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Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert rechnet in absehbarer Zeit nicht mit einer Erweiterung der Europäischen Union. Schließlich gehöre zu den Aufnahmekriterien, dass ein potenzielles Beitrittsland auch „mitgliedsfähig“ sei. Lammert meinte dies am Freitag, 14. November 2014, vor deutschen, französischen und polnischen Europapolitikern mit Blick auf den Balkan, aber vor allem auch die östlichen EU-Nachbarn.
Damit ging der Präsident auf eines der zentralen Themen ein, die die Abgeordneten im Rahmen der parlamentarischen Dimension des „Weimarer Dreiecks" am Donnerstag, 13. November, und am Freitag, 14. November 2014, in Berlin zusammengeführt hatten: die Ukraine.
Auf Einladung des Europaausschusses des Bundestages waren die Mitglieder der Europaausschüsse der französischen Assemblée nationale sowie des Sejm und des Senats in Polen zu Gast im Bundestag. 2012 hatten sich die Parlamentarier in Paris getroffen, im vergangenen Jahr im polnischen Danzig. Im Weimarer Dreieck arbeiten Deutschland, Frankreich und Polen eng zusammen, um konkrete gemeinsame Impulse für die Außen- und Europapolitik zu geben.
Es sei eine „Illusion“ zu glauben, eine EU-Mitgliedschaft könne der Ausweg zur Lösung von Schwierigkeiten sein, meinte Lammert. Nur „im Grundsatz“ mochte der Präsident zudem der Überlegung zustimmen, eine Art gemeinsame Einkaufsgenossenschaft für fossile Energie könne die Position gegenüber Russland stärken.
In der Praxis sei es doch so, dass fast alle Verträge von Privatunternehmen abgeschlossen worden seien – mit unterschiedlichen Laufzeiten und Konditionen. Das Energiesystem in der EU müsste also verstaatlicht werden – für ihn undenkbar, wie er deutlich machte.
Der Bundestagspräsident blickte zudem auf den Jahrestag des Mauerfalls zurück. Zu den Ereignissen 1989 wäre es nach seiner Überzeugung nicht gekommen, „wenn es nicht eine europäische Entwicklung, sondern nur eine deutsche gewesen wäre“. Jetzt, wo es etwa um Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn gehe, könnten Frankreich, Deutschland und Polen bezüglich Lage, Größe und Erfahrung „eine Schlüsselrolle“ spielen. Das „erfolgreiche Format“ des Weimarer Dreiecks könne dafür sorgen, dass die drei Länder dabei „mit möglichst gleicher Taktzahl arbeiten“.
Ein weiteres Schwerpunktthema des Treffens war die in weiten Teilen der EU sehr hohe Arbeitslosigkeit. Dabei stellte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die bessere Gestaltung des Übergangs von Schule und Beruf in den Vordergrund.
Verwiesen wurde zum einen auf das „Erfolgsmodell duale Ausbildung“, zum anderen auf die Stärkung der Bundesagentur für Arbeit, die schon frühzeitig in der Schule tätig werde. Die praxisnahe Ausbildung im dualen System führe zu hohen Übernahmequoten.
Ohne wirkliche Ausbildung gebe es keine Perspektive, hieß es aus den Reihen der SPD-Fraktion. Wer ohne Ausbildung nach Deutschland komme, habe es schwer, einen Job zu bekommen. Zugleich warnte die Fraktion vor Bestrebungen in der EU, die Meisterpflicht für Ausbildungsbetriebe aufzuweichen. Sie bat die Abgeordneten aus Frankreich und Polen um Unterstützung bei der Aufgabe, diese Tendenz abzuwehren.
Trotz vergleichsweise niedriger Arbeitslosigkeit, sei in Deutschland „nicht alles Gold, was glänzt“, betonte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. So gebe es zahlreiche Jobs, die die Existenz nicht absicherten. Überdies sei die Langzeitarbeitlosigkeit weiterhin sehr groß. Angesichts des relativ schwachen Wachstums setzten sich die Grünen auch auf europäischer Ebene für ein Investitionsprogramm ein.
Die französische Seite lobte die Einführung des Mindestlohns in Deutschland als „positives Signal“. Die europaweite Harmonisierung der Faktoren für Arbeitskosten sei eine Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Mindeststandards müssten in Europa tatsächlich eingehalten werden. Problembranchen seien Landwirtschaft, Agroindustrie, Transport und Bau.
Von polnischer Seite wurden die Vorteile des dualen Ausbildungssystems in Deutschland zwar anerkannt. Allerdings sei es ein Problem, dass Berufsschulabschlüsse inzwischen nicht mehr sonderlich hoch im Kurs stünden. Andererseits hoben polnische Stimmen hervor, dass mit der Orientierung am dualen System die Berufsausbildung besser an die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts angepasst worden sei.
Bereits am Mittwoch, 12. November, hatten die deutschen, französischen und polnischen Europapolitiker einen engen Zusammenhalt der EU angesichts der Ukraine-Krise beschworen. Das gelte insbesondere für wirtschaftliche Sanktionen, der einzig nutzbaren Reaktionsmöglichkeit auf die russische Aggression, wie viele Teilnehmer betonten.
Auftaktthema der Veranstaltung war der Ukraine-Konflikt. Die enge Zusammenarbeit von Parlamenten und Regierungen der drei Länder könne eine gute Basis für neuerliche Verhandlungen sein, nachdem das Minsker Abkommen offensichtlich nicht mehr eingehalten werde, hieß es. Dass es dabei für Polen auch um enge Nachbarschaftspolitik geht, machte die Warschauer Delegation klar. Die Ukrainer, die jetzt über die Grenze kämen, könnten sehen, wie positiv sich Polen in der Zeit der Nato-Mitgliedschaft und der EU-Zugehörigkeit entwickelt habe. Dies könne ein Ansporn sein.
Von französischer Seite wurde anerkannt, dass die Ukraine viel tue in Sachen Demokratie. Die EU müsse diese Entwicklung fördern, freilich ohne den Dialog mit Russland ganz abzubrechen. Die Sanktionen seien richtig, auch wenn sie speziell für die französische und polnische Landwirtschaft unangenehm seien. Sanktionen im Rahmen der Energiepolitik seien schwierig zu organisieren.
Aus den Reihen der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament – dem Europaausschuss des Bundestages gehören auch 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europaparlaments an - kam die Einschätzung, dass Sanktionen zwar schwierig, aber der einzige Weg seien, dem Aggressor zu zeigen, dass sein Handeln zu teuer wird.
Dass sich die EU auf eine solche gemeinsame Strategie geeinigt habe, sei phänomenal. Es sei unerlässlich, an den Sanktionen festzuhalten. Zugleich sei Solidarität mit der Ukraine vonnöten, um das Land politisch und wirtschaftlich zu entwickeln. Ähnliche Stimmen kamen aus der SPD-Fraktion.
Die Fraktion Die Linke äußerte sich hingegen kritisch zu den Sanktionen gegen Russland. Deutschland müsse in dieser prekären Situation einen Beitrag zur Deeskalation leisten, hieß es.
Der Ukraine helfen, aber auch Russland - diese Ansicht wurde in den Reihen der französischen Delegation vertreten. Wenn es in Russland zu einer harmonischen Entwicklung komme, sei die Versuchung weniger groß, mit Aggression nach außen über interne Schwierigkeiten hinwegzutäuschen.
Insbesondere die polnische Seite drang auf eine neue strategische Diskussion über die EU-Politik der östlichen Partnerschaft. Von ehedem sechs Ländern seien nur noch drei übrig geblieben: Georgien, Moldawien und vor allem die Ukraine.
Die Grünen-Fraktion äußerte die Befürchtung, Russland könne zur Breschnew-Doktrin zurückkehren, wenn die Staaten zwischen Berlin und Moskau keine souveränen Entscheidung mehr treffen dürften und wie ein Vorhof Russlands behandelt würden. (fla/14.11.2014)