Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > Textarchiv
Die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte von Bündnis 90/Die Grünen, Beate Müller-Gemmeke, hat in einem am Dienstag, 26. Mai 2015, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament" heftige Kritik am Gesetz zur gesetzlichen Tarifeinheit geübt: „Wenn der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft nicht mehr gelten soll, dann ist das ein massiver Eingriff, denn diese Gewerkschaft verliert an Akzeptanz und Bedeutung“, so Müller-Gemmeke. Sie kritisiert, dass die Verhältnismäßigkeit eines Streiks künftig daran gemessen werden solle, ob dieser Tarifvertrag zur Anwendung kommt oder nicht. „Das ist nichts anderes als eine Einschränkung des Streikrechts“, sagte sie. Das Interview im Wortlaut:
Frau Müller-Gemmeke, die GdL will nicht nur für Lokführer, sondern auch für andere bereits durch die EVG vertretene Berufsgruppen Tarifabschlüsse durchsetzen. Können Sie diese hartnäckige Haltung verstehen?
Ja, aus zwei Gründen: Die GdL hat in den letzten Jahren nach eigenen Angaben viele Zugbegleiter als Mitglieder gewonnen. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass sie auch für diese Gruppe verhandeln will. Im Lichte des Tarifeinheitsgesetzes ist es auch ganz rational, was die GDL macht, denn sie muss größer und mächtiger werden, damit ihr Tarifvertrag nicht verdrängt wird.
Ist mit der am Mittwoch beginnenden Schlichtung das Problem für die GdL erledigt?
Es ist gut, dass es nun zu einer Schlichtung kommt. Die GdL muss jetzt alles daran setzen, einen guten und möglichst breiten Tarifvertrag abzuschließen. Und zwar bevor das Tarifeinheitsgesetz in Kraft tritt. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass der jetzt ausgehandelte Tarifvertrag nicht mehr vom Gesetz betroffen sein wird. Sie müssen ihre Ausgangsposition stärken, um später wenn das Gesetz greift mehrheitsfähig und streikfähig zu sein.
Nun garantiert das Grundgesetz jedem, Vereinigungen zu bilden. Warum schränkt das Gesetz Ihrer Meinung nach diese Koalitionsfreiheit ein?
Wenn künftig nur noch der Tarifvertrag der Mehrheit gelten soll, wird das grundgesetzliche Recht, Tarifverträge zu verhandeln und umzusetzen für alle anderen, die nicht zu dieser Mehrheit gehören, ausgehebelt. Und wenn, wie geplant, die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ein neues Kriterium bekommt und das Kriterium eben ist, ob dieser Tarifvertrag zur Anwendung kommt oder nicht, dann ist das nichts anderes als eine Einschränkung des Streikrechts.
Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat die Pflicht des Gesetzgebers betont, dieses Recht der Koalitionsfreiheit auszugestalten.
Andere Verfassungsrechtler sagen aber, dass es hier eben nicht um eine Ausgestaltung, sondern um einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit geht, wenn der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft nicht mehr gelten soll. Das ist doch ein massiver Eingriff, denn diese Gewerkschaft verliert an Akzeptanz und Bedeutung. Man muss sich auch überlegen, was es bedeutet, wenn zum Beispiel der Marburger Bund in einem Krankenhaus knapp nicht die Mehrheit hat, aber 80 Prozent der Ärzte organisiert hat und Verdi knapp die Mehrheit hat, aber vielleicht nur zehn Prozent organisiert hat, das zeigt, dass diese 50-Prozent-Regel nicht wirklich passt.
Die Bundesregierung scheint ein Verfahren in Karlsruhe jedenfalls nicht abzuschrecken.
Die gesetzliche Tarifeinheit steht im Koalitionsvertrag und mir kommt es jetzt ein bisschen so vor, als wenn der Zug einfach losgefahren ist, und anscheinend ist der momentan nicht mehr zu stoppen. Warum genau kann ich natürlich aus der Opposition heraus nicht sagen.
Der Entwurf sieht vor, unter anderem mit einem Anhörungsrecht die Rechte der Minderheitsgewerkschaften zu wahren. Reicht das?
Es gibt jedenfalls einige Rechtsexperten, die sagen, das reicht nicht aus, um das Gesetz verfassungsfest zu machen. Und wenn ich es jetzt mit meinem gesunden Menschenverstand beurteile, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Rechte tatsächlich etwas bringen. Das Anhörungsrecht bedeutet, eine Gewerkschaft darf vortragen, was sie möchte, aber das hat keine Folgen. Das Nachzeichnungsrecht ist auch schwierig. Wenn beispielsweise in dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gewisse Bereiche des Arbeitslebens, die eine bestimmte Berufsgruppe besonders tangieren, überhaupt nicht verhandelt wurden: Was bringt mir dann das Recht, den Tarifvertrag nachträglich zu übernehmen?
Ist die Angst der Berufsgewerkschaften, die sich in ihrer Existenz bedroht sehen, also nicht übertrieben?
Nein. Natürlich wird nicht von heute auf morgen sofort alles ganz anders aussehen, sondern die Realität wird sich schleichend verändern. Warum sollen sich die Beschäftigten in einer Gewerkschaft organisieren, die keinen Einfluss mehr auf ihre Arbeitsbedingungen nehmen kann? Aber wichtig ist: Es geht hier nicht nur um die Berufsgewerkschaften. Verdi kann genauso betroffen sein, und Verdi ist die zweitgrößte DGB-Gewerkschaft. Es kommt immer auf den jeweiligen Betrieb an. Es gibt viele Konkurrenzen, im Übrigen auch zwischen den DGB-Gewerkschaften. Es geht nicht nur um Groß und Klein. Es kann im Endeffekt alle treffen.
Der DGB sieht das anders und hat den Entwurf als Chance bezeichnet, die Kooperation zwischen den Gewerkschaften zu stärken.
Die Bundesregierung konnte mir keine Zahlen, keine Fakten zu kollidierenden Tarifverträgen nennen. Mir ist im Endeffekt ein kollidierender Tarifvertrag bekannt und das ist der bei der Bahn. In den meisten Fällen kooperieren die Gewerkschaften geräuschlos. Es kann nicht sein, dass die Politik sich da einmischt und zwischen erwünschten und unerwünschten Gewerkschaften unterscheidet.
Ein Knackpunkt ist die Frage, wie Betrieb in diesem Zusammenhang definiert wird. Der Beamtenbund befürchtet, dass künftig für jede Schule geprüft werden muss, welche Gewerkschaft die meisten Mitglieder hat.
Es kann tatsächlich sein, dass in jedem der 300 Bahn-Betriebe die Mehrheit festgestellt werden muss, weil es konkurrierende Gewerkschaften gibt. Im ganzen öffentlichen Dienst haben wir ein Gemisch aus Beamtenbund, Verdi, zum Teil GEW. Da kann es sein, dass in jeder Schule, jeder Behörde, jedem Krankenhaus die Mehrheit festgestellt werden muss.
Ein anderer Knackpunkt war, wie die Mehrheitsverhältnisse überhaupt gerichtsfest geprüft werden sollen.
Die Richter kritisieren, dass die Notare in keiner Weise die Richtigkeit der Listen belegen müssen. Das bedeutet, dass die Prüfung der Mitgliederlisten im Endeffekt bei den Gerichten landet, denen die Verantwortung zugeschoben wird. Natürlich muss es eine Mitgliederzählung geben, aber ab da hat die Bundesregierung keinen Plan, wie das tatsächlich rechtssicher durchgesetzt werden kann.
Jetzt argumentiert die Bundesregierung, dass es bis 2010 ja die Tarifeinheit in Deutschland gegeben hat.
Das stimmt so einfach nicht. Die so genannte Tarifeinheit vor 2010 war etwas ganz anderes. Damals galt das Spezialitätsprinzip und jetzt kommt ein Mehrheitsprinzip, was per se die Lage kleinerer Gewerkschaften verschlechtert. Wenn der speziellere, sprich besser passende Tarifvertrag zur Anwendung kommt wie vor 2010, ist das eine ganz andere Voraussetzung, als wenn der Tarifvertrag der größten Gewerkschaft gilt.
Was halten Sie von einem generellen Streikverbot in der Daseinsvorsorge oder einer Zwangsschlichtung?
Das ist für mich ein absolutes NoGo, das geht gar nicht, weil das natürlich ganz verschärfte Angriffe aufs Streikrecht sind. Wie will man denn „Daseinsvorsorge“ definieren? Das kann man sehr weit fassen. Und dann gilt ein Streikverbot mal schnell für sehr weite Teile der Wirtschaft. Aber Streikrecht ist ein Freiheitsrecht. Es ist das einzige Mittel, um auf Augenhöhe Tarifverträge verhandeln zu können. Das Bundesarbeitsgericht hat 1980 festgestellt, ohne Streik wären Tarifverhandlungen kollektives Betteln.
(che/26.05.2015)