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Es war bis dato die größte Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer: In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 kenterte ein Kutter mit schätzungsweise 950 Flüchtlingen an Bord auf dem Weg von Libyen nach Italien. Nur 28 Menschen überlebten. Ein Unglück, das die EU zum Handeln bewegte: Nur wenige Tage später beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel in Brüssel, die Ausgaben für die Seenotrettung zu verdreifachen und mehr Schiffe auf dem Mittelmeer einzusetzen.
Für Dr. Lars Castellucci (SPD) dennoch nicht genug: „Geld ist nicht das Entscheidende für die Seenotrettung, sondern der Auftrag und das Einsatzgebiet“, sagt der Innen- und Europapolitiker der SPD-Fraktion im Bundestag, der seit Anfang 2014 Vorsitzender der Deutsch-Italienischen Parlamentariergruppe ist. „Selbstverständlich brauchen wir die Seenotrettung. Doch sie löst nicht das Problem. Es geht auch um eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge in Europa und die Bekämpfung der Fluchtursachen.“
Castellucci muss es wissen. Zusammen mit einer Delegation von sechs weiteren Mitgliedern der Parlamentariergruppe – Marian Wendt (CDU/CSU), Matthias W. Birkwald (Die Linke), Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), Stephan Mayer (CDU/CSU), Ronja Schmitt (CDU/CSU) und Matthias Schmidt (SPD) – ist er gut vier Wochen nach dem schweren Unglück, vom 25. bis 28. Mai, nach Italien gereist, um sich ein Bild von der Lage in Sizilien und auf der Insel Lampedusa zu machen, wo viele der Flüchtlinge aus Afrika auf ihrem Weg nach Europa ankommen. „Wir waren dort, wo die Dinge passieren, die uns alle so beschämen“, sagt Castellucci.
Wenngleich das Programm der viertägigen Reise, auf der die Deutschen von einer Delegation italienischer Abgeordneter begleitet wurden, unter anderem auch Gespräche zum Reformprozess in Italien und zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise umfasste, stand der Besuch doch eindeutig im Zeichen der Flüchtlingspolitik.
Bewusst hatten sich deutsche und italienische Parlamentarier im Vorfeld darauf verständigt, dieses Themenfeld in den Fokus zu nehmen: „Mir war es wichtig, dass wir nicht – wie sonst oft üblich auf solchen Reisen – viele verschiedene Themen anreißen, sondern die Tage nutzen, um uns mit einer Frage intensiv zu beschäftigen“, erklärt Castellucci. „Der italienischen Seite war es zudem ein Anliegen, Impulse für mehr Solidarität in der Frage der Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge in Europa zu setzen.“
Wie brandaktuell die Schwerpunktsetzung durch die Flüchtlingskatastrophe im April werden würde, konnten die Parlamentarier bei der Planung der Delegationsreise natürlich nicht wissen – allenfalls fürchten: „Mit dem Frühjahr wächst jedes Jahr auch die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer zu uns kommen – und angesichts der Einstellung der italienischen Marinemission „Mare Nostrum“ im Herbst zuvor war leider mit neuen Unglücken zu rechnen“, sagt Castellucci.
Für die Opfer legten die Bundestagabgeordneten nach ihrer Ankunft im sizilianischen Catania einen Kranz an einem Denkmal nieder, das für die ertrunkenen Flüchtlinge auf einem Friedhof errichtet worden war. „Die Hoffnung hat Schiffbruch erlittenen“, twitterte Delegationsmitglied Lisa Paus bewegt. Und auch für Castellucci war dies der emotionalste Moment der Reise.
Eindrücklich aber auch: Die Gespräche mit den überlebenden Flüchtlingen in einem Aufnahmelager. „Die Menschen waren verschüchtert“, erinnert sich Castellucci. „Aber mich hat sehr beeindruckt, dass viele schon Basissprachkenntnisse im Italienischen hatten. Offenbar werden dort sehr bald Sprachkenntnisse vermittelt.“
Neben Vertretern der betroffenen Gemeinden und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen trafen die Parlamentarier auch mit der italienischen Küstenwache zusammen. Per Helikopter wurde die Delegation zu einem Marineschiff geflogen, um sich dort über Details der Arbeit zu informieren.
Solche Termine vor Ort seien für Parlamentarier unersetzlich, findet Castellucci: „Es ist ein Unterschied, ob ich in Berlin sitze und die Fakten lese, oder ob ich mit den Helfern direkt sprechen und dabei in ihre Augen sehen kann.“ Die Gespräche helfen, sich für Themen zu sensibilisieren. Zudem seien die dabei gewonnen Informationen oft detaillierter, so die Erfahrung des promovierten Politikwissenschaftlers, der seit 2013 den Rhein-Neckar-Kreis im Bundestag vertritt: „Die italienische Küstenwache hat uns zum Beispiel sehr genau erklärt, wie die Abläufe an Bord sind, wo sie patrouillieren und welche Probleme es dabei gibt. So genaue Informationen hatten wir vorher nicht.“
Parlamentarische Tradition seit 1962
Auch der Austausch mit den italienischen Parlamentariern sei eine Quelle für wertvolle Informationen: „Gerade die Einschätzungen, die man bekommt, weil man einander kennt und vertraut, sind gar nicht hoch genug zu schätzen“, betont Castellucci.
Gegenseitiges Vertrauen und offene Gespräche helfen, dass die interparlamentarischen Kontakte stabil bleiben, selbst wenn es einmal zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen kommt. So zu Beispiel, als Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) im Dezember 2014 Italien zu mehr Reformen auffordert und damit für Unmut auf italienischer Seite sorgte.
Castellucci kann die Kritik der Kanzlerin in dieser Frage nicht nachvollziehen: „Wir konnten uns von den großen Reformanstrengungen der Italiener überzeugen. Deutsche Überheblichkeit ist wirklich unangebracht.“ Grundsätzlich müsse man sich unter Freunden natürlich sagen können, dass man anderer Auffassung ist, räumt er ein. „Aber mit einer gewissen kulturellen Sensibilität.“
In dieser Hinsicht sind Vorzeichen für die Beziehungen zwischen italienischen und deutschen Parlamentariern in dieser Wahlperiode besonders gut: Als Sohn eines Italieners und einer Deutschen ist Castellucci in beiden Kulturen zu Hause. Und sein „Pendant“, die Vorsitzende der Italienisch-Deutschen Parlamentariergruppe Laura Garavini, besitzt neben der italienischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Fast 20 Jahre lebte die Politikwissenschaftlerin in Deutschland, bevor sie 2008 erstmals als Auslandsitalienerin in die Abgeordnetenkammer des Parlaments gewählt wurde. „Bessere Bedingungen für ein gegenseitiges Verstehen kann es wohl nicht geben“, sagt Castellucci.
So verwundert es nicht, dass deutsche und italienische Abgeordnete zum Abschluss der Reise einmütig eine Erklärung verabschiedeten, in der sie sich für eine gemeinschaftliche Strategie im Hinblick auf eine einheitliche EU-Flüchtlings- und Asylpolitik sowie Einwanderungspolitik stark machen. Für Castellucci ein Erfolg: „Das zeugt von der guten Zusammenarbeit und der Qualität der ganzen Reise, dass wir hier zu einem Ergebnis gekommen sind.“ (sas/01.09.2015)