezeit überzogen ist, finde ich, könnte man das weglassen; sie ist näm-lich schon überzogen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Martina Stamm-Fibich (SPD): Ich komme zum Ende. – Mit dem Gesetzentwurf hat der Gesundheitsminister ein erstes Etappen-ziel erreicht; das begrüße und unterstütze ich ausdrücklich. Aber ein Etappenziel ist eben ein Etappenziel. Das übergeordnete Ziel der SPD-Bundestagsfraktion habe ich genannt – ich wie-derhole es zum Schluss –: Wir wollen gleiche Ge-sundheitschancen für alle Kinder. Dieses Ziel ist erst erreicht, wenn uns Studien bessere Ergeb-nisse liefern. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dietrich Mon-stadt, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Dietrich Monstadt (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kol-leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gesundheit erflehen die Menschen von den Göttern; dass es aber in ihrer Hand liegt, die-se zu erhalten, daran denken sie nicht. Dieses bekannte Zitat stammt von dem griechi-schen Philosophen Demokrit, der zwischen 460 und 371 vor Christus lebte. (Hilde Mattheis [SPD]: Darf man dieser Tage Griechen zitieren?) – Ich denke man darf das zitieren, weil das richtig ist. – Prävention ist also nicht nur heute im Rah-men der ersten Lesung zum vorliegenden Gesetz-entwurf von wesentlicher Bedeutung, sondern be-reits seit 2 400 Jahren ein Thema. Meine Damen und Herren, wie ist die Situation heute? Wir wissen, der demografische Wandel ist die gesellschaftliche Herausforderung der nächs-ten Jahrzehnte. Bis 2060 wird jeder zweite Deut-sche mindestens 51 Jahre alt sein. Während es zurzeit 650 000 Deutsche gibt, die über 90 Jahre alt sind, werden es 2060 rund 3,3 Millionen sein. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, -hoffentlich!) Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft, die zusätzlich gekennzeichnet ist durch einen Wandel der Lebensstile: Fahrstuhl statt Treppe, Auto statt Fahrrad oder zu Fuß gehen, Computer statt körperlicher Betätigung in der Freizeit, Fast-Food statt gesunder Ernährung. Allein aufgrund dieser Entwicklung ist von einer weiteren Zunah-me der bedeutsamen nichtübertragbaren Erkran-kungen, insbesondere von Diabetes Typ 2 und Adipositas, auszugehen. Meine Damen und Herren, ich weiß persönlich, worüber ich spreche: Ich bin insulinpflichtiger Typ-2-Diabetiker, und von meinen adipösen An-sätzen können Sie sich selbst überzeugen. Ich möchte daher zum Schluss dieser Debatte hier die Chance nutzen, gerade bei diesen beiden Erkran-kungen einen Schwerpunkt zu setzen. Parallel zum stattfindenden Naturereignis, meine Damen und Herren, müssen Sie sich Diabetes wie eine nicht endende Sonnenfinsternis vorstellen: Er schiebt, schleicht sich langsam ins Leben, und der Schatten bleibt auf Dauer. Gerade vor meinem persönlichen Hintergrund freue ich mich, dass Prävention und Früherken-nung, aber auch die Versorgung der Erkrankung Diabetes als primäres nationales Gesundheitsziel im Gesetzentwurf verankert sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Das zeigt: Das Thema Diabetes ist in der Politik angekommen. Meine Damen und Herren, Präven-tion und Früherkennung sind eine wichtige Säule der Diabetesbekämpfung. Mit einem krankheits-übergreifenden Ansatz sollen lebensstilbedingte chronische Erkrankungen vermindert oder zumin-dest in ihrem Verlauf positiv beeinflusst werden. Sehr geehrter Herr Minister, an dieser Stelle meinen ganz herzlichen Dank dafür, dass unter Umsetzung des Koalitionsvertrages mit diesem Gesetz nach zehn Jahren Debatte und vier Anläu-fen Prävention und Gesundheitsförderung in den Vordergrund der Gesundheitsversorgung gerückt sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] – Maria Klein-Schmeink [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat schwer an euch gelegen!) Die dafür angedachten Mittel von circa 500 Millionen Euro pro Jahr sind ein ganz wichti-ger Schritt in die richtige Richtung. Meine Damen und Herren, als Unionspolitiker und Betroffener ist es mir ein persönliches Ziel, aufzuklären, anzuleiten und die Eigenverantwor-tung eines jeden so zu stärken, dass Volkskrank-heiten wie Diabetes oder Adipositas verhindert werden können. Die Zahlen sind dramatisch: In der Gesellschaft eher als Altersdiabetes -bekannt, nimmt auch die Zahl von Kindern und Jugendli-chen, die an Typ-2-Diabetes erkranken, erschre-ckend zu. Von aktuell insgesamt 10 Millionen Dia-beteserkrankungen – unter Einbeziehung einer nicht quantifizierbaren Dunkelziffer – wird die Zahl der Betroffenen bis zum Jahr 2025 auf circa 20 Millionen ansteigen. Der Anteil der Menschen in Deutschland mit extremer Adipositas hat sich zwischen 1999 und 2009 fast verdoppelt. Diabetes wie auch Adipositas zählen damit zu den häufigsten lebensstilbedingten Erkrankungen, mit oftmals dramatischen Konsequenzen: Dazu gehören Herzinfarkte, Schlaganfälle, Amputatio-nen, Erblindung, -Nierenversagen und eine deut-lich geringere Lebenserwartung. Das ist, wie ich finde, eine erschütternde Erkenntnis für die Ge-sundheitspolitik, aber auch für unsere Gesell-schaft. Jüngste Schlagzeilen wie „Volkskrankheiten verursachen Millionen Tote“ oder „Sitzen ist das neue Rauchen“ brauchen wir nicht. Wir wissen, dass die Erkrankung bei vielen Patienten ver-meidbar gewesen wäre. Falsche Ernährung, le-bensstilbedingte Gewichtszunahme und zu wenig Bewegung schon im Kindesalter sind dafür eine Ursache. Das bedeutet: Wir müssen die Men-schen noch besser aufklären. Prävention und Auf-klärung schon in jungen Jahren halte ich für den Schlüssel, um den explodierenden Kosten, dem Tsunami, der auf uns zurollt, entgegenwirken zu können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wenn man den jungen Menschen rich-tiges und gesundes Ernährungsverhalten von vornherein anerzieht, dann werden sie ihr Leben lang einen Fundus an Wissen haben. Und wenn sie später selbst Verantwortung tragen, dann er-innern sie sich vielleicht und versuchen, richtiges Körperverhalten zu leben. Das heißt konkret: Wir müssen schon bei den ganz Jungen in Kitas und Schulen ansetzen. Nach den neuesten wissenschaftlichen Er-kenntnissen kann bereits ein ungesunder Lebens-stil während der Schwangerschaft – falsche Er-nährung, zu wenig Bewegung – ein erhöhtes Dia-betesrisiko für das ungeborene Kind bedeuten. Es gilt daher, auch hier anzusetzen. Ausgehend von der Initiative der norddeutschen Bundesländer – darunter auch mein eigenes, Mecklenburg-Vorpommern –, ist es wichtig, dass wir die präventiven Ansätze, die in dem vorliegen-den Gesetzentwurf Niederschlag gefunden haben, gerade für die beiden Erkrankungen Diabetes und Adipositas weiterführen. In diesem Sinne haben wir als Union einen Antrag mit der Forderung nach einer nationalen Diabetesstrategie auf den Weg gebracht, in der Hoffnung, dass wir diesen zeitnah in der Koalition umsetzen können. Dr. Franke, von daher bin ich Ihnen dankbar und freue ich mich sehr darüber, dass Sie dies angesprochen haben und auch unterstützen wol-len. Auch Herr Dr. Lauterbach hat in der Öffent-lichkeit vielfach betont, dass er sich nachhaltig für die Bekämpfung von Diabetes einsetzt. – Er nickt jetzt zustimmend. – Von daher nochmals mein Ap-pell an die Fraktion der SPD: Bringen Sie sich ein! Begleiten Sie diesen Antrag positiv! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Meine Damen und Herren, wir müssen endlich weg von den vielzähligen Einzelmaßnahmen und hin zu zielgerichteten und weitverbreiteten Aufklä-rungsmaßnahmen, die nachhaltige Wirkungen ent-falten. In Anlehnung an die Antiraucherkampagne können die hier jährlich vorgesehenen 35 Millionen Euro für bundesweite Kampagnen durch die Bun-deszentrale für gesundheitliche Aufklärung der Schlüssel zum Erfolg sein. Auch hier setzt der Gesetzentwurf die richtigen Akzente. (Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Auf die Gesundheit zu achten und sich gesund zu verhalten, erfordert Wissen, Befähigung und Eigenverantwortung. Aufgabe von Prävention ist es, dies zu entwickeln und zu stärken. Jeder Ein-zelne ist gefordert, durch eine gesundheitsbe-wusste Lebensweise Krankheiten vorzubeugen und die Erhaltung bzw. Wiederherstellung seiner Gesundheit zu fördern. Dafür muss dieser Einzel-ne angesprochen, gewonnen und unterstützt wer-den. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Bedeutung von Prävention und Gesundheits-förderung deutlich zu machen, genauso, wie ge-zielte Unterstützung dort zu leisten, wo der Einzel-ne von sich aus zu gesundheitsbewusstem Ver-halten nicht in der Lage ist. Diese Aufgabe muss ressortübergreifend an-gegangen und umgesetzt werden. Das Bundesge-sundheitsministerium, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das Bundesminis-terium der Justiz und für Verbraucherschutz und auch die Länder mit ihrer Verantwortung für die Schulen und Kindertagesstätten sind hier gemein-sam gefragt. Deshalb von mir ein deutliches Ja zur Prävention und zum Entwurf des Präventions-gesetzes. Ich freue mich auf eine lebendige Dis-kussion. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da alles nicht drin!) Vizepräsident Peter Hintze: Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/4282, 18/4322 und 18/4327 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Lisa Paus, Katja Dörner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Cannabiskontrollgesetzes (CannKG) Drucksache 18/4204 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Katja Dörner, Frakti-on Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Die Verbotspolitik beim The-ma Cannabis der letzten Jahre und Jahrzehnte ist gescheitert. Wir müssen bei diesem Thema end-lich neue Wege gehen, und wir Grüne wollen das tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die Zahlen und Fakten sprechen eine ganz kla-re Sprache: Rund 2,3 Millionen deutsche Erwach-sene gebrauchen Cannabis, rund 22 Prozent der 15- und 16-jährigen Schülerinnen und Schüler ha-ben schon einmal Cannabis konsumiert. Trotz des Verbots ist der Konsum in den letzten Jahren ge-stiegen. Cannabis ist eine Alltagsdroge. Das ist die Realität! (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist Ihre Realität!) Deshalb gibt es aus unserer Sicht dringenden Handlungsbedarf. Wir brauchen eine neue, ver-nünftige Grundlage für den Umgang mit Cannabis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Da-niela Kolbe [SPD]) Wir legen Ihnen heute – das werden Sie sicher-lich schon bemerkt haben – einen sehr fundierten und gut ausgearbeiteten Gesetzentwurf vor, mit dem wir vorrangig zwei Ziele verfolgen: Wir wollen die Kriminalisierung erwachsener Konsumentinnen und Konsumenten beenden. Es ist nicht die Auf-gabe des Staates, mündige Erwachsene vor sich selbst zu schützen. Hierzu bestünde gerade beim Cannabiskonsum auch gar kein Anlass. Erwach-sene sollen zukünftig 30 Gramm Cannabis oder drei Hanfpflanzen für den Eigenbedarf besitzen können. Ich habe schon heute Morgen den Tickermel-dungen entnommen, wie hier gegen unseren Ge-setzentwurf argumentiert wird. Ich will ganz klar in Richtung von Herrn Spahn sagen: Die 30-Gramm-Grenze in unserem Gesetzentwurf hat nichts mit dem kurzfristigen Eigenbedarf zu tun. Wer einen dermaßen verquasten und an den Haaren herbei-gezogenen Zusammenhang herstellt, der zeigt einfach, dass er keine rationalen Argumente ge-gen unseren Gesetzentwurf hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD] – Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Menschheitsbeglücker! Sie jubeln sich selber zu!) Die derzeitige Kriminalisierung von Konsumentin-nen und Konsumenten muss beendet werden. Kif-fen ist kein Verbrechen. Es ist aber auch klar, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen: Wir wollen die schützen, die wirklich Schutz brauchen: Das sind die Kinder und Ju-gendlichen. Es stimmt ja: Wenn Jugendliche Can-nabis konsumieren, insbesondere wenn sie das in größeren Mengen tun, dann kann der Konsum schädlich sein und sehr negative Folgen haben. Das darf nicht verharmlost werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD) Deshalb wollen wir mit unserem Gesetzentwurf endlich die Grundlage für einen funktionierenden Jugendschutz schaffen. Wir werden wirksamen Jugendschutz erst dann gewährleisten können, wenn wir ein reguliertes und kontrolliertes System der Cannabisabgabe haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Klar ist: Eine Abgabe an Kinder und Jugendli-che muss ausgeschlossen sein. In unserem Ge-setzentwurf ist eine Altersgrenze von 18 Jahren vorgesehen. Wer Cannabis an unter 18-Jährige abgibt oder verkauft, macht sich selbstverständ-lich weiterhin strafbar. (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Kriminalisie-rung!) Aber Fakt ist doch auch: Heute fragt der Dealer auf dem Schwarzmarkt nicht nach dem Ausweis. In dem Cannabisfachgeschäft, das in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist, wird der Verkäufer das zukünftig tun. Das macht doch den entschei-denden Unterschied, liebe Kolleginnen, liebe Kol-legen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Kinder und Jugendliche Cannabisfachgeschäfte nicht betreten dürfen. Die Geschäfte müssen einen bestimmten Abstand zu Schulen und zu Einrichtungen der Kin-der- und Jugendhilfe einhalten. Cannabis darf nicht in Automaten oder im Versandhandel ange-boten werden. Auch ist in unserem Gesetzentwurf ein striktes Werbeverbot vorgesehen. All das sind deutlich strengere Regelungen, als wir sie heute für Alkohol vorsehen. Das zeigt, wie ernst es uns ist, Kinder und Jugendliche mit unserem Gesetz-entwurf zu schützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Mit unserem Gesetzentwurf verfolgen wir aber auch weitere Ziele. Wir ermöglichen beim Can-nabiskonsum überhaupt erst Verbraucherschutz; denn nur der kontrollierte Anbau und eine kontrol-lierte Abgabe stellen sicher, dass die heute fast schon üblichen und gefährlichen Beimischungen von Giftstoffen ausgeschlossen werden und auch der THC-Gehalt endlich dokumentiert und transpa-rent gemacht wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Ich denke, das sind mündige Menschen, die ihr be-freien wollt für Cannabis! Jetzt wollt ihr sie wieder gängeln! Unglaublich!) Mit unserem Gesetzentwurf bekämpfen wir die organisierte Kriminalität, weil damit dem Schwarzmarkt und der Dealerei endlich die Grund-lage entzogen würde. Das ist übrigens sehr wich-tig, um den Zugang zu Cannabis für Jugendliche deutlich zu erschweren. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was?) Wir entlasten die Strafverfolgungsbehörden. Zurzeit werden jährlich rund 100 000 konsumnahe Delikte verfolgt. Die meisten Verfahren werden zwar eingestellt, aber es werden viel Zeit und viele Ressourcen in die Strafverfolgung investiert. Das kostet die Steuerzahler im Jahr rund 1,8 Milliarden Euro. Das ist doch Geld, das wir viel besser für die Suchtprävention einsetzen könnten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Deshalb wundert es uns nicht – das freut uns auch –, dass wir für unseren Vorschlag sehr viel Zuspruch aus den Reihen der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden erfahren. Ich will noch kurz auf einen anderen wichtigen Aspekt eingehen. Wir wollen für den Straßenver-kehr einen Grenzwert für den Konsum von THC-Produkten schaffen. Wir sehen hier 5,0 Nano-gramm pro Milliliter vor. Das ist der Wert, ober-halb dessen nach rechtsmedizinischer Forschung eine Beeinträchtigung der Fahrleistung nicht aus-geschlossen werden kann. Einen derartigen Grenzwert gibt es in fast allen anderen europäi-schen Ländern schon lange. Es ist völlig unsinnig, dass einem Konsumenten der Führerschein ent-zogen werden kann, obwohl er unter Cannabisein-fluss überhaupt nicht am Straßenverkehr teilge-nommen hat. Auch diese Art von Kriminalisierung muss ein Ende haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Zeit ist reif für eine vernünftige Cannabispolitik. Die Er-fahrungen mit der Entkriminalisierung in anderen Ländern sind positiv. Diese Erfahrungen zeigen auch, dass viele Befürchtungen, beispielsweise dass der Konsum von Cannabis dann ansteigt, sich nicht bewahrheiten. Vor diesem Hintergrund erwarte ich von den Regierungsfraktionen, dass wir darüber endlich eine sachliche Debatte führen können. Das Wie-derkäuen längst widerlegter Vorwürfe beim Thema Cannabis muss aufhören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir brauchen endlich eine vernünftige Rege-lung, die die sinnlose und teure Kriminalisierung beendet und vor allem Kinder und Jugendliche endlich wirksam vor Cannabiskonsum schützt. Ich bin sehr gespannt auf die Beratungen, und ich freue mich auf die nächsten Wochen, in denen wir das näher erläutern werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Marlene Mortler, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Marlene Mortler (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute über einen Gesetzent-wurf, der in erster Linie das Strafrecht im Blick hat. Wir reden aber auch über eine Lobby, die ich als die brutalste Lobby in meiner bisherigen politi-schen Arbeit erlebt habe. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN) Wir reden über eine Lobby, die mir den Tod wünscht. Höhepunkt war die Eröffnung eine Face-book-Seite mit dem Aufruf zur Hinrichtung von Marlene Mortler. Meine Tochter hat mich einmal gefragt: Mutter, wie hältst du das überhaupt aus? – Ganz einfach, habe ich ihr geantwortet, wenn ich das nicht aushalte, dann bin ich fehl am Platz. Ich habe eine Motivation. Meine Motivation ist meine Aufgabe als Drogenbeauftragte. Das heißt, ich habe die Gesundheit der Menschen in unserem Land im Blick, und dafür setze ich mich ein. (Beifall bei der CDU/CSU) Ihr Gesetzentwurf hat die rechtlichen Auswir-kungen für die Gruppe der Freizeitkonsumenten im Blick. Damit das klar ist: Konsum wird in unse-rem Land nicht bestraft; das ist eine sogenannte straffreie Selbstschädigung. Aber bei der rechtli-chen Einstufung müssen wir die gesundheitlichen Risiken und Langzeitfolgen des Konsums aller Gruppen beobachten. Das muss der Maßstab sein. Das heißt, wir müssen abhängige Konsu-menten und Jugendliche und die für sie bestehen-den Risiken besonders im Blick haben. Viele erinnern sich vielleicht noch an die Feld-züge von Bündnis 90/Die Grünen gegen das Rau-chen und für Rauchverbote in Gaststätten. Da-mals konnten die Gesetze nicht streng genug sein. Und heute? (Claudia Roth [Augsburg] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Marle-ne!) Sicherlich erinnern sich noch alle an ihren Bei-trag zur Ernährungswende. Der Veggie-Day und Verbote sollten es richten. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der Veggie-Day hat nichts mit Haschisch und Cannabis zu tun!) Erst Harmloses verbieten und jetzt Gesundheits-schädigendes erlauben: Das ist eine absolute Kehrtwende. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube nicht, dass Sie den Gesetz-entwurf gelesen haben!) Ihre Drogenwende kann ich daher nicht akzep-tieren. Denn die Legalisierung – und Ihr Gesetz-entwurf bedeutet faktisch eine Legalisierung – steht in direktem Widerspruch zu den Zielen des Verbraucherschutzes sowie zu Ihren bisherigen eigenen Zielen, und sie beeinträchtigt die Glaub-würdigkeit unserer Präventionspolitik. Wir haben vorhin die Debatte darüber aufmerksam verfolgt. (Hubert Hüppe [CDU/CSU], an BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Da war der Vorsitzende nicht da!) Wenn wir in unserem Land mit legalen Sucht-mitteln wie Alkohol und Tabak schon genug Prob-leme haben, dann müssen wir keine zusätzliche Einladung für die illegale Droge Cannabis aus-sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kot-ting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es doch schon! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das geht an der gesellschaftlichen Realität vorbei!) Das bricht Tabus und verharmlost. Sicherlich, junge Menschen wollen Grenzen ausloten. Junge Menschen brauchen aber auch Grenzen. Wir wissen: Je jünger ein Cannabiskon-sument ist, desto größer sind die Risiken für ihn: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Des-halb erst ab 18!) belastete Atemwege, Entwicklungsverzö-gerungen sowie psychische und körperliche Ab-hängigkeit. Das Auslösen bzw. das Verschlim-mern von psychischen Erkrankungen gehört zu den Risiken. Die Denk- und Merkfähigkeit leiden. Dauerhafte Schäden des Gehirns sind nicht aus-zuschließen, auch nicht nach einer Abstinenz. Vizepräsident Peter Hintze: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage eines Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen? Marlene Mortler (CDU/CSU): Das können wir gerne zum Schluss machen. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Keine Argumente! – Weitere Zuru-fe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oh!) Ich habe auf die Schädigung bei jungen Men-schen hingewiesen. Diese dürfen wir nicht ver-harmlosen. Erst gestern habe ich dazu ein fünf-stündiges Expertengespräch im Gesundheitsmi-nisterium geführt. Ehrlich gesagt, die Daten und Problemfälle aus den Behandlungseinrichtungen, die mir gestern einmal mehr geschildert wurden, sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Wir brau-chen weitere Daten über die sozialen Folgen eines frühen Cannabiskonsums, zum Beispiel über Schul- und Ausbildungsabbrüche, über Jugendli-che, die Jahre auf ihrem Lebensweg verlieren und in ihrer Entwicklung schwer und dauerhaft beein-trächtigt sind. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Daran hat das Verbot aber nichts geändert!) Es gibt also drängende Gesundheitsfragen, die durch Ihren Gesetzentwurf trotz detaillierter Rege-lungen nicht beantwortet werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Auch nicht durch Ver-bote!) Unsere Drogenpolitik in Deutschland fußt auf vier Säulen: erstens Prävention, zweitens Bera-tung und Hilfe, drittens Schadensminimierung bzw. -reduzierung und viertens Strafverfolgung. Wir dürfen unser eigenes Suchthilfesystem und unsere Drogenpolitik im eigenen Land nicht schlechtreden. Aber wir müssen selbstverständ-lich immer wieder nachbessern. Auch ich hinter-frage immer wieder mein eigenes Handeln und Denken: Gehe ich noch in die richtige Richtung? Ich befinde mich laufend im Gespräch mit Sucht-hilfeeinrichtungen und der Polizei und frage, ob ei-ne Lockerung in Richtung Legalisierung geboten erscheint. Ich habe noch keine Stimme gefunden, die Ja gesagt hat. (Lachen bei der LINKEN – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Tempel [DIE LINKE]: Alle drei Polizeige-werkschaften haben sich geäußert!) Vizepräsident Peter Hintze: Frau Kollegin, der Abgeordnete Ströbele wünscht, eine Zwischenfrage zu stellen. Mögen Sie sie zulassen? Marlene Mortler (CDU/CSU): International genießt unsere ausgewogene Drogenpolitik eine hohe Anerkennung. Zuletzt konnte ich das bei der Tagung der CND, der Commission on Narcotic Drugs, der internationa-len Suchtstoffkommission, in Wien erleben. (Zuruf von der LINKEN: Welchen Rotwein gab es da?) Dort habe ich mit Drogenexperten und Gesund-heits-ministern aus der ganzen Welt gesprochen. Auf dieser Konferenz haben sich Europa und selbst die USA für die unveränderte Aufrechterhal-tung der sogenannten UN-Drogenkonventionen ausgesprochen. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Sie wissen schon, was in den USA passiert?) Deutschland und 183 andere Nationen haben die-se Konventionen 1961, 1971 und 1988 unter-schrieben. Sie wollen nun, dass wir aus diesen Einheitsabkommen austreten. In der Opposition kann man sicherlich alles fordern. Aber unsere Regierung trägt Verantwortung. Wir werden unse-ren internationalen Ruf, unsere Verlässlichkeit und unsere Glaubwürdigkeit mit Sicherheit nicht aufs Spiel setzen, nach dem Motto „kurz raus, dann wieder rein“. Das ist unseriös. (Beifall bei der CDU/CSU) In der Konvention von 1961 steht ganz klar: Cannabis für den Freizeitkonsum ist illegal. – Für medizinische und wissenschaftliche Zwecke gibt es Spielraum. Diesen Spielraum nutzen wir. Wir werden demnächst den Entwurf eines Gesetzes vorlegen, das mehr und schwer chronisch er-krankten Patienten den Zugang zu Cannabisarz-neimitteln erleichtern soll. Zur Erinnerung: Es war die unionsgeführte Bundesregierung, die zum ersten Mal überhaupt in diesem Land ein Cannabisfertigarzneimittel zuge-lassen hat. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist total lächerlich!) Es wird wieder die unionsgeführte Bundesregie-rung sein, die in unserem Land die Verkehrs- und Erstattungsfähigkeit von Cannabis als Medizin aus der Apotheke erweitern wird. Dafür danke ich auch unserem Koalitionspartner. Wir sind hier auf einer Linie; wir sind uns hier komplett einig. (Zuruf von der SPD) Wir sind uns aber auch darin einig, dass wir Ih-ren Gesetzentwurf ablehnen. Er ist ein Experiment mit un-gewissem Ausgang und nicht einschätzba-rem Risiko: Hanfanbau für jeden, 30 Gramm pro Einkauf; im Gesetzentwurf steht nichts von einer Limitierung auf einen Tag, einen Monat oder ein Jahr. Mein Kollege Jens Spahn hat ausgerechnet: Diese 30 Gramm reichen für bis zu 120 Joints. Er hat treffend geschlussfolgert: Derjenige, für den das der „kurzfristige Eigenbedarf“ ist, ist abhängig und braucht eher einen Arzt. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Andere Ex-perten finden Sie auch nicht mehr!) – Ich zitiere den zuständigen Experten in Uruguay, lieber Kollege, der vor Ort der Oberexperte ist. Er sagt: Bereits der regelmäßige Konsum von 1 Gramm Marihuana am Tag bedeutet, dass man zur Risikogruppe gehört und damit ein gesundheit-liches Problem hat. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Wie ist das beim Alkohol?) Unsere Gesundheit zählt. Es darf hier nicht um das große Geschäft gehen. Mit diesem Gesetz-entwurf forcieren Sie ein Geschäft, eine Industrie, die Sie gestern noch massiv bekämpft haben. (Emmi Zeulner [CDU/CSU]: So ist es!) Deshalb fordere ich Sie auf – ich werde gleich ei-nen persönlichen Beitrag dazu leisten –: Kümmern Sie sich besser um natürliche geistige Energie, die Sie frisch hält. (Die Rednerin überreicht der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Tü-te Nüsse) Ich danke dem Präsidenten für die Geduld. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin Mortler, der Grund, warum die Patienten in Deutschland heute noch damit rechnen müssen, dass Cannabis als Medizin so schlecht verfügbar ist, ist das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion. Die Schuld liegt bei ihr, weil sie die Legalisierung von Cannabis seit Jahren und Jahrzehnten behindert hat, und zwar mit genau den gleichen Argumen-ten, die Kollege Spahn jetzt auch wieder bemüht, um unseren Entwurf eines Cannabiskontrollgeset-zes in Misskredit zu bringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es verwundert mich gar nicht, wenn Sie immer nur diejenigen hören, die davor warnen, so ein Gesetz zu machen. Es hängt immer davon ab, welche Gesprächspartner man sich sucht. Man kann sich in unserer Gesellschaft auch Ge-sprächspartner suchen, die Ihnen genau sagen werden, dass die Politik, die Sie bisher verfolgt haben, in Deutschland gescheitert ist. Wenn Sie jetzt sagen: „Unsere Drogenpolitik basiert auf vier Säulen: Prävention, Schadensmin-derung, Behandlung, Repression“ – Sie kommen erst am Ende zur Repression –, dann muss ich Ihnen entgegnen: Es ist doch genau umgekehrt. Es werden 70 bis 80 Prozent der Mittel für Re-pression ausgegeben, und die restlichen Mittel werden für Prävention, Schadensminderung und Behandlung ausgegeben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn Sie an die Basis gehen, in Behandlungs-einrichtungen, dann wird man Ihnen genau das sagen: dass die Ausstattung der Behandlungsein-richtungen und der Beratungseinrichtungen mit Mitteln bei uns viel zu kurz kommt. Deswegen ist dieser Ansatz in Deutschland natürlich geschei-tert. Sie haben nicht ein Wort darüber verloren, dass unser Gesetz – ich möchte Sie auffordern, dazu noch einmal Stellung zu nehmen – einen starken Akzent auf Jugendschutz setzt. Sie haben richtig-erweise argumentiert, dass Cannabis in der Ent-wicklung von Jugendlichen einen Schaden anrich-ten kann. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist keine Kurzintervention! Das ist ein Redebeitrag!) Das haben wir bisher auch nie infrage gestellt. Vor allen Dingen wird es in unserem Gesetzent-wurf überhaupt nicht infrage gestellt. Ganz im Gegenteil: Wir stärken den Jugend-schutz, weil wir etwas dagegen tun, dass die po-tenziellen Konsumenten auf dem Schwarzmarkt einkaufen, wo alles Mögliche verkauft wird. Im Übrigen haben Sie auch nicht ein Wort dar-über verloren, welche negativen Folgen sozusa-gen die Aufrechterhaltung des Schwarzmarkts in Deutschland für das gesamte Geschehen hat, was die Konsummittel betrifft. Ich möchte Sie zu noch etwas auffordern. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange soll das noch gehen?) Es ist ja nett, dass Sie uns da offensichtlich eine Pflanze hingestellt haben. (Zurufe) – Nüsse. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Pflanze war beim Kollegen Özdemir! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nüsse! Oh Gott, ich bin Nussallergiker!) Es gibt auch andere Bilder von Ihnen. Sie haben auch die folgende Frage nicht beant-wortet: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Herr Präsi-dent, was will der denn eigentlich?) Was tun Sie eigentlich dafür, dass die negativen Folgen des Alkoholismus in Deutschland ange-gangen werden? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Diese Vorwürfe gegenüber einem seriösen Ge-setzentwurf kann ich so nicht stehen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Frau Mortler, mögen Sie darauf antworten? Marlene Mortler (CDU/CSU): Ja. Vizepräsident Peter Hintze: Bitte. Marlene Mortler (CDU/CSU): Herr Präsident! Herr Kollege Terpe, man merkt, dass Ihnen das Herz voll ist; mir auch. Die symbolischen Nüsse, die ich hier überreicht habe, sind wirklich für die geistige Gesundheit, um das noch einmal klarzustellen. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Unverschämtheit, ehrlich gesagt! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Mischung zwi-schen Kindergarten und Unverschämt-heit!) Statt Hanf. (Mechthild Rawert [SPD]: Damit kämen Sie im Görlitzer Park allerdings nicht wei-ter! – Heiterkeit – Weitere Zurufe) – Ich habe Zeit. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Geben Sie Frau Rawert mal eine Nuss, bitte!) – Ich habe Zeit, Herr Präsident. Ich würde gern einen Kommentar aus der SZ vom 5. März zitieren, der das ziemlich auf den Punkt bringt: Der Gesetzentwurf der Grünen versucht sich nun in einer Art Entspannungspolitik: Erwach-sene sollen (natürlich gentechnikfreies) Can-nabis in geringen Mengen und unter strengen Auflagen besitzen und konsumieren dürfen, der Schwarzmarkt soll verschwinden, die Staatskasse gefüllt, die Jugend geschützt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn das so funktionierte und nebenbei der Krieg zwischen den Anhängern der „Verbietet alles!“-Religion und den „Erlaubt alles!“-Gläubigen endete, dann wäre das schön. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn darüber in Vergessenheit geriete, dass Hasch gefährlich ist und bleibt, wäre das schlecht. Ein Cannabiskontrollgesetz kann regeln, was nicht abzuschaffen ist. Dass mit ihm die große Bürgerfreiheit verwirklicht wer-den soll, ist Mumpitz. Die Überschrift lautet „Im Rausch der Illusion“. – Dem ist nichts hinzuzufügen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dieter Jane-cek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das spricht doch für den Gesetzentwurf!) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Frank Tempel, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Frank Tempel (DIE LINKE): Ich habe übrigens keine Angst vor Zwischen-fragen. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Besitz und Erwerb von Cannabisprodukten sind in Deutschland strafbar. Auch der Anbau ist strafbar. Das ist die konkrete aktuelle Rechtslage in Deutschland. (Dietrich Monstadt [CDU/CSU]: Richtig so!) Von straffreiem Konsum zu reden, ist reichlich in-kompetent. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Als Kriminalbeamter in Thüringen habe ich im dienstlichen Auftrag Strafanzeigen schreiben müssen, weil Tüten mit Restanhaftungen von Cannabis den Anfangsverdacht begründeten, dass der Betroffene im Besitz von Cannabis war. Be-reits das führte zur Strafanzeige. Wer diese Kri-minalisierung von Menschen mit dem Argument abtut, dass diese Verfahren wieder eingestellt werden, den muss ich fragen: Wie rechtfertigt man, dass Hunderte von Polizeibeamten diese Anzeigen erst einmal schreiben müssen, dass Hunderte von Polizeibeamten unterwegs sind, um Kontrollen durchzuführen und Wohnungen zu durchsuchen, wenn die Verfahren von der Staats-anwaltschaft dann in der Regel wieder eingestellt werden? Welchen Sinn macht das? (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Sie haben von vier Säulen der Drogenpolitik gesprochen. 86 Prozent der Mittel entfallen allein auf die Säule der Repression. Wer das damit be-gründet, dass der Schutz von Kindern und Ju-gendlichen beabsichtigt ist, dem muss ich sagen: Der Schwarzmarkt ist so ziemlich der schlechtes-te Jugendschutz. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Die Strafbarkeit gilt aber auch für 40-, 50- und 60-Jährige. Sie gilt im Übrigen auch völlig unab-hängig davon, ob der Cannabiskonsument tat-sächlich einen gesundheitsgefährdenden Umgang damit pflegt oder ob er ein Gelegenheitskonsu-ment ist, der die festgestellte Menge lediglich da-zu hat, um eine Weile damit auszukommen. Auch er wird kriminalisiert. Hier wird ein Verhalten be-straft, das bei unsachgemäßem Umgang mög-licherweise zu einer Selbstschädigung führt. Das ist einmalig im deutschen Strafrecht. Ja, der missbräuchliche Konsum – das wird nicht ignoriert; auch nicht im Antrag der Grünen – ist riskant, ist gefährlich, und das besonders, wenn im sehr frühen Alter damit begonnen wird. Deswegen muss man natürlich klare Jugend-schutzregeln schaffen. Während wir aber hier dar-über diskutieren, wie wir das machen können, schaffen wir es beim Alkohol noch nicht einmal, über konkrete Werbeverbote zu reden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Sie, liebe Kollegen von der Union, lehnen die Legalisierung von Cannabis ab, damit nicht, wie man ja hört, neben Tabak und Alkohol eine weitere gefährliche Droge auf den Markt kommt. Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie leben. Wir haben circa 2,5 bis 4 Millionen Cannabiskonsumenten in Deutschland. Diese Droge ist da, und der Versuch der Durchsetzung des Verbots kostet eben sehr viel Geld, das an anderen Stellen für Prävention fehlt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Stattdessen haben wir einen Schwarzmarkt, Streckmittel und keinen Einfluss auf den Wirk-stoffgehalt, keinen Jugendschutz. Deswegen muss es einfach legitim sein, Alternativen zu dis-kutieren. Die Linken haben in der letzten Legislatur den Vorschlag gemacht, eine nichtkommerzielle Lö-sung, angelehnt an die Cannabis Social Clubs in Spanien, anzubieten. Das heißt, sowohl legal als auch illegal kann niemand mit diesem Produkt Geld verdienen. Das wäre präventiv durchaus eine interessante Lösung. Die Grünen haben jetzt einen anderen Vorschlag eingebracht, der auch kom-merzielle Lösungen beinhaltet, aber ebenfalls Lö-sungsansätze in den Bereichen Jugendschutz, Verbraucherschutz und Prävention bietet. Das ist vielfach ganz klar eine bessere Lösung als Schwarzmarkt, Streckmittel und Stigmatisierung von 4 Millionen Menschen in diesem Land. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge-ordneten der SPD) Wir haben natürlich überlegt, ob auch wir schnell noch einen Antrag vorlegen. Nein, das machen wir ganz bewusst nicht. Wir reden heute über den Antrag der Grünen. Den werden Sie eventuell wieder ablehnen. Das wurde ja in Ihrer nicht sehr sachlichen Rede eben deutlich. Für die-sen Fall verspreche ich Ihnen, dass wir hier wie-derum einen Antrag vorlegen werden. Dieses Thema werden Sie aus dem Bundestag nicht mehr herausbekommen. Das ist übrigens ein Verspre-chen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) In dieser Debatte zur Legalisierung müssen Sie einfach einmal Ihre zwei, drei Experten, die Ihnen noch geblieben sind, beiseitelassen und auf die wirklichen -Experten hören. Ich rede da von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, einem re-lativ breiten Sammelbecken. Alle drei Polizeige-werkschaften haben sich mittlerweile zu dem Thema geäußert. Die Hälfte aller Strafrechtspro-fessoren hat sich zu diesem Thema geäußert. Sie stellen sich hier allen Ernstes hin und behaupten, Sie finden keine Experten, die etwas anderes sa-gen. Das ist reichlich ignorant. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 122 Strafrechtsprofesso-ren!) Liebe Kollegen von der Union und auch von der SPD, Sie haben noch eine zweite Chance: Es be-findet sich nach wie vor im Beratungsprozess des Bundestages ein Antrag zur Evaluierung des Dro-genstrafrechts. Sie haben da eine Chance. Stellen Sie die richtigen Fragen. Sie glauben, Nachfrage und Angebot durch ein Verbot zu reduzieren. Dann überprüfen Sie es. Es gibt viele Länder, die ande-re Wege gehen. Sie zweifeln die Zahlen an. Über-prüfen Sie es. Wir sagen, dass die fehlende Kon-trolle Produkte auf dem Schwarzmarkt noch ge-fährlicher werden lässt durch fehlende Wirkstoff-gehaltangaben, durch Streckmittel; Sie ignorieren das. Dann überprüfen Sie es! Stellen Sie die rich-tigen Fragen. Dieser Antrag ist noch in der Pipe-line und soll hier beraten werden. Alle Zahlen, Tendenzen und Fakten können auf den Prüfstand; aber die Diskussion zu verweigern, ist einfach un-akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte aber trotzdem ganz zum Schluss – die Zeit ist abgelaufen – anerkennen, dass es zu-mindest die Ansage gibt, im Bereich der medizini-schen Verwendung etwas zu machen. Ich hoffe sehr, dass es nicht nur darum geht, den wenigen Erlaubnisinhabern jetzt Kosten zu erstatten, son-dern dass es hier auch darum geht, zum Beispiel den Zugang zur Anwendung von Medizinalhanf zu erleichtern. Jeder Zehnte, der einen Antrag auf Er-laubnis zur Verwendung von Medizinalhanf stellt, stirbt, bevor sein Antrag überhaupt entschieden ist. Jeder Zehnte stirbt, bevor der Antrag – Frau Mortler, ich rede auch mit Ihnen – überhaupt bear-beitet ist. Das ist unterlassene Hilfeleistung durch die Bundesregierung. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Für die SPD hat jetzt der Kollege Burkhard Bli-enert das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Burkhard Blienert (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Tagesordnung will es so, dass wir direkt im Anschluss an die Debatte um ein Präventions-gesetz, in dem es um Vorsorge und Krankheits-vermeidung geht, über eine Droge diskutieren. Das passt gut zusammen. Bezogen auf den Be-reich Drogen und Sucht stellt die WHO ja fest, dass 40 Prozent aller Erkrankungen und frühzeiti-ger Todesfälle auf insgesamt drei Faktoren zu-rückzuführen sind: Rauchen, Alkohol und unter Al-koholeinfluss verursachte Verkehrsunfälle. Das macht nur allzu deutlich, wie wichtig ein lebens-weltbezogener Ansatz einer erfolgreichen Präven-tion ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Der vorliegende Gesetzentwurf behandelt die Freigabe der illegalen Droge Cannabis. Da ergibt sich erst einmal ein Widerspruch. Aber es hat sich gezeigt, dass wir auf vielen Ebenen letztendlich über ein wesentliches Ziel unserer Politik diskutie-ren müssen. Ich zitiere: Gerade Cannabis verlangt … nach umfassender, kontinuierli-cher gesundheitspolitischer Beachtung. Es gilt, seinen Konsum nachhaltig zu begrenzen und seine gesundheitlichen und sozialen Fol-gen effektiv zu mindern. Das war ein Zitat aus dem Vorstandsbeschluss der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen aus dem Jahr 2004. Ich finde, dieses Ziel ist für Can-nabis nach wie vor richtig und wichtig. Es ist auch nach weiteren elf Jahren bundesdeutscher Dro-gen- und Suchtpolitik noch nicht erreicht. Wir sind vielleicht sogar noch weiter davon entfernt als 2004. Es muss um die Frage gehen, einen möglichst umfassenden Gesundheitsschutz sicherzustellen und gleichzeitig die sozialen und wirtschaftlichen Folgen im Auge zu behalten. Deshalb kann es eben nicht einfach um die Fragestellung „Legal oder illegal?“ gehen. Rund ein Viertel der Alters-gruppe zwischen 18 und 64 Jahren haben Canna-bis schon einmal konsumiert. Laut Suchtsurvey 2012 konsumierten knapp 3 Millionen Personen Cannabis in den letzten zwölf Monaten vor der Be-fragung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Grund genug, es zu legalisieren! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Trotz Verbot!) Die Prävalenz hat eben trotz Illegalität der Droge nicht abgenommen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eben!) Mit Ihrem Gesetzentwurf versuchen Sie nun ei-nen gewagten Spagat: den Konsum der illegalen Droge Cannabis in den Griff zu bekommen, sie als Genussmittel für Erwachsene hoffähig zu machen und gleichzeitig Jugendliche vor dem Konsum zu schützen. Wörtlich heißt es hierzu in der Begrün-dung: Notwendig ist ein gesundheitspolitischer An-satz, der Prävention und Intervention bei Ju-gendlichen und einen möglichst risikoarmen Konsum bei Erwachsenen fördert. Ursache dieses Gesetzes ist natürlich die un-bestrittene Einschätzung, dass die Prohibitionspo-litik nicht dazu geführt hat, dass Cannabiskonsum verhindert wurde, sondern, wie im Gesetzestext dargelegt ist, noch anstieg. Für mich ist es daher politisch durchaus gerechtfertigt, sich die Frage zu stellen, ob nicht andere Wege im Umgang mit Cannabis sinnvoller wären, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ob nicht über neue Wege der Staat in die wichtige kontrollierende und präventive Rolle gelangen würde. Ich warne aber eindringlich davor, die Ge-fahren von Cannabis zu bagatellisieren und zu meinen, dass nur Jugendliche vor dem Konsum zu schützen seien. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grundsätzlich sollte die Einschätzung gelten: Cannabis ist eine Droge. Sie birgt Suchtpotenzial, und sie ist gesundheitsschädlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch im Som-mer des letzten Jahres wollten Sie in einem ge-meinsamen Antrag mit den Linken die Wirkungen des Betäubungsmittelrechts evaluieren lassen. Diesen Ansatz lassen Sie jetzt erst einmal fallen. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Stimmen Sie dem denn zu? – Frank Tempel [DIE LINKE]: Der Antrag ist nicht weg!) Sie wischen das Ziel der Erkenntnisgewinnung weg und stellen einen Gesetzentwurf vor, der me-dienwirksam von Ihrem Parteivorsitzenden ange-kündigt wurde. Das ist für mich aber keine ver-trauensbildende und vorsorgende Gesundheitspo-litik. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Idee eines regulierten Marktes für die Can-nabisabgabe will ich gar nicht per se verdammen. Es lohnt sich mit Sicherheit, gerade weil die Ver-botspolitik nicht die erhoffte Wirkung hatte, den Blick zu weiten, in Länder jenseits von Deutsch-land zu schauen, auch in andere europäische Län-der wie Portugal, Niederlande und die Schweiz. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Aber die Inhalte und Regelungen müssen zweck-dienlich sein; sie dürfen nicht ideologisch sein. Zweckdienlich heißt für mich: Nicht der Genuss eines Suchtmittels hat Vorrang, sondern die Prä-vention und ein sicherer Konsum. Unabhängig vom vorliegenden Gesetzentwurf muss daher sichergestellt sein: Sollte sich eine regulierte Freigabe von Cannabis als sinnhaft her-ausstellen, so darf dies kein Einfallstor im Um-gang mit anderen Drogen werden. Wir dürfen nicht in eine Öffnungsschiene geraten, die wir nicht beherrschen können. Deshalb gilt: Aufgabe unserer Gesundheitspolitik muss weiterhin die Abwehr und die Vorbeugung von Suchterkrankung bleiben; es darf nicht um die grundsätzliche Frei-gabe von Suchtstoffen unter dem Deckmantel des „Rechts auf Selbstschädigung“ gehen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Blienert, gestatten Sie eine Zwi-schenfrage des Kollegen Birkwald? Burkhard Blienert (SPD): Ja. Bitte. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident! Vielen Dank, Herr Kollege Blienert, dass Sie die Zwischenfrage zu-lassen. – Zunächst: Ich bin in dem Thema dieser Debatte emotional engagiert, weil ich vor 40 Jah-ren meinen ersten Artikel dazu veröffentlicht habe, damals in der Schülerzeitung mit dem schönen Namen Pegel; er trug den Titel: „Legalize it“. Die Legalisierung von Haschisch und Marihuana ist also ein Thema, das mir persönlich schon lange am Herzen liegt; denn es gibt keinen Grund, diese anders zu behandeln als Alkohol. Aber nun zu meiner konkreten Frage. Ich habe in Ihrer Rede nicht so richtig erkennen können, dass Sie dagegen sind, Haschisch und Marihuana zu legalisieren. Ich habe zumindest keine Argu-mente gehört. Sie haben sehr sachlich abgewo-gen. So frage ich Sie: Sind Sie gegen den Ge-setzentwurf der Grünen, oder sind Sie dafür? Ich möchte Sie bitten, auch etwas zu der Be-wertung zu sagen, die Ihr SPD-Kollege Thomas Isenberg, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, vorgenommen hat, und dazu, wie Sie zu der Differenz in den Auffassungen stehen. Er hat nämlich erst kürzlich erklärt: „Das Verbot von Cannabis ist gescheitert“, und er hat gefordert, Modellprojekte für eine legale Abgabe von Canna-bis einzuführen. Meine Frage ist: Wie stehen Sie dazu? Wann kommt die SPD zu einer einheitlichen Position in Sachen Cannabislegalisierung? Letzte Bemerkung: Wir haben heute nicht nur den Equal Pay Day und die Sonnenfinsternis. Nein, wir haben auch Frühlingsanfang. Vor allen Dingen haben wir heute aber den internationalen Tag des Glücks. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Machen Sie uns doch alle glücklich, und sagen Sie an dieser Stelle, dass die SPD auch einmal einem vernünftigen Gesetzentwurf der Opposition zustimmen kann. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Burkhard Blienert (SPD): Sehr geehrter Herr Kollege, ich freue mich zu-nächst sehr über Ihr Zutrauen, dass die SPD das Glück tatsächlich bringen kann. (Beifall bei der SPD) Ich finde, das haben wir heute schon gerechtfer-tigt. Zum ersten Punkt Ihrer Frage. Wir reden heute über einen gerade eingebrachten Gesetzentwurf. Wir werden ihn dann ja auch im Ausschuss bera-ten. Ich glaube, zur gesamten Bandbreite beim Umgang mit dem Thema Cannabis – Cannabis als Medizin, Cannabis als Genussmittel, Cannabis als Risikofaktor, insbesondere für Jugendliche, einer möglichen Drogenkarriere – gehört tatsächlich auch, Abwägungen zu treffen und ideologiefrei darüber zu reden. Ich glaube, die Zeit für diesen Prozess sollten wir uns auch nehmen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 40 Jahre schon!) sonst geraten wir viel zu schnell in Widersprüche. Zum zweiten Punkt. Dass der Kollege Isenberg aus Berlin notwendigerweise und richtigerweise darauf hingewiesen hat, was für Berlin richtig und wichtig sein kann, will ich gar nicht bewerten. Ich glaube, er hat wichtige Sätze für Berlin gespro-chen. Er hat auch deutlich gemacht, wie intensiv sich die SPD in den Ländern, in den großen Städ-ten und Kommunen des Themas annimmt. (Zuruf von der LINKEN: Theoretisch, nicht praktisch!) Wir sind dabei, diese Meinungen zusammenzu-bringen und ergebnisbezogen zu diskutieren. Ich denke, da wir in den letzten Jahren wenige Fortschritte verzeichnen konnten, müssen wir uns jetzt wenigstens die Zeit nehmen, die wir notwen-digerweise brauchen, um die richtigen Antworten zu finden. Die richtigen Antworten können nur ge-funden werden, wenn wir uns danach richten, dass es nicht von oben, vom Bund aus, verordnet wer-den kann, (Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Betäu-bungsmittelgesetz ist ein Bundesgesetz! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist aber ein Bundesgesetz!) sondern in den Ländern und Kommunen gleichzei-tig eine Debatte geführt werden muss, und so da-für sorgen, dass wir eine gesellschaftliche Akzep-tanz bekommen, um über Drogen im Allgemeinen und natürlich Cannabis im Besonderen zu disku-tieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Schluss. Vor diesem konkrete-ren Hintergrund bin ich bereit zu einer Debatte, auch über einen regulierten Markt für die Abgabe von Cannabis. Der regulierte Markt darf aber nicht einem suchtmäßigen Konsum dienen. Eine Regu-lierung soll den Schwarzmarkt austrocknen und Kriminelle von den Konsumenten fernhalten, Kon-sumenten entkriminalisieren, (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) und gleichzeitig starke präventive Maßnahmen vorsehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Hierzu reicht es nicht aus, lediglich den Jugend-schutz zu gewährleisten. Der Konsum kann auch für Erwachsene allenfalls in klaren Grenzen statt-finden. Freimengengrößen, Anbauregelungen, Vertriebsstrukturen und steuerrechtliche Maß-nahmen müssen hierzu genauestens überlegt und diskutiert werden. Mein Ziel wird es nicht sein, einen Rausch für alle zu gewährleisten. Mein Ziel wird es sein, ge-sundheitliche Prävention zu stärken und Lebens-stile unter nachdrücklichem Verweis auf Risiken und Nebenwirkungen bestimmter Konsumverhal-ten nicht zu kriminalisieren, damit der Staat wieder die Kontrolle über diesen Bereich erhält, die er be-nötigt. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Ru-dolf Henke. (Beifall bei der CDU/CSU) Rudolf Henke (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will erst ein-mal sagen: Ich glaube, dass ein solcher Antrag in den Deutschen Bundestag gehört, wenn – wie der Deutsche Hanfverband über Emnid hat ermitteln lassen – 19 Prozent Zustimmung dafür vorhanden ist – die anderen stimmen nicht zu –, einen kon-trollierten Zugang zu einem nichtmedizinischen Cannabisnutzen zu ermöglichen. Der Ort der Debatte ist also in Ord-nung. (Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!) – Ja, wo soll man es sonst machen, wenn nicht im Parlament? Ich finde das schon völlig normal. (Beifall des Abg. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist ja schön, dass Sie das zugeben! Das ist ja eine tolle Erkenntnis!) Ich erinnere mich auch, dass man bei solchen Debatten und Auseinandersetzungen sehr indivi-duelle Meinungen haben kann. Ich habe mich als Mitglied der CDU-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, als es um die Frage ging, ob man die bayerische Lösung eines Tabakver-bots in Gaststätten in Nordrhein Westfalen ein-führt, gegen die Haltung der damaligen CDU-geführten Regierung dafür ausgesprochen. Ich wollte die bayerische Lösung in Nordrhein-Westfalen haben, was den Tabakkonsum anging. (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Damals waren die Grünen der Meinung, dass es so, wie es in Bayern im Rahmen einer Volksab-stimmung beschlossen und dann gemacht wurde, richtig sei. Ich habe es, wenn man so will, als eine Art kleinen Nichtverbreitungspakt für Suchtmittel verstanden, den der kleine Abgeordnete Rudolf Henke mit einer späteren grünen Gesundheitsmi-nisterin geschlossen hat. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da ging es um Nichtraucherschutz! Das ist ein bisschen was anderes! – Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich staune jetzt ein bisschen, wie man – auch in Bezug auf den heutigen Internationalen Tag des Glücks – zu dem Schluss kommen kann, dass das, was wir in Bezug auf Suchtstoffe, auf süchtig machende Substanzen, auf Abhängigkeit erzeu-gende Substanzen, brauchen, nicht ein Nichtver-breitungspakt, sondern ein Verbreitungspakt sei. Was wir brauchen, ist doch ein Nichtverbreitungs-pakt für süchtig und abhängig machende Sub-stanzen, und der muss auf gesellschaftlicher Ebe-ne geschaffen werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Durch Aufklärung! Nicht durch Verbote!) Deswegen müssen verantwortliche Politiker mit der illusionären Verbreitung der Hypothese aufhö-ren, dass Cannabis glücklich macht. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch Quatsch!) Denn das ist doch die Frage, die dahintersteckt. Die SPD soll ja nicht Sie glücklich machen, son-dern die SPD soll Sie dadurch glücklich machen, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dass sie dem Gesetzentwurf zustimmt!) dass der Zugang zu Cannabis ermöglicht wird. Genau das ist die falsche Botschaft an Kinder und Jugendliche (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die werden im Gesetzentwurf doch ausgenommen, Herr Henke!) und an Menschen, die vor der Frage stehen: Wie gehen wir mit einer solchen Substanz um? Ich würde von verantwortlichen Politikern er-warten, dass sie sagen: Der Substanzorientie-rung, die in dieser Gesellschaft in der Tat fälschli-cherweise verbreitet ist – wir assoziieren mit ma-teriellen Dingen Glück –, müssen wir mannhaft und frauhaft entgegenstehen. Dazu müssen wir sagen: Weder das Nikotin noch der Alkohol noch das Cannabis noch andere illegale Drogen ma-chen glücklich. Wenn dieses Signal von der De-batte ausgehen würde, dann wäre das eine Bot-schaft an die Kinder und Jugendlichen in unserem Land. (Beifall bei der CDU/CSU) Insofern geht es hier eigentlich um die Frage: Wie bekommen wir Generalprävention möglichst gut hin? Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Kollege Henke, gestatten Sie zwei Zwi-schenfragen? Der Kollege Dr. Terpe und der Kol-lege Ströbele möchten diese stellen. Rudolf Henke (CDU/CSU): Bitte. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Henke, lieber Rudolf, ich weiß nicht, ob die Rede nach dem Satz, der jetzt kam, eine ganz andere Richtung nimmt. Ich möchte aber fragen, wo du unserem Gesetzentwurf entnommen hast, dass wir die glückseligmachende Bedeutung von Can-nabis in den Vordergrund stellen. Ich weiß nicht, woher du das nimmst. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das war auch eine Fehlinterpretation!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Nein. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich hoffe, dass die folgenden Ausführungen zeigen werden, dass der repressive Ansatz an den Problemen, die wir natürlich in der Gesellschaft mit Cannabis haben, überhaupt nichts geändert hat, sondern sie – im Gegenteil – sogar befördert hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Rudolf Henke (CDU/CSU): Diese Einschätzung teile ich nicht. Meine Über-zeugung ist, dass der repressive Ansatz, den wir verfolgen – auch das, was Sie, Herr Tempel, und Ihre Kollegen als Polizeibeamte in Thüringen ge-wissermaßen als fruchtlose Arbeit empfunden ha-ben –, nicht fruchtlos ist, sondern zur generalprä-ventiven Wirkung beiträgt, die dazu führt, dass laut der erwähnten Befragung eben nur 19 Prozent dafür sind, einen kontrollierten Zugang zu einem nichtmedizinischen Cannabiskonsum zu ermögli-chen. Ich glaube, wir müssen daran arbeiten, einen gesellschaftlichen Konsens aufrechtzuerhalten, dass auch Cannabis zu den Stoffen gehört, die man nicht nutzt, genauso wie ich einen solchen Konsens für das Nikotin will, und ich will ihn auch gegen übermäßigen Alkoholkonsum. Ich bin gern bereit, darüber zu diskutieren, auch mit jedem aus jeder grünen Fraktion in Deutschland: Was kön-nen wir zusätzlich tun, um den missbräuchlichen Alkoholkonsum einzuschränken? Und was können wir tun, um den Tabakkonsum noch mehr zurück-zudrängen? Aber das kann ich doch nicht mit Menschen tun, die gleichzeitig propagieren, dass man jetzt mit einem Kontrollgesetz den Leuten den Eindruck verschafft, als gäbe es einen quasi risi-kofreien Konsum von Cannabis. Das ist das Prob-lem. Was die Frage mit der Glückseligkeit betrifft, also ob die bei euch im Antrag steht: Es stimmt, Harald, sie steht da nicht. Sie stand aber bei der Frage im Raum, die der Kollege von der Linken gestellt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nun hat der Kollege Ströbele die Möglichkeit, seine Zwischenfrage zu stellen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Sind Sie mit mir als Nicht-User der Meinung, (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) dass man Drogen überhaupt nicht nehmen soll, dass man keine Drogen nehmen soll und dass man, wenn man schon Drogen zulassen will oder muss, diese nach ihrer Gefährlichkeit für die Ge-sellschaft behandeln sollte, und dass vor dem Hin-tergrund dieses Grundsatzes der Genuss von Al-kohol, und zwar nicht nur der übermäßige, son-dern überhaupt der Genuss von Alkohol, weil auch dieser dazu führen kann, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dass man vom Fahrrad fällt!) dass er übermäßig wird, sowie der Genuss von Zigaretten bzw. Tabak um ein Vielfaches gefährli-cher sind als der Genuss von Cannabis? Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass man als ein billig und gerecht denkender Mensch, der die Drogen nach ihrer Gefährlichkeit behan-delt, zu dem Ergebnis kommen muss, dass, wenn Alkohol und Zigaretten nicht verboten sind – ich bin auch in diesen Fällen gegen ein Verbot –, auch Cannabis schon aus Gründen der Gerechtigkeit gleichbehandelt werden muss, weil an Alkohol und Zigaretten jedes Jahr in Deutschland Zehntausen-de von Menschen sterben, am Genuss von Can-nabis kein einziger Mensch stirbt, (Widerspruch bei der CDU/CSU) und – ich möchte Cannabis nicht bagatellisieren; es ist gefährlich; ich rate auch allen davon ab, es zu nehmen – das Mittel des Strafrechts ein unge-rechtes Mittel im Gleichklang dieser Drogen ist? Deshalb bitte ich Sie: Schließen Sie sich mir an. Setzen Sie sich für ein Werbeverbot für Alko-hol ein. Setzen Sie sich dafür ein – das ist ein dringendes Gebot –, dass vom Konsum von Can-nabis, Alkohol und Zigaretten Abstand genommen wird. Setzen Sie sich aber auch für eine Gleichbe-handlung der Drogen ein und dafür, dass man Un-terschiede nur anhand des Grades der Gefährlich-keit machen darf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Rudolf Henke (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Ströbele, für diese Frage. – Nach meiner Einschätzung und ärztlichen Kennt-nis möchte ich zunächst einmal sagen: In der Tat gibt es in Deutschland jährlich 40 000 Alkoholtote und 100 000 Nikotin- bzw. Tabaktote. Deshalb ha-ben wir allen Grund dazu, die Bemühungen, die wir in Gang gebracht haben, mit dem Entwurf ei-nes Präventionsgesetzes so erfolgreich wie mög-lich voranzutreiben. Was nun die Behandlung auf gleicher Ebene und die genannte Konstruktion von Gerechtigkeit betrifft, so finde ich, dass dies einfach der histori-schen Ausgangslage nicht gerecht wird, denn die historische Situation ist so: Tabak, im Rückgang befindlich, hat eine hohe gesellschaftliche Akzep-tanz. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Can-nabis auch!) Das ist ein historischer Sachverhalt. Wir kämpfen dagegen. Wir setzen zum Beispiel Steuerpolitik ein, um den Tabakkonsum zu disincentivieren. Das ist eine kluge Maßnahme angesichts des ge-sellschaftlichen Kräfteverhältnisses beim Tabak. Beim Alkohol ist das Kräfteverhältnis noch ein-mal anders und komplizierter, weil es natürlich auch Daten zu einem in bestimmten Grenzen und in bestimmten Fällen gesundheitsverträglichen Al-koholkonsum gibt. (Zurufe der Abg. Ulle Schauws [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) – Die Daten sind halt so, dass er in bestimmten Fällen auch eine kreislaufprotektive Wirkung ent-falten kann. Insofern sind Sie in einer rechtlich viel komplexeren Situation. Jetzt zur Cannabisproblematik: Ich würde der großen Gesundheitsgefahr, die von Tabak und Al-kohol ausgeht – dem Argument, das Sie gebracht haben, stimme ich zu –, keine weitere Gesund-heitsgefahr addieren. Dies ist ja gerade der Wi-derspruch, den ich Ihnen vorwerfe und mit dem Sie in meiner Wahrnehmung ein Stück weit un-glaubwürdig werden. Ich bitte dafür herzlich um Verständnis. (Beifall bei der CDU/CSU) In Bezug auf die Gefahren möchte ich auf Fol-gendes aufmerksam machen: Ob Sie Cannabis rauchen oder Tabak rauchen, Sie kommen, was die Gefährdung der Atemwege und der Lunge an-geht, was das Provozieren von Bronchialerkran-kungen und von Lungenkrebs angeht, natürlich zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Hinzu kommen die psychischen und sozialen Risiken. Deswegen sa-ge ich: Es handelt sich nicht um ein vermeintlich harmloses Betäubungsmittel, sondern es ist eine Gefahr, die wir nicht unterschätzen sollten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die kognitive Leistungsfähigkeit von Dauerkon-sumenten kann stark beeinträchtigt werden. Die Aufmerksamkeit kann genauso leiden wie die Konzentration, das Kurzzeitgedächtnis und die Lernfähigkeit. Wahr ist – das gestehe ich auch zu –, dass die Frage nach Befunden, die körperliche Verände-rungen zeigen, nicht einheitlich beantwortet wer-den kann, aber es gibt, kernspintomografisch ge-führt, Belege dafür, dass der dauerhafte Einfluss von Cannabis im Bereich von -Hippocampus und Amygdala, also bestimmter Hirn-regionen, eine Volumenminderung zur Folge hat. Also platt ge-sagt: Sie kriegen Löcher im Hirn, wenn Sie Can-nabis dauerhaft in höherer Dosis konsumieren. Jedenfalls kommt es zu einer Volumenminderung in diesen Hirnarealen. Dass das einen nützlichen Effekt haben soll, das würde ich erst einmal be-streiten. Ich würde auch vermuten: Wenn es um Land-wirtschaftspolitik ginge, würden Sie wahrschein-lich jedem Landwirt, der anfängt, seine Hühner oder Hähnchen mit Hanf zu füttern, dies verbieten und fordern, dass sofort ein Verbot her muss. Auch das darf natürlich keineswegs erfolgen. Dem würde ich auch zustimmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich halte also fest: Aus meiner Sicht brauchen wir uns nicht für die generalpräventive Wirkung zu schämen, die durch den repressiven Umgang mit Cannabisbesitz, -anbau und -handel ausgelöst wird. Wir als Parlament haben allen Grund, Herr Tempel, Ihnen und Ihren Kollegen, die aufseiten der Polizei an der Aufrechterhaltung dieser Gene-ralprävention mitwirken, an dieser Stelle Danke zu sagen. Das ist keine vergebliche Arbeit. Wir haben allen Grund dazu, neben dieser re-pressiven Arbeit eine präventive Arbeit zu leisten, die die Auseinandersetzung über die psychischen Gefahren, die psychischen Defekte, die Abhän-gigkeitspotenziale und auch die körperlichen Schäden, die ausgelöst werden können, in den Mittelpunkt nimmt. Vizepräsident Johannes Singhammer: Kollege Henke, gestatten Sie wenige Sekunden vor Ablauf Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Tempel? Rudolf Henke (CDU/CSU): Bitte. Ja. Frank Tempel (DIE LINKE): Danke schön, dass Sie meine Frage noch zu-lassen. – Sie haben mehrfach auf eine general-präventive Wirkung des Verbots verwiesen. Ich würde gerne wissen, woher Sie die Annahme ha-ben, dass das Verbot eine generalpräventive Wir-kung hat. Ich verweise auf die Zahlen der Europä-ischen Beobachtungsstelle für Drogen und Dro-gensucht in Lissabon – das sind Zahlen von 2011 –: Die Lebenszeitprävalenz von Cannabiskonsum ist in Holland fast auf das Zehntel genau so hoch wie in Deutschland. In Holland wird aber der Can-nabiserwerb in Coffeeshops toleriert; er ist nicht legal, wird aber toleriert. Dort droht keine Strafan-zeige. In keinem Land, das von dem Cannabisver-bot abgerückt ist, ist die Zahl der Konsumenten gestiegen. Das beobachten wir langfristig in Por-tugal, das beobachten wir kurzfristig in amerikani-schen Bundesstaaten, selbst in der Schweiz und in anderen Ländern. Überall dort, wo man das Mit-tel der Strafverfolgung abmildert, wo die Gefahr einer Strafanzeige abnimmt, steigt die Zahl der Konsumenten nicht an. Sie reden hier aber trotzdem von einer general-präventiven Wirkung. Sie reden auch von einem Signal, das von einer Legalisierung ausgehen würde. Sie wissen aber schon, dass ein Verbot immer ein Eingriff in Grundrechte der Bürger ist, manchmal legitim, manchmal nicht legitim. Auf al-le Fälle gibt es dafür einen verfassungsmäßigen Grundsatz, nämlich den der Verhältnismäßigkeit. Es geht also nicht darum, dass von der Abschaf-fung eines Verbotes ein Signal ausgehen könnte. Vielmehr geht es darum, dass ein Verbot funktio-nieren muss: geeignet, erforderlich und angemes-sen. Die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren – über 120 in Deutschland – hat festgestellt, dass genau diese Verhältnismäßigkeit in allen drei Punkten – geeignet, erforderlich, angemessen – nicht ge-währleistet ist. Deshalb haben sie sich mit einer Resolution an den Deutschen Bundestag ge-wandt. Übrigens, nur sieben Straf-rechtsprofessoren haben deutlich geäußert, dass sie sich dieser Resolution nicht anschließen wol-len; die anderen haben sich einfach nicht beteiligt. Aber mehr als die Hälfte aller Strafrechtsprofesso-ren in Deutschland hat aktiv gesagt, dass die ver-fassungsgemäße Verhältnismäßigkeit dieses Ver-bots nicht gegeben ist; es ist weder geeignet noch erforderlich oder angemessen. Sie reden trotzdem von einer generalpräven-tiven Wirkung. Haben Sie dazu entsprechende Zahlen? Wie ist das belegt? Sagen Sie das hier einfach aus Ihrem Bauchgefühl heraus, oder gibt es da belegbare Zahlen? Diese würde ich mir na-türlich ganz gerne ansehen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rudolf Henke (CDU/CSU): Vielen Dank für die Frage. – Zunächst einmal, Herr Kollege, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Akzeptanz von Nikotin und von Alkohol – beide sind erlaubt – natürlich viel verbreiteter ist als die von Cannabis. (Frank Tempel [DIE LINKE]: Es geht hier um Cannabis!) Durch die Tatsache, dass wir es mit einer Sub-stanz zu tun haben, deren Besitz, Handel und Her-stellung bzw. Anbau strafbar ist, haben Sie jeden-falls schon einmal eine andere Relation in der Wahrnehmung dieses Risikos als bei anderen Suchtstoffen, jedenfalls bei den von den Grünen beklagten. Ich finde es jedenfalls hoch wider-sprüchlich, zu sagen: Der Beleg dafür, dass es keine generalpräventive Wirkung des Verbotes gibt, liegt darin, dass der Konsum niedriger als bei anderen Suchtstoffen ist. Deswegen glaube ich, dass man schon davon ausgehen kann, dass die-se Wirkung existiert. Sie fragen zu Recht nach der Verhältnismäßig-keit. Wenn Sie die Verhältnismäßigkeit betrachten – das würde ja im Zweifel verfassungsrechtlich geprüft werden müssen –, kann man feststellen, dass wir wissenschaftliche Befunde in Hülle und Fülle haben, die die diagnostizierte Substanzab-hängigkeit für Cannabiskonsumenten nachweisen. Rund 20 Prozent der regelmäßig konsumierenden Personen erfüllen die Kriterien eines schädlichen Gebrauchs nach F 10.1 der internationalen Diag-nosen-Klassifikation. Bei 10 Prozent dieser Per-sonen sehen wir eine Abhängigkeit. Nach den Da-ten von Petersen und Thomasius aus 2007 finden wir bei etwa zwei von drei Cannabisabhängigen eine körperliche Abhängigkeitssymptomatik mit und ohne Toleranzbildung. Zudem sehen wir, dass die Entwicklung einer Psychose durch Can-nabiskonsum um das Zwei- bis Dreifache wahr-scheinlicher wird als in der Normalbevölkerung. Je jünger die Konsumenten sind, umso größer ist das Risiko. Ich glaube, man würde sich mit solchen Argu-menten – im Gesetzentwurf der Grünen werden diese übrigens in einer, ich sage mal, homöopa-thischen Dosis angesprochen – dann im Zusam-menhang mit der Frage der Verhältnismäßigkeit auseinandersetzen müssen. Wenn es diese Frage der Verhältnismäßigkeit gar nicht gäbe, dann wür-den die Grünen ja auch nicht schreiben, dass man verhindern muss, dass Kinder und Jugendliche an diese Stoffe herankommen. Das ist natürlich auch ihr Ziel. Insofern haben wir an dieser Stelle mög-licherweise eine politische Kontroverse über die Bewertung der Verhältnismäßigkeit. Meine Prog-nose ist, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber an dieser Stelle eine große Ein-schätzungsprärogative zubilligen würde, sodass wir das dann zu beurteilen hätten. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, welche Einschätzung wir da ha-ben. Ich will mit dem Hinweis darauf schließen – das ist wichtig, damit es niemand missversteht –, dass die Bundesregierung bekräftigt hat, schwer chronisch erkrankten Patientinnen und Patienten den Zugang zu Cannabisarzneimitteln erleichtern zu wollen, hierzu die betäubungsmittelrechtliche Verkehrs- und Verschreibungsfähigkeit zu erwei-tern und Regelungen über einen Erstattungsan-spruch in der gesetzlichen Krankenkasse zu schaffen. Das heißt, dass ein legaler Gebrauch von THC-reichem Cannabis nur für medizinische Zwecke und nur im Rahmen einer ärztlichen The-rapie vertretbar wäre. Das ist eine Position, die wir als Union nicht beanstanden, nicht kritisieren, sondern stützen. Insofern, glaube ich, werden wir an dieser Stelle eine Veränderung erleben. Aber wir werden keine Veränderung in dem Sinne Ihres Gesetzentwurfs erleben. Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin zu diesem Tagesord-nungspunkt ist die Kollegin Bettina Müller, SPD. (Beifall bei der SPD) Bettina Müller (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über den Umgang mit Drogenhandel und Drogenkonsum wird schon seit Jahrzehnten sehr ideologisch und auch sehr emotional diskutiert. Inzwischen sind diese Debatten schon an vielen Punkten von den gesellschaftlichen Realitäten überholt worden, insbesondere was den Can-nabiskonsum anbelangt. Entwicklungen wie die Freigabe in Teilen der USA, die Situation in den li-beralen Niederlanden, aktuelle Pläne zur Eröff-nung von Coffeeshops in Berlin oder die Forde-rung nach Cannabis für Schmerzpatienten zwin-gen uns als Gesetzgeber, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist überfällig, die geltenden rechtlichen Normen an die gesellschaftliche Realität anzupassen. Der von den Grünen vorgelegte Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes greift eine Vielzahl von Aspekten auf, bei denen auch die SPD Hand-lungsbedarf sieht, insbesondere im Bereich der repressiven Kontrollpolitik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns al-le einig, dass gerade Jugendliche durch den re-gelmäßigen Konsum von Cannabis Schaden neh-men. Aber wir haben es durch die Mittel des Straf-rechts und andere rechtliche Sanktionen nicht ge-schafft, den Konsum einzudämmen und den Han-del in den Griff zu bekommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Konsumenten werden weiterhin kriminalisiert und stigmatisiert. Sie weigern sich daher auch, of-fen zu sprechen und Hilfe anzunehmen. Wer wür-de gegenüber Eltern und Lehrern schon zugeben, dass er Cannabis konsumiert, wenn permanent das Damoklesschwert des Strafrechts über ihm schwebt? Wir erreichen die jungen Leute mit dem generalpräventiven Ansatz auch deshalb nicht mehr, weil die Sanktionen zum Teil grotesk über-zogen sind. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Nehmen Sie zum Beispiel das Straßenverkehrs-recht. Für Cannabis im Straßenverkehr gibt es keinen Grenzwert, wie wir ihn beim Konsum von Alkohol kennen. Der Stand der Wissenschaft ist hier aber längst so weit, dass eine genaue Be-stimmung der Fahruntüchtigkeit unter THC-Einfluss möglich ist. Deshalb ist es unhaltbar, wenn von einem positiven THC-Befund ausge-gangen wird – der auch noch Tage nach dem Konsum vorhanden ist – und dann pauschal auf die Fahruntüchtigkeit geschlossen wird. (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ge-nau! Das müssen wir ändern!) Dann ist es im Grunde völlig egal, ob jemand tat-sächlich akut bekifft Auto fährt oder seit Tagen nichts geraucht hat: Der THC-Wert ist positiv, und somit wird bestraft. Das hat mit strafrechtlicher Prävention nichts mehr zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) Noch unsinniger ist es, dass allein das Mitfüh-ren von Cannabis – egal in welcher Lebenslage, auch unabhängig vom Straßenverkehr – zu einer Strafanzeige führt und der Betroffene auch noch bei der Führerscheinbehörde gemeldet wird. Das führt in der Konsequenz nicht selten dazu, dass der Führerschein entzogen wird. Ist der Führer-schein für Mofa oder Auto weg, muss durch eine teure MPU nachgewiesen werden, dass sich der Konsument in der Zukunft rechtstreu verhalten wird. Der Führerscheinentzug führt nicht selten zum Verlust von Job oder Ausbildungsplatz; das ist insbesondere für Jugendliche im ländlichen Raum ein großes Problem. Ich komme aus dem ländlichen Raum und kenne einige Fälle, in denen das passiert ist. Das sind die sozialen Konse-quenzen, die diese Politik auch mit sich bringt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Rechtslage, die wir jetzt haben, führt zu ei-ner Art Sanktions-Flatrate; so will ich das einmal nennen. Es ist kein Wunder, dass die Konsumen-ten mit so etwas wie Flatrate-Rauchen reagieren; denn es ist ja egal. Wenn man raucht – egal wann und wie –, droht Strafe. Man darf sich halt nur nicht erwischen lassen. Das ist die Konsequenz, die die Jugendlichen daraus ziehen. Das hat mit der strafrechtlichen Prävention, wie gesagt, nichts mehr zu tun. Daher sind die im Gesetzentwurf der Grünen enthaltenen Vorschläge im Hinblick auf Änderungen im Straßenverkehrsgesetz und in der Fahrerlaubnis-Verordnung aus meiner Sicht durchaus sachgerecht. Wenn ich mir aber zum Beispiel die im Gesetz-entwurf vorgesehene aufwendige Regulierung der gesamten Handelskette anschaue – vom Anbau über den Großhandel bis zum Einzelhandel –, dann habe ich doch Zweifel an der Realisierbar-keit. Denn wichtige Aspekte wie die Überwachung und Erteilung von Genehmigungen sowie die Kon-trolle der Vorschriften werden nur in Abstimmung mit den verschiedenen Ebenen – mit Bund, Län-dern, Kreisen und Kommunen – sinnvoll umge-setzt werden können. Ein kontrollierter Cannabismarkt muss auch funktionieren. Für die Kontrolle müssen die zu-ständigen Stellen finanziell und personell gut aus-gestattet sein. Es muss vermieden werden, dass die Behörden vor Ort von diesen Aufgaben entwe-der überfordert sind oder gar über das Ziel hin-ausschießen und Cannabiskonsumenten – statt wie bisher mit den Mitteln des Strafrechts – künf-tig beispielsweise mit den Mitteln des Gewerbe-rechts mit großem Aufwand und in unverhältnis-mäßiger Weise verfolgen. An dieser Stelle ist in dem Gesetzentwurf noch einiges unausgegoren, noch nicht zu Ende ge-dacht; dazu gehört auch die vorgeschlagene Can-nabissteuer, gegen die als solche – mit Blick auf Alkohol- und Tabaksteuer – systemisch nichts zu sagen ist. Aber würde das dadurch eingenomme-ne Geld für die Finanzierung dieses riesigen Auf-klärungs- und Kontrollapparates, der insbesondere bei uns in Deutschland dann ja nötig wäre, ausrei-chen? (Zuruf des Abg. Frank Tempel [DIE LIN-KE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns der Frage einer grundsätzlichen Neuausrich-tung im Umgang mit Cannabiskonsumenten stel-len. Der Entwurf der Grünen ist ein Einstieg. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetz-entwurfs auf Drucksache 18/4204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Dazu sehe ich keine anderweitigen Vorschläge; deshalb gehe ich von Ihrem Einver-ständnis aus. Dann ist die Überweisung so be-schlossen. Ich rufe jetzt den letzten Tagesordnungspunkt am heutigen Tag auf: 20. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cor-nelia Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit für Frauen und Männer durchsetzen Drucksache 18/4321 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch sehe ich keinen. Dann ist auch das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) Cornelia Möhring (DIE LINKE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Heute finden mehr als 1 000 Aktionen im ganzen Land statt wie eben am Bran-denburger Tor: Weil heute der Equal Pay Day ist. Vielleicht sagt er nicht allen, die die Debatte ver-folgen, etwas. Ich will deswegen kurz sagen, was er eigentlich bedeutet: Der Equal Pay Day mar-kiert den Tag, bis zu dem Frauen über den Jah-reswechsel hinaus arbeiten müssen, um rechne-risch auf das gleiche Jahresgehalt wie männliche Beschäftigte zu kommen. Das sind auch in die-sem Jahr wieder 79 Tage zu viel. Ich finde das völlig inakzeptabel. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge-ordneten der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Um es mal anders zu zeigen: Bei jedem Euro Lohn fehlt Frauen eigentlich eine ganz schöne Ecke. Dass es diese Lohnungerechtigkeit gibt, ist mittlerweile unstrittig, jedenfalls bei den meisten, auch hier im Haus. Was die Ursachen sind und auf welchem Wege mehr Gerechtigkeit erreicht werden kann, daran scheiden sich die Geister. Dabei geht es nicht um Klecker-beträge, sondern um reichlich Geld: 7,9 Prozent beträgt der Lohnun-terschied bei gleicher Tätigkeit mit völlig ver-gleichbaren Qualifikationen. 22 Prozent beträgt die Lohnlücke, wenn die Gehälter über alle Branchen und Berufe verglichen werden. Im Finanz- und Versicherungsbereich erhalten Frauen sogar 30 Prozent weniger Lohn. Im Gesundheits- und Sozialwesen sind es immerhin auch 25 Prozent; auch das liegt über dem Durchschnitt. Die Ursachen – da stimmen Studien und Ver-bände auch überein – liegen in Folgendem: in der Abwertung bzw. schlechteren Bewertung typisch weiblicher Berufe, in Erwerbsunterbrechungen zum Beispiel wegen Schwangerschaften – das trifft bei dem jetzigen Stand der menschlichen Entwicklung auch nur auf Frauen zu –, und in der zunehmenden Teilzeitbeschäftigung von Frauen und der Minijobfalle. Ich erinnere: Beides ist nicht immer freiwillig. – Oder Frauen erhalten einfach weniger, weil sie Frauen sind; zu so einem Bei-spiel komme ich später noch. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die öf-fentliche Debatte im Vorfeld des Equal Pay Day hat uns wieder einen Einblick in die unglückliche Ehe der GroKo geliefert: Kaum hat Ministerin Schwesig eine bessere Transparenz gefordert, geht das Geheule – zumindest bei einigen CDU-Männern – los. Ich glaube wirklich, in Gleichstel-lungsfragen ist diese Ehe auch nicht mehr zu ret-ten und führt vielleicht eher zur Ankurbelung der Papiertaschentücherproduktion. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ha, der war gut!) Nun halte ich auch die angekündigte Transpa-renzinitiative für nicht ausreichend; deshalb auch der hier vorliegende Antrag der Linken, der vor al-lem auf die Durchsetzung von Entgeltgleichheit zielt. Es ist sicherlich hilfreich, wenn eine Frau in Gehaltsverhandlungen über das Gehalts-gefüge Bescheid weiß. Allerdings kommen gar nicht so viele Frauen überhaupt erst in die Situati-on, über ihr Gehalt zu verhandeln. Die Information über ungleiche Bezahlung ist aber hilfreich und notwendig, vor allem dann, wenn die einzelne Frau nicht alleine dagegen vorgehen muss, sondern wenn die betriebliche Interessenvertretung und auch Verbände und Gewerkschaften etwas durch-setzen können. Es muss jetzt Schluss sein mit der Vereinzelung. Ich finde, wir brauchen endlich das Recht der Verbände, zu klagen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, wir brauchen auch Transparenz darüber, wie die sogenannten Entgeltstrukturen aussehen. Jüngst ging ein Fall durch die Presse, der deutlich macht, wie wichtig dieses Wissen ist. Mit Ihrer Er-laubnis, Herr Präsident, zitiere ich jetzt auszugs-weise aus einem Artikel zum von mir bereits an-gedeuteten Beispiel: Sie – die Mitarbeiterin eines bekannten Schuhherstel-lers – hatte geklagt, nachdem sie auf einer Be-triebsversammlung im Herbst 2012 von der schlechteren Bezahlung für Mitarbeiterinnen erfahren hatte … Immerhin ging es um einen Bruttostundenlohn, der um über 1 Euro geringer war. – Weiter heißt es dort: Auch bei Sonderzahlungen hatten Frauen das Nachsehen: Da Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie eine Anwesenheitsprämie an den Stun-denlohn gekoppelt waren, fielen die Beträge für Mitarbeiterinnen entsprechend niedriger aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Gericht war unstrittig, dass der geringere Lohn nur mit dem Geschlecht der Frau zusammenhing. Der Klägerin wurden die Nachzahlung und eine Ent-schädigung zugesprochen. Mittlerweile sind 103 weitere Verfahren gegen dieses Unternehmen auf dem Weg; und das ist auch gut so. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge-ordneten der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Dieses Beispiel zeigt Verschiedenes: Erstens. Transparenz ist wichtig und kann übri-gens auch durch die Einsicht von Betriebsräten in Lohn- und Gehaltslisten erreicht werden. Zweitens. Damit nicht jede einzelne Frau in komplizierten und langwierigen Gerichtsverfahren klagen muss, müssen die Mitbestimmungsrechte ausgebaut und das Verbandsklagerecht eingeführt werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge-ordneten der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN) Drittens. Solche Vergütungsstrukturen dürfen gar nicht erst entstehen und angewendet werden. Aus diesem Grund sollten alle Betriebe und die Tarifpartner verpflichtet werden, die Vergütungs-strukturen diskriminierungsfrei und gerecht zu ge-stalten. Ich will Ihnen dazu noch ein Beispiel anführen: Nach den neuesten Zahlen haben Frauen, die in Betrieben mit Tarifbindung arbeiten, einen deutli-chen Gehaltsvorteil. Frauen, die in Betrieben des Einzelhandels arbeiten, in denen es einen Tarif-vertrag gibt, erhalten 17,3 Prozent mehr Lohn als diejenigen, die in Betrieben ohne Tarifvertrag ar-beiten. Wir sehen also, dass die Organisation in der Gewerkschaft und natürlich auch der Ab-schluss von Tarifvereinbarungen außerordentlich wichtig sind. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Für mehr Lohngerechtigkeit brauchen wir aber auch eine Aufwertung der Tätigkeiten im Sorgebe-reich und eine Umverteilung von Arbeit und Zeit. Das ist aber leider noch ein längerer Weg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können das alles jetzt schon mit uns auf den Weg bringen, wenn der Antrag der Linken in das angekündigte Gesetz zur Entgeltgleichheit eingeht. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Ur-sula Groden-Kranich. (Beifall bei der CDU/CSU) Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Vor ziemlich genau zwei Wochen durfte ich hier zu Ihnen spre-chen. Es ging um die Beschäftigungssituation von Frauen. Schon in dieser Debatte fiel mehr als einmal der Begriff „Entgelt-ungleichheit“. In der letzten Woche konnte ich mit einer Delegation des Familienausschusses die 59. UN-Women-Konferenz in New York besuchen. Auch dort war das Thema Equal Pay in aller Munde. Der Unterschied zwischen den Gehältern von Männern und Frauen ist ein weltweites Phänomen, und es tun sich auch die Länder schwer, die wir sonst zu Recht als Vorbilder in Sachen Ge-schlechtergerechtigkeit betrachten. In Schweden liegt der Gender Pay Gap aktuell zum Beispiel bei 16 Prozent und bereinigt bei 6 Prozent. Auch dort bekommt man diesen unerklärten Rest nicht so einfach in den Griff. Wir wissen, dass ein Teil der Lohnlücke auf die Berufswahl von Frauen und auf deren häufige Teilzeittätigkeit zurückzuführen ist. Die Linke spricht in ihrem -Antrag von einer mittelbaren Form der Geschlechterdiskriminierung. Hier soll-ten wir aber doch etwas genauer hinsehen und Frauen nicht pauschal als Opfer ihrer Teilzeittä-tigkeit oder Berufswahl betrachten. Grundsätzlich sollten wir Männer und Frauen eine echte Wahl-freiheit in ihrem Berufs- wie im Familienleben zu-gestehen und auch zutrauen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das gibt es doch nicht!) Doch egal ob wir von bereinigter oder unberei-nigter Lohnlücke, von mittelbarer oder direkter Diskriminierung reden: Es bleibt in jedem Fall ein hässlicher Rest an Ungleichheit, den wir so nicht akzeptieren dürfen. Darum ist Equal Pay nicht nur bei der Oscar-Verleihung, sondern auch in unse-rem Koalitionsvertrag ein wichtiges Thema, dem wir uns nun gemeinsam widmen. Daher hätte es Ihres Antrags gar nicht bedurft; denn Sie wissen, dass die Koalition bereits daran arbeitet. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist absolut richtig, dass wir konkrete Maß-nahmen ergreifen und über Selbstverpflichtungen von Unternehmen hinausgehen. Hier sind jedoch alle Beteiligten gefragt, nicht nur der Gesetzgeber und nicht nur die Arbeitgeber. Auch die Tarifpart-ner müssen hier massiv nacharbeiten. Die Ge-werkschaften, die gerade eben zusammen mit vie-len anderen am Brandenburger Tor für Equal Pay demonstriert haben, haben in den letzten 20 Jahren mit Sicherheit nicht alles Mögliche oder Nötige getan, um Diskriminierung zu überwinden, geschweige denn Frauenberufe aufzuwerten. Al-lerdings stellt sich mir die Frage: Was sind denn Frauenberufe? Die einzigen Aufgaben, die Männer nicht genauso gut erledigen könnten, sind Kinder zu gebären und diese zu stillen. Ansonsten dürfen sich auch Männer engagieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einmal darüber nachdenken, warum das so ist!) Richtig ist auch, dass wir Entgeltungleichheit nur überwinden können, wenn wir nicht nur Symp-tome, sondern auch die Ursachen bekämpfen. In Rheinland-Pfalz werden beispielsweise Lehrkräfte nach zwei verschiedenen Tarifen eingestellt – dies betrifft leider auch und insbesondere Frauen –: Angestellte Lehrerinnen und Lehrer werden deut-lich schlechter bezahlt als verbeamtete Lehrerin-nen und Lehrer. Diese ungleiche Behandlung ließe sich leicht vermeiden, ohne dass wir dazu ein neues Gesetz bräuchten. Auch mehr Transparenz bei den Lohnstrukturen ist sicherlich ein guter Schritt, darf aber nicht in Gleichmacherei oder fehlenden Anreizsystemen enden. Transparenz alleine löst das Problem nicht. Das haben die Erfahrungen, beispielsweise in Österreich, gezeigt. Wichtig wäre zudem, gerade weil das Problem so komplex ist und viele Lösungsansätze benötigt, dass bereits vorhandene Instrumente genutzt werden und das Rad nicht immer wieder neu er-funden wird. Die damaligen CDU-Familienministerinnen hatten zum Beispiel bereits im Jahr 2009 das Bewertungsverfahren Logib-D eingeführt. Dies steht für „Lohngleichheit im Be-trieb – Deutschland“ und ist eine Anwendung, mit der Unternehmen freiwillig, kostenlos und anonym ihre Entgeltstrukturen unter Geschlechterge-sichtspunkten analysieren können. (Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Freiwillig!) Dieses Angebot findet sich auch heute noch auf der Website des Familienministeriums. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Su-per!) Da all das aber offensichtlich nicht ausreicht, ist das Projekt Entgeltgleichheit in der Tat eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Unsere Töchter müssen in Kita, Schule und Familie von klein auf zu beruflicher und -finanzieller Selbstständigkeit erzogen werden. Junge Frauen müssen schon bei der Berufsorientierung und vor den Familienpau-sen über alle Konsequenzen bis hin zur Rente um-fassend informiert werden. Und vor allem: Männer müssen mit ins Boot. Das ElterngeldPlus war ein erster Schritt in die richtige Richtung; denn längere Erziehungsauszei-ten von Männern führen automatisch zum Abbau der Lohnungleichheit, ganz zu schweigen von den positiven Nebeneffekten: mehr Anerkennung für bisher typisch frauenorientierte Familienarbeit, mehr Verständnis und Flexibilität von Arbeitgebern und Kollegen, eine immense Stärkung des Vater-Kind-Verhältnisses und natürlich die unschätzbare Vorbildfunktion für nachfolgende Generationen von Vätern, Söhnen und Töchtern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Ab-geordneten der SPD) Auch die Aufwertung dieser Familienarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Es genügt nicht, immer nur nach einer besseren Ausstattung der Sozialkassen zu rufen. Wir alle müssen diese Kosten ein Stück weit mittragen und uns fragen, was wir selbst bereit sind für mehr Qualität in Pflege und Erziehung zu zahlen. Wenn wir Frauen für eine Vollzeittätigkeit mehr externe Kinderbetreuung wünschen, müssen wir auch bereit sein, einen Teil unseres Gehaltes in ebendiese Kinderbetreuung zu investieren, vor al-lem diejenigen, die das auch könnten. Alles ande-re ist verlogen und trägt für die Erzieherinnen ganz sicher nicht zu einer Aufwertung ihrer Arbeit bei. Wir brauchen also einen Dreiklang von Lö-sungs-ansätzen. Wenn wir erstens schlechtbe-zahlte Familien-arbeit aufwerten, zweitens für mehr weibliche Teilhabe am Berufsleben sorgen und drittens die partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit fördern, dann bewirken wir damit automatisch mehr Entgeltgleichheit. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Petra Crone [SPD]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws für Bündnis 90/Die Grünen. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Die Schauspielerin Patricia Arquette, die diesjährige Oscarpreisträge-rin für die beste Nebenrolle, nutzte ihre Dankesre-de in Los Angeles – Sie haben sie vielleicht im Fernsehen verfolgt – für einen flammenden Aufruf zur Gleichberechtigung und Lohngleichheit von Frauen in den USA. Ich erwähne das, weil diese Schauspielerin und die Frauen hier eines gemein-sam haben: die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, und zwar unabhängig vom Ge-schlecht. Darum geht es am heutigen Equal Pay Day. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Lohngleichheit sollte bei uns laut Gleichbehand-lungsgebot im Grundgesetz eine Selbstverständ-lichkeit sein. Das ist sie aber nicht. Der Gender Pay Gap zwischen Frauen und Männern liegt seit zwei Dekaden wie einbetoniert bei 22 Prozent. Frauen arbeiten, umgerechnet auf das Arbeitsjahr, bis zum 20. März ohne Lohn. Damit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in Europa. Selbst wenn man berücksichtigt, dass Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten, Erwerbsunterbre-chungen wegen einer Babypause haben oder sel-tener in den Hochlohnbranchen der Industrie tätig sind, so verdienen Frauen auf den gleichen Positi-onen wie Männer durchschnittlich immer noch rund 7 Prozent weniger. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Skandal. Damit wollen Frau-en sich nicht länger abfinden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Hinzu kommt, dass Frauen die Konsequenzen der Unterbezahlung ein Leben lang tragen. Sie haben nicht nur heute weniger im Portemonnaie; sie bekommen letzten Endes auch weniger Rente, weil sie weniger eingezahlt haben. Aus dem Gen-der Pay Gap von 22 Prozent wird so ein Gender Pension Gap von 40 Prozent. Die Tendenz ist steigend. Das bedeutet am Ende für viele Frauen die Altersarmut. Das kann nicht so weitergehen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, brau-chen wir dringend ein Gesetz, um den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Ar-beit“ umzusetzen. Denn nur das ist gerecht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Meine Fraktion hat bereits zum Equal Pay Day 2014 einen entsprechenden Antrag in den Bundes-tag eingebracht, und ich freue mich, dass die Fraktion Die Linke nun einen weiteren guten An-trag vorgelegt hat. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Lohnungleich-heit entsteht einerseits durch mittelbare Diskrimi-nierung. Das heißt, in den klassischen Industrie-berufen mit mehr männlichen Arbeitnehmern lie-gen die Gehälter weit über denen der Dienstleis-tungs- und Sozialberufe, in denen viel mehr Frau-en arbeiten. Es kann doch nicht sein, dass bei-spielsweise ein Müllmann einen relativ hohen Lohn erhält, weil er schwere Lasten trägt, aber das gleiche Argument für eine Altenpflegerin, die ebenso schwer heben muss, nicht gilt. Das geht nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Deshalb fordern wir eine gerechte Bewertung von Arbeit durch allgemeingültige geschlechtsneutrale Kriterien und eine gesellschaftliche Aufwertung von Berufen mit hohem Frauenanteil. Lohndiskriminierung entsteht andererseits durch unmittelbare Diskriminierung. Frauen erhal-ten bei gleicher Qualifikation und gleicher Berufs-erfahrung weniger Geld. Frau Ministerin Schwesig, Sie wollen nun ein Entgeltgleichheitsgesetz auf den Weg bringen. Das begrüße ich natürlich. Ich wünsche Ihnen gu-te Gespräche mit dem Kollegen Kauder. Er hat nämlich als bekennender Gleichstellungsbremser in der Großen Koalition direkt die Parole ausgege-ben: „In diesem Jahr wird das nichts mehr.“ Wir wollen keine Bremsmanöver. Wir erwarten von Ihnen gemeinsam ein wirkungsvolles und fai-res Gesetz für Frauen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD) Dabei zeichnet sich ab, dass Sie zu kurz springen. Ihre angekündigte Transparenzoffensive bei den Gehältern kann nur ein erster Schritt sein. Wir brauchen ein Entgeltgleichheitsgesetz, das diesen Namen auch verdient. Wir brauchen ver-bindliche Regelungen. Entgeltregelungen müssen mit einem Arbeitsbewertungssystem überprüft werden, und zwar anhand von Kriterien, die für alle gleich sind. Diskriminierungen müssen in-nerhalb einer bestimmten Frist beseitigt werden. Da finde ich es völlig absurd, wenn Unternehmen schon jetzt bei den Transparenzvorschlägen der Bundesregierung Unfrieden im Unternehmen be-fürchten. (Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist der Hammer!) Unfrieden entsteht doch dort, wo tatsächlich unfair bezahlt wird, und nicht dadurch, dass das sichtbar wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich sage Ihnen: Wer diese Firmenpolitik zuun-gunsten von Frauen fortsetzen will, verspielt Ver-trauen und Ansehen. Noch eines: Was die Kollegin Kristina Schröder über den Pay Gap denkt, lesen Sie besser selber auf Twitter nach. Dafür ist mir meine Redezeit zu schade. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Wir wollen auch ein Verbandsklagerecht. Wir wollen Frauen stärken, damit sie bei Klagen um gleichen Lohn nicht mehr alleine mit dem finanziel-len Risiko und der Furcht um ihren Arbeitsplatz dastehen; denn Entgeltdiskriminierung ist ein ge-sellschaftliches und kein indivi-duelles Problem der Frauen. Wer das bestreitet, schiebt die Ver-antwortung von sich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, Sie sind politisch gefordert, effiziente Lösungen für alle Facetten der Lohnlücke auf den Weg zu bringen. Nur so kann der Gender Pay Gap endlich geschlossen werden. Frauen verdienen das. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Als nächste Rednerin erhält das Wort für die SPD die Kollegin Petra Crone. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Petra Crone (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Einige von uns ha-ben noch ein bisschen rote Wangen, weil sie eben von der Kundgebung zum Equal Pay Day am Brandenburger Tor zurückgekommen sind. Nun können wir durch diese Debatte ein Stück weit diese Stimmung in den Plenarsaal tragen; das fin-de ich gut. Aber ich frage mich manchmal: Haben wir jetzt rote Wangen von der schönen Sonne oder auch aus Scham, weil Deutschland noch immer an der traurigen viertletzten Stelle beim Gender Pay Gap dümpelt, (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Streng-mann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) oder haben wir rote Wangen aus Wut? Denn wie oft haben wir gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit für Männer und Frauen gefor-dert, nicht nur auf der Straße, sondern auch hier im Plenarsaal? (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Seit Jahren diskutieren wir darüber, nicht so sehr darüber, wohin wir wollen, sondern eher dar-über, welcher Weg der richtige ist. Ich glaube ge-nau wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dass Selbstverpflichtungen nichts bringen. Wir brauchen ein Gesetz, und das ist auf dem Weg. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in der letzten Legislaturperiode schon eine gute Grund-lage erarbeitet. Die Zeit ist reif für soziale Gerech-tigkeit, für ein faires Verhältnis zwischen Männern und Frauen auch auf dem Arbeitsmarkt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der LINKEN) Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, haben es im Koalitionsvertrag verabredet und ver-sprochen: Wir wollen ein Mehr an Lohngerechtig-keit herstellen und dauerhaft sichern. Es ist höchste Zeit dafür, für uns Frauen in unserem Land und auch für die Männer. Denn welcher Mann wünscht sich für seine Frau oder Partnerin, welcher Vater für seine Tochter einen geringeren Lohn, als sie verdient? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU und der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]) Ohne Vorgaben geht es nicht. Wir brauchen end-lich eine verbindliche gesetzliche Regelung, auf die sich Frauen berufen können, wenn sie von Lohndiskriminierung betroffen sind. Die Zeit titelt provokant in ihrer aktuellen Aus-gabe: „Ist Genie männlich?“. Sicherlich nicht! (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Es kann ja sein, dass die meisten Frauen nicht von einer Karriere in der Neurowissenschaft träu-men, sondern lieber in der Pflege oder in einem Erziehungsberuf arbeiten. Sollte das wirklich un-ser Problem sein? Ist ein repariertes Auto wertvol-ler als ein gut betreutes Kitakind? Gerade die so-genannten weiblichen Berufe zeichnen sich doch oft durch eine ganz besondere Verantwortung am Menschen aus. Diejenigen, die in solchen Berufen arbeiten, haben allerdings viel mehr Hochachtung und Wertschätzung verdient. (Beifall im ganzen Hause) Und wie zeigt sich das handfester als durch höhe-re Löhne? Hier ist die Politik gefragt; hier können wir handeln. Mir ist es ein ganz persönliches An-liegen, die Reform der Pflegeberufe auf den Weg zu bringen; denn gerade in der Altenpflege sind es vor allem Frauen, die erfahrungsgemäß in die Teilzeitfalle geraten, Schichtdienste übernehmen, dabei auch seelischen Belastungen ausgesetzt sind und im Alter keine ausreichende finanzielle Sicherung haben. Es ist also nicht nur eine Be-rufsgruppe, die deutlich aufgewertet werden muss. Das Gleiche gilt natürlich auch für Erziehe-rinnen und Erzieher und viele andere mehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neulich sah ich einen Comic – ich glaube, es war in der New York Times –: zwei Kinder im Sandkasten, ein Junge und ein Mädchen. Beide hatten eine völlig identi-sche, wunderschöne Sandburg gebaut. Zwei Hän-de reichten ihnen Eistüten. Der Junge bekam eine Eistüte mit drei Kugeln, und das Mädchen bekam eine Eistüte mit – raten Sie einmal – einer einzi-gen Kugel. – Das ist ein ganz eindrucksvolles Bild, das zeigt, dass auch bei gleicher Qualifikati-on und gleichwertiger Arbeit der Lohnunterschied noch da ist. Ich frage Sie: Ist es gerecht, dass Kinder und Familie vor allem für Frauen zum Karriereknick werden, während Männer ihr Berufsleben unge-rührt fortsetzen? Ist es gerecht, dass Kinder nach wie vor das größte Armutsrisiko in unserem Land sind, vor allem für Alleinerziehende? Dazu kommt, dass eine ungerechte Entlohnung im Arbeitsleben auch eine ungerechte Rente nach sich zieht. Inso-fern ist Entgeltgleichheit gemeinsam mit unseren anderen Projekten auch eine Chance, Frauen im Alter vor Armut zu schützen. Wir haben in dieser Wahlperiode in der Großen Koalition schon einiges gemeinsam geregelt: den Mindestlohn eingeführt, mehr Geld für Kitas aus-gegeben, das Elterngeld Plus eingeführt, die Fa-milienpflegezeit verabschiedet, die Quote in ein Gesetz gegossen. Und jetzt kommt die Entgelt-gleichheit als ein ganz wichtiger Baustein in der Frage der sozialen Gerechtigkeit an die Reihe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, danken wir unseren Mitstreitern, den Gewerkschaften, dem Sozialverband, den Landfrauen und vielen mehr, dass sie wirklich auch in der Sache praktikable Lösungen anbieten und mit uns diskutieren. Mit großer Freude habe ich gestern gelesen, dass auch die Frauen-Union unsere Ministerin Manuela Schwesig unterstützen will. In diesem Sinne glaube ich, es wird ein gutes Gesetz. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Pahl-mann für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU) Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es nun schon vielfach gehört: Frauen ver-dienen auch heute noch in viel zu vielen Fällen weniger als ihre männlichen Kollegen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Frauen verdienen mehr, aber be-kommen weniger!) Der eigentliche Skandal sind aber nicht die durchschnittlich 22 Prozent Lohnunterschied, die sich zum großen Teil daraus ergeben, dass Frau-en in schlechter bezahlten Berufen, in Teilzeit ar-beiten oder eine durch Kindererziehung oder durch Pflegezeit unterbrochene Erwerbsbiografie haben, worauf wir heute am Brandenburger Tor noch einmal aufmerksam gemacht haben. Nein, der ei-gentliche Skandal, das sind die verbleibenden cir-ca 7 Prozent Lohnunterschied, die bei gleicher Qualifikation zwischen den Einkommen weiblicher und männlicher Arbeitnehmer bestehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch!) Dabei ist der Grundsatz „Gleicher Lohn für glei-che und gleichwertige Arbeit“ bereits seit langem im deutschen Recht verankert. Der Gleichberech-tigungsgrundsatz in Artikel 3 Absatz 2 Grundge-setz verbietet, Frauen bei gleicher oder gleichwer-tiger Arbeit ein geringeres Entgelt zu zahlen als Männern. Benachteiligungen wegen des Geschlechts in Bezug auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingun-gen einschließlich des Arbeitsentgelts sind nach § 2 Absatz 1 Nummer 2 und nach § 7 Absatz 1 des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes unzu-lässig. Tja, da müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass das, was wir bereits haben, eben nicht ausreicht. Deshalb müssen und werden wir handeln. Die Frauen-Union der CDU fordert in diesem Zusammenhang schon lange und nicht erst seit neuestem die Überprüfung der circa 60 000 Tarif-verträge mit Blick auf strukturelle Lohndiskriminie-rung. Schade, dass unsere Bundesarbeitsministe-rin nicht da ist. Ich denke, es wäre einmal eine schöne und wahrscheinlich lohnende Aufgabe für ihr Ministerium, diese Verträge zu durchforsten. Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsver-trag die Instrumente klar benannt, mit denen sie die Entgeltgleichheit erreichen will. Wir wollen einmal die Feststellung des Wertes von Berufsfel-dern, von Arbeitsbewertungen und die Bewertung von Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen gemeinsam mit den Tarifpartnern voranbringen. Doch wie erfährt Frau Meyer, Müller oder Schultze, ob sie gerecht entlohnt wird? Das erfor-dert Transparenz. Arbeitnehmer sollen einen indi-viduellen Auskunftsanspruch erhalten, und Trans-parenz soll auch dadurch erreicht werden, dass Unternehmen ab 500 Beschäftigte verpflichtet werden, zur Frauenförderung und zur Entgelt-gleichheit Stellung zu beziehen und dies dann bitte schön auch im Lagebericht zu veröffentlichen. Die Einführung des Mindestlohns war zum Bei-spiel in der Pflege ein wichtiger Schritt hin zu mehr Lohngleichheit in einem gerade von Frauen häufig gewählten Berufsfeld. Unser Ziel bleibt es darüber hinaus, die Arbeit in der Pflege, Betreu-ung und frühkindlichen Bildung auch durch besse-re Bezahlung weiter aufzuwerten. Ich denke, es muss unser Ziel sein, dass wir diese Bereiche stärken. Ein Verbandsklagerecht, wie Sie es fordern, lehnen wir dagegen nach wie vor ab. Werden Frauen oder Männer diskriminiert, erhalten sie Un-terstützung durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes oder können den Rechtsweg be-schreiten. Wir sind der Meinung, Diskriminierun-gen sind immer noch sehr individuelle Fälle. Das Verbandsklagerecht würde unseres Erachtens hier keine Verbesserung des Rechtsschutzes er-geben. (Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es stecken doch strukturelle Mechanismen dahinter!) Zum Abbau der sogenannten mittelbaren Dis-kriminierung, die durch vermehrte Teilzeit- und teilweise prekäre Beschäftigung in schlechter be-zahlten, eben typisch weiblichen Branchen ge-kennzeichnet ist, ist in den vergangenen Wochen in vielen Debatten zu diesem Thema schon vieles und viel Richtiges gesagt worden. Ziel unserer Politik kann aber meiner Meinung nach nicht sein, dass wir Frauen dazu drängen, mindestens eine vollzeitnahe Beschäftigung auszuüben, wie es von vielen Stellen gefordert wird, nur weil es heute immer noch schwierig ist, nach einer Familienzeit wieder voll ins Berufsleben zurückzukehren. Ziel unserer Politik muss es sein, dass Frauen und auch Männer eben die Wahl haben, ob sie Vollzeit, Teilzeit oder vollzeitnah arbeiten oder auch eventuell erst nach einer Phase der Vollfami-lienzeit wieder in den Beruf einsteigen, dann aber eben ohne größere finanzielle Nachteile und mit Anerkennung der Familienleistungen. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ma-chen Sie denn dafür?) Dass diese Anerkennung sich für viele Frauen wenigstens teilweise bei den erworbenen Renten-ansprüchen niederschlägt, haben wir mit der Müt-terrente bereits durchgesetzt. (Lachen der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich möchte Frauen, die sich aus welchen Grün-den auch immer für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden, nicht vorschreiben, ihre Stundenzahl zulasten anderer Lebensbereiche zu erhöhen. Wer aber nach einer Erziehungs- oder Pflegephase die Rückkehr in die Vollzeit wünscht, der sollte diese Möglichkeit auch unkompliziert erhalten. Dazu können und müssen wir mit einem Rechtsan-spruch beitragen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hier möchte ich noch eines sagen: Ich bin da-gegen, dass insbesondere die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen durch zusätzliche Be-richtspflichten und ausufernde Bürokratie zusätz-lich belastet werden. Wenn aber die Wirtschaft und Betriebe über Fachkräftemangel klagen, dann erwarte ich von diesen Unternehmen und Betrie-ben auch größere Anstrengungen in Sachen Ar-beitszeitflexibilität und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das müssen wir von dieser Seite for-dern. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte nämlich nicht in einer Gesellschaft leben, in der der Staat unser Leben bis ins kleins-te Detail gesetzlich durchreguliert. Gesellschaft muss sich auch immer selbst gestalten können und darf nicht als Erstes nach der Politik rufen, wenn sich etwas bewegen soll. Ich bin auch der Überzeugung, dass die Gesellschaft das kann, und sie wird es auch tun. Ich möchte weiterhin niemandem vorschreiben, welchen Beruf er ergreifen soll. Mal abgesehen davon, dass es den vom Fachkräftemangel be-sonders betroffenen technischen Unternehmen und Betrieben selbst ein großes Anliegen sein muss, Frauen für ihre Branche zu gewinnen, sehe ich es überhaupt nicht ein, Frauen von der Aus-übung sozialer Berufe abzuraten, weil sie schlech-ter bezahlt sind. Nein, die Forderung ist eine ganz andere: Die sozialen Berufe, ohne die unsere Ge-sellschaft – machen wir uns doch nichts vor! – überhaupt nicht funktionsfähig wäre, müssen end-lich angemessen entlohnt werden. Ich denke, da stehen wir alle Seite an Seite. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie machen doch nichts dafür! Dann müssen Sie et-was tun!) Ich kann leider auch nicht einsehen, dass ein Lagerarbeiter für körperlich schwere Arbeit Zu-schläge erhält, aber Menschen in der Pflege ihre körperliche Schwerstarbeit nicht gesondert ent-lohnt bekommen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was machen Sie dafür?) Da müssen wir genau hinschauen und dann auch gezielt nachsteuern. (Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Hinschauen, das machen wir schon seit Jahrzehnten!) Die dazu erforderliche Transparenz in den Tarif-verträgen müssen wir einfordern. Wenn dann vom Arbeitsministerium auch noch Missstände und Ungleichbehandlungen in den Tarifverträgen auf-gedeckt und vielleicht sogar sanktioniert werden, ja, dann sehe ich endlich so etwas wie Licht am Ende des Tunnels. Dann fordern wir, liebe Frau Crone, die zurückbehaltenen zwei Eiskugeln für die Mädels ein. Wir sind auf der richtigen Sei-te. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Entgeltungleichheit endlich beseitigen und nächstes Jahr wesentlich früher am Branden-burger Tor stehen als in diesem Jahr. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Gab-riele Hiller-Ohm für die SPD das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute zum Equal Pay Day nicht nur vor dem Brandenburger Tor, sondern auch hier im Bundes-tag über gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Män-ner und Frauen sprechen. Denn hier in diesem Haus können wir tatsächlich etwas ändern. Hier haben wir die gesetzgeberische Kraft, und die, lie-be Kolleginnen und Kollegen, müssen wir auch nutzen. Es kann doch wohl nicht angehen, dass ausgerechnet, wenn es um uns Frauen geht, das Grundgesetz keine Anwendung findet – und das seit über 66 Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU – Matthias W. Birk-wald [DIE LINKE]: Und bei der Rente ab 63 ja auch!) Warum, so frage ich, verdient eine Versiche-rungskauffrau bei gleicher Ausbildung und glei-cher Arbeit im Schnitt 3 000 Euro, während ein Versicherungskaufmann mehr als 4 000 Euro im Monat erhält? Versicherungskauffrauen bekom-men also über 1 000 Euro weniger als ihre männ-lichen Kollegen. In ihren Portemonnaies klafft deshalb Monat für Monat eine riesige Ungerech-tigkeitslücke, und das nur, weil sie Frauen sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord-neten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Skandal!) Schlimmer geht’s nimmer. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfrakti-on, ich danke Ihnen, dass Sie das Thema mit Ih-rem Antrag heute auf die Tagesordnung gebracht haben und wir über Lohndiskriminierung sprechen können. Sie haben vieles aufgeschrieben, was gut und richtig ist. Ihr Problem ist aber: Sie haben keine Mehrheit im Bundestag. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Sie brau-chen doch nur zuzustimmen!) Vielleicht tröstet es Sie: Auch wir als SPD-Fraktion haben uns in der letzten Legislaturperiode viel Arbeit gemacht und sind dann als Opposition an der damaligen schwarz-gelben Regierungs-mehrheit gescheitert. Im Gegensatz zu Ihnen hat-ten wir statt eines Antrages sogar einen komplet-ten, bis ins letzte Detail ausformulierten und juris-tisch abgesicherten Gesetzentwurf zur Durchset-zung von Entgeltgleichheit vorgelegt. (Beate Müller-Gemmeke [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Den können Sie ja jetzt einbringen! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann bringen Sie den doch wieder ein!) Das war im Mai 2012. Die Grünen hatten unsere Initiative unterstützt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, hatten nicht die Größe, unserem Gesetzentwurf Ihre Zustimmung zu ge-ben (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Na, na!) und so ein deutliches Signal der damaligen Oppo-sition für die Frauen in unserem Land zu setzen. (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]) Parteipolitische Scheingefechte waren Ihnen wichtiger, als gemeinsam mit SPD und Grünen gegen die Ungerechtigkeit gegenüber knapp 18 Millionen Frauen Flagge zu zeigen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, kön-nen Sie heute mit Ihrem populistischen Papier-korbantrag auch nicht wiedergutmachen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Mat-thäus Strebl [CDU/CSU] – Caren Lay [DIE LINKE]: Mein Gott! Hören Sie sich eigentlich auch selbst zu? Das ist voll daneben! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die SPD könnte!) Aber zum Glück ist die SPD jetzt in Regie-rungsverantwortung. Mit unserem Koalitions-partner werden wir die Welt zwar nicht aus den Angeln heben, aber wir werden die Situation der Frauen in unserem Land doch deutlich verbes-sern. Das haben wir im Koalitionsvertrag festge-schrieben, und das setzen wir jetzt Stück für Stück um. (Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!) Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt. Er wird sich vor allem für die vielen Frauen in schlecht bezahlten Jobs positiv auswirken und ihnen mehr Lebensqualität bringen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Mat-thäus Strebl [CDU/CSU] – Caren Lay [DIE LINKE]: Den haben Sie ja bei uns abgeschrieben, wenn ich Sie daran erin-nern darf!) Wir haben die Quote durchgeboxt. Endlich werden mehr Frauen in Führungspositionen kommen und unserer Wirtschaft neuen Schwung verleihen. (Beifall bei der SPD) Wir werden auch der größten Ungerechtigkeit in unserem Land die Rote Karte zeigen: Gleiche und gleichwertige Arbeit darf nicht länger unter-schiedlich bezahlt werden, nur weil sie von einem Mann oder von einer Frau erledigt wird. (Beifall bei der SPD) Wir brauchen endlich ein neues Bewusstsein vom Wert der Arbeit in unserer Gesellschaft. Unge-rechtigkeit und Ausbeutung dürfen nicht länger to-leriert werden. Sie gehören an den Pranger ge-stellt. (Beifall bei der SPD) Wir werden noch in diesem Jahr das im Koaliti-onsvertrag vereinbarte Entgeltgleichheitsgesetz umsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Mal sehen! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mal sehen, wie viele von der CDU da mitma-chen!) Das Motto des heutigen Equal Pay Day ist gut gewählt: „Transparenz – Spiel mit offenen Karten“. Das ist genau richtig; denn ein wichtiger Schritt, um unterschiedliche Bezahlung zwischen Männern und Frauen aufzudecken, ist Transparenz. Man muss in den Betrieben wissen, was die Kollegin-nen und Kollegen verdienen. Löhne und Zuschläge gehören offengelegt. (Beifall bei der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommt Ihr Gesetzentwurf? Nächs-te Legislaturperiode?) Ich bin mir sicher: Schon das würde eine Menge bewirken. Viele Frauen und natürlich auch Männer würden dann überhaupt erst erkennen, dass glei-che Arbeit im selben Betrieb sehr oft sehr unter-schiedlich bezahlt wird. Beschäftigte hätten mit diesem Wissen eine viel bessere Ausgangssitua-tion bei Gehaltsverhandlungen. Wir fordern des-halb: Lasst bei den Löhnen endlich die Hosen run-ter! (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Mi-chaela Noll [CDU/CSU]: Jetzt wird es gefährlich!) Unser Ruf stößt in der Wirtschaft seit Jahren leider auf taube Ohren. Wirksame Instrumente, um ungleiche Bezahlung aufzudecken, gibt es schon lange, zum Beispiel Logib-D oder eg-check. Sie werden nur nicht angewandt. Deshalb muss ein Gesetz her. Wir packen es an. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Johannes Singhammer: Der abschließende Redebeitrag in dieser De-batte erfolgt durch den einzigen Redner, was aber nicht heißt, dass die Männer das letzte Wort ha-ben in dieser Debatte. – Ich erteile jetzt dem Kol-legen Matthäus Strebl das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Petra Ernstberger [SPD]) Matthäus Strebl (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die Linke „Gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit für Frauen und Männer durchsetzen“. Dass Sie diesen Antrag gewisser-maßen als Begleitmusik zum heutigen Equal Pay Day bringen, spricht für die bekannte gute Drama-turgie der Linken. Das Anliegen des Antrags hört sich erst einmal gut an, und es dürfte hier im Bundestag keine Fraktion geben, die der Zielsetzung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ widerspricht. Schließlich ist das Ziel im Koalitionsvertrag festgeschrieben und sollte entsprechend verwirklicht werden. Wie die Kollegin Hiller-Ohm schon gesagt hat: Wir werden es auch verwirklichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Aber wie so oft steckt auch hier der Teufel nicht nur im Detail. Der vorliegende Antrag ist meines Erachtens schon deshalb mit äußerster Skepsis zu betrachten, weil er neue und teure Bürokratien mit sich bringen würde. Das würde vielleicht Ar-beitsplätze im öffentlichen Dienst schaffen; es würde aber den Frauen wenig helfen. Die Antragsteller verlangen unter anderem ein Gesetz zur Verbesserung der individuellen und kollektiven Klagemöglichkeiten bei direkter und indirekter Lohndiskriminierung, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist dagegen zu sagen?) außerdem Gesetze zur Erweiterung der kol-lektiven Mitbestimmungsrechte von Betriebs- und Personalräten und dann noch ein Gleichstellungs-gesetz für die Privatwirtschaft. Das sind nur eini-ge Punkte. Erwähnen möchte ich noch das gefor-derte Verbandsklagerecht, die Einsetzung einer Entgeltgleichheitskommission und die Ausstattung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit Klagerecht. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau! Alles wichtig!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit solchen Vorstellungen kann ich persönlich mich nicht anfreunden. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Darum geht es hier nicht!) Nachdem wir mit dem an sich begrüßenswerten Mindestlohngesetz – ich betone: begrüßenswerten Mindestlohngesetz – schon ein Stück neue Büro-kratie geschaffen haben, würde mit den Vorstel-lungen der Linken ein wahres Bürokratiemonster auf uns zurollen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ach Gott! Sie jammern rum!) Immerhin: Wenigstens an einer Stelle werden die Tarifvertragsparteien erwähnt, die aber durch Ge-setz zum Abbau von Ungleichheiten verpflichtet werden sollen. Der Antrag ist Ausdruck eines Denkens, dem der Begriff „mündiger Bürger“ völlig fremd ist. (Lachen bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn es nach den Antragstellern geht, muss der Staat alles bis ins Detail regeln. Dass er das nicht kann und auch nicht können muss, hat die jüngere deutsche Geschichte hinlänglich bewiesen. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wo sind denn Ihre Vorschläge zum Abbau des Gender Pay Gap?) In der Bundesrepublik Deutschland sind wir seit jeher gut damit gefahren, die Tarifpartner mit ei-nem gehörigen Maß an Kompetenz und Verant-wortung auszustatten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) In gewisser Weise haben wir mit dem Mindest-lohngesetz, zu dem ich uneingeschränkt stehe, schon einen ersten Sündenfall begangen. Das heißt aber nicht, dass wir nun einen zweiten bege-hen und die Tarifpartner aus der Verantwortung entlassen. Darum geht es mir. Ohne Wenn und Aber bekenne ich mich zu dem Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Aber ich möchte nicht, dass immer und bei jeder Gelegenheit nach dem Staat gerufen wird. Schaffen wir gemeinsam ein gesellschaftliches Klima, in dem es selbstverständlich ist, dass we-der Frauen noch Männer diskriminiert und in ir-gendeiner Weise benachteiligt werden. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das Klima schaffen Sie seit zehn Jahren nicht! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie machen Sie das?) Dann müssen wir auch nicht die Schleusen für ei-ne neue Gesetzesflut öffnen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr kons-truktiver Beitrag! Keine Lösungsvor-schläge!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/4321 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend liegen soll. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen. Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. März 2015, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut und wohlbehalten am Montag wieder hierher nach Berlin. (Schluss: 14.26 Uhr) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Barthel, Klaus SPD 20.03.2015 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 20.03.2015 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 20.03.2015 Brugger, Agnieszka BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20.03.2015 Buchholz, Christine DIE LINKE 20.03.2015 Bülow, Marco SPD 20.03.2015 Daldrup, Bernhard SPD 20.03.2015 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 20.03.2015 Fischer (Karlsruhe-Land), Axel E. CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 20.03.2015 Göppel, Josef CDU/CSU 20.03.2015 Gottschalck, Ulrike SPD 20.03.2015 Groth, Annette DIE LINKE 20.03.2015 Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20.03.2015 Hartmann (Wackern-heim), Michael SPD 20.03.2015 Held, Marcus SPD 20.03.2015 Dr. Hendricks, Barba-ra SPD 20.03.2015 Hinz (Essen), Petra SPD 20.03.2015 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20.03.2015 Dr. Hoppenstedt, Hen-drik CDU/CSU 20.03.2015 Jung, Xaver CDU/CSU 20.03.2015 Kassner, Kerstin DIE LINKE 20.03.2015 Dr. Krüger, Hans-Ulrich SPD 20.03.2015 Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 20.03.2015 Dr. von der Leyen, Ur-sula CDU/CSU 20.03.2015 Lotze, Hiltrud SPD 20.03.2015 Menz, Birgit DIE LINKE 20.03.2015 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Middelberg, Ma-thias CDU/CSU 20.03.2015 Mißfelder, Philipp CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Reimann, Carola SPD 20.03.2015 Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 20.03.2015 Rix, Sönke SPD 20.03.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 20.03.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20.03.2015 Scharfenberg, Elisa-beth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20.03.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 20.03.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 20.03.2015 Schmidt (Fürth), Christian CDU/CSU 20.03.2015 Schwabe, Frank SPD 20.03.2015 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 20.03.2015 Spiering, Rainer SPD 20.03.2015 Steinbach, Erika CDU/CSU 20.03.2015 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 20.03.2015 Westermayer, Walde-mar CDU/CSU 20.03.2015 Wicklein, Andrea SPD 20.03.2015 Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 20.03.2015 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 931. Sitzung am 6. März 2015 beschlossen, den nachstehenden Ge-setzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Ar-tikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stel-len: – Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen – Gesetz zur Teilumsetzung der Energieeffizienz-richtlinie und zur Verschiebung des Außerkraft-tretens des § 47g Absatz 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Ferner hat der Bundesrat folgende Entschlie-ßung gefasst: 1. Der Bundesrat begrüßt, dass mit dem vorliegenden Gesetz ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren Energieeffizienz bei Unternehmen und damit zu verstärkter Energieeinsparung und CO2-Reduktion erfolgt. 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die Umstellung auf ein Energieaudit für viele Unternehmen eine gro-ße organisatorische wie auch finanzielle Heraus-forderung darstellt, vor allem auch, da sie in kur-zer Zeit bewältigt werden muss (Stichtag ist der 5. Dezember 2015). Daher ist in der Umsetzung des Gesetzes darauf zu achten, dass der Aufwand für die betroffenen Unternehmen so gering wie mög-lich gehalten wird. 3. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, beim Vollzug des Gesetzes insbesondere zu prüfen, ob bei vielen gleichartigen Standorten eines Unter-nehmens so genannte Multi-Site-Verfahren zuge-lassen werden können, mit denen vermieden wird, dass ein umfassendes Energieaudit für jeden ein-zelnen Standort erfolgen muss. – Gesetz zu dem Abkommen vom 5. Dezember 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Ho-heitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: – Unterrichtung durch die Bundesregierung Indikatorenbericht 2014 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt Drucksachen 18/3995, 18/4147 Nr. 5 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sechster Bericht der Bundesregierung über die -Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissions-minderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktech-nologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen Drucksachen 18/3752, 18/3890 Nr. 3 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 2012 Drucksachen 18/708, 18/891 Nr. 2 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Innenausschuss Drucksache 18/3362 Nr. A.2 Ratsdokument 14910/14 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/2533 Nr. A.39 Ratsdokument 11976/14 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/4152 Nr. A.12 Ratsdokument 5867/15 Anlagen