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Moderator Heinrich Oberreuter, Frank Decker, Vorsitzende Eva Högl, Anne-Marie Le Gloannec, Reinhold Gärtner © DBT/Melde
Von Großbritannien bis Griechenland – europaweit verzeichnen populistische Bewegungen jeglicher Couleur starken Zulauf. Mit griffigen Parolen und einfachen Rezepten greifen sie Ängste der Bürger auf und fordern in Parlamenten und Regierungen traditionelle und gemäßigte Kräfte heraus. In welchem Gewand Populismus sich heute zeigt, was sein Erstarken für die Demokratien Europas bedeutet und wie die etablierten Parteien und Institutionen darauf reagieren können, darüber diskutierten am Montag, 29. Juni 2015, die Politikwissenschaftler Prof. Dr. Frank Decker (Universität Bonn), Prof. Dr. Reinhold Gärtner (Universität Innsbruck) und Prof. Dr. Anne-Marie Le Gloannec (Sciences Po, Paris) mit Prof. Dr. Dr. h. c. Heinrich Oberreuter (Passau) beim DVParl-Forum der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen im Deutschen Bundestag.
Dr. Eva Högl (SPD), Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, eröffnete die Veranstaltung. Högl bezeichnete es als besorgniserregend, mit welchen Wahlerfolgen populistische Parteien in vielen Ländern mitten in Europa jüngst punkten konnten. Was dabei all diese Kräfte eine, sei ihre nationalistische und antieuropäische Stoßrichtung.
Prof. Dr. Frank Decker rief in Erinnerung, dass populistische Parteien seit den siebziger und achtziger Jahren in allen Demokratien aufgetreten seien, neben den Grünen seien es die einzigen erfolgreichen Neugründungen im Parteienspektrum gewesen. „Die Erwartung, dass es sich um kurzlebige Protestparteien handelt, hat sich nicht erfüllt.“
Nur in einem entsprechenden Umfeld konnten die Populisten erstarken. Professor Decker erläuterte, wie sich Populisten ungelöste, komplexe Problemlagen zunutze machen, die die Menschen verunsichern. So gründeten die aktuell erfolgreichen Parteien ihre Erfolge auf die gesellschaftlichen Verwerfungen infolge der jüngsten wirtschaftlichen Krisen.
Weiterer Nährboden für populistische Angebote sei die „neue Virulenz kultureller Wertekonflikte“, die durch die zahlreichen islamistischen Terroranschläge seit dem 11. September 2001 auch zu einem Sicherheitsthema geworden seien. Und schließlich gehöre die Migration zu den Mobilisierungsthemen schlechthin: „Die ungelöste Flüchtlingsproblematik in Europa ist eine Steilvorlage für Populisten“, sagte Decker.
Insgesamt begünstige der gesellschaftliche Wandel neue, populistische Parteien, fügte Prof. Dr. Reinhold Gärtner hinzu, der die österreichische Perspektive einbrachte, und den Aufstieg der FPÖ als einer der ältesten rechtspopulistischen Parteien Europas skizzierte. Die Bindungskraft der Volksparteien habe nachgelassen, die Wählermobilität zugenommen, in Österreich wie in Deutschland.
Im klassischen politischen Spektrum lassen sich die aktuellen populistischen Strömungen von links bis rechts verorten, beziehen sich dabei stets auf einen nationalen Rahmen, sind aber nur teilweise als extremistisch zu bezeichnen, erklärte Frank Decker. Gemeinsam sei ihnen ihre antielitäre Ausrichtung. Es handele sich immer um Bewegungen, die sich gegen die bestehenden Parteien und Institutionen richteten.
Alle Referenten machten deutlich, dass die traditionellen Volksparteien eine gehörige Mitschuld am Erstarken populistischer Kräfte trügen. Schon seit Langem sei es unter den etablierten Parteien zu einer „Repräsentationskrise“ gekommen, zu weit habe sich beispielsweise die SPD von den Belangen der Bürger entfernt, sagte Decker. Teile der Bürgerschaft fühlten sich schlicht nicht mehr vertreten.
Diese Angebotslücken im Spektrum der politischen Meinungen füllten die populistische Parteien, sie besetzten „freigewordene“ Positionen und Identitäten, Themen, an die sich sonst keiner traue – grundsätzlich „alles, was gefällt“, so Decker, eine breite programmatische Plattform, von Wirtschafts- bis zu Wertefragen. Die Abnehmer seien unter den sogenannten Modernisierungsverlierern und solchen Bürgern der Mittelschicht zu finden, die sich vor einem sozialen Abstieg fürchten.
Wie groß auch in Frankreich der Problemstau ist, den die dortigen Rechtspopulisten für sich ausbeuten, schilderte Prof. Dr. Anne-Marie Le Gloannec. Die traditionellen Parteien seien kaum mehr kompatibel mit den aktuellen Fragen der Wähler. Bei der Präsidentschaftswahl habe es keine echte Alternative gegeben: „Viele Probleme wurden einfach unter den Teppich gekehrt.“
Zwar könne die Politik für manche Probleme heute schlicht keine Lösung anbieten, da ihr beispielsweise durch die internationale Verflechtung die Handlungsmöglichkeiten entzogen seien, waren sich die Referenten einig. An vielen Enden aber, an denen Politikangebot und -nachfrage den Bezug zueinander verloren haben, könnten Politiker und Parteien diese wieder zusammenführen – und so populistischen Ansätzen den Boden entziehen.
Anne-Marie Le Gloannec bekräftige, die Schuld an unproduktiver, populistischer Politik nicht nur bei den Populisten zu suchen: „Die Eliten sind Teil des Problems.“ Die Kluft zwischen Berufspolitikern und Bürgern sei zu groß geworden. Das gelte besonders für Frankreich. „Fragen Sie mal einen unserer Berufspolitiker, was ein Metro-Ticket kostet. Keiner könnte Ihnen eine korrekte Antwort geben.“ Le Gloannec äußerte die Hoffnung, dass sich die politische Klasse Frankreichs regeneriert.
Auch Reinhold Gärtner sah vor allem die klassischen politischen Kräfte in der Pflicht, dem Populismus den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Es ist kein Naturgesetz, dass diese Parteien ständig zulegen.“ Die Volksparteien müssten den gesellschaftlichen Wandel reflektieren und auf die Bevölkerung und ihre Themen zugehen. Dazu müsse sich zunächst einmal „ein Problembewusstsein entwickeln“.
So sei die Migrationsthematik in Österreich von den Volksparteien in der Vergangenheit völlig ausgeblendet worden. Gärtner warnte, dabei die Populisten zu kopieren. Überholmanöver und Domestizierungsversuche hätten sich nicht bewährt. Es gehe vielmehr darum, die Fragen aufzugreifen, denen sich die Populisten zuwenden. Nicht zuletzt mit Blick auf Deutschland und die kommenden Wahlen resümierte Heinrich Oberreuter: „Es ist Aufgabe der gewählten Abgeordneten, alle Bürger anzusprechen.“ (ll/30.06.2015)