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Günter Heiß, Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss. © pa/dpa
Die Bundesregierung hat nach den Worten des Geheimdienstkoordinators im Kanzleramt Günter Heiß keine Erkenntnisse über Wirtschaftsspionage amerikanischer Nachrichtendienste in Deutschland. Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („NSA“) unter Vorsitz von Prof. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) machte Heiß am Donnerstag, 2. Juli 2015, deutlich, dass auch aktuelle Medienberichte über eine umfassende Ausspähung deutscher Regierungsstellen durch die National Security Agency (NSA) an dieser Einschätzung nichts änderten. Der frühere niedersächsische Verwaltungsrichter Heiß leitet seit dem 14. Dezember 2009 die Abteilung 6 im Kanzleramt, die über den Bundesnachrichtendienst (BND) die Rechts-, Dienst- und Fachaufsicht führt sowie die Geheimdienste des Bundes koordiniert. Er war zuvor seit 2007 Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Niedersachsen.
Unter Wirtschaftsspionage sei der Diebstahl geistigen Eigentums durch einen staatlichen Geheimdienst zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen für die Industrie des eigenen Landes zu verstehen, belehrte Heiß den Ausschuss. Es gebe keine Belege dafür, dass US-Dienste in diesem Sinne in der Bundesrepublik tätig seien.
Es sei auch glaubhaft, wenn die Amerikaner dies stets verneinten, weil ein Geheimdienst in einer marktwirtschaftlichen Ordnung „riesige kartellrechtliche Probleme“ bekäme, wollte er einzelne Unternehmen zum Nachteil anderer mit vertraulichen Informationen über die internationale Konkurrenz ausstatten. Geheimdienste aus Ländern mit erheblichem Staatseinfluss auf die Wirtschaft wie China oder Russland seien in dieser Hinsicht schon eher verdächtig.
Von Wirtschaftsspionage im eigentlichen Sinne abzugrenzen seien geheimdienstliche Aktivitäten gegen Unternehmen mit dem Ziel, der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln entgegenzuwirken. Auch dass die NSA, wie jetzt durch Medienberichte bekannt wurde, offenbar 2011 ein Telefonat der Kanzlerin zur Griechenlandkrise abhörte und in Berlin auch das Finanzministerium überwacht haben soll, gehört für Heiß in den Bereich der politischen, nicht der Wirtschaftsspionage. Diese Definition sei nicht seine Einzelmeinung, sondern „Konsens“.
Auf wiederholte Fragen, ob er vor den Enthüllungen durch Edward Snowden und jüngst durch WikiLeaks Hinweise auf „Übergriffigkeit“ oder politische Spionage durch US-Dienste gehabt habe, antwortete Heiß: „Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.“
Heiß erklärte, in seiner Zuständigkeit für die Dienst- und Fachaufsicht über den BND wäre er zwar „theoretisch“ in der Lage, alles zu kontrollieren, „in der Praxis“ sei das aber nicht der Fall: „Das Verwaltungsbild eines demokratischen Rechtsstaates ist nicht das der totalen Kontrolle.“ Dass in der Kooperation zwischen BND und NSA bei der Überwachung des satellitengestützten Datenverkehrs in Bad Aibling offenbar auch Suchbegriffe eine Rolle spielten, deren Verwendung durch das Kooperationsabkommen von 2002 nicht gedeckt war, sei ihm wie anderen Zuständigen in Kanzleramt und BND-Spitze erst im März dieses Jahres bewusst geworden.
Auch Heiß betonte wie vor ihm bereits andere Zeugen, dass er nach einer Besprechung führender deutscher und amerikanischer Geheimdienstler am 5. August 2013 in Washington die Aussichten auf eine Vereinbarung über einen gegenseitigen Spionageverzicht „außerordentlich positiv“ beurteilt habe. Der Begriff „No-Spy-Abkommen“ sei sogar von amerikanischer Seite ins Gespräch gebracht worden. Dies habe ihm ein Kollege berichtet; selber habe er daran keine Erinnerung: „Damals haben wir diese Chance sehr real gesehen und mussten sie auch ergreifen.“ Bei einem Besuch im Weißen Haus Ende Oktober sei ihm klar geworden, dass die US-Regierung nicht interessiert war.
Der zweite geladene Zeuge und frühere Kanzleramtschef Ronald Pofalla hat im Anschluss vor dem Ausschuss den Vorwurf zurückgewiesen, er habe die Öffentlichkeit über die Aussichten auf ein „No-Spy-Abkommen“ mit den Amerikanern getäuscht, und selber scharfe Angriffe gegen Medien und Parlamentarier gerichtet. Die Berichterstattung über die NSA-Affäre beruhe in wesentlichen Teilen auf „objektiv falschen Interpretationen und Einschätzungen“, die gleichwohl bis heute die Debatte bestimmten, sagte Pofalla bei seiner Vernehmung.
Er habe große Sorge, dass die Sicherheit Deutschlands durch die Diskussion „schwer beeinträchtigt“ werde. Pofalla war von 2009 bis zum 17. Dezember 2013 Kanzleramtschef. In dieser Funktion hatte er sich nach eigenen Worten zwischen Juni und September 2013 hauptsächlich mit den Enthüllungen des früheren amerikanischen Geheimdienst-Mitarbeiters Edward Snowden zu befassen.
Pofalla habe damals mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr), das für die vertrauliche Überwachung der Geheimdienste zuständig ist, beunruhigende Erfahrungen gemacht. Immer, wenn er den Abgeordneten habe berichten können, dass ein in der Öffentlichkeit erhobener Vorwurf ausgeräumt sei, sei in den Medien davon nie mehr die Rede gewesen. Es habe allerdings auch keine Korrektur der vorherigen falschen Berichterstattung gegeben.
Andererseits habe jede neue Erkenntnis, die er dem Gremium mitgeteilt habe, schon am Tag danach den Weg an die Öffentlichkeit gefunden: „Merkt denn niemand“, fragte Pofalla, „was seit Jahren an dieser Stelle falsch läuft? Das geheim tagende PKGr tagt nicht mehr geheim.“
Er habe daraus die Konsequenz gezogen, nach jeder Sitzung des Gremiums die Öffentlichkeit in den Grundzügen selber zu informieren, und zwar mit Hilfe sorgfältig vorformulierter Spechzettel. So sei es zu dem Auftritt am 12. August 2013 gekommen, der ihm später den Vorwurf eintrug, er habe die NSA-Affäre vorzeitig für beendet erklärt. Er habe jedoch lediglich einer Darstellung des „Spiegel“ widersprochen. Dieser hatte behauptet, der BND habe Monat für Monat bis zu 500 Millionen Daten deutscher Bürger an die NSA weitergeleitet, von „flächendeckender Überwachung“ und „millionenfacher Grundrechtsverletzung“ gesprochen.
Tatsächlich habe es sich bei dem Datenstrom um Erkenntnisse aus der Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes gehandelt, von der deutsche Grundrechtsträger nicht betroffen waren. Der „Spiegel“ habe „einen zentralen Interpretationsfehler der Snowden-Unterlagen vorgenommen“.
Pofalla räumte ein, dass er im Lichte neuerer Erkenntnisse über das Treiben des US-Geheimdienstes heute weniger vollmundig formulieren würde. Er hatte damals gesagt, der Vorwurf flächendeckender Ausspähung sei „vom Tisch“. Mittlerweile wurde im Okober 2013 bekannt, dass die NSA das Handy der Kanzlerin abgehört habe – ein Vorwurf, den Pofalla nicht für erwiesen hält. Seit dem Frühjahr 2015 ist der Verdacht öffentlich, die NSA habe die Kooperation mit dem BND zu dem Versuch genutzt, europäische Ziele auszuspähen, und neuerdings ist die Rede von der Überwachung deutscher Regierungsstellen. Das alles habe er im August 2013 nicht wissen können, sagte Pofalla. Er hätte noch präziser formulieren müssen.
Vehement widersprach Pofalla dem Vorwurf von Sozialdemokraten und Opposition, er habe wider besseres Wissen während des Wahlkampfes 2013 der deutschen Öffentlichkeit die Aussicht auf ein „No-Spy-Abkommen“ mit den USA vorgegaukelt. Als er im Dezember 2013 aus dem Amt geschieden sei, hätten mehrere Entwürfe von beiden Seiten vorgelegen, und er habe mit gutem Grund den Abschluss „in greifbarer Nähe“ geglaubt. (wid/02.07.2015)