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Für Stephan Hilsberg erfüllte sich ein Traum, nicht nur einmal, sondern sechsmal: Er wurde in die erste und einzige frei gewählte Volkskammer der DDR und im gleichen Jahr als SPD-Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt, Letzteres ebenso 1994, 1998, 2002 und 2005. „Als Jugendlicher habe ich davon geträumt, in einer Demokratie Politik zu machen, ganz wörtlich“, erinnert er sich, „je älter ich wurde, desto mehr nahm das natürlich ab. Es war ja auch nicht sehr realistisch.“ Tatsächlich durfte der Sohn eines Berliner Pastors in der DDR weder Abitur machen noch studieren; erst als Erwachsener konnte er ein ingenieurwissenschaftliches Fernstudium absolvieren. Was allerdings nur einer von vielen Gründen gewesen sei, das System „wirklich zu hassen“.
Weil das so war, nutzte er im Oktober 1989 die Gelegenheit, eine Alternative zu gründen: die SDP, die Sozialdemokratische Partei der DDR. Genau genommen fuhr er, ohne genau zu wissen, was dort passieren würde, zur Gründungsversammlung ins brandenburgische Schwante – und kam zu seiner maßlosen Überraschung als erster Sprecher wieder heraus.
Im März 1990 zog Hilsberg in die erste und einzige frei gewählte Volkskammer und von jener entsandt nach dem 3. Oktober 1990 in den Bundestag. Dort anzukommen, erzählt er, habe ihn dann aber erstaunlicherweise nicht sonderlich beeindruckt, eher im Gegenteil: „Im Wesentlichen drehte sich alles um Wahlkampf und Wahlkampfthemen. Wirkliche Entscheidungen wurden nicht mehr getroffen.“
Hilsberg empfand viele Reden, die er am 3. Oktober 1990 hörte, vor allem zum deutsch-deutschen Miteinander und der Vergangenheitsaufarbeitung der DDR nebst dort von der SED verübtem Unrecht, als „Sonntagsreden“: „Ich hatte nicht den Eindruck, dass unser Leben und das, was die Revolution in der DDR bedeutet hatte, sich dort widerspiegelt“, sagt er. „Ich habe mich absolut unwohl gefühlt. Mehr noch: Es ist mir richtig schlecht gegangen.“ Nach den Wahlen am 2. Dezember 1990 besserte sich das ein wenig.
Innerhalb der SPD setzte der Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel durch, dass die ostdeutschen Parlamentarier gleichsam per Quote zu Mitsprache kamen. In jeder Arbeitsgruppe musste entweder der Sprecher oder dessen Stellvertreter aus den neuen Ländern stammen. „Doch Sprecher wurde erst einmal niemand von uns“, sagt Hilsberg. „Dennoch war der Gedanke nicht dumm: Tatsächlich war uns vieles fremd, viele Themen, alle Abläufe. Vor allem aber waren wir in unseren rhetorischen Fähigkeiten hoffnungslos unterlegen.“
Was, wiederum, den nie auf den Mund gefallenen Pastorensohn, damals 33, anstachelte, sich möglichst schnell möglichst viel abzuschauen. „Jede Fraktionssitzung habe ich das freie Sprechen geübt“, erinnert er sich. „Wenn ich etwas begriffen habe, dann: Ohne die Kunst, Leute mitzureißen und eine gewisse Schlagfertigkeit geht es nicht.“ Zeitgleich lernte er die Netzwerke der SPD schätzen und schloss sich dem Seeheimer Kreis an, vor allem wegen dessen klarer Haltung zur DDR als Unrechtsstaat und der PDS als Nachfolgepartei der SED.
Und so näherte er sich langsam seinem Traum an: „Das Gefühl, etwas Großartigem beizuwohnen, kam zurück“, sagt er. „Je mehr ich sah, desto begeisterter wurde ich von den Möglichkeiten: Eine Fraktionssitzung, häufig eine undisziplinierte und durcheinandersprechende Angelegenheit zu fesseln, ist ebenso möglich wie eine ganze Plenardebatte zu drehen. Wenn man sie beherrscht, kann schon eine Kurzintervention wahre Wunder bewirken.“ Und je mehr Hilsberg all das beherrschte, desto stärker stellte sich noch eine Begeisterung ein: die darüber, an einem Ort zu sein, an dem nicht zählte, was jemand mitbrachte, sondern was er konnte: „Man kann eine anständige Karriere machen ohne Seilschaften. Das zu erleben, war für mich etwas ganz Großartiges.“
Im Jahr 2002 wurde Hilsberg Parlamentarischer Staatssekretär im Verkehrsministerium, 2005 stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Immer blieb er, was in der Politik gern als Querkopf bezeichnet wird: einer, der auch seine Meinung kundtat, wenn er mit dieser ziemlich allein da stand. Genau solche Leute, sagt er heute noch, brauche es in einem demokratisch gewählten Parlament dringend: „Von keinem anderen Beruf steht im Grundgesetz, dass, wer ihn ausübt, nur seinem Gewissen verpflichtet ist.“
In der Praxis bedeute das: Ein Abgeordneter sollte schon loyal sein – allerdings aus freien Stücken, eigenverantwortlich und nicht bis zur Selbstverleugnung. Entscheidend sei am Ende etwas anderes als Fraktionsdisziplin: „Dass wir Menschen mit Herz und Leidenschaft gewinnen, die brennen für eine Sache. Charakterköpfe machen vielleicht die Machtausübung schwieriger. Aber sie bereichern den parlamentarischen Betrieb enorm.“ (god/17.08.2015)