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Das eine gilt als Waffe des Parlaments, das andere als Druckmittel des Kanzlers. Und doch dienen die Regelungen, die das Grundgesetz für das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage festlegt, ein und demselben Zweck: Sie sollen dafür sorgen, dass Regierungskrisen schnell überwunden werden und kein Zustand eintritt, in dem das Land keine handlungsfähige Regierung besitzt.
Zehn Jahre ist es her, dass zum letzten Mal ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellte. Es war Gerhard Schröder (SPD), der diese insgesamt fünfte und bislang letzte Vertrauensabstimmung fristgerecht beantragt hatte, sodass am 1. Juli 2005 im Bundestag abgestimmt werden konnte. Damit ist er der einzige Regierungschef in der bundesdeutschen Geschichte, der gleich zweimal von diesem Instrument Gebrauch machte.
2001 hatte Schröder damit noch erfolgreich Abweichler für eine Beteiligung deutscher Soldaten am Afghanistan-Einsatz auf Linie gebracht und die Vertrauensfrage gewonnen. 2005 jedoch verfolgte der Bundeskanzler ein anderes Ziel: Wie schon vor ihm Willy Brandt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) wollte er die Vertrauensabstimmung im Parlament gezielt verlieren, um Neuwahlen zu erreichen.
Die von Schröder geführte Bundesregierung nämlich war in ihrer dritten Amtsperiode in gefährliches Fahrwasser geraten: Die Hartz-IV-Reformen hatten nicht nur Tausende Menschen protestierend auf die Straßen getrieben und der SPD mehrere Niederlagen bei Landtagswahlen beschert, zuletzt der in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland - sie waren auch für die Partei selbst zu einer Zerreißprobe geworden. Tatsächlich konnte sich der Bundeskanzler der Unterstützung seiner eigenen Fraktion, insbesondere der Parteilinken, nicht mehr sicher sein. Noch am Abend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, am 22. Mai 2005, hatte Schröder angekündigt, dass er die Vertrauensfrage stellen werde.
Diese Ankündigung, dass der Bundeskanzler über eine verlorene Vertrauensfrage Neuwahlen herbeiführen wolle, um die Blockade in Bundestag und Bundesrat zu beenden, löste im Mai 2005 ein politisches Beben aus. Nicht nur überraschte diese Nachricht die Opposition, vor allem die CDU/CSU, die gerade den Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen feierte. Auch die SPD selbst und ihren Koalitionspartner, Bündnis 90/Die Grünen, traf sie unvorbereitet.
Zwiespältig fielen die Reaktionen aus: Während Sozialdemokraten wie Bundesinnenminister Otto Schily die Entscheidung des Kanzlers als "mutig, fair und souverän" lobten, betrachteten viele Abgeordnete sie als "politischen Selbstmord".
Die Frage, ob Schröder überhaupt zum Mittel der Vertrauensfrage greifen dürfe, um Neuwahlen zu erreichen, führte zu einer erregten Diskussion. Eine "unechte" Vertrauensfrage, die gezielt verloren werde, sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, argumentierten die Abgeordneten Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) und Jelena Hoffmann (SPD). Eine später von beiden angestrengte Klage wies das Bundesverfassungsgericht am 25. August 2005 jedoch als unbegründet zurück.
Ungeachtet der Diskussion hielt der Bundeskanzler an seinem Plan fest. Nach einem Gespräch mit Bundespräsident Horst Köhler am 9. Juni 2005 teilte Schröder mit, dass er die Vertrauensfrage fristgerecht stellen und dass er sie nicht mit einer Sachfrage oder einem Gesetzesbeschluss verbinden werde.
Fristgerecht am 27. Juni 2005 ging sodann beim Präsidium des Deutschen Bundestages der Antrag ein: "Gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Freitag, dem 1. Juli 2005, hierzu eine Erklärung abzugeben." Am 1. Juli 2005 gegen 10 Uhr trat Schröder vor das Bundestagsplenum, um in einer mit Spannung erwarteten Rede seine Beweggründe für diesen Schritt zu erläutern.
Nach den verlorenen Landtagswahlen brauche die SPD für die Fortsetzung der Reformpolitik eine neue Legitimation durch die Bürger, sagte Schröder. "Geben wir den Menschen die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Staat sie wollen", so der Kanzler.
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der "unechten Vertrauensfrage" suchte er zu entkräften: Sicher hätten die "Mütter und Väter des Grundgesetzes" nicht intendiert, dass durch eine beabsichtigte Niederlage die Tür zu einer Auflösung des Parlaments geöffnet werden könnte. "Aber sie wollten ebenso wenig die Möglichkeit einer Neuwahl verwehren, wenn die Lage dies gebietet", betonte Schröder.
Die Entscheidung, "zunächst die Vertrauensfrage, danach mich und meine Regierung" einer neuen Wahl zu stellen, habe er sich "reiflich und gewissenhaft" überlegt. Sie sei ein "Gebot der Fairness und der Aufrichtigkeit".
Oppositionsführerin Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) begrüßte Schröders Entscheidung und bezeichnete Neuwahlen als "unumgänglich, um unserem Land monatelange, quälende Auseinandersetzungen aus Gründen rot-grüner Handlungsunfähigkeit zu ersparen".
Die Regierung habe das Vertrauen der Menschen verspielt, nun brauche das Land eine neue Mehrheit im Bundestag, damit eine von der Union geführte Bundesregierung, gestützt auch auf eine Mehrheit im Bundesrat, Politik gestalten könne, so die CDU-Fraktionsvorsitzende. Der FDP-Abgeordnete und Parteivorsitzende Dr. Guido Westerwelle betonte, politisch sei die Vertrauensfrage der Bürger an die scheidende Regierung längst beantwortet.
"Die Bürger haben sich bei all den Landtagswahlen entschieden", sagte Westerwelle. Es sei zu begrüßen, dass die Deutschen nun "durch Neuwahlen die demokratische Vertrauensfrage neu beantworten" könnten.
Gesine Lötzsch (PDS) griff die Regierung insbesondere für ihre Hartz-IV-Gesetzgebung an: Auch die PDS freue sich auf Neuwahlen, versicherte Lötzsch: "Es besteht nämlich die Hoffnung, dass noch in diesem Jahr eine starke linke Fraktion in den Bundestag einzieht und eine schwarz-gelbe Regierung nicht schalten und walten kann, wie sie es gerne möchte."
Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/ Die Grünen) gab zu, er habe sich gewünscht, das Mandat bis zum Ende führen zu können. Er verteidigte die Koalition aber gegen Angriffe: "Sie wollten nicht zulassen, dass eine Regierung, die sich auch auf 1968 beruft, durch Deutsche gewählt wurde", hielt er der Opposition vor. Die Regierung habe jedoch von Beginn an ihre Verantwortung wahrgenommen, auch in Fragen von Krieg und Frieden.
Sein Fraktionskollege Werner Schulz (Bündnis 90/ Die Grünen) erklärte hingegen, er werde sich an der Abstimmung nicht beteiligen, da es sich um eine "fingierte Vertrauensfrage" handele. Der Bundeskanzler habe das Grundgesetz gebeugt: "Das ist nicht nur ein Tiefpunkt der demokratischen Kultur, das ist ein würdeloser Abgang!", empörte sich der frühere DDR-Bürgerrechtler.
Trotz dieser harschen Kritik erreichte Schröder, was er angestrebt hatte: Von den 595 Abgeordneten, die an der Abstimmung teilnahmen, stimmten 151 mit "Ja". 296 Abgeordnete mit "Nein". 148 enthielten sich. Das Ergebnis, das Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) nach Abschluss des Urnengangs bekannt gab, war somit eindeutig: "Der Antrag des Bundeskanzlers hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 301 Ja-Stimmen nicht erreicht."
Nach drei Wochen eingehender Prüfung gab Bundespräsident Horst Köhler schließlich am 21. Juli 2005 in einer Fernsehansprache seinen Entschluss bekannt: "Ich habe den Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September 2005 angesetzt." Der Kanzler habe deutlich gemacht, "dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sieht", so die Begründung Köhlers. Schröder hatte sein Ziel erreicht.
Dennoch: Das Kalkül des Kanzlers ging nicht auf: Bei der vorgezogenen Bundestagswahl unterlag er als Spitzenkandidat der SPD Angela Merkel. Statt zum dritten Mal ins Kanzleramt einzuziehen, war es nun die CDU-Vorsitzende, die Kanzlerin und Chefin einer schwarz-roten Koalition wurde. Das rot-grüne "Reformprojekt" war nach sieben Jahren quasi mit einem Paukenschlag zu Ende gegangen. (sas/29.06.2015)