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Pressekonferenz des Parlamentarischen Kontrollgremiums: Clemens Binninger (CDU/CSU), Sachverständiger Jerzy Montag, Vorsitzender André Hahn, Uli Grötsch (SPD) © DBT/Melde
Der plötzliche Tod des ehemaligen V-Manns ,,Corelli" gab im Frühjahr 2014 zu zahlreichen Spekulationen Anlass. Auch das Parlamentarische Kontrollgremium für die Nachrichtedienste (PKGr) wurde dadurch zu den ,,wildesten Theorien verleitet", wie der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch jetzt vor Journalisten sagte. Denn ,,Corelli", der mit bürgerlichem Namen Thomas R. hieß, hatte einer Quelle des Verfassungsschutzes bereits im Jahre 2006 eine CD übergeben, auf der unter Tausenden von Datensätzen auch der Name ,,Nationalsozialistischer Untergrund" auftauchte und die erst im Februar 2014 durch Zufall wieder entdeckt worden war. Kurz bevor das Bundesamt für Verfassungsschutz ,,Corelli" zu dieser CD befragen wollte, wurde er im April 2014 in seiner Paderborner Wohnung tot aufgefunden.
Um den mysteriös erscheinenden Fall aufzuklären, beauftragte das PKGr für die Nachrichtendienste im Oktober 2014 den Rechtsanwalt und ehemaligen Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen Jerzy Montag als Sachverständigen mit einem umfassenden Gutachten. Nach Angaben von André Hahn (Die Linke), dem Vorsitzenden des PKGr, hat das Gremium damit zum ersten Mal ,,exemplarisch von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht".
Laut der Unterrichtung (18/6545), die auf Montags Untersuchungen zurückgeht und die das PKGr jetzt dem Bundestag vorgelegt hat, ist Thomas R. im April 2014 mit ,,an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" an einer Diabetes-Erkrankung gestorben. Ein Hinweis auf ein mögliches Fremdverschulden habe sich nicht feststellen lassen. Auch gebe es keine Belege dafür, dass ,,Corelli" Kenntnisse von dem ,,NSU-Trio" und dessen Straftaten hatte. Die Frage, ob das NSU-Trio in irgendeiner Weise an der Herstellung der CD beteiligt war, lässt Montag aber offen.
Unter dem Decknamen ,,Corelli" war Thomas R. mehr als 18 Jahre in der rechtsradikalen Szene für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig und hat in dieser Zeit knapp 300.000 Euro als Entlohnung erhalten. Der vertrauliche Bericht, den Montag bereits im Mai 2015 dem PKGr vorgestellt hat, enthält mehr als 300 Seiten und wurde für die öffentliche Unterrichtung aus Geheimschutz- und Datenschutzgründen stark gekürzt.
Wie Montag in einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts am Mittwoch, 4. November 2015, sagte, ist das Leben und Wirken eines V-Manns in Deutschland noch nie zuvor so umfassend untersucht worden. Er lobte die Verfassungsschutzämter sowie die anderen Bundes- und Landesbehörden dafür, dass sie ihn bei seiner knapp sechsmonatigen Arbeit umfassend unterstützt und ihm alle angeforderten Akten rasch zur Verfügung gestellt hätten.
Sehr positiv über den Bericht äußerte sich der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger und betonte, das PKGr wäre nicht in der Lage gewesen, eine solche Untersuchung selbst vorzunehmen. Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen kritisierte die Streichungen, die vom Kanzleramt und den Nachrichtendiensten für die Unterrichtung veranlasst worden seien. Die Öffentlichkeit habe einen Anspruch darauf, umfassend informiert zu werden.
Zu den drei mutmaßlichen Haupttätern des NSU hatte ,,Corelli" nach den Erkenntnissen von Montag nur einmal sporadisch Kontakt. 1995 und damit lange vor dem Untertauchen des Trios im Februar 1998 seien sich Thomas R. und Uwe Mundlos zufällig beim ihrem Grundwehrdienst begegnet. Sie hätten sich sogleich als Rechtsextremisten erkannt und Telefonnummern ausgetauscht, später aber offenbar keinen Kontakt mehr gehabt.
Allerdings hat nach Montags Worten ,,in der rechten Szene jeder jeden irgendwann einmal getroffen". Thomas R. alias ,,Corelli" sei ein ,,in der Wolle gefärbter Rechtsextremist" gewesen, der gleichwohl mehr als 18 Jahre für das Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet habe. Am Tag nach seinem 19. Geburtstag habe er sich freiwillig bei der Polizei gemeldet. Auslöser dafür sei eine Geburtstagsfeier mit zahlreichen Neonazis gewesen, bei der es zu erheblichen Zerstörungen gekommen sei. Als ihn dann ein älterer Rechtsextremist aufgefordert habe, den Schaden zu begleichen, habe sich Thomas R. enttäuscht an die Behörden gewandt. Von der Neonazi-Szene habe er sich gleichwohl nie gelöst.
Auf der fraglichen CD, die erst im Februar 2014 und damit mehr als zwei Jahre nach der Enttarnung des NSU-Trios wieder gefunden wurde, befanden sich neben rund 15.000 Dateien mit allen Arten von NS-Propaganda auch zwei Dateien, in denen der Begriff ,,Nationalsozialistischer Untergrund" auftauchte. Montag lässt die Frage offen, ob der NSU in irgendeiner Verbindung zu diesen beiden Dateien stehen könnte. Einen Beweis dafür gebe es nicht.
Als Konsequenz aus seinen Untersuchungen empfiehlt er, die Verfassungsschutzbehörden zu verpflichten, potenzielle Aussteiger stärker bei einem solchen Schritt zu unterstützen. Außerdem soll den Ämtern untersagt werden, junge Menschen im Alter unter 25 Jahren als V-Personen anzuwerben. (rik/04.11.2015)