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Zum Geburtstag gibt es in der Regel Glückwünsche, einen Rückblick auf und lobende Worte für das Erreichte. Und die wahren Freunde dürfen sich darüber hinaus auch Worte der Kritik erlauben, ohne dass es gleich zum Bruch kommt. Anlässlich des Jubiläums der VN-Charta – der Verfassung der Vereinten Nationen, die am 24. Oktober 1945 in Kraft getreten ist – hatte der Unterausschuss „Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung“ am Montag, 9. November 2015 vier Sachverständige zu einer öffentlichen Anhörung mit dem Titel „70 Jahre Vereinte Nationen – Rückblick, Ausblick, Reformbedarf“ geladen. Gemessen am eingangs aufgestellten Maßstab kann als Fazit der Veranstaltung durchaus auf ein tiefes freundschaftliches Verhältnis der angehörten Experten zur Institution Vereinte Nationen (VN) geschlossen werden.
Die Unterausschussvorsitzende Heike Hänsel (Die Linke) eröffnete die Sitzung mit der Feststellung, dass die VN den ihr erteilten höchsten humanistischen Auftrag, Menschen vor Kriegen zu schützen, bis heute leider nicht habe vollständig einlösen können. Es stelle sich die Frage, ob die VN ihrer Aufgabe gewachsen, ob sie „fit for purpose“ sei.
Die für die Beantwortung dieser Frage erforderliche Bestandsaufnahme begann Prof. Dr. Jochen von Bernstorff von der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen mit der Feststellung, dass die VN als Krisenreaktionsmechanismus unersetzbar seien. Sie hätten eine Standardsetzungsfunktion im Umgang mit globalen Krisenszenarien. Darüber hinaus komme der Institution eine einzigartige globale Verhandlungsfunktion zu, die als einzige ein Mandat im intersektoralen Bereich habe.
Die Kritik von Bernstorffs bezog sich vor allem auf den VN-Sicherheitsrat. Durch die Vetomächte sei dieser ineffizient und leide darüber hinaus an einer mangelnden Repräsentabilität. Realistischerweise müsse man aber konstatieren, dass es ohne einen grundlegenden weltpolitischen Änderungsprozess keine Veränderung dieses Status quo geben werde.
Als ein weiteres Problem identifizierte von Bernstorff das Fehlen eigener militärischer Kräfte, die es dem Sicherheitsrat ermöglichen, seine Beschlüsse notfalls auch gegen Widerstand durchsetzen zu können.
In Zeiten, in denen globale Probleme globale Lösungen erforderten, sei der Status der VN als einzige globale Institution schon Existenzberechtigung genug, sagte Botschafter a.D. Dr. Gunter Pleuger, der von November 2002 bis Juli 2006 der ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York war. Die VN seien vor allem für die Koordination in Krisenfällen wichtig. Kritikern der VN hält Pleuger vor, dass es sich bei der Institution nicht um eine Weltregierung, sondern um eine Konferenz der Mitgliedstaaten handele. Die Kritik könne sich daher höchstens an die Mitglieder, und somit (auch) „an uns selbst richten“.
Auch wenn Pleuger die Passivität während des Völkermords in Ruanda für das schlimmste Versagen der VN hält, so sei ihnen doch zugute zu halten, dass sie maßgeblich zur Delegitimierung von nichtdemokratischer Gewalt beigetragen hätten. Im Hinblick auf die G-Gruppen (G7, G20) betonte Pleuger, dass diese die VN unterstützen und ergänzen könnten; ersetzen könnten sie sie aber nicht.
Wie auch von Bernstorff hält Pleuger die Macht der sogenannten P5, der fünf permanenten Vertreter und Vetomächte im Sicherheitsrat, für bedenklich. Sie verzerre die heutigen Realitäten, so Pleuger. Daran werde sich so schnell nichts ändern, da die P5 selbst natürlich kein Interesse an ihrer Abschaffung hätten und es ohne ihre Zustimmung auch nicht möglich wäre. Gleichwohl müsse die Verfahrensweise der Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat transparenter werden.
Dr. h.c. Hans-Christof von Sponeck, Beigeordneter Generalsekretär der VN a.D., ging auf die unterschiedlichen Gesichter der VN ein: es gebe da ein politisches und ein operatives. Zwischen diesen habe er in seiner aktiven Zeit bei den VN erhebliche Koordinationsschwierigkeiten ausmachen können.
Zudem sei die operative Seite unterfinanziert und abhängig vom politischen Teil der Institution. Durch die mangelnde Einbindung der „Leute an der Front“ werde das große Potenzial der operativen Einheiten der VN nicht ausgeschöpft.
In Sachen Reformbedarf schloss sich von Sponeck der Kritik Pleugers am Status quo des Sicherheitsrates an. Die Besetzung der P5 habe sich seit der Gründung der VN nicht verändert, sie sei zu überdenken. Die Gründung der G20 hält von Sponeck für ein erstes Anzeichen einer „Entwestlichung“.
Darüber hinaus verwies von Sponeck auf die mittlerweile 18 Berichte zu VN-Reformfragen. Wenn man hiervon endlich einmal etwas umsetzen würde, wäre das schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.
In der anschließenden Fragerunde interessierten sich die Mitglieder des Unterausschusses neben Reformbedarf und -möglichkeiten vor allem für die Fragen nach der Stärkung des Menschenrechtssystems der VN, nach der Schaffung eines VN-Parlaments und nach den Aussichten Deutschlands für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Auch wenn eine Reform des Sicherheitsrates von allen Experten befürwortet wird, so sei ein ständiger Sitz Deutschlands momentan die „falsche Baustelle“, so Hans-Christof von Sponeck. Ein besserer Ansatz sei die Etablierung von Regionalallianzen im Sicherheitsrat wie beispielsweise der EU.
Für ein mögliches VN-Parlament gibt es laut Prof. Dr. Jochen von Bernstorff zwei Modelle: Dem ersten Modell liegen Entsendungen von Vertretern der einzelnen Länder zu den VN zugrunde. Das zweite Modell sieht dagegen eine Direktwahl der VN-Parlamentsmitglieder in den Mitgliedstaaten vor.
Auf die Fragen mit Bezug zu den Menschenrechten antwortete Botschafter Dr. Joachim Rücker, Deutsche Ständige Vertretung bei den Vereinten Nationen in Genf und seit diesem Jahr Präsident des VN-Menschenrechtsrates, dass die VN im institutionellen Bereich zwar auf eine beeindruckende Infrastruktur im Hinblick auf die Menschenrechte verweisen könne. Jedoch müsste die damit verbundene tatsächliche Bedeutung auch offiziell legitimiert werden. So sei beispielsweise der Menschenrechtsrat de jure lediglich ein Subsidiärorgan der Generalversammlung. De facto sei er dieser Rolle aber bereits entwachsen, was nun auch de jure klargestellt werden müsse.
Darüber hinaus sei das finanzielle Budget – nur drei Prozent des VN-Haushaltes werden für Menschenrechte ausgegeben – zu gering. Um die wichtige Aufgabe, das effiziente Reagieren auf die Relativierung und Verwässerung der Menschenrechte, wahrnehmen zu können, müssten auch die finanziellen Mittel erhöht werden.
Zum Abschluss der Anhörung bat der Abgeordnete Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen) die Sachverständigen um ein Statement, wie sie die VN beziehungsweise die deutsche Rolle dort in zehn Jahren sehen oder sich wünschen würden. Hans-Christof von Sponeck wünschte sich ein Deutschland, das den 2015 eingeschlagenen Weg mutig weitergegangen ist. Dr. Joachim Rücker sieht die VN weiterhin als Brückenbauer, die auch auf die Menschenrechtsinterpretation anderer Kulturkreise eingehen können, ohne den hier üblichen Kern der Menschenrechte zu opfern.
Gunter Pleuger äußerte drei Wünsche: Deutschland solle ein noch größerer Reformator im multilateralen Bereich sein, die Rolle der EU solle – gerade vor der akuten Gefahr des Rückfalls in Nationalismen – gestärkt worden sein, und die Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen habe signifikant ausgebaut werden können.(eb/10.11.2015)