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Einen Tag vor der entscheidenden Sterbehilfedebatte hat der Bundestag einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland verabschiedet. Die teilweise interfraktionell erarbeitete Vorlage fand am Donnerstag, 5. November 2015, im Parlament eine breite Mehrheit aus Union, SPD und Grünen. Die Linksfraktion enthielt sich der Stimme, sieht das Gesetz aber grundsätzlich auch als sinnvoll an.
Der Gesetzentwurf (18/5170; 18/6585) zielt darauf ab, schwer kranke und alte Menschen am Ende ihres Lebens besser und individueller zu betreuen, um ihre Schmerzen zu lindern und ihnen Ängste zu nehmen. Damit soll sich in vielen Fällen auch der Wunsch nach Sterbehilfe erübrigen.
So sollen Anreize gesetzt werden zum flächendeckenden Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung. Im Gesetzentwurf vorgesehen ist konkret eine bessere finanzielle Ausstattung der stationären Hospize für Kinder und Erwachsene. So wird der Mindestzuschuss der Krankenkassen für diese Einrichtungen erhöht. Zudem tragen die Kranken- und Pflegekassen künftig 95 statt 90 Prozent der zuschussfähigen Kosten. Die restlichen fünf Prozent sollen die Hospize weiter selbst erwirtschaften, vornehmlich über Spenden.
Bei den ambulanten Hospizdiensten werden künftig neben den Personalkosten auch die Sachkosten bezuschusst, also etwa Fahrtkosten für ehrenamtliche Mitarbeiter. Die sogenannte Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) soll flächendeckend verbreitet werden. Ferner wird der Aufwand der Hospizarbeit in Pflegeheimen stärker berücksichtigt. Die Krankenhäuser bekommen die Möglichkeit, Hospizdienste mit Sterbebegleitung in ihren Einrichtungen zu beauftragen.
Die Sterbebegleitung soll auch Bestandteil des Versorgungsauftrages der gesetzlichen Pflegeversicherung werden. Pflegeheime sollen gezielt Kooperationsverträge mit Haus- und Fachärzten abschließen. Außerdem sollen Pflegeheime und Einrichtungen für Behinderte ihren Bewohnern eine Planung zur individuellen medizinischen, pflegerischen, psychosozialen und seelsorgerischen Betreuung in der letzten Lebensphase organisieren können, bezahlt von der Krankenkasse.
Die Palliativversorgung wird zudem ausdrücklicher Bestandteil der Regelversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die Krankenkassen werden dazu verpflichtet, die Patienten bei der Auswahl von Angeboten der Palliativ- und Hospizversorgung individuell zu beraten. Ärzte und Krankenkassen sollen zusätzliche Vergütungen vereinbaren, um die Palliativversorgung und auch die Ausbildung der Mediziner auf diesem Gebiet zu verbessern.
Gesundheits- und Sozialverbände hatten den Gesetzentwurf bei einer Anhörung im September gelobt, aber Nachbesserungen gefordert. Experten äußerten die Sorge, dass schwer kranke und sterbende Patienten in Krankenhäusern und Pflegeheimen bei der Versorgung benachteiligt werden könnten. Nötig sei auch mehr qualifiziertes Personal. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz verlangte, auch Pflegeheimbewohner müssten einen Anspruch auf Hospizleistungen erhalten. Einige Experten sprachen sich in der Anhörung dafür aus, in Krankenhäusern neben einem Palliativbeauftragten vor allem auch multiprofessionelle Palliativdienste einzusetzen. Nur so könne die Vielzahl an Patienten überhaupt angemessen erreicht werden. Mehrere Sachverständige wiesen darauf hin, dass auch die Betreuung schwer kranker Kinder verbessert werden müsse und aufgrund der besonderen Anforderungen separat zu betrachten sei. Dieser und andere Einwände wurden mit Änderungsanträgen berücksichtigt.
Zwei Anträge der Fraktionen Die Linke (18/5202) und Bündnis 90/Die Grünen (18/4563) zum Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung wurden in der Schlussabstimmung mehrheitlich abgelehnt.
Abgeordnete aller Fraktionen lobten in der Debatte die konstruktive Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung des Gesetzes, sprachen aber auch davon, dass die jetzt geplanten Verbesserungen nur ein Schritt auf einem langen Weg sein könnten, um "weiße Flecken" in der Versorgung schwer kranker und sterbender Menschen in Deutschland zu beseitigen. Die Abgeordneten würdigten zugleich die Arbeit der schätzungsweise 80.000 Ehrenamtlichen bei der Betreuung von Patienten in der letzten Lebensphase.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sprach von einem guten "Gemeinschaftswerk". Es seien schon große Fortschritte in der Hospiz- und Palliativversorgung erreicht worden, jedoch müsse auf diesem Gebiet weiter geforscht und gelernt werden. Er warb dafür, das "Unausweichliche geschehen zu lassen". Jedoch könnten Schmerzen und Einsamkeit in der letzten Lebensphase mit medizinischen Mitteln und geeigneten Versorgungsstrukturen verhindert werden. Da viele Menschen über die bestehenden Angebote und Möglichkeiten wenig wüssten, bestehe ein Ziel des Gesetzes in mehr Information und Beratung.
Die Palliativangebote würden überall gestärkt, in der ambulanten ebenso wie in der stationären Versorgung, in Kliniken ebenso wie in Pflegeheimen, sagte Gröhe mit Blick auf die Tatsache, dass die weitaus meisten Menschen in Deutschland in Krankenhäusern und Pflegeheimen sterben.
Der SPD-Gesundheitsexperte Prof. Dr. Karl Lauterbach sprach von einem "wichtigen Tag". Er habe eine so konstruktive Zusammenarbeit von Regierung, Opposition und Fachleuten an einem Gesetzentwurf noch nie erlebt und betonte: "Wir ziehen hier alle an einem Strang." Derzeit bekämen noch zu wenige Menschen die nötige palliative Versorgung, viele kleine Kliniken in ländlichen Bereichen hätten keine Palliativstationen. Diesen Krankenhäusern würden nun Möglichkeiten eingeräumt, Palliativdienste auch außerhalb solcher Stationen anzubieten.
Zudem würden die Pflegeheime verpflichtet, mit Palliativmedizinern zusammenzuarbeiten. Lauterbach wies darauf hin, dass die Palliativmedizin auch lebensverlängernd wirke. Das wüssten jedoch viele Menschen und Ärzte gar nicht.
Die Opposition lobte ausdrücklich die Intention des Gesetzentwurfes, sieht die Arbeit aber noch lange nicht als erledigt an, gerade hinsichtlich des Pflegenotstandes. Birgit Wöllert (Die Linke) sagte, die guten Ansätze in dem Gesetz reichten nicht aus. Nach wie vor gebe es viele Regionen in Deutschland ohne ausreichende Palliativversorgung. Handlungsbedarf bestehe auch bei der Palliativausbildung an den Universitäten, die ausgebaut werden müsse.
Pia Zimmermann (Die Linke) rügte scharf die schlechteren Leistungen in Pflegeheimen gegenüber Hospizen und sprach von einer Zwei-Klassen-Betreuung, die aufhören müsse. Auch mangele es an einer verbindlichen Personalbemessung für die Pflegedienste, die durch die Sterbebegleitung mehr Arbeit bekämen. Hier werde deutlich mehr Personal benötigt und damit letztlich eine Reform der Pflegeversicherung. Zimmermann gestand Verbesserungen im Gesetz zu, jedoch blieben Ungerechtigkeiten und Leerstellen bestehen. Es bleibe somit bei einem dringenden Reformbedarf.
Auch die Grünen sehen das Reformgesetz erst als Beginn einer langen Wegstrecke zur Verbesserung der Versorgung an. Elisabeth Scharfenberg (Bündnis 90/Die Grünen) sagte: "Wir legen einige Meter zurück, einige Kilometer liegen noch vor uns." Es gebe "zu viele weiße Flecken auf der Deutschlandkarte", betonte sie und fügte hinzu: "Das Nichts macht den Menschen Angst." Auch Kliniken und Pflegeheime seien mit der Situation überfordert. Es müsse mehr investiert werden in Pflegeeinrichtungen und Personal. Dass so viele Menschen in Krankenhäusern stürben, sei "traurige Realität".
Auch Dr. Harald Terpe (Grüne) sprach von der Notwendigkeit, die regionalen Unterschiede in der Versorgung zu überwinden und den Pflegenotstand zu beenden. Wichtig sei die vorgesehene Förderung von multiprofessionellen Palliativteams in Kliniken. Terpe würdigte wie andere Redner auch die fraktionsübergreifende Arbeit an dem Gesetz und wertete dies als "neuen Politikstil". Es sei ein gutes Gesetz und ein Zwis chenschritt in der Weiterentwicklung.
Ähnlich äußerte sich Hilde Mattheis (SPD), die darauf hinwies, dass dieses Thema für einen normalen politischen Schlagabtausch nicht tauge. Sie verteidigte die Entscheidung, bei stationären Hospizen künftig 95 statt 90 Prozent der Kosten zu übernehmen und damit nicht die Komplettkosten. Dies solle eine rein "geschäftsmäßige Hospizversorgung" verhindern.
Helga Kühn-Mengel (SPD) fügte hinzu, es gehe auch darum, den ehrenamtlichen Ansatz aufrecht zu erhalten.
Hubert Hüppe (CDU/CSU) würdigte die parteiübergreifende Zusammenarbeit als "Sternstunde" der parlamentarischen Arbeit. Es sei bei diesem Gesetz nicht "reflexhaft" alles abgelehnt worden, was von der anderen Seite kam. Hüppe betonte, das Gesetz sei auch ein wichtiger Beitrag zur Suizidprävention. Er verwies zudem auf die vereinbarten Berichtspflichten, mit denen überprüft werden solle, ob die jetzt beschlossenen Maßnahmen auch funktionierten.
Auch Emmi Zeulner (CDU/CSU) wies auf den Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Sterbehilfedebatte hin. Es gehe darum, den Menschen die Angst zu nehmen, in die Fänge der Apparatemedizin zu geraten und am Lebensende schlecht versorgt zu werden. Die Menschen sollten selbstbestimmt entscheiden, wo sie sterben wollen. Dies sei nur bei ausreichend Angeboten möglich. Mit dem Gesetz würden die bestehenden Strukturen gestärkt, neue Strukturen aufgebaut und kontrolliert. Zudem werde die Trauerbegleitung ausgebaut. (pk/05.11.2015)