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„Erstmals nach vielen Jahrzehnten versammeln sich die in gesamtdeutschen freien Wahlen bestimmten Abgeordneten, fürwahr ein Ereignis, das historisch genannt werden wird.“ So eröffnete vor 25 Jahren, am 20. Dezember 1990, der frühere Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), mit 77 Jahren der älteste Abgeordnete und damit bereits zum dritten Mal Alterspräsident, die erste Sitzung des zwölften Deutschen Bundestages. Ein gutes Jahr nach dem Fall der Mauer hatten die Deutschen am 2. Dezember ihr erstes gemeinsames Parlament nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt. 662 Abgeordnete aus sechs Parteien zogen in den Bundestag ein. Dem „historischen Ereignis“ wohnten neben dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auch der Präsident der Italienischen Republik, Professor Francesco Cossiga, Botschafter und Missionschefs aus mehr als 70 Ländern, Mitglieder des Bundesrates und Landtagspräsidenten bei.
Symbolträchtig nahmen die Volksvertreter ihre Arbeit im Berliner Reichstagsgebäude und nicht im Bonner Plenarsaal, dem eigentlichen Parlamentssitz, auf. „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“, betonte Brandt. „Es lag deshalb auf der Hand, den gesamtdeutschen Bundestag hier zusammentreten zu lassen.“
Die „Verwirklichung der staatlichen Einheit, die Chancen auf gesamteuropäische Einigung, dies alles war und bleibt Grund zu großer Freude“, erklärte Brandt. „Was aber wäre große Freude ohne Selbstprüfung? Nehmen wir, darf ich fragen, hinreichend wahr, wozu uns die Geschichte einlädt? - Verantwortung für die Geschichte: Ich hoffe, das vereinte Deutschland nimmt sie mit allen ihren Seiten an.“
Dabei erinnerte er an die furchtbaren Leiden, die im deutschen Namen verursacht wurden, aber auch daran, dass der Bundestag in der Tradition der Nationalversammlungen von 1848 und von Weimar 1919 stehe. Zugleich mahnte er die Abgeordneten, dass bei aller aufrichtigen Freude über das Ende des Kalten Krieges die Gefahr nicht vorbei sei.
Deshalb müsse, was in Europa mit dem Helsinki-Prozess gelungen sei, auch in anderen Weltregionen versucht werden, nämlich Sicherheit und Zusammenarbeit auf eine breite Grundlage zu stellen. Für „uns in Deutschland" gehe es jetzt darum, das gemeinsame Gehäuse mit Inhalt zu füllen, betonte der Alterspräsident. Wichtig sei, dass man sich dabei zuhören und aufeinander zugehen möge.
Weiter skizzierte er die anstehenden Herausforderungen. Die vier Jahre dieser Wahlperiode seien entscheidend dafür, wie die staatliche Einheit ausgefüllt würde, zumal in Richtung grundsätzlich gleicher Lebensverhältnisse, wie sie das insoweit nicht ergänzungsbedürftige Grundgesetz vorschreibe.
Zum anderen sei dies der Zeitraum, in dem die Einigung Europas mindestens einen qualitativen Sprung nach vorn erfahren dürfte. Auch sei die Mitverantwortung in der Welt gewachsen. Krieg drohe vor der Haustür Europas. Die Überlebensfragen der Menschheit ließen jedenfalls kein Land unberührt, und Deutschland würde Schuld auf sich laden, wollte es über seine eigenen die globalen Sorgen Welthunger, Armutswanderungen, Umweltzerstörung vergessen.
Als erste Entscheidung des neuen Parlaments wählten die Abgeordneten Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU) mit 525 Ja-Stimmen erneut zur Bundestagspräsidentin. Mit Nein stimmten 81 Abgeordnete. 44 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Zu ihren Stellvertretern bestimmten sie die Abgeordneten Hans Klein (CSU), Renate Schmidt (SPD), Helmuth Becker (SPD) und Dieter-Julius Cronenberg (FDP).
„Einer unserer wichtigsten Wünsche muss sein", appellierte Süssmuth an die Volksvertreter, „dass wir, wenn wir vom Zusammenwachsen unseres Volkes sprechen, hier, im Parlament zusammenwachsen." Am Ende der Wahlperiode müsse noch deutlicher werden als am Anfang, erklärte sie weiter: „Wir sind ein Parlament, wir sind alle zuständig für ein und dieselbe Aufgabe: zum Wohle unseres ganzen Volkes zu arbeiten.“
Auch die Bundestagspräsidentin hob die Verpflichtung der Deutschen gegenüber der Vergangenheit hervor. Ferner erinnerte Sie die Abgeordneten noch einmal daran, dass es keineswegs selbstverständlich sei, in einem freien Parlament geeint die konstituierende Sitzung abzuhalten und betonte: „Diese Einheit ist Leistung von unzählig vielen Menschen, und sie ist Geschenk. Sie ist Grund für Dankbarkeit und Zuversicht.“
Für die Bewahrung des Friedens als unverzichtbar bezeichnete sie die schnelle Einigung Europas. Auch die Aufgaben im Inneren des Landes könnten nur gelöst werden, wenn sie im europäischen Zusammenhang gesehen werden. Abschließend wünschte sich Süssmuth für die gemeinsame Arbeit, „dass wir so miteinander umgehen, aufeinander achten, hören und vor allem voneinander lernen, dass die Erfüllung der uns gestellten Aufgaben auch in dieser Wahlperiode gelingt.“
Mit den Stimmen von Union, FDP und SPD beschloss der Bundestag die Geschäftsordnung des Bundestages, die Gemeinsame Geschäftsordnung von Bundestag und Bundesrat für den Vermittlungsausschuss nach Artikel 77 des Grundgesetzes, die Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss nach Artikel 53a des Grundgesetzes und die Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des Grundgesetzes (dringliche Gesetzesvorlagen). Darüber hinaus wurde ein Beschluss des Bundestages vom 31. Oktober 1990 zur Behandlung von Verdächtigungen gegen Mitglieder des Deutschen Bundestages für die neue Wahlperiode übernommen.
Die Abgeordneten von PDS/Linke Liste mit 17 Mandaten und Bündnis 90/Die Grünen mit acht Mandaten scheiterten mit ihren Anträgen, Fraktionsstatus zu erhalten. Die Anträge wurden zwar zunächst zur Beratung an den Ältestenrat überwiesen, später jedoch abgelehnt. Die Abgeordneten bekamen lediglich einen Gruppenstatus zugesprochen. Die Grünen scheiterten auch mit ihrem Vorschlag, mit Beginn des neu gewählten Bundestages die Wahlperioden neu zu zählen.
Bereits im darauffolgenden Jahr beschlossen die Abgeordneten nach ausgiebiger Debatte mit 338 zu 320 Stimmen den Umzug des Parlaments und der Regierung von Bonn nach Berlin. Der zwölfte Deutsche Bundestag beschloss insgesamt 507 Gesetze, darunter den Asylkompromiss, die Ratifikation des Vertrages von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union und die Einführung des Solidarpakts.
Ein etwas ungewöhnlicheres, aber nicht weniger kontroverses Anliegen debattierten die Abgeordneten am 25. Februar 1994 - die Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch die Künstler Christo und Jeanne-Claude, die schließlich im Juni 1995 stattfand. (klz/14.12.2015)