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Die Schreckensherrschaft des „Islamischen Staates“ (IS) in Irak und Syrien ist bislang ungebrochen – trotz massiver Luftschläge einer US-geführten Militärkoalition oder deutscher Waffenhilfe an die kurdischen Milizen. Weiterhin schließen sich Sympathisanten aus aller Welt an. Über den jüngsten Krisenherd im Nahen Osten und die Gefahren für Europa diskutierte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth mit dem Islamwissenschaftler und Terrorismusexperten Dr. Guido Steinberg am Mittwoch, 17. Juni 2015, auf Einladung der Bibliothek des Deutschen Bundestages. Steinberg las bei dieser 16. Autorenlesung der Parlamentsbibliothek aus seinem aktuellen Buch „Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror“.
„Die Lektüre des Buches lässt einen nicht mehr ruhig schlafen“, fasste Claudia Roth, die die Veranstaltung moderierte, ihr Leseerlebnis zusammen und empfahl Steinbergs Werk eindringlich als kundige und verständlich geschriebene Analyse, die Hintergründe und Orientierung biete über das Phänomen IS.
Ein „leider unendlich aktuelles Thema“ behandele der Autor damit. Urplötzlich sei für die meisten Beobachter im Sommer 2014 der IS auf der Bildfläche erschienen, sagte Roth.
Auch Steinberg sei überrascht gewesen, wie aus der ehemals winzigen Terrorgruppe eine Organisation heranwachsen konnte, die in der Lage ist, die Weltpolitik zu erschüttern. Anfang Juli 2014, hatte der Führer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi den IS ausgerufen und sich als „Kalif Ibrahim“ zum rechtmäßigen Herrscher aller Muslime erklärt. Seine militärischen Erfolge, brutale Gewalt und mediale Inszenierung bescheren ihm seitdem höchste Aufmerksamkeit.
Die Eroberung von Mossul im vergangenen Sommer sei Anlass für sein neues Buch gewesen, sagte Steinberg – „Eine kleine Terrororganisation erobert eine Millionenstadt!“ Dabei hatten sich vor 15 Jahren lediglich fünf Männer zusammengetan. „Müssen wir nun sämtliche winzige Terrorgruppen daraufhin beobachten, ob sie einmal zu solch einer Entwicklung fähig sind?“
Steinberg machte klar, dass IS 2014 nicht aus dem Nichts kam. Bereits seit der US-geführten Invasion im Irak 2003 hatten ehemalige Funktionäre des gestürzten Saddam-Regimes einen lokalen al Qaida-Ableger gebildet, später ISI und ISIS genannt, der nach dem Abzug der internationalen Kräfte die Schwäche des irakischen Staates ausnutzte, sich durch ausländische Kämpfer verstärken und schließlich noch im Bürgerkriegsland Syrien ausbreiten konnte.
Was hat IS mit al Qaida zu tun, wie unterscheiden sich beide? Dies machte Steinberg zum Schwerpunkt seiner Ausführungen. Welche Organisation ist eigentlich gefährlicher?, wollten seine Zuhörer wissen.
Offiziell gibt es seit 2004 ein Zusammenwirken, damals hatten sich die irakischen Terroristen al Qaida angeschlossen. Aber es habe sich rasch gezeigt, dass es sich bei IS um ein neues, regionales Phänomen handelt, das mit seiner anti-schiitischen und anti-jüdischen Stoßrichtung ganz andere Prioritäten setzt, als Organisation ganz anders funktioniert und viel brutaler vorgeht als al Qaida. „IS ist noch menschenverachtender als al Qaida.“
Steinberg unterstrich, dass der IS eine Bedrohung darstellt, die über die Region hinausreicht. IS verfüge über militärisch schlagkräftige Einheiten, kontrolliere weite Territorien und verstehe es, sich als überstaatliche Organisation zu vermarkten, die eine enorme Anziehungskraft auf radikale Muslime weltweit ausübe. Tausende Glaubenskrieger aus der internationalen Dschihad-Szene haben sich seit 2011 nach Syrien und Irak auf den Weg gemacht. Dort verstärken sie die Terrormilizen oder stellen sich als Selbstmordattentäter zur Verfügung. Letzteres beschränke wiederum den Aktionsradius des IS im Rest der Welt.
Al Qaida dagegen gehe strategischer gegen den Westen vor. Lange und sorgfältig geplante Anschläge seien die Folge. Die Gefahr, die von der ursprünglichen al Quaida oder deren Ableger im Jemen auf Europa und Amerika ausgeht, hält der Terrorismus-Experte daher noch immer für größer. „Ein Anschlag in Europa von al Qaida ist momentan wahrscheinlicher als eine vergleichbare Aktion des IS.“
Die bisherige internationale Reaktion inklusive monatelanger amerikanischer Luftschläge konnte den IS nicht entscheidend schwächen. Steinberg analysierte, warum ausgerechnet die wichtigsten Länder in der Region als Problemlöser ausfallen. So fokussieren sich die USA auf ihre Verhandlungen mit Iran, haben in Syrien keine eigenen Interessen und wollen den Einsatz von Bodentruppen unter allen Umständen vermeiden.
Die US-Regierung habe im Grunde nur einen Plan für den irakischen Teil des Problems. Sie will nun 500 zusätzliche Militärausbilder nach Bagdad entsenden, um die regulären irakischen Streitkräfte zu stärken. Dabei werben sie gezielt um sunnitische Kämpfer, um so den Konflikt zwischen der sunnitischen Minderheit und der schiitischen Mehrheit zu entschärfen.
Zudem verfolgten die Alliierten völlig unterschiedliche Ziele. So wollten die USA das Regime des syrischen Machthabers Assad als Stabilitätsfaktor offenbar zunächst schonen – während Saudi-Arabien und die Türkei auf dessen Sturz hinarbeiten. Auch die Rolle der Kurden spaltet die westliche Allianz. Vor allem die Türkei habe in dieser Frage eine eigne Agenda, so Steinberg.
Die zurückhaltende Reaktion Ankaras auf die jüngste Vertreibung von IS-Kämpfern aus der syrischen Grenzstadt Tall Abjad durch kurdische Kräfte unterstreiche einmal mehr, dass die Bekämpfung des IS auf nicht auf der Prioritätenliste der türkischen Regierung stehe – vielmehr aber die Verhinderung eines Kurdenstaates. Steinberg mahnte aber eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei als unerlässlich an, um dem IS den Nachschub abzuschneiden. Bislang lässt Ankara Kämpfer, Waffen und Geld weitgehend ungehindert nach Syrien. So will man mit geringem Aufwand Assad und einen drohenden Kurdenstaat bekämpfen. „Die Türkei ist das Problem“, sagte Steinberg.
Unterdessen breite sich der IS weiter aus, so Steinberg. „Syrien ist verloren. Wir werden dort noch einen jahrelangen Bürgerkrieg erleben.“ IS könnte bald auch das Assad-Regime überrollen. „Aus Aleppo würde ich jetzt fliehen.“ Zwar erwiesen sich Libanon und Jordanien noch als erstaunlich stabil, aber selbst Saudi-Arabien könne zum Opfer des IS werden. Und die Terroristen hätten es natürlich auf Israel abgesehen, dessen Streitkräfte sie allerdings fürchten müssten. „Der Kampf um die Nachbarländer hat bereits begonnen.“
Die Diskussion in der Bibliothek vermittelte den beunruhigenden Eindruck, dass gegen den IS momentan kein Kraut gewachsen ist. Der Terrorstaat verfolgt rücksichtslos seine Ziele, profitiert von den Schwächen seiner Gegner, gewinnt weiter Unterstützer – und zeigt Politik und Sicherheitsbehörden auch hierzulande die Grenzen ihres Handelns auf. Sollen deutsche Dschihadisten ausreisen dürfen, abgeschoben werden, oder müssen sie aufgehalten werden? Viele Fragen sind noch offen.
Claudia Roth warb am Ende der Veranstaltung dafür, die Diskussion mit Steinberg an dieser Stelle lediglich zu unterbrechen und schlug vor, sie am selben Ort mit einer zweiten Runde fortzusetzen – zu wichtig sei das Thema, und zu facettenreich, als dass man es an einem Abend behandeln könne. (ll/18.06.2015)