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Der Bundestag hat am Freitag, 24. April 2015, an die Vertreibung und die Massaker an den Armeniern 1915/1916 erinnert, die von zahlreichen Abgeordneten als Völkermord bezeichnet wurden. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert erklärte zum Auftakt der Debatte: „Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord.“ Um die Verwendung des Begriffs Völkermord hatte es im Vorfeld eine intensive Debatte gegeben, ob man dabei, wie es die Armenier fordern, von „Völkermord“ sprechen soll oder ob der Begriff, wie es die türkische Seite wünscht, vermieden werden soll.
Der Bundestagspräsident betonte die Mitverantwortung des Deutschen Reiches an den Verbrechen am armenischen Volk vor 100 Jahren: „Diese Mitschuld einzuräumen, ist Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Armenien wie der Türkei.“ Er machte deutlich, dass ein „selbstkritisches Bekenntnis zur Wahrheit“ Voraussetzung für Versöhnung sei. Als Deutsche habe man niemanden über den Umgang mit seiner Vergangenheit zu belehren, aber durch die eigene Erfahrung könne man „andere ermutigen, sich ihrer Geschichte zu stellen, auch wenn es schmerzt“, sagte Lammert.
Bei den Massakern an den christlichen Armeniern waren nach Schätzungen rund 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen. Mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte würdigte Lammert die derzeitigen Anstrengungen der Türkei. Sie leiste „mit der Aufnahme von weit über einer Million Flüchtlinge eine immense, zu selten gewürdigte und manchen in Europa beschämende humanitäre Hilfe“, erklärte der Bundestagspräsident.
In der Debatte würdigten Vertreter aller Fraktionen die Opfer und sprachen ihnen und ihren Familien ihr Beileid aus. „Wir verneigen uns vor den Opfern und trauern um ihre Nachkommen“, sagte der SPD-Abgeordnete Gernot Erler, der ebenfalls die deutsche Mitverantwortung für das Geschehen betonte.
Es reiche aber nicht aus, sich zur Mitverantwortung oder Mitschuld zu bekennen. Vielmehr müssten Armenien und die Türkei in ihrem Versöhnungsprozess unterstützt werden: „In Deutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehungen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nach solchen Auswegen zu helfen“, forderte Erler.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU), erläuterte, warum in dem gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen (18/4684) der Begriff des „Völkermordes“ verwendet worden sei. Den Organisatoren von Völkermord gehe es darum, „durch physische Vernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu bringen, es aus der Geschichte zu tilgen“.
Es sei, argumentierte Röttgen, „ein zwingendes Gebot der Solidarität mit den Opfern und ihrer Nachfahren, von den Verbrechen als Verbrechen des Völkermordes zu sprechen“. Es gebe eine Diskussion um die Abwägung dieses Begriffs, „aber bei Völkermord hört die Diskussion auf“, betonte er.
Auch nach Auffassung der Fraktion Die Linke handelte es sich bei den Verbrechen an den Armeniern um einen „vorsätzlich geplanten Völkermord“, zu dem die Fraktion ebenfalls einen eigenen Antrag (18/4335) einbrachte. UIla Jelpke (Die Linke) bezeichnete die Diskussion um den Begriff als „Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten“, der „beschämend“ sei.
Sie gab zu bedenken, dass, wer über die Verbrechen an den Armeniern 1915/1916 spreche, auch über die eigene Geschichte sprechen müsse. Es habe von deutscher Seite eine „verbrecherische Komplizenschaft“ und eine „Beihilfe zum Völkermord“ gegeben, für die der Bundestag um Verzeihung bitten müsse.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lobte Cem Özdemir die Reden von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert, warf dabei aber der Bundesregierung vor: „Wäre es nach Ihnen gegangen, würden wir bis heute das türkische Narrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab.“ Zwar unterstelle er der Bundesregierung gute Absichten, ihre Haltung trage aber nicht zur Versöhnung bei, sondern stütze diejenigen, die den Völkermord leugneten.
Er machte deutlich, dass es für die Türkei selber wichtig sei, dass die Jahre 1915/1916 aufgearbeitet werden. Gleichzeitig warnte er aber: „Es geht nicht darum, dass wir mit erhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechen als Freunde zu Freunden.“ Die Grünen brachten zum Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern ebenfalls einen Antrag (18/4687) ein, der wie die anderen Anträge zur weiteren Beratung an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen wurde. (as/24.04.2015)