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Die Fraktionen im Deutschen Bundestag kommen zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen in der Bewertung des Afghanistan-Einsatzes. In der Beratung der Antwort der Bundesregierung (18/4168) auf eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke (18/2144) mit dem Titel „Krieg in Afghanistan – Eine Bilanz“ lagen die Positionen zwischen Koalition und Opposition am Donnerstag, 23. April 2015, weit auseinander: Die Linksfraktion bezeichnete die „deutsche Kriegsbeteiligung“ als „großen Fehler“, Vertreter von SPD und CDU/CSU wiesen dagegen auf die Fortschritte hin, die das Land seit 2001, dem Beginn der militärischen Intervention durch die internationale Gemeinschaft, gemacht habe. Die Grünen warfen beiden Seiten vor, mit einer jeweils pessimistischen beziehungsweise optimistischen Sichtweise „der Ernsthaftigkeit der Lage vor Ort“ nicht gerecht zu werden.
Wolfgang Gehrcke (Die Linke) kritisierte, dass der Militäreinsatz die Probleme des Landes nicht gelöst, sondern eine Vielzahl von Problemen erst aufgeworfen habe: In Afghanistan sei viel Geld falsch eingesetzt worden – rund elf Milliarden Euro für die Einsätze der Bundeswehr zwischen 2001 und 2014. „Was könnte man alles an Not, Elend und Unterentwicklung in einem solchen Land korrigieren?“, fragte Gehrcke.
Bei politischen Lösungen heiße es bei der Bundesregierung stets „Fehlanzeige“, bei der militärischen Option hingegen zeige sie „offene Taschen“. Zudem sei durch den Einsatz das Völkerrecht gebrochen worden. Deutschland habe sich darüber hinaus durch die Weitergabe von Daten und Namen an gezielten Tötungen in Afghanistan mitschuldig gemacht. „Wir sind dem, was wir bekämpfen wollen, immer ähnlicher geworden“, sagte Gehrcke.
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) stellte die heutige Lage Afghanistans in den Kontext seiner jüngeren Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur, sowjetischer Besetzung und Herrschaft der Taliban. „Keines dieser Systeme hat Afghanistan auch nur in Ansätzen stabilisiert“, wie das durch den Isaf-Einsatz und das internationale Engagement bisher gelungen sei. Es sei ein Fehlschluss, zu glauben, man hätte diese Stabilisierung ohne Militär hinbekommen: „Zur Entwicklung gehört Sicherheit. Ein Mindestmaß an Sicherheit ist Hilfe zur Selbsthilfe“, sagte Kiesewetter, der gleichwohl eine Reihe von „Lektionen“ des Einsatzes aufzählte.
Die Erwartungen an einen friedlichen Wiederaufbau seien anfangs „unendlich“, die Bereitschaft aber, dafür etwas zu tun, „begrenzt“ gewesen. Auch eine frühere Einbindung der Nachbarstaaten und die Notwendigkeit einer realistischeren militärischen Einschätzung seien Lehren aus dem Einsatz. Es gelte, „nie mehr blauäugig und ohne die notwendigen Mittel in solche Einsätze zu gehen“.
Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen) machte hingegen eine große Diskrepanz zwischen den eingesetzten Mitteln und dem Erreichten aus: „Deutlich mehr Menschen leben in Afghanistan heute deutlich besser und unter friedlicheren Bedingungen als vor dem Einsatz. Aber gemessen an all dem, was aufgebracht wurde, ist das Erreichte eindeutig zu wenig.“ Die jeweiligen Bundesregierungen hätten anfangs auf Milizen und lokale Machthaber vertraut und zu spät auf den Aufbau staatlicher Strukturen gesetzt.
Die Taliban seien nicht in Verhandlungen für eine politische Lösung eingebunden und auch bei der Entwicklung der Agrarwirtschaft sei vieles versäumt worden. Vor allem aber zeige sich im Rückblick eine „unglaublich große Schieflage zwischen militärischen und dem zivilen Engagement“, sagte Nouripour. In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Linksfraktion bezifferte die Bundesregierung die die deutschen Isaf-Kosten auf mehr als acht Milliarden Euro, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zwischen 2002 und 2012 hingegen auf 2,8 Milliarden Euro.
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) benannte drei Lehren, die aus dem Einsatz zu ziehen seien: Zum einen habe man in Deutschland lange geglaubt, dass an Entscheidungen in Berlin das „Wohl und Wehe Afghanistans hänge“ – dabei war die Bundesrepublik bei Isaf nur eine von rund 50 truppenstellenden Nationen. „Wir entscheiden dort nichts alleine“, sagte Bartels.
Zudem habe es zu viele Akteure und zu wenig Koordination gegeben. Es wäre womöglich sinnvoll gewesen, „eine Art zivilen Hochkommissar“ einzusetzen. Schließlich sei gerade zu Beginn des Einsatzes „zu viel Zeit ungenutzt verstrichen“, sagte Bartels. Bei Stabilisierungsmissionen wie in Afghanistan müsse die „militärische Komponente am Anfang deutlich stark sein“, um dann schrittweise von einem sorgfältig geplanten zivilen Engagement abgelöst zu werden. (ahe/23.04.2015)