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Sind wir bald ein Volk ohne Wähler? Erwächst aus der kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie? Darüber diskutierten am Donnerstag, 18. Februar 2016, im Rahmen eines „Zukunftsgespräches“ Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert und der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann. Dabei warnte der Bundestagspräsident davor, die abnehmende Wahlbeteiligung zu dramatisieren. Viel besorgniserregender ist aus seiner Sicht der zu beobachtende Mitgliederschwund der politischen Parteien. Oppermann sagte hingegen, er sehe es durchaus mit Sorge, dass die Wahlbeteiligung kontinuierlich sinkt, „weil damit auch die Wertschätzung für unsere Demokratie ein bisschen in Frage steht“.
„Die allermeisten stabilen und älteren Demokratien um uns herum würden sich beglückwünschen, wenn sie die Wahlbeteiligung erreichten, die hierzulande Anlass zur Besorgnis gibt“, befand Lammert. Großbritannien sei mit 66 Prozent Beteiligung bei den Unterhauswahlen noch der Rausreißer nach oben und liege damit immer noch fünf Prozent unter der „miserablen“ Bundestagswahlbeteiligung von 71 Prozent in Deutschland. Es sei unstrittig, dass eine möglichst hohe Wahlbeteiligung aus vielerlei Gründen wichtig ist. „Aber ich empfehle uns, die Absenkung weder zu banalisieren noch zu dramatisieren“, sagte der Bundestagspräsident.
Bei der durch Christiane Hoffmann vom Hauptstadtbüro des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ moderierten Veranstaltung begaben sich die beiden Parlamentarier fortan auf die Suche nach Gründen für die Wahlverweigerung. Ohne jedoch zu konkreten Ergebnisse zu kommen. „Jede einfache Erklärung ist falsch oder zumindest unvollständig“, befand Lammert auf die Frage der Moderatorin, ob sich die Bürger durch die Volksparteien nicht mehr vertreten fühlen. Sein Ansatz: Nicht der Zustand des Staates oder der Gesellschaft seien dafür verantwortlich, dass die Bürger sich nicht mehr vertreten fühlen, „sondern die Individualisierung von Interessen und Bedürfnissen“. Die Parteien würden sich aber zu Recht nicht als Anbieter für jeweils individuelle Menüs verstehen, „sondern als Agenturen für konzeptionelle Gesellschaftsentwicklungen“.
SPD-Fraktionschef Oppermann ging bei seinem Erklärungsversuch auf die Feststellung ein, die Prof. Dr. Robert Vehrkamp in seinem Eingangsreferat getroffen hatte. Der Direktor des Programms „Zukunft der Demokratie“ der Bertelsmann-Stiftung hatte von einer sozialen Spaltung gesprochen. Je geringer das Haushaltseinkommen und der Bildungsstand seien, desto geringer sei auch die Wahlbeteiligung, so Vehrkamp. Die Menschen gingen wählen, wenn es ihr Umfeld auch tut, sagte Oppermann. In bestimmten Wohnquartieren und Stadtvierteln sei die Wahlbeteiligung besonders dramatisch gesunken. Dort gebe es auch keine aktiven Parteimitglieder. „Es herrscht Resignation“, sagte der SPD-Politiker. Wahlen würden nicht mehr als Möglichkeit wahrgenommen, Dinge politisch verändern zu können.
Was also kann getan werden um den Zustand zu ändern? Oppermann outete sich als Anhänger einer „gemäßigten plebiszitären Demokratie“. Bei einer vierjährigen Wahlperiode und erst recht bei der angedachten Ausdehnung auf fünf Jahre gebe es das demokratische Bedürfnis „die Chance zu haben, die Regierungsmehrheit punktuell korrigieren zu können“. Außerdem brauche es mehr politische Bildung. „Das Rückfahren der politischen Bildung in den vergangenen Jahren war ein kapitaler Fehler“, urteilte Oppermann.
Der vom Bertelsmann-Experten Vehrkamp gemachte Vorschlag, zur Steigerung der Wahlbeteiligung das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen, weil Jugendliche dann in einer Phase zum Erstwähler würden, die durch eine gewisse Kontinuität gekennzeichnet sei und mehr als 90 Prozent der Erstwähler über die Schule erreicht werden könnten, überzeugte den Bundestagspräsidenten nicht.
Zwar sei auch die Festlegung auf 18 Jahre willkürlich, doch sei damit zumindest die Volljährigkeit verbunden, sagte der CDU-Politiker, der auch der Idee, dauerhaft in Deutschland lebende Ausländer zur Wahl zuzulassen, nichts abgewinnen konnte. Dagegen sprächen Abgrenzungsprobleme – etwa bei der Frage, wer denn nun tatsächlich dauerhaft im Land lebe. „Eine plausible Abgrenzung ist die Staatsangehörigkeit“, sagte Lammert.
Zumindest bei der Bundestagswahl soll auch aus Sicht von Oppermann an der Staatsangehörigkeit festgehalten werden. Auf kommunaler Ebene könne er sich hingegen schon eine Erweiterung auf diesen Personenkreis vorstellen, sagte er. Einig waren sich die beiden Abgeordneten in der Ablehnung einer Wahlpflicht. „Damit würden wir es uns zu einfach machen“, befand Oppermann. Aus Sicht von Lammert würde damit das Problem nur verdrängt werden.
Zum Abschluss der Diskussionsrunde kam die Rede auf die AfD. Eine „Verteufelung“ der Partei könnte deren Wahlchancen noch steigern, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende. Man müsse aber auch klar aussprechen, dass diese Partei „rassistische Argumente anführt, den Nationalsozialismus relativiert und völkischen Ideen nachhängt“. Die AfD, so Oppermann weiter, werde die politische Landschaft gleichwohl verändern, wenn sie die prognostizierten Wahlerfolge erreicht. „Darauf müssen wir richtig reagieren“, forderte der SPD-Politiker.
Die Frage der Spiegel-Journalistin Christiane Hoffmann, ob eine möglicherweise steigende Wahlbeteiligung vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise in erster Linie der AfD zugutekommen könnte, beantwortete der Bundestagspräsident mit Nein. Die bisherigen Erfahrungen ließen eigentlich darauf schließen, dass die Erfolgsaussichten extremistischer Parteien bei niedriger Wahlbeteiligung höher seien. „Hohe Wahlbeteiligungen tragen eher zur Stabilisierung eines demokratischen Spektrums bei“, urteilte er. (hau/18.02.2016)