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Klaus Brähmig, den heute jeder im Bundestag als Experte für Reisen kennt, lebte noch nie im sogenannten Tal der Ahnungslosen. Zwar konnte man zu DDR-Zeiten in der Region um Pirna westdeutsches Fernsehen nicht empfangen. Das änderte allerdings nichts daran, dass Brähmig, wenn er morgens zur Arbeit kam, immer wieder fragte: Und – ist Deutschland schon wiedervereinigt? Dass das kommen würde, war ihm klar: „Es fehlte an den simpelsten Dingen“, erinnert sich der gelernte Elektrohandwerksmeister, „an Gips und an Schrauben. Das System stand über Jahre vor dem Kollaps. Tatsächlich waren es nicht zuletzt Kredite der Bundesrepublik, die den wirtschaftlichen Erosionsprozess abbremsten“.
Als 1989 auch die politische Erosion einsetzte, war der damals 32-Jährige einer von vielen auf der Straße: Ab Oktober 1989 nahm er an Montagsdemonstrationen in Dresden teil; länger noch war er im Kirchenkreis aktiv. Im Frühjahr 1990, gar nicht lange vor den ersten freien Volkskammerwahlen, marschierte er zur CDU, die mit Unterstützung von Kollegen aus dem baden-württembergischen Ravensburg in Pirna gerade die Geschäftsstelle aufgebaut hatte, und erklärte: Ich will mitmachen.
„Ich war ein großer Verehrer von Helmut Kohl“, sagt er, „und das Gerede von der Blockpartei habe ich immer für Legendenbildung gehalten. Die CDU in der DDR hat sich immerhin dafür eingesetzt, das Schlimmste zu verhindern.“ Wie zum Beweis hängt bis heute in Klaus Brähmigs Bundestagsbüro ein Bild, das Helmut Kohl vor einer schwarz-rot-goldenen Flagge zeigt. Und, apropos Flagge: „Als Helmut Kohl im Dezember 89 in Dresden vor einem schwarz-rot-goldenen Flaggenmeer seine berühmte Rede hielt, hieß es, die CDU hätte die Fahnen verteilt. Aber das stimmte gar nicht: Wir hatten einfach die DDR-Embleme abgetrennt. Es gab nicht viel in der DDR – aber Fahnen gab es mehr als genug.“
Das neue Mitglied machte sich in der CDU schnell beliebt. Im Mai 1990 wurde er in den Kreistag gewählt, wenig später beschäftigte ihn im Richterwahlausschuss, welche DDR-Richter und Staatsanwälte übernommen werden sollten – nämlich nur jene, die innerhalb des DDR-Rechts minimale und nicht maximale Strafen verhängt hatten. „Da gab es durchaus Spielraum“, sagt Brähmig. Am 8. Oktober 1990 setzte er sich mit drei Stimmen Vorsprung gegen seine CDU-internen Konkurrenten durch als Direktkandidat – der in seinem Wahlkreis „Pirna, Sebnitz, Bischofswerda“ bei der Bundestagswahl am 2. Dezember 56 Prozent der Stimmen holte.
Zwei Tage danach folgt Brähmig per Interflug nach Bonn. Ein bisschen unbedarft, natürlich – aber nicht unerfahren: „Wer sich in der Kirche engagiert hatte, war in politischen Debatten geübt“, sagt er, „und auch die letzten Monate der DDR waren voller wichtiger Erfahrungen.“ Vor allem erinnert er sich an das Feuer, mit dem alle bei der Sache waren, an eine einzigartige Aufbruchstimmung, die damals herrschte: „Eben so einzigartig, wie auch die Chancen waren, die wir ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger plötzlich hatten.“
Die 21 gewählten sächsischen CDU-Abgeordneten kamen erst einmal in den Räumen der baden-württembergischen Landesvertretung unter. Dank deren Unterstützung – und der Tatsache, dass auch in den alten Bundesländern viele ihr Mandat erstmals antraten – habe es kaum Anpassungsprobleme gegeben: „So kompliziert ist der parlamentarische Betrieb ja nicht, das haben wir schon verstanden“, erklärt er, nicht ganz ohne Ironie.
Beim Start in den MdB-Alltag hilft, sich mit einem kompetenten Team zu umgeben. Brähmig tat das, und fand beispielsweise einen Büroleiter, der ihn seit einem Vierteljahrhundert begleitet. Mit der Mandatsdauer – er ist in seiner siebten Legislaturperiode – steht er kurz vor einem Rekord: Nur elf Abgeordnete sind länger im Bundestag. Auch thematisch ist er treu. Schon 1990 wurde er stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgruppe Tourismus seiner Fraktion; später Vorsitzender des gleichnamigen Ausschusses, heute ist er Stellvertreter.
Die Begeisterung, Politik zu gestalten, sei geblieben, resümiert er; vermissen würde er aber die positiven Seiten der Unbedarftheit und der „großen Möglichkeiten“: „Vieles war doch unbürokratischer als heute.“ Und wenn man ihn fragt, warum eigentlich auch in seinem Bundesland so viele nicht zur Wahl gehen, läuft er aus dem Zimmer und hat binnen weniger Minuten ein Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog in der Hand: „Die Freiheit, die wir genießen, droht uns, gerade weil sie kaum bedroht ist, allmählich selbstverständlich zu werden. Das ist gut so, ist eine ungeheure Errungenschaft unserer Zeit. Aber die Problematik dürfen wir auch nicht übersehen: Dass manche von uns ihre Freiheit nicht mehr genug schätzen, weil sie den Zustand der Unfreiheit gar nicht kennen oder längst vergessen haben.“ (god/17.08.2015)