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Edret Mile ist 24 Jahre alt. Damit liegt die Albanerin nur knapp unter dem Durchschnittsalter in ihrer Heimat, das bei 27 Jahren liegt. „Wir sind ein sehr junges Volk“, sagt sie. Zum Vergleich: In Deutschland liegt das Durchschnittsalter bei über 40. „Das Leben in unserer Hauptstadt Tirana ist schön, ist sehr lebendig“, sagt Edret Mile. Und doch ist es auch schwierig. Beleg dafür: Obwohl die Gehälter in Albanien deutlich unter denen in Deutschland liegen, sind die Kosten bei einigen Grundnahrungsmitteln die gleichen. „Irgendwie verrückt“, findet das die 24-Jährige, die noch bis Ende Juli ein Praktikum im Rahmen des Internationalen Parlamentsstipendiums des Bundestages (IPS) im Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Groß absolviert. Edret Mile erfährt dabei hautnah, wie das Leben eines Politikers ist. Eine Erfahrung, die der in der „Sozialistischen Bewegung für Integration“ - einer der Parteien der derzeitigen Regierungskoalition - engagierten Albanerin hilfreich sein kann, will sie denn selbst den Weg in die Politik einschlagen.
Edret Mile gibt sich in dem Punkt eher zurückhaltend. Einen klaren Plan, in die Politik zu gehen, habe sie noch nicht. „Aber wer weiß, was die Zukunft bringt“, sagt sie. „Vorstellen kann ich mir das schon – schließlich habe ich mich ja auch nicht zuletzt deshalb für das IPS beworben.“ Sollte es in der Zukunft so kommen, dann hofft sie, Politikerin eines EU-Landes zu sein. 2009 hat Albanien den Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt – 2014 bekam das Land den Beitrittskandidatenstatus verliehen. „Von zwölf auferlegten Forderungen haben wir bislang sieben erfüllt“, sagt die 24-Jährige und findet: „Wir sind auf einem guten Weg.“
Was genau hat sich denn seit dem EU-Antrag verbessert? Es habe eine Reform des Wahlrechts gegeben, sagt Edret Mile. Außerdem seien Erfolge bei der Eingrenzung der Korruption und der Bekämpfung der Kriminalität zu verzeichnen. „Es gibt inzwischen auch mehr wirtschaftliche Stabilität. Die Menschen zahlen jetzt mehr Steuern, was aber auch gut für die Wirtschaft ist.“ So könne die Infrastruktur ausgebaut werden, denn da hapert es noch gewaltig. „In Albanien gibt es keine Bahnsteige. In Tirana fährt keine Straßenbahn, und ohnehin ist die Verkehrssituation ein großes Problem bei uns“, sagt sie.
Von einer EU-Mitgliedschaft erwartet die derzeitige IPS-Stipendiatin vor allem mehr Reisefreiheit. Die Albaner seien sehr weit verstreut. „3,5 Millionen leben bei uns im Land und genauso viele in anderen europäischen Ländern“, macht sie deutlich. „Als EU-Mitglieder hätten wir bessere Möglichkeiten, unsere Bekannten und Verwandten zu besuchen.“
Doch das Ganze hätte auch einen Haken: „Ich hoffe natürlich, dass nicht das ganze Volk weggeht, wenn die Albaner frei entscheiden können, wo sie leben und arbeiten wollen“, sagt sie. Die Verlockungen – etwa nach Deutschland zu gehen – sind groß. Das erfährt Edret Mile aktuell am eigenen Leib. Als Deutschlehrerin – derzeit befindet sie sich noch im Referendariat – würde sie in ihrer Heimat 300 Euro im Monat erhalten. In Deutschland können Lehrer knapp das Zehnfache verdienen.
Die studierte Germanistin sieht ihre Zukunft dennoch in der Heimat. Zugleich sieht sie auch die albanische Politik in der Pflicht, Anreize zu schaffen, damit die Menschen im Land bleiben. „Aber auch dafür, dass im Ausland gut ausgebildete Albaner wieder zurückkehren.“
Wachstumspotenzial sieht sie unter anderem beim Tourismus. 460 Kilometer Küste gehören zu Albanien. Viele Seen und andere Sehenswürdigkeiten ebenso. Warum haben die Deutschen vom Tourismusstandort Albanien noch nicht so richtig Notiz genommen? Ganz so sei das nicht, widerspricht Edret Mile. „Bei deutschen Senioren ist Albanien als Reiseland inzwischen sehr beliebt“, sagt sie.
Entwickelt sich der Tourismus gut, gibt es auch mehr Arbeitsplätze. Und zwar auch im Umweltschutzbereich. Lange sei das ein Problem gewesen, das inzwischen aber angegangen werde, sagt die 24-Jährige. „Die Sauberkeit der Strände etwa ist von großer Bedeutung für eine funktionierende Tourismusindustrie.“
Neben dem Umweltschutz sind auch die erneuerbaren Energien und der Umgang mit sexuellen Minderheiten Themen, die neu auf der Agenda der albanischen Politik und der Gesellschaft stehen. „Daher freue ich mich auch, dass unser Umweltminister gerade in Deutschland war, um sich mit deutschen Umweltpolitikern auszutauschen“, sagt Edret Mile.
Was den Umgang mit sexuellen Minderheiten angeht, so macht sie deutlich, dass Schwule und Lesben „immer sichtbarer in der Gesellschaft werden“. Offen angefeindet würden sie dabei zwar nicht. „Sie stehen dennoch aber eher in der Ecke“, sagt sie. Eine Bewertung, die lange auch für Deutschland galt und in Teilen sicher auch noch gilt.
Kein Verständnis hat die Albanerin für immer mal wieder aufkommende Grenzstreitigkeiten. Großalbanische Träume lehnt sie ebenso ab wie Herrschaftsansprüche Serbiens – etwa im Kosovo. „Man sollte die Grenzen so akzeptieren, wie sie jetzt sind“, sagt Edret Mile. Und zeigt damit schon mal ihr Potenzial als verantwortungsvolle Realpolitikerin. (hau/11.05.2015)