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Er wollte nicht kommen, niemals. Nicht nach Deutschland, nicht nach Berlin, nicht in diese Stadt, aus der sich der Nationalsozialismus wie ein Krebsgeschwür in die Welt fraß und der Wahn der Judenvernichtung seinen verhängnisvollen Lauf nahm.
Jetzt ist er doch da. Yuli-Yoel Edelstein, 57 Jahre, Kind von Überlebenden des Holocaust, Likud-Politiker und Präsident der israelischen Knesset. Warum er doch gekommen ist? „Weil es richtig ist“, sagt Edelstein ebenso knapp wie überzeugt. Und weil er seinen Beitrag leisten will, die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, die in diesem Jahr seit 50 Jahren bestehen, gerade auch auf parlamentarischer Ebene weiter zu festigen. Darum ist das Präsidium der Knesset zur zweiten gemeinsamen Sitzung dieses Jahres zum Präsidium des Bundestages nach Berlin gereist, wie Edelstein am Vorabend dieses Treffens vor deutschen und israelischen Journalisten erläutert.
Die Beziehungen beider Länder haben sich im vergangenen halben Jahrhundert vielversprechend entwickelt. Aber sie sind noch immer besonders, jedenfalls eine Herausforderung und keineswegs normal. Aber was ist angesichts der Shoah, die nach 70 Jahren ihr Grauen nicht verloren hat und auch nie ablegen wird, schon normal?
Im Mittwochmorgen, 2. Dezember 2015, steht Edelstein gemeinsam mit Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert vor der Presse im Reichstagsgebäude. Soeben ist die gemeinsame Sitzung der beiden Präsidien zu Ende gegangen. Auf der Tagesordnung standen neben einer Erörterung der aktuellen Lage im Nahen Osten die Friedensperspektiven für die Region. Auch die umstrittene Kennzeichnung von Produkten aus israelischen Siedlungen war Thema in der Präsidialrunde.
Lammert sieht diese EU-Regelung kritisch: „Sie ist weder notwendig noch klug, hat aber nichts mit Antisemitismus zu tun.“ Er könne die Irritationen auf israelischer Seite gut verstehen, nachdem ein Berliner Kaufhaus Produkte aus dem Sortiment genommen hatte, die nicht als „Siedlerprodukte“ kenntlich gemacht waren. Erst nach scharfen Protesten Israels wurden die Produkte dann wieder angeboten.
Vereinbart wurde bei der gemeinsamen Sitzung, dass künftig jedes Jahr ein parlamentarisches Arbeitstreffen über wichtige und aktuelle Themen stattfinden soll. Die nächste Zusammenkunft ist für den Mai 2016 avisiert. Laut Knesset-Präsident Edelstein steht dabei weniger das Ziel, sich auf gemeinsame Positionen zu verständigen, im Mittelpunkt. Vielmehr gehe es um den Austausch von Meinungen. Edelstein: „Ich sehe der weiteren Zusammenarbeit mit großer Hoffnung entgegen.“
Hoffnungen, die in den vergangenen 50 Jahren trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten nicht enttäuscht worden sind, stehen auch im Mittelpunkt einer politischen Grundsatzrede, die Edelstein am 2. Dezember im Beisein der Mitglieder des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses hält.
Er nennt die deutsch-israelischen Beziehungen „ein Musterbeispiel, dass auch eine abgrundtiefe Schlucht zwischen zwei Nationen überwunden werden kann“. Und der Knesset-Präsident erinnert daran, dass sich die Welt in einem globalen Kultur- und Religionskrieg befinde; der „Islamische Staat“ (IS) drohe der westlichen Demokratie eine muslimische Herrschaft aufzuzwingen.
Zuvor hat Lammert an die historischen Gedenktage des ablaufenden Jahres erinnert: den 70. Jahrestag des Weltkriegsendes, den 50. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen und den 25. Jahrestag der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Keines dieser Ereignisse sei isoliert zu betrachten. Deshalb werde das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel „immer im Bewusstsein einer unvergleichlichen Vergangenheit stehen“ und sei somit „eines der seltenen historischen Geschenke“, so der Bundestagspräsident.
Als Zeichen der Verbundenheit beider Länder haben Lammert und Edelstein im Anschluss an die Diskussionsrunde eine Ausstellung mit Werken israelischer Künstler aus der Sammlung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude eröffnet. Sie trägt den Titel: „Kein fernes Land - Künstler aus Israel im Deutschen Bundestag“.
Der Kunstbeirat des Parlamentes hat anlässlich des deutsch-israelischen Jubiläumsjahres Werke israelischer Künstler für die Sammlung des Bundestages erworben, die jetzt auf der Plenarsaal-Ebene des Hauses präsentiert werden.
Bereits am Dienstag, 1. Dezember, hatten Lammert und die israelische Delegation einen Kranz am Mahnmal Gleis 17 in Berlin-Grunewald niedergelegt. Die Gedenkstätte erinnert an die systematische Deportation und Ermordung der Berliner Juden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.
Das erste Treffen dieses Jahres der Parlamentarier aus Deutschland und Israel hatte im Juni in Jerusalem stattgefunden. Damals hielt Lammert nach einer Begrüßung auf Hebräisch eine vielbeachtete Rede vor der Knesset auf Deutsch, in der Sprache also, die gerade für viele ältere Juden noch immer die Sprache der Holocaust-Täter ist.
Lammert hat die Entwicklung der Beziehungen beider Länder seinerzeit lobend als „Wunder der Geschichte“ bezeichnet. Er wies aber mit Blick auf den Palästinenser-Konflikt auch darauf hin, dass bei einem vergleichbar guten Willen andere Probleme gewiss ebenfalls lösbar seien.
Im Rahmen des dreitägigen Besuches der israelischen Delegation in Berlin, der am Donnerstag, 3. Dezember, endet, empfangen auch Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) die Knesset-Abgeordneten. Diese Ehre ist nicht selbstverständlich und eine herausragende Geste der Gastfreundschaft. Es sind eben keine normalen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, wohl aber ganz besondere. Und besonders wertvolle. (jbi/02.12.2015)