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Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in einem Antrag (18/4686) erhobene Forderung nach einem neuen Instrumentarium, mit dem Verstöße in EU-Mitgliedstaaten gegen europäische Grundwerte geahndet werden sollen, findet keine Mehrheit im Bundestag. Nach der Debatte am Donnerstag, 15. Oktober 2015, stimmten CDU/CSU, SPD und Die Linke mit Nein. Die SPD-Fraktion machte jedoch deutlich, dies lediglich vor dem Hintergrund der Koalitionsdisziplin zu tun. Inhaltlich teile man das Anliegen der Grünen, sagte Prof. Dr. Lars Castellucci (SPD).
In der Vorlage fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die EU müsse bei schwerwiegenden und anhaltenden Verstößen gegen die Gewaltenteilung und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit die Lücke des äußerst konfrontativen Verfahrens des Artikels 7 des EU-Vertrages, der einen Stimmentzug für das betroffenen Land vorsieht, wirksam schließen. Es könne nicht sein, dass die EU zwar gegenüber beitrittswilligen Staaten auf Grundlage der sogenannten Kopenhagener Kriterien fordernd und disziplinierend auftreten und ihnen strenge Auflagen machen könne, nicht mehr aber nach deren Beitritt.
Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, bezeichnete den Antrag als „Rückenwind für die Bemühungen der Bundesregierung“. Es sei richtig, dass Artikel 7 „kein taugliches Instrument ist“. Die Bemühungen um eine verbesserte Regelung würden jedoch nicht von allen Mitgliedstaaten gleich stark angepackt, da schnell von einer Einmischung in innere Angelegenheit die Rede sei.
Roth verwies darauf, dass die EU eine Gemeinschaft sei. „Genauso wie uns Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gemeinsam betreffen, sind wir auch alle davon betroffen, wenn Fragen der Demokratie oder der Rechtsstaatlichkeit in Zweifel gezogen werden“, sagte der Staatsminister. Seit Dezember 2014, so Roth weiter, gebe es im Ministerrat einen Mechanismus, der sich mit Fragen der Rechtstaatlichkeit beschäftigt. Außerdem sei bei einer konkreten Missachtung der Grundwerte eine entsprechende Ad-hoc-Debatte im Ministerrat vorgesehen.
Andrej Hunko (Die Linke) nannte es „sehr befremdlich“, dass weder im Antrag der Grünen noch in dem Beitrag des Staatsministers von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMK) die Rede gewesen sei. Sie sei das wichtigste Dokument zur Verankerung von Menschenrechten in Europa. Die EMK sei völkerrechtsverbindlich und habe mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einen Gerichtshof, der für 820 Millionen Bürger ein Individualklagerecht ermögliche.
„Die Stärkung dieser Institution ist der wichtigste Beitrag zum Schutz der Grundrechte in Europa“, befand Hunko und erinnerte daran, dass der eigentlich für 2009 geplante Beitritt der EU zur EMK noch immer nicht vollzogen worden sei. Was den Antrag der Grünen konkret angeht, so verwies Hunko darauf, dass es auf Ebene des Europarats durchaus funktionierende Strukturen gebe wie etwa die Venedig-Kommission, die auch schon geplante Gesetze aufgehalten habe. Der Linke-Abgeordnete sprach sich angesichts dessen dafür aus, Doppelstrukturen zu vermeiden. „Das schwächt eher die Strukturen“, sagte er.
Die Frage, was man tun kann, wenn ein Mitgliedstaat gegen die im EU-Vertrag festgeschriebenen Grundrechte verstößt, sei mit der sehr drakonischen Strafe des Stimmentzugs nach dem Artikel 7 nicht ausreichend beantwortet, sagte Thomas Dörflinger (CDU/CSU). Eine solche Strafe sei bei der vollständigen Abschaffung der Pressefreiheit wohl berechtigt, beim „Ansägen“ der Pressefreiheit wohl aber eher nicht. Daher sei eine europäische Rechtsstaatsinitiative auf den Weg gebracht worden, was ein Format darstelle, in dem erst mal im Dialog oder im Trialog über die Problematik gesprochen werde.
„Wenn mal jemand innerhalb der eigenen Familie über die Stränge schlägt, verweist man ihn ja auch nicht gleich des Hauses“, sagte Dörflinger. Der Antrag der Grünen gehe aber weit darüber hinaus und finde daher nicht die Unterstützung der Unionsfraktion, machte er deutlich. „Wir wollen keine neuen Institutionen schaffen“, so Dörflinger. Nicht vergessen dürfe man auch, dass die EU-Staaten Rechtsstaaten seien, in denen die Bürger das Selbstreinigungsmittel der Wahl ergreifen könnten.
Anprangern von Verstößen gegen die Menschenrechte reiche nicht, sagte Dr. Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen). Gebraucht werde ein neues Instrument. Dieses im Antrag geforderte unabhängige Expertengremium soll nach den Vorstellungen ihrer Fraktion teils durch das Europaparlament, teils durch die nationalen Parlamente benannt werden.
Dann könne etwa der ungarische Ministerpräsident Orbán nicht einfach so sagen, „den Gutachter hat sich die EU-Kommission ausgesucht, der hat mit mir nichts zu tun“. Das Gremium wäre unparteiisch und würde alle in die Verantwortung nehmen, so die Grünen-Abgeordnete. Eine Konkurrenz zum Europarat sah Brantner in dem Gremium nicht. Vielmehr sei dies „absolut komplementär“.
Gerade in der Flüchtlingsfrage würden derzeit von vielen Mitgliedstaaten europäische Werte missachtet, ohne dass dagegen vorgegangen werden könne, beklagte Lars Castellucci. „Regeln sind aber nur sinnvoll, wenn es auch Möglichkeiten gibt, sie durchzusetzen“, sagte der SPD-Abgeordnete.
Aus Gründen der Koalitionsdisziplin weise man den Antrag zurück, machte Castellucci deutlich. Gleichzeitig hoffe er aber für die Zukunft, „dass wir uns zusammenraufen können und zeigen können, dass wir alle in diesem Haus für europäische Grundwerte stehen“. (hau/15.10.2015)